Gar nicht mal so uncool – Warum die öffentlich-rechtlichen Sender in ihrer Innovationskraft unterschätzt werden

Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eins mitzugeben, gehört in manchen Kreisen zum guten Ton, selbst wenn sie nicht der AFD nahestehen. Das Publikum: überaltert. Das Programm: nur Krimis und Volksmusik. Die Strukturen: behäbig. Die Kultur: Anzugträger mit Direktorentitel. Die Politik: links-grün. Das Digitale: ach ja, die Tagesschau ist auf Tik Tok. Gleich sieben krankhafte Befunde diagnostizierte kürzlich Media-Pioneer Gabor Steingart in seinem Morning Briefing. Die Sender schmissen zu viel Geld für Fußball raus, kommentierten zu einseitig und böten kaum etwas für junge Leute. Sein Fazit: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk brauche nicht mehr Geld, sondern eine Reform.

Das Bundesverfassungsgericht wird den Teil mit dem Geld wohl anders sehen. Dorthin wendeten sich die Anstalten, nachdem Sachsen-Anhalt die für Januar geplante Erhöhung der Haushaltsabgabe um monatlich 86 Cent blockiert hatte (das klingt nach wenig, beläuft sich aber auf rund 400 Millionen Euro im Jahr). Und wer würde sich schon gegen Reformen aussprechen? Schließlich steckt in jedem der Vorwürfe ein wenig Wahrheit. Aber es ist eben nicht die ganze.

Vor lauter Musikantenstadl, Tatort und Fußball-Bundesliga lässt sich leicht übersehen, dass es in den großen Sendern durchaus Inseln der Innovationskraft gibt, von denen Mitarbeiter*innen anderer Medienhäuser nur träumen können. Man findet sie nur nicht im Hauptprogramm – also dort, wo auch die Kritiker*innen reflexhaft hinschauen, wenn sie sich mal wieder über den Stand der Dinge bei den ÖRs informieren wollen. Das mag übrigens daran liegen, dass sie selbst oft zur von ihnen geschmähten älteren Zielgruppe gehören, die gar nicht mitbekommt, was sich auf anderen Plattformen so tut.

Fragt man die angeblich wegbleibenden jungen Leute selbst, sind viele nämlich gar nicht so unzufrieden mit dem, was ARD und ZDF im Angebot haben, zum Beispiel auf Instagram, YouTube oder, ja, Tik Tok. Sie folgen der Tagesschau, die Nachrichten simpel erklärt, der „News WG“ des Bayerischen Rundfunks, wo politische Themen besprochen werden wie am Küchentisch. Sie schauen Videos auf Funk, dem Content-Netzwerk von ARD und ZDF, oder hören Podcasts wie „Mal angenommen“ oder „180 Grad: Geschichten gegen den Hass“, die im konstruktiven Journalismus zuhause sind, mit dem sich die jüngere Generation tendenziell wohler fühlt, als mit ständiger Alarmstimmung. Und Christian Drosten punktet auch bei den Jungen, die sich gerne mal die Welt erklären lassen, wenn es sie nicht an Schule erinnert.

Hinzu kommen Abteilungen in den Sendern, die sich dem Datenjournalismus und der Anwendung von Künstlicher Intelligenz verschrieben haben. Der Bayerische Rundfunk macht zum Beispiel beim Journalism and AI Projekt der London School of Economics mit, wo Journalist*innen aus aller Welt Anwendungen von KI für den Journalismus entwickeln. Der Südwestfunk hat der Süddeutschen Zeitung Vanessa Wormer abgeworben, die Datenjournalistin, die aus den Panama Papers Sinn machte.

Außerdem stehen die Öffentlich-Rechtlichen auch in Sachen Vielfalt der Belegschaften gar nicht so schlecht da, wie das oft vermutet wird. Immerhin gibt es dort Frauenbeauftragte und eine Debatte über Repräsentation, die in der Privatwirtschaft gar nicht geführt wird. Da geht man einfach davon aus, dass die Netflix-Welt bunt und vielfältig ist – belegt ist das nicht. Und gemessen an der Zahl der verfügbaren Chefposten gibt es deutlich mehr Intendantinnen als Chefredakteurinnen bei deutschen Regionalzeitungen.

Eine gewisse Einseitigkeit bei den politischen Kommentaren mag man beklagen – obwohl die Grundlage derartigen Gejammers empirisch zu belegen wäre. Allerdings sollte man dann auch anerkennen, dass Meinungsstücke bei den Sendern letztlich Minimalprogramm sind. Der weitaus größere Teil besteht aus anderen journalistischen und Bildungs-Formaten und gar nicht zu vergessen: Kultur und Musik. Ohne die Rundfunkchöre und Symphonie-Orchester sähe die deutsche Konzertlandschaft um einiges ärmer aus. Wer ein feuriges Plädoyer für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk hören will, sollte sich die Keynote anhören, die Björn Ulvaeus im April 2018 auf dem Mediengipfel der European Broadcasting Union gehalten hatte – ja, dem Björn von ABBA. Besser kann man den Zusammenhang zwischen den Sendern und der Demokratie in Europa kaum erklären, man schaut den European Song Contest danach mit anderen Augen.

Das heißt nicht, dass bei ARD und ZDF alles so bleiben sollte, wie es ist. Wie alle anderen Medienhäuser müssen die Sender heute nicht mehr Vollsortimenter sein. Auch das Kaufhaus von einst hat seine Bedeutung eingebüßt, mancherorts sogar seine Daseinsberechtigung verloren. Manch ein Angebot ans Publikum können andere womöglich besser und günstiger auflegen. Und journalistisch sollten die Öffentlichen dort hingehen, wo es sich für private Medien nicht mehr lohnt, zum Beispiel in die Fläche. Unabhängiger Journalismus ist die Grundlage der Demokratie. Anders, als zum Beispiel in den USA, dürfen keine Nachrichtenwüsten entstehen, in denen Bürger*innen sich dann zweifelhaften Portalen zuwenden (müssen). Unabhängigkeit heißt aber auch, dass sich die Anstalten nicht von politischen Querelen in Geiselhaft nehmen lassen dürfen, wie jüngst in Magdeburg geschehen. Die Sache ist zu groß für politisches Klein-Klein.

Dieser Text erschien am 11. Dezember 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School.

Die Vertrauensfrage ist offen – über das Verhältnis zwischen Journalisten und ihrem Publikum

Den Hollywood-Film „Field of Dreams“ haben vermutlich nur diejenigen in Erinnerung, die 1989 entweder für Baseball oder für Kevin Costner geschwärmt haben (was damals eine ganze Menge gewesen sein dürften). Aus diesem Film wiederum blieb vielen nur eine einzige Zeile in Erinnerung, die allerdings so populär wurde, dass manche sie heute für einen Bibel-Spruch halten: „If you build it, he will come.“ Es geht um einen Mais-Farmer aus Iowa, seinem Traum von einem Baseball-Feld auf dem eigenen Acker und eine Versammlung von längst verschiedenen Sportler-Legenden, die sich dort vergnügen, nachdem der Bauer vom Traum zur Tat geschritten war. Mit der Medienbranche hat der Film nichts zu tun, aber tatsächlich denken viele Journalist*innen sehr ähnlich wie der Farmer Ray alias Kevin Costner: Wenn nur ihr Journalismus gut genug sei, dann kämen sie schon, die Leser*innen. Qualität schaffe Vertrauen.

Aber so einfach ist die Sache nicht. Das Reuters Institute for the Study of Journalism in Oxford hat gerade die erste Studie eines Forschungsprojekts veröffentlicht, das sich dem Thema „Vertrauen in den Journalismus“ widmet. Und die Ergebnisse werfen mindestens ebenso viele Fragen auf, wie sie Antworten geben. Denn die Gründe, warum Menschen Medien vertrauen oder eben nicht, sind vielschichtig und ebenso vielfältig wie das Publikum selbst. Das macht es Redaktionen schwer. Sie wissen, dass sie nur eine Zukunft haben, wenn sie vertrauensvolle Beziehungen zu ihren Nutzer*innen aufbauen. Aber wie das geht, dafür gibt es kein Rezept.

Für die Studie haben die Wissenschaftler*innen über 80 Interviews mit leitenden Journalist*innen und Medienmanager*innen in den USA, Großbritannien, Indien und Brasilien geführt. Sie machen immer wieder deutlich, dass es noch viel zu erforschen gibt, aber ein paar Dinge haben sich herauskristallisiert. Zunächst einmal – siehe oben – hängt Vertrauen nicht nur von Faktentreue und journalistischer Präzision und Aufwand ab, sondern oft auch davon, ob das Publikum und das Medium ähnliche Werte vertreten. In politisch polarisierten Gesellschaften wird es deshalb keiner Publikation gelingen, flächendeckend Vertrauen zu gewinnen. Jeder glaubt und vertraut der Marke, die das eigene Weltbild am ehesten widerspiegelt. Auch wenn sich Leser*innen in Umfragen überwiegend neutrale, faktenbasierte Berichterstattung wünschen, glauben sie dann doch am ehesten denjenigen, die überwiegend über Fakten berichten, die ihnen zusagen. Starke Medien-Marken haben es dabei leichter, als vertrauenswürdig durchzugehen.

Für manche gesellschaftliche Gruppen ist Vertrauen eine Frage der Repräsentation. Wenn Medien nie jemanden zitieren oder abbilden, der ihre Lebenswirklichkeit teilt, fühlen sie sich missachtet. Je weiter sich Redaktionen ihrem Publikum öffnen, desto offensichtlicher wird, dass deren Belegschaften und vor allem deren Führungsteams meist sehr homogene Gruppen sind. Die (überfällige) Debatte um Vielfalt in den Verlagshäusern ist eine Folge davon. Medien leiden unter der Vertrauenskrise wie alle Institutionen. Die Gründe dafür sind vielschichtig und haben nicht zuletzt mit der Aufmerksamkeits-Ökonomie der sozialen Netzwerke zu tun. Kaum jemand hat das so gut beschrieben wie Rachel Botsman in ihrem 2017 erschienenen Buch „Who can you trust: How technology brought us together and why it might drive us apart“. Die Forschung des Reuters Institutes zeigt, dass man dabei Politik und Medien als Schicksalsgemeinschaft verstehen muss. Der Digital News Report von 2020 belegt einen eindeutigen Zusammenhang: Dort, wo in der Politik mit harten Bandagen gekämpft und gestritten wird, sinkt auch das Vertrauen in die Medien.

Eine Vertrauenslücke gibt es auch, weil viele Menschen zu wenig darüber wissen, wie Journalismus entsteht, welchen Prinzipien, Standards und Regeln Journalist*innen folgen. Es hilft oft, das zu erklären. Aber wird zu viel offenbart und erklärt, kann das auch das Gegenteil bewirken. Journalismus sei letztlich wie Wurst herstellen, sagte einer der für die neue Studie Interviewten: Niemand wolle ganz genau wissen, wie Wurst hergestellt werde. Sprich, zu viel Transparenz zeigt auch, wie viel im medialen Tagesgeschäft letztlich improvisiert werden muss und wo Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Manch ein Erzeugnis verliert dann die Aura des Besonderen, mit dem man Vertrauen erwirbt.

Welche Erkenntnisse also sollten Journalist*innen in ihren Alltag mitnehmen, was müssen sie über Medienvertrauen wissen? Erstens und zur Beruhigung: So dramatisch, wie dies oft dargestellt wird, ist der Vertrauensverlust in die Medien nicht. In Deutschland zum Beispiel zeigt die Langzeitstudie Medienvertrauen der Universität Mainz erstaunlich stabile Werte, vor allem für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und für Lokalzeitungen. Und auch in anderen Ländern, wo zum Beispiel polarisierende Wahlkämpfe am Vertrauen gekratzt haben, entspannt sich die Lage meist wieder, wenn es politisch ruhiger wird. Zweitens: Journalistische Qualität mag nicht jeden überzeugen, aber schlechter Journalismus schreckt auf jeden Fall ab. Schon vermeintliche Kleinigkeiten wie Rechtschreibfehler können Vertrauen aushöhlen, auch Überschriften, die nicht zum Text passen, kratzen an der Glaubwürdigkeit. Drittens: Journalismus sollte seinem Publikum respektvoll und auf Augenhöhe begegnen, ebenso sollten es die Journalist*innen in der Kommunikation mit ihren Gegenübern halten. Gerade jüngere Generationen können mit dem zuweilen leicht herablassenden Habitus des traditionellen Journalismus nichts anfangen. Wer sich als Oberlehrer*in statt als Verbündete*r geriert, muss sich über Misstrauen nicht wundern. Viertens: Repräsentation schafft Vertrauen. Redaktionen sollten Vielfalt in der Belegschaft und im Inhalt pflegen. Fünftens: Autor*innen und Marken sollte transparenter mit den Bedingungen umgehen, unter denen ihr Journalismus entsteht. Welche ethischen Regeln gelten, wie werden Fakten überprüft, wo wird Automatisierung eingesetzt, wem gehört der Verlag, wieviel Diversität gibt es in der Redaktion, was tut man für den Datenschutz? Solche Angaben erklären nicht immer alles aber manchmal manches.

Die wichtigste Erkenntnis ist aber: Vertrauen ist kein statischer Zustand, sondern entsteht in Beziehungen, die stets gepflegt werden müssen. Nachlässigkeit und Fehler können es aushöhlen oder mit einem Schlag zunichte machen. In einer Welt des Überangebots an Quellen und Informationen kann sich deshalb niemand mehr hinter einer starken Marke verstecken. Redaktionen und ihre Journalist*innen müssen aus der Deckung kommen und sich Vertrauen immer wieder neu erarbeiten. Es hilft den Nutzer*innen, wenn sie diejenigen besser einschätzen können, die hinter den Nachrichten stecken, wenn sie spüren: Da ist jemand auf meiner Seite. Der Siegeszug der Podcasts hat auch etwas damit zu tun, dass Menschen – und eben auch Reporter*innen – in Gesprächsformaten glaubwürdiger wirken. Sie versprechen sich mal, zögern, lachen, sind verblüfft und das alles ohne Schminke und Schönheits-OP.

Es ist wichtig, sich über sinkende Vertrauenswerte den Kopf zu zerbrechen. Aber es gibt einen Trost: Gesunde Skepsis ist nicht nur ein Ausweis von Medienkompetenz, es ist die Grundhaltung aufgeklärter Bürger*innen in der Demokratie. Manchmal wird man heute die Geister nicht mehr los, die man gestern noch herbeigeschrieben hat.

Dieser Text erschien am 4. Dezember im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School. 

 

Kultur sticht Kommentar – Warum manch ein Leitartikel zur Frauenquote unglaubwürdig wirkt

Am 6. Juni 1971 erregte das Hamburger Magazin Stern mit einem Cover weltweites Aufsehen. „Wir haben abgetrieben“, ließ es 374 bekannte und unbekannte Frauen im Heft bekennen, 28 davon auf dem Titelbild. Das war damals mehr als ein Tabu-Bruch, es verstieß gegen das Gesetz. Im November 2020 schmückte wieder eine Promi-Galerie das Blatt: „Ich bin eine Quotenfrau“, liest man da, 40 erfolgreiche Frauen bekennen sich dazu. Die Assoziation wird gewollt gewesen sein, gesellschaftliche Befindlichkeiten erklären sich oft über die geltenden Tabus. Man kann die Aktion als Fortschritt verstehen oder mit leichtem Befremden zur Kenntnis nehmen, was heute als radikal gilt.  

Seitdem sich die Bundesregierung zur Frauenquote bekannt hat, werden jedenfalls auch die Leitartikel zum Thema wieder entstaubt. Nun, so mahnen deren Autor*innen an, müssten sich neben den Zahlen endlich Unternehmenskulturen ändern. Schließlich soll Vielfalt nicht nur von der Fototapete strahlen, sondern auch im vielfach belegten Sinne positiv wirken. So weit, so richtig. Allerdings lassen die Kommentator*innen dabei so gut wie nie durchblicken, wie es mit der Gleichstellung in ihren eigenen Redaktionen aussieht.

Eine solche Offenbarung wäre zwar unüblich aber interessant. Denn in den meisten Medienhäusern ist (wenn überhaupt vorhanden) schon das Zahlenwerk peinlich, die Kultur, nun ja. Dass gut gemeint nicht gut gemacht ist, lässt sich in diesen Fällen wörtlich verstehen.

Nun ist das Ganze eine komplexe Sache. Früher konnten CEOs das Thema „Frauenförderung“ noch mit Verweis auf den Betriebskindergarten abmoderieren. Bei der Kultur aber geht es ans Eingemachte: Es handelt sich um diejenigen Werte, Normen und Einstellungen, die den Unternehmensalltag bestimmen, ohne dass es dazu eine Ansage bräuchte. Dummerweise sind es genau jene ungeschriebenen Gesetze, die die Organisation bislang erfolgreich gemacht haben, zumindest nach Lesart ihres Führungspersonals. Deshalb gleicht der Aufruf zum Kulturwandel in den Augen mancher der Ansage, nun mal ordentlich an genau dem Ast zu sägen, auf man so gemütlich sitzt. Und das gerade in Zeiten, wo der Sturm ohnehin schon kräftig am Baum rüttelt. Das gilt in Medienhäusern genau wie anderswo auch.

Die Medienbranche leidet zudem noch unter einer Besonderheit. Vor allem in Redaktionen ist man oft stolz darauf, dass hier Journalist*innen führen und keine Manager*innen, die womöglich noch das Vokabular aus der Business School importieren. Professionelles Management ist in diesen Biotopen oft sehr kluger, schlagfertiger und beobachtungsstarker Individualist*innen nahezu verpönt. Das macht die Sache nicht leichter, aber die Unternehmenskultur eben auch nicht besser. Stöhnen die Mitarbeiter*innen in großen Häusern unter hierarchischen Strukturen, überkommenen Belohnungssystemen und Diskussions-Ritualen, in denen sich alles in Richtung Alpha-Mensch ausrichtet wie an einem Nordstern, beklagen sich jene in Neugründungen oft über nicht minder anstrengende und schwer zu durchblickende Buddy-Systeme. Kein Wunder, dass sich Neuzugänge, die eigentlich mehr Vielfalt bringen sollten, entweder mit Verve an die herrschende Kultur anpassen oder den Laden nach einer Weile genervt wieder verlassen, ohne viel bewirkt zu haben.

Wer in Sachen Vielfalt wirklich etwas verändern will, kommt nicht umhin, ein paar Instrumente in die Hand zu nehmen. Da geht es um professionelles Recruitment, Onboarding und Coaching. Wichtig ist ein anständiges Zahlenwerk dazu, wie sich die Belegschaft zusammensetzt und wie hoch die Verweildauer einzelner Gruppen ist. Außerdem sollte nicht nur der Input angeschaut werden (wer trägt hier bei?), sondern auch der Output (produzieren die Beitragenden tatsächlich mehr Vielfalt?). Und das in der Mitte darf keine Black Box bleiben. Wer und wie wird im Unternehmen belohnt, wie werden Diskussionen gefördert und gelenkt und wie holt man die ins Boot, die in der alten Kultur großgeworden sind und ihre Privilegien nun verteidigen? Da gibt es viel zu tun.

Für die Studie „Changing Newsrooms 2020“ hat das Reuters Institute for the Study of Journalism in Oxford kürzlich leitende Medienschaffende aus aller Welt zum Thema Vielfalt und Talent-Management befragt. Immerhin mehr als jede*r Zweite gab an, dass in ihrer*seiner Organisation Daten über die Diversität der Belegschaft und des Managements gesammelt würden, 46 Prozent sagten, bei ihnen sei jemand speziell für das Thema abgestellt, und immerhin ein Drittel gab zu Protokoll, es sei auch ein Budget dafür eingeplant. Allerdings war die Studie nicht repräsentativ, gibt also nur das Bild derjenigen wieder, die auch gerne geantwortet haben. Die wiederum waren erstaunlich selbstzufrieden. 40 beziehungsweise 43 Prozent stimmten der Aussage zu, sie seien gut darin, Mitarbeitende unterschiedlicher sozialer Herkunft und Ethnien in der Organisation zusammenzubringen. Erstaunliche vier von fünf Befragten gaben an, in Sachen Geschlechtergerechtigkeit einen guten Job zu machen.

Die Realität sieht anders aus, wie eine andere in diesem Jahr veröffentlichte Studie des Instituts zeigt. Demnach steht der Anteil an Chefredakteurinnen weltweit in einem starken Missverhältnis zum Anteil der Journalistinnen in Redaktionen. Die regelmäßig von Pro Quote veröffentlichten Zahlen für Deutschland zeigen, dass es auch hierzulande noch viel Luft nach oben gibt. Zudem kann Statistik über wahre Macht- und Einflussverhältnisse hinwegtäuschen. Zweifelsohne gibt es einen – allerdings nicht statistisch gestützten – Trend zur (jüngeren) Digitalchefin, die sich häufig auch Chefredakteurin nennen darf. Die Fäden ziehen trotzdem fast überall Chefredakteure und CEOs traditioneller Prägung. Man müsse es ja nicht gleich übertreiben mit dem Wandel, das mag die Denke der Gesellschafter sein. Oft allerdings fängt er deshalb gar nicht erst an. Die alte Kultur lebt weiter, der flammende Leitartikel zur Frauenquote verhallt.

Der Stern übrigens ist laut der Statistik von Pro Quote ein Vorbild in Sachen Gleichstellung, zumindest den Zahlen nach. Das mag auch daran liegen, dass das Mutterhaus Gruner+Jahr von CEO Julia Jäkel geführt wird. Für das Cover hat sie sich allerdings nicht fotografieren lassen.

Dieser Text erschien zuerst am 27. November 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School. 

Zu Unrecht in der Schmuddelecke – Warum Inhalte mit Nutzwert guter Journalismus sein können

In Redaktionen, deren besonderer Stolz ihre preisgekrönten und an Followern reichen Groß-Schreiber*innen oder -Filmemacher*innen sind, gehen Inhalte mit Service-Charakter oft noch nicht einmal als Journalismus durch. Zwar macht es manchmal deutlich mehr Mühe, die Vor- und Nachteile einer Steuerreform für verschiedene Bevölkerungsgruppen aufzudröseln oder zu recherchieren, für wen sich ein Elektroauto unter welchen Umständen lohnt. Aber echter Journalismus, so dachte man zumindest bis vor Kurzem, das ist doch die Reportage, in der es nur so kracht, das Hingucker-Foto vom gehaltenen Elfmeter, oder das durch geschicktes Fragen entlockte Politiker-Zitat, das es in die Abendnachrichten schafft. Für die Kolleg*innen, die sich mit „Nutzwert“ beschäftigten, hatte man in solchen Redaktionen maximal ein anerkennendes Lächeln, nicht selten aber auch etwas Mitleid. Könnte man solche Art von Fleißarbeit nicht den Volontär*innen überlassen? Man sei ja schließlich nicht die Stiftung Warentest.

Ausgerechnet die digitale Transformation ist nun dabei, den Journalismus mit Service-Charakter aus der Schmuddelecke zu befreien. Das Konzept „Audience first“ hält in den Redaktionen Einzug. Und beim Blick auf die Hitlisten dazu, für was das Publikum bereit ist, ein Abo abzuschließen, fallen Ratgeber-Inhalte stets deutlich auf.

Für die Redaktion des amerikanischen Philadelphia Inquirer zum Beispiel war das Konzept „News you can use“ schon immer wichtig. Im Angesicht der Corona-Pandemie hat sie ihren Service Newsdesk nun deutlich ausgebaut. „Service-Journalismus verbindet die Nachrichten mit dem Leben unserer Leser*innen“, sagte dessen Leiterin Megan Griffith Green kürzlich in einem Interview. „Ok, sie wissen jetzt, was passiert, aber was können sie in der Folge tun?“ Wenn man will, kann man die Gattung sogar als eine Art von konstruktivem Journalismus verstehen.

Man hätte es wissen können. Bücher zur Lebenshilfe waren schon immer Umsatzbringer, ob das den Umgang mit der Steuererklärung, dem Chef, der Lebenspartnerin oder dem eigenen Körper betrifft. Und so hoffieren Ressortleiter*innen neuerdings jene Kolleg*innen, die sich mit Themen wie Immobilien, Kulinarik oder Fitness besonders gut auskennen. Verglichen mit den Teams aus Politik oder Feuilleton hatten sie früher in der redaktionellen Hackordnung wenig zu melden. Manch einer verortete sie gar in gefährlicher Nähe von kommerziellen Interessen, direkt an der grauen Grenze zwischen Redaktion und Verlag. Heute, wo kommerzielle Interessen nicht weniger bedeuten, als das nackte Überleben, bittet man sie, Newsletter zu erstellen und Veranstaltungen zu konzipieren.

„Engagement“ ist das große Thema, also der Aufbau von stabilen und aktiven Beziehungen zwischen Redaktion und Publikum. Und siehe da, Leser*innen engagieren sich besonders dann, wenn sie etwas davon haben – und seien es nur Unterhaltung, Zeitvertreib oder Unterstützung auf dem Weg zum gefüllten Magen. Von den etwa sechs Millionen Digital-Abonnenten der New York Times zum Beispiel beziehen deutlich mehr als eine Million lediglich die Apps mit den Kreuzworträtseln oder den Kochrezepten. Produkte zum Mitmachen sind beliebt und wirkungsvoll, denn sie halten die Kunden auf der Seite. Rätsel und Spiele gehören dazu, die je nach Markenkern auch ruhig mal anspruchsvoll sein können. Die britische Financial Times gewann 2018 mit ihrem Uber Game, das die Zustände in der Gig Economy gut recherchiert aber spielerisch verdeutlicht, sogar eine Goldmedaille für ernsthafte Spiele.

Tatsächlich animiert die Digitalisierung Redaktionen dazu, Journalismus auch mal über den Kanon des bildungsbürgerlichen Ideals hinaus zu denken. Konsument*innen werden zu Nutzer*innen, die sich interaktiv betätigen, statt medialem Frontalunterricht zu lauschen. Dadurch muss der Journalismus nicht flacher werden, wie das manche Traditionalist*innen befürchten. Er macht sich nur ein anderes Menschenbild zu eigen. Leser*innen sind nicht nur Staatsbürger*innen, die man über die Leistungen der Entscheider*innen aus Politik und Wirtschaft, womöglich noch jene der Stars aus Kultur und Sport, aufklären muss. Nein, sie treffen auch täglich Entscheidungen, die politisch im Kleinen sind: Nach welchen Werten gestalten sie ihren Alltag, ihr Konsumverhalten, ihr Berufsleben, welches Rüstzeug geben sie ihren Kindern mit, wie wursteln sie sich durch die unendliche Zahl an Entscheidungen, die das moderne Leben jedem abverlangt? Je freiheitlicher ein System, desto vielfältiger sind die Weggabelungen, an denen man abbiegen kann. Journalismus, der sich als Dienstleistung versteht, hat für die wichtigsten zumindest ein paar Orientierungshilfen parat.

Dieser Text erschien für das Digital Journalism Fellowship im Blog der Hamburg Media School am 19. November 2020 

Das Ende des journalistischen Bauchgefühls

Warum tun sich Journalisten und ihr Publikum manchmal so schwer miteinander? Auch, weil häufig das Maß nicht stimmt. Das richtige Maß an Tempo, an News, Verständnis, Vorwissen, Vielfalt. Und Teamarbeit.

Da waren sie wieder, die zwei Seelen in meiner Brust, und sie rangen heftig miteinander. Als die amerikanische Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg im September ihren Kampf gegen den Krebs verlor, wollte sich die Leserinnen-Seele in tiefem Respekt vor der Juristin verneigen, die zur Ikone geworden war. Bis zuletzt hatte RBG, wie sie von ihren Fans fast zärtlich genannt wurde, am Supreme Court für die gleiche Behandlung von Frauen und Männern, für die Rechte der Schwachen gefochten. Im Angesicht des Todes dieser großen Persönlichkeit hätten auch die Redaktionen innehalten müssen, fand die Leserin. Wenigstens für ein paar Stunden hätten sie allein Ruth Bader Ginsburg würdigen können.

Die Journalistinnen-Seele in mir hingegen verstand den Reflex nur allzu gut, der durch praktisch alle Schlagzeilen schwappte. Weiterdrehen, heißt der im Branchen-Jargon, zeigen, was man drauf hat an analytischer Schärfe und politischem Verstand, nicht stehenbleiben beim Ereignis, sondern die Folgen ausleuchten. Bader Ginsburg wird geahnt haben, dass Präsident Donald Trump, dem sie noch 87-jährig und schwerkrank die Stirn geboten hatte, selbst die Nachrichten über ihr Lebensende dominieren würde.

Journalismus bedeutet auch Atemlosigkeit. Schneller sein als andere, besser als die Konkurrenz, weiter denken, pointierter kommentieren – manchmal wissen die Redakteurinnen, Reporter und Kommentatorinnen gar nicht mehr so genau, wen sie damit eigentlich beeindrucken wollen: wirklich das Publikum? Oder vielleicht doch eher den Ressortleiter, die Chefredakteurin, die Kollegen in einer von Krisen gezeichneten Branche? Oder gar nur sich selbst? Man hat das schließlich so gelernt. Erster sein ist wichtig, und wenn man Zweiter ist, muss man wenigstens besser sein. „Better right than first“ heißt ein gängiger Lehrsatz in vielen Redaktionen, die natürlich trotzdem alles Erdenkliche daran setzen, „first“ zu sein.

Wissen die Leser*innen das Tempo zu schätzen?

Aber wie sehen das diejenigen, für die dieser ganze Aufwand eigentlich betrieben werden sollte: die Leser, Hörerinnen, Zuschauer und Nutzerinnen? Wissen sie das Tempo zu schätzen? Fragt man sie, fällt das Urteil recht wohlwollend aus. Rund zwei Drittel der Onlinenutzer stimmten laut dem Digital News Report von 2019 der Aussage zu, dass die Medien gut darin seien, sie über das Tagesgeschehen auf dem Laufenden zu halten. All die Push-Meldungen und eilig zusammengezimmerten Nachrichten zahlen sich also aus, könnte man meinen. Das wäre erfreulich, würde die Beurteilung anderer journalistischer Qualitäten im Vergleich dazu nicht einigermaßen steil abfallen. Gerade einmal jeder zweite Onlinenutzer attestierte den Redaktionen nämlich, die Meldungen des Tages auch angemessen zu erklären. Noch weniger Studienteilnehmer waren der Meinung, dass Journalist*innen einen guten Job dabei machen, den Mächtigen auf die Finger zu schauen. In zwei Kategorien schnitten die Medien besonders schlecht ab. Nicht einmal jeder Dritte fand, dass die ausgewählten Themen für sein tägliches Leben relevant sind. Und gerade einmal 16 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, dass die Medien in der Berichterstattung den richtigen Ton wählen. Der häufigste Vorwurf: Sie seien zu negativ.

„Die größte Herausforderung der digitalen Transformation ist nicht die Technik, sondern der Kulturwandel.“

Man kann das jetzt mit der Begründung abtun, dass das ja nur eine Umfrage ist. Man kann gar damit kontern, selbst viel gefälligere Zahlen vorweisen zu können, wie es der Intendant eines deutschen öffentlich-rechtlichen Senders einmal in kleiner Runde getan hat. Man kann aber auch darüber nachdenken. Beim Digital News Report handelt es sich immerhin um die weltweit größte fortlaufende Online-Untersuchung zum Medienkonsum. Das Reuters Institute for the Study of Journalism der University of Oxford publiziert die Studie jährlich im Juni. Im laufenden Jahr hatten sich mehr als 80.000 Nutzer aus 40 Ländern daran beteiligt, im genannten Jahr 2019 waren es nur unwesentlich weniger. Und auch wenn Durchschnittswerte in Umfragen nie die ganze Geschichte erzählen, ist die Tendenz eindeutig: Nach Meinung des Publikums ist Journalismus zwar aktuell, aber zum Teil nicht besonders relevant. Dazu sei er so negativ und in der Menge oft erschlagend, dass etwa ein Drittel der Leser*innen mindestens zeitweise zu Nachrichten-Verweigerern wird.

Ja, aber …

Wer dem Journalismus erst einmal aus dem Weg geht, weil er ihn nervt, überfordert oder ihm keinen Mehrwert bietet, der ist nicht nur als zahlender Kunde verloren. Er oder sie taucht gar nicht erst in den Nutzerdaten auf, die Präferenzen abbilden sollen und aus denen Redaktionen Schlussfolgerungen darüber ziehen, was inhaltlich „läuft“. Noch schwerer wiegt allerdings: Journalismus-Verweigerer sitzen womöglich schneller Falschmeldungen auf und sind generell weniger gut in der Lage, als Bürger*innen informierte Entscheidungen zu treffen. Die Publikumsnähe des journalistischen Angebots steht in direktem Verhältnis zur Qualität der Demokratie.

Journalist*innen reagieren auf derartige Denkanstöße häufig mit einem beherzten „Ja, aber“. Die Leser*innen verschlängen doch aber alles, was Katastrophe, Streit, Drama und Unglück in der Unterzeile habe. Die Nutzerdaten belegten dies. Investigativ-Reporter*innen widersprechen noch vehementer. Es sei schließlich ihr Job, dem Publikum schlechte Laune zu machen. Nur wenn man Missstände aufdecke, ändere sich etwas zum Guten, argumentieren sie. Beides stimmt. Die Frage ist nur: Findet der Journalismus das richtige Maß? Schließlich geht es darum, ein größtmögliches Publikum zu begeistern. Wer die Job-Beschreibung „vierte Gewalt“ ernst nimmt, darf sich nicht damit zufriedengeben, vor allem im politischen Betrieb oder von der Konkurrenz gelesen zu werden. „Warum hatten die das und wir nicht?“, diese Frage wird in den meisten Redaktionskonferenzen vermutlich mit mehr Nachdruck gestellt als: „Warum interessiert die Leute dieser Stoff nicht, und wie können wir das ändern?“

Eine zunehmend wichtige Frage für die demokratische Wirksamkeit von Journalismus ist außerdem, wen er überhaupt (noch) erreicht. Wenn man ehrlich ist, war diese Quote noch nie so grandios. Zumindest dann nicht, wenn man die gesamte Gesellschaft als Grundlage nimmt. Den Qualitätsmedien ist es zum Beispiel immer schon viel schwerer gefallen, Leserinnen – in diesem Fall bewusst in der weiblichen Form – für sich einzunehmen. Insbesondere bei Wirtschaftstiteln war (und ist) die Leserschaft zu rund 80 Prozent männlich. Das liegt nicht daran, dass sich Frauen nicht für Wirtschaft oder Politik interessieren, im Gegenteil. Viele von ihnen fühlen sich nur nicht angesprochen von einem Journalismus, der sich in Ton und Inhalt rauf und runter um Wettbewerb, Sieg und Niederlage, Helden und gefallene Helden dreht. Leserinnen begeistern sich tendenziell mehr für Auswirkungen von Politik auf den Alltag, persönliche Geschichten, die auch Hoffnung machen, weil sie Wege aus Krisen aufzeigen. Über ständigen Schlagabtausch zu lesen, empfinden sie als ermüdend und Verschwendung ihrer ohnehin knapp bemessenen Zeit.

Junge Leute kreiden den Medien den Hang zur schlechten Laune besonders stark an. Auch mit Sarkasmus und Ironie, auf die man in Redaktionen oft so stolz ist, kommen sie schlecht klar. Sie wünschen sich vom Journalismus mehr Nutzwert für ihr Leben, bessere Erklärungen und gerne auch ein bisschen Spaß – aber eben nicht jenen, der mit einer gewissen Überheblichkeit auf Kosten anderer geht. In persönlichen Gesprächen mit Studierenden verschiedener Fachrichtungen scheint dies ein ums andere Mal durch. Die qualitative Studie How Young People Consume News von Nic Newman vom Reuters Institute belegt ein entsprechendes Nutzerverhalten. Redaktionen müssen diese Bedürfnisse ernst nehmen. Schließlich gibt es kaum ein Medienhaus, das nicht die Sorge hat, die nachwachsenden Generationen an Youtube- oder Instagram-Held*innen oder gleich ganz an Netflix zu verlieren.

Aus der Perspektive der Demokratie sollte es Journalist*innen aber ganz besonders sorgen, dass der digitale Graben in der Mediennutzung tiefer wird. Diejenigen, die hochgebildet und versiert im Umgang mit Online-Angeboten sind, finden in der digitalen Informations- und Medienwelt heute sehr viel bessere, das heißt vielfältigere, hochwertigere und faktenreichere Angebote als in der Zeit vor Suchmaschinen und sozialen Netzwerken. Viele derjenigen hingegen, die früher wenigstens dann und wann mal zur Zeitung griffen, die Fernsehnachrichten anschalteten oder das Radio laufen ließen – und sei es aus Langeweile –, haben heute so viele Möglichkeiten zur Ablenkung und zum Zeitvertreib, dass sie immer seltener mit Journalismus in Kontakt kommen. Forschung belegt das.

„Nach Meinung des Publikums ist Journalismus zwar aktuell, aber zum Teil nicht besonders relevant.“

Journalismus hat also eine gewaltige Bringschuld. Es gilt, das Publikum in all seiner Vielfalt dort abzuholen, wo es ist: auf den Plattformen, die es nutzt, zu den Zeiten, an denen es sich dort aufhält, mit Formaten, die ihm gefallen. Voraussetzung ist allerdings, dass Redaktionen diese Vielfalt erst einmal erkennen. Das fällt ihnen umso schwerer, je ähnlicher die Kolleginnen und Kollegen einander sind, ganz gleich ob das die Ausbildungswege, das Geschlecht, das Alter, die soziale oder die ethnische Herkunft betrifft.

Ein großer und verbreiteter Irrtum ist, dass man sich um Diversität immer noch kümmern kann, wenn die digitale Transformation erst einmal bewältigt ist. Nein, Vielfalt steht im Kern des Wandels hin zu einem Angebot, das die Produkte vom Publikum her denkt. Anders formuliert: Die größte Herausforderung der digitalen Transformation ist nicht die Technik, sondern der Kulturwandel. Diversität muss nicht nur geschaffen, sondern auch geschätzt und gelebt werden.

Vor allem für Journalist*innen heißt das umlernen. Dabei geht es nicht nur um neue Fähigkeiten, die man sich in ein paar Kursen draufschaffen kann. Die Digitalisierung hat die Machtverhältnisse zwischen Nutzern und Produzenten wenn nicht umgekehrt, so doch zumindest ins Wanken gebracht. Früher gab es Bücher wie Den Wirtschaftsteil der Zeitung richtig lesen und nutzen. Auch wer gut ausgebildet war, sollte sich ruhig noch ein wenig anstrengen. Die Medien erzogen sich ihr Publikum, wer nicht folgen konnte, war raus. Das Geld kam ja ohnehin woanders her: von den Anzeigenkunden, die vor allem am zahlungskräftigen, gebildeten Publikum interessiert waren.

Heute sind die Verlage auf jede zahlende Nutzerin, jeden Nutzer angewiesen. Gebrauchsanweisungen liest aber niemand mehr. Wer nicht intuitiv versteht, warum etwas wichtig ist, wie man es nutzt und worauf es ankommt, wendet sich ab. Ein anderes Angebot wartet schon. Die neue Aufgabenstellung heißt also: Nachrichten so anschaulich machen, dass sie möglichst viele Menschen erreichen, die sie verstehen, nutzen können und sich dabei nicht langweilen.

Seite an Seite mit Entwicklern

Das Gute ist, dass es dafür mehr Plattformen und Möglichkeiten gibt als je zuvor. Der Instagram-Post, das TikTok-Video, der Podcast, die interaktive Infografik, virtuelle Realität, ein Videospiel, der E-Mail-Newsletter – was sich für welche Stoffe und Zwecke eignet, lässt sich ausprobieren. Anders als früher weiß man heute dank neuer Datenfülle zum Glück ziemlich genau, was funktioniert. Wer es nicht immer genau weiß sind die Redakteure und Reporterinnen, die ihr Berufsleben lang ihr Bauchgefühl trainiert haben. Das führt noch immer zu manchem Scoop. Aber im Zusammenspiel der verschiedenen Funktionen in den Verlagshäusern schwindet die Definitionsmacht der Journalist*innen. Produkte, die das Publikum begeistern, können nur Seite an Seite mit Entwicklern, Daten- und Marketing-Spezialisten erfunden, gebaut und getestet werden.

Das Bauchgefühl kann irren

Und es kommt noch schlimmer, wenn man das so formulieren will. „Die Leitung des Teams muss immer jemand von der Business-Seite haben“, sagt Anna Aberg, Digitalchefin der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter, die sich durch besondere Innovationsfreude auszeichnet und bei den Digital-Abos schnell wächst. Das ist für manch eine Journalist*in schwer zu ertragen. Es kratzt tief am Selbstverständnis eines Berufsstands, in dem in weiten Teilen heute noch so ausgebildet und geführt wird wie vor 20 Jahren. Es ist ein Berufsstand, der alles Recht dazu hat, stolz darauf zu sein, was von Reporterinnen und Redakteuren täglich geleistet, riskiert und durchgefochten wird, dessen Stolz aber viel zu häufig mit einem Überlegenheitsgefühl einherging – dem Publikum gegenüber und auch den eigenen Kollegen. Mit großem Selbstverständnis haben Journalist*innen die Mitstreiter*innen vom Marketing, der Infografik oder der IT-Abteilung lediglich als Zuarbeiter verstanden. Teamarbeit geht anders, Kundenorientierung auch.

Zum Glück wächst in den Verlagen eine neue Generation heran, die Führung ernst nimmt und als ständiges Lernen versteht. Dazu gehören übrigens auch jene älteren Semester, die es nie gemocht haben, dass man jede schlampige, ungerechte oder unsinnige Entscheidung mit dem eigenen „Bauchgefühl“ rechtfertigen kann. Dies könnte den Ton nicht nur in den Redaktionskonferenzen verändern, sondern womöglich ebenso den der Produkte, für die sich die Nutzer*innen begeistern sollen.

Journalist*innen leisten viel für die Demokratie. Manche riskieren dafür ihre Gesundheit, einige sogar ihr Leben. Dennoch legitimiert sich Journalismus nur über sein Publikum, wie Rasmus Kleis Nielsen, Direktor des Reuters Institutes in Oxford, zu sagen pflegt. Journalismus ist manchmal Kunst, aber viel öfter Dienstleistung. Seine Grundhaltung ist Mut. Vor allem aber sollte es auch Demut sein. 

Dieser Text erschien in „Journalist“, gedruckte Ausgabe November 2020, online am 9. November 2020.

Zukunft oder doch nur Trend? Warum der Konstruktive Journalismus beides ist

Die Digitalisierung hat Journalist*innen verspielt gemacht. Richtete sich die Entscheidung zwischen Text, Ton, Bild oder Film früher danach, wo man dereinst seinen Arbeitsvertrag unterschrieben hatte, haben neue Geräte und Plattformen Redaktionen zu Spielwiesen gemacht, auf denen man schon mal die Orientierung verlieren kann. Soll Journalismus künftig überall so aussehen wie Snowfall? (Nein, soll er nicht.) Und wird diese Podcast-Obsession das Angebot wirklich grundstürzend verändern? Oder ist der Hang zur nackten Tonspur auch nur eine Mode, die spätestens dann vergeht, wenn jeder seine paar Lieblings-Teile gefunden hat? Ähnliches kann man sich beim Constructive Journalism oder Solutions Journalism fragen, über den plötzlich so viele in der Branche reden, wenn sie nicht mehr weiterwissen. Ist das Trend, oder bleibt das da?

Eine mögliche Antwort auf diese Frage wäre: Wenn konstruktiver Journalismus mehr ist als ein Trend, wird sich das darin zeigen, dass er verschwindet. Denn erst dann, wenn journalistische Werke und Produkte grundsätzlich davon beseelt sind, Wege aus Krisen, Auswege aus Sackgassen und Lösungen für Probleme auszuarbeiten, haben sie ihr Qualitätsversprechen eingelöst. Ziel des konstruktiven Journalismus muss es also sein, das gesamte Feld zu durchdringen und sich damit als Genre überflüssig zu machen. Auf dem diesjährigen Constructive Journalism Day von NDR Info und Hamburg Media School ließ sich das aus den Beiträgen der Teilnehmer*innen zumindest so herauslesen.

Die Gründer*innen des Constructive Institute in Aarhus und des ähnlich wirkenden Solutions Journalism Network in New York können das vermutlich abwarten. Derzeit profitieren sie jedenfalls von dem Run auf ihre Ratschläge. Immerhin fragen sich Journalist*innen aus aller Welt, wie man der Atemlosigkeit des Nachrichtengeschäfts mit ihren Eilmeldungen und dem Info-Overkill etwas entgegensetzen kann, das beim Publikum mehr auslöst als schlechte Laune, Ohnmachtsgefühle und Fluchtinstinkte. Und die Flucht findet statt: So gibt jede*r dritte Nutzer*in von digitalen Medien an, Nachrichten zum Teil bewusst und manchmal auch dauerhaft aus dem Weg zu gehen, wie aus dem Digital News Report hervorgeht. Die Tendenz ist steigend, vor allem immer in den Ländern, in denen die politischen Verwerfungen besonders groß sind.

Manche Redaktionen lassen sich von der Tatsache täuschen, dass die Nutzer*innen besonders häufig auf jene Geschichten klicken, in denen es knallt, kracht und raucht. Allerdings ist der Effekt ähnlich dem beim Zuckerkonsum: Der Blutzuckerspiegel steigt schnell, man möchte mehr, aber zufrieden ist man noch lange nicht. Diejenigen Stücke, für die Nutzer*innen bereit sind, ein Abo abzuschließen, sind eher die mit Nährwert. Sie bieten neben Schwarz und Weiß auch andere Farben.

Nun geht es beim Konstruktiven Journalismus, mit großem K, keineswegs darum, künstlich gute Laune – oder noch schlimmer: Langeweile – zu produzieren. Besonders Kolleg*innen vom investigativen Fach fühlen sich vom neuen Hype zuweilen angegriffen. Sie lesen daraus die Kritik, sie würden das Gegenteil von Rosinenpicken betreiben, sich nämlich stets nur aufs Schlechte in der Welt konzentrieren. Wahr ist aber, harte Rechercheur*innen sind wichtig wie eh und je. Jede Problemlösung fängt schließlich mit einem anständigen Problem an. Und Missstände aufzudecken, ist nach wie vor die Job-Beschreibung von Reporter*innen. Aber das Problem darf eben tatsächlich nur am Anfang stehen. Bastian Berber, bekennender konstruktiver Journalist und für seinen Podcast „180 Grad: Geschichten gegen den Hass“ausgezeichnet, beschreibt das so: Journalismus sei oft gut darin, die Vergangenheit und die Gegenwart abzubilden, nur mit der Zukunft klappe das manchmal nicht so richtig. Konstruktiver Journalismus sei eben der nächste Schritt, er zeige die Perspektive auf.

Nina Fasciaux, Europachefin vom Solutions Journalism Network, sieht investigativen Journalismus und Solutions Journalism deshalb auch nicht als Gegensatz. Beide ergänzten sich. Allerdings gehe der lösungsorientierte Journalismus auch an die Problemdefinition etwas anders heran. Als Beispiel nennt sie eine Redaktion in einer südfranzösischen Kleinstadt, die ihre Kolleg*innen regelmäßig wetten lasse, welches Thema die Menschen gerade am meisten bewege. Fragten sie dann ihr Publikum, komme stets heraus: Die Redakteur*innen lagen mal wieder falsch. Die Lektion: Was die Chefredakteur*innen beeindruckt, lässt die Nutzer*in womöglich kalt. Ernst machen mit „Audience first“ heißt eben automatisch, konstruktiver zu werden.

Eine traurige Wahrheit für den Journalismus ist: Wer sein Weltbild nur aus den Medien bezieht, hält den Menschen eher für schlecht, die Menschheit gar für unverbesserlich. Wer sich dagegen auf eigene Erfahrungen und Daten stützt, bekommt überwiegend ein anderes Bild. Gegen schlechte Laune hilft es zum Beispiel zuweilen, sich die Langzeit-Statistiken von Ourworldindata.org anzuschauen. Aus den Datenwerken des vom deutschen Ökonomen Max Roser in Oxford geleiteten Projekts wird schnell deutlich: Die Welt ist heute weniger gefährlich und weniger ungerecht als noch vor Jahrzehnten, viele große Probleme wurden, wenn nicht ganz gelöst, so doch recht erfolgreich bekämpft. Man könnte auch sagen, die Menschheit an sich ist konstruktiv. Der Journalismus wäre gut beraten, dem zu folgen.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 12. November 2020.

„Er hat’s doch gesagt!“ Auch Zitate sind Fakten, aber wie damit umgehen?

Es war ein Moment zum Luftanhalten, als sich US-Präsident Donald Trump im November 2020 inmitten der Wahl vor laufenden Kameras zum Sieger erklärte. „Frankly, we did win this election“, sagte er in einer Ansprache im Weißen Haus, die vor falschen Behauptungen nur so strotzte. Wer freie, gleiche und geheime Wahlen als vornehmste Disziplin der Demokratie wertschätzt, kann das Video der Rede nur mit Mühe ertragen. Klar ist, in so einem Fall müssen Journalist*innen berichten. Das ist ein Zitat für die Geschichtsbücher, gerade weil es das bestätigt, was man schon seit etwa vier Jahren weiß, nämlich dass sich Trumps Respekt für den demokratischen Prozess nur wenig über der Nulllinie bewegt. Hat es aber deshalb eine Eilmeldung verdient? Nicht wirklich, denn in der Hitze der Nacht könnte so manch einer die ohne Kontext auf dem Sperrbildschirm zitierte Behauptung als Tatsache gelesen haben.

Immerhin waren die großen amerikanischen Sender dieses Mal vorbereitet und auf der Hut. Sie unterbrachen ihre Live-Schalten und klärten ihr Publikum darüber auf, dass die Wahl keinesfalls schon entschieden sei. „Lassen Sie uns offen sein: Das ist das Theater autoritärer Regimes“, sagte ABC-Reporter Terry Moran. Und selbst der dem Präsidenten nahestehende Sender Fox News rückte seine Behauptungen gerade. Der Präsident habe hier ein Streichholz in eine leicht entflammbare Situation geworfen, sagte deren Moderator Chris Wallace. Die vielfach gescholtenen sozialen Netzwerke Twitter und Facebook versahen entsprechende Tweets mit dem Hinweis, hier sei noch alles offen.

Journalist*innen lernen dazu, aber es fällt ihnen immer noch schwer, mit einem Präsidenten umzugehen, der mit den Medien zu spielen versucht wie auf einem Klavier. Seine Taktik ist so durchschaubar wie schwer zu fassen: Erstens diskreditiert er die Branche als Ganzes, um das Vertrauen in die vierte Gewalt als Institution zu untergraben. Zweitens produziert er Berge an Inhalten, die es über die Reizschwelle der Aufmerksamkeits-Ökonomie schaffen und setzt damit die Agenda. Redaktionen verwenden eine Menge Ressourcen darauf, über entsprechende Tweets zu berichten und Behauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Drittens geht es ihm um Dauerpräsenz in den Medien. Schon im Wahlkampf 2016 war es Trump gelungen, um ein Mehrfaches so häufig in Bild, Text und Tonspur zu erscheinen, wie seine Mitbewerberin Hillary Clinton. Als Amtsinhaber flog ihm das Interesse naturgemäß zu.

Mit dieser Taktik suggeriert Trump seinen Anhängern Aktivität, Virilität und Kampfgeist – all das, was sie an ihm schätzen. Dazu gehört sein Hang zum Bruch mit Regeln und Konventionen. Klar ist, dass 2020 mehr Menschen für Trump gestimmt haben als vor vier Jahren, nicht trotz sondern wegen seiner Rhetorik und Strategie. In der Aufmerksamkeits-Ökonomie ist Reichweite die wichtigste Währung.

Wie sollen Medien also mit Behauptungen umgehen, die ungeheuerlich sind, aber aus dem Mund, der Feder oder Tastatur von Entscheidern kommen? Journalist*innen werden oft zu Lautsprechern von Politiker*innen. „Er hat gesagt, … sie hat gesagt“ ist nicht nur die ständige Begleitmusik von politischer Berichterstattung, sondern oft auch ihr Kern. „Er hat’s doch gesagt!“ ist die Rechtfertigung dafür. Dahinter steckt die Idee, dass man das politische Personal an seinen Worten messen und in größtmöglicher Transparenz zeigen möchte, mit wem es die Wähler zu tun haben. In dem Fall betrachten Reporter*innen Aussagen als Fakten, die man in ihrem Kontext verstehen muss: Jemand Bedeutendes hat etwas geäußert, das sagt etwas über ihn oder sie aus. Womöglich trägt es zur Entzauberung bei. Reporter*innen haben dabei oft ein gutes Gefühl. Kommen sie doch damit ihrer Verpflichtung nach, möglichst neutral zu berichten.

Kritisch ist aber, dass solche Aussagen nicht neutral nebeneinander stehen bleiben wie Flaschen in einem Regal, aus dem sich jeder nach seinem Geschmack bedienen kann. Denn je lauter und reichweitenstärker sie verbreitet werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Geschehen an sich beeinflussen. Siegestrunkenes Gebrabbel nach Schließung der Wahllokale mag keine Wählerstimme mehr wenden, aber möglicherweise ein paar Menschen dazu motivieren, sich den proklamierten Sieg auch „zu holen“, notfalls mit Gewalt. Je öfter eine Kandidatin im Bild erscheint, desto „normaler“ und wählbarer wird sie, auch wenn sie kein Programm hat. Und je mehr Falsches ein Kandidat auf der Tonspur verbreitet, umso größer ist der Abstumpfungseffekt. Redet jemand viel Blödsinn, werden womöglich noch jene Aussagen hervorgehoben, in denen „er jetzt wirklich mal Recht hat“.

Es ist deshalb sehr wohl entscheidend, darüber zu reflektieren, wann man wem welche Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt. Schließlich werden Falschbehauptungen von Politiker*innen üblicherweise erst von traditionellen Medien in der Fläche verbreitet, auch wenn sie dort dann richtiggestellt werden. Anders als oft angenommen, beeinflussen sie den Diskurs in der Breite noch immer deutlich stärker als soziale Netzwerke. Redaktionen sollten deshalb deutlich mehr darüber berichten, was tatsächlich geschehen ist, als darüber, was jemand gesagt oder angekündigt hat. Jedes journalistische Ressort tut gut daran zu überprüfen, ob in seinen Produkten die entsprechende Balance stimmt. Das ist selten der Fall, denn Zitate aufzulesen ist billig, Recherche ist teuer. Aber Lautsprecher findet das Publikum meist auch anderswo, Recherchen seltener.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 6. November 2020.

„America first“ oder „America alone“? Warum nicht jeder Medien-Trend über den Atlantik schwappt

In Deutschland neigt man dazu, Entwicklungen und Experten aus den USA mit einiger Ehrfurcht zu begegnen – ein gewisser, mancherorts herrschender Anti-Amerikanismus ist lediglich die Kehrseite davon. Das Silicon Valley gilt vielen noch immer als Hort der Innovation, Universitäten wie Harvard, Stanford oder Princeton als erste Adressen für den Nachwuchs der Mittelschicht, und die populären Literat*innen der amerikanischen Ostküste als Vorbilder dafür, wie Literatur zu klingen hat, wenn sie Tiefgang und, man könnte sagen, Nutzerfreundlichkeit vereinigen soll. Seit den Exporterfolgen von Coca Cola, Rockmusik und Facebook dominiert zudem die latente Erwartung, dass das, was „da drüben“ passiert, irgendwann in einer Art Zwangsläufigkeit über den Atlantik schwappen wird.

Das gilt auch für die deutsche Medienbranche. Der Deutschland-affine Jeff Jarvis, Professor an der City University New York (CUNY), wird schon mal zu Führungskräfte-Events deutscher Verlage eingeladen, die sich damit international geben wollen. Und auf dem „Journalism Summit“ bei den Medientagen München darf Jay Rosen, Professor der New York University, den Journalismus einst, jetzt und in Zukunft erklären. Das ist gut, weil man den neuesten Auswüchsen der Branchenkrise am besten vorbereitet begegnet. Allerdings sieht diese Krise in den USA dann doch einigermaßen anders aus als diesseits des Ozeans – zum Glück.

Wahr ist, dass die Dominanz der Plattform-Konzerne mit ihren gnadenlos nach kommerziellen Kriterien optimierenden Algorithmen Medienhäuser und Redaktionen weltweit vor sehr ähnliche Herausforderungen stellt. Auf der einen Seite verlieren sie Werbeeinnahmen, auf der anderen müssen sie sich die einst hoheitliche Beziehung zu ihrem Publikum neu erobern, was manchen weniger gut, anderen gar nicht mehr gelingt. Wahr ist aber auch, dass die Medienkrise in den USA deutlich stärkere Schneisen in die Landschaft schlägt als anderswo. Der Begriff „News Deserts“ wurde dort erfunden, und dort gehört er auch hin.

News Deserts, das sind Orte oder ganze Landstriche, in denen es keinerlei lokale Versorgung mit Journalismus mehr gibt, weil die einzige Lokalzeitung dichtgemacht hat. Und – hier der erste entscheidende Unterschied – weil es in den USA keinen dem europäischen Modell vergleichbaren flächendeckenden öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt, der den Auftrag hat, die Bevölkerung in der Fläche mit journalistischen Angeboten zu versorgen.

Wo es keine Lokalzeitung mehr gibt, so ist es vielfältig belegt, findet keine publizistische Kontrolle von Institutionen mehr statt, weniger Menschen gehen oder stellen sich zur Wahl, die öffentlichen Finanzen laufen eher aus dem Ruder als anderswo. In den meisten europäischen Ländern versuchen mindestens wackere Lokalreporter öffentlich-rechtlicher Anstalten, die Bürger*innen auf dem Laufenden zu halten und ihnen eine Stimme zu geben. Dort, wo es diese von Regierungsinteressen einigermaßen unabhängigen Sender gibt, ist die Gefahr deutlich geringer, dass Einwohner*innen ganzer Landstriche allein auf Facebook oder WhatsApp-Gruppen ausweichen müssen, um Informationen aus ihrem Umfeld zu ergattern – mit all den Folgen, die das haben kann.

Eine zweite amerikanische Besonderheit, die es in der Breite eher nicht nach Europa schaffen wird, ist die bedingungslose Unterwerfung der Medienbranche unter die Gesetze des Kapitalismus. Wo zum Beispiel der Hedge Fonds Alden Global Capital wütet, bleibt oft nicht mehr viel übrig von Branchengrößen, deren Redaktionen einst Pulitzer-Preise sammelten. Die Liste der Verlagshäuser ist lang, deren Belegschaften nach Hause geschickt und deren Assets ausgepresst wurden, bis nur noch Hüllen übrigblieben. Der amerikanischen Demokratie hat dies mit Sicherheit nicht genützt. Um wenigstens den Journalismus zu retten, streicht derzeit ein Medium nach dem anderen die Zahl der Wochentage zusammen, an denen noch eine Zeitung aus Papier erscheint. Wie in dieser Woche bekannt wurde, werden zum Beispiel beide Zeitungen in Salt Lake City künftig nur noch einmal statt siebenmal in der Woche erscheinen.

In Deutschland und anderswo in Europa hingegen gibt es kaum Anzeichen für einen ähnlichen Exodus. Immer noch existieren hier reichlich Verleger-Familien, die zwar auch harte Einschnitte verantworten aber gleichzeitig den Ehrgeiz haben, ihre Häuser in eine digitale Zukunft zu führen. Margen, die längst nichts mehr mit den Gewinnen vergangener Jahrzehnte zu tun haben, nehmen sie dabei in Kauf. Das eine oder andere Haus mag sich womöglich irgendwann darauf beschränken, nur noch eine Wochenend-Ausgabe zu drucken, wenn die Leser*innen sich unter der Woche vornehmlich digital versorgen. Aber dieses Irgendwann liegt bei den meisten noch in fernerer Zukunft – und bis dahin wird man das Publikum hoffentlich dazu erzogen haben, in ausreichendem Maße zu App, Website, E-Paper oder Newslettern zu greifen. Die Grabesreden aus den USA dürften den Handlungsdruck erhöhen, aber noch gleichen viele Verlagshäuser eher Patient*innen mit chronischen Wehwehchen statt solchen auf der Intensivstation.

Das ist nicht immer von Vorteil. Denn manchmal braucht man Not, um Helfer*innen zu rekrutieren. Und das klappt in den USA deutlich besser als hierzulande. Stiftungen wie die Lenfest oder die Knight Foundation unterstützen Journalismus mit hunderten Millionen, ähnliches tun Milliardäre wie Craig Newmark, der zum Beispiel die Journalistenschule der CUNY finanziert oder Amazon-Gründer Jeff Bezos, der sich 2013 die Washington Post als Experimentierfeld einverleibt hat und sich nun offenbar auch für CNN interessiert. In Deutschland dagegen lassen solche am Fortbestand der vierten Gewalt interessierten Investoren auf sich warten.

Ironischerweise hat das zur Folge, dass die Förderung von Ausbildung und Innovation im Journalismus hierzulande vor allem zwei amerikanischen Konzernen überlassen wird: Google und Facebook, letzterer Konzern finanziert zum Beispiel auch das Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School. Anders als in den USA, wo es eine Vielfalt von Unterstützer*innen mit gut gefüllten Taschen gibt, ist in diesen Breiten eine Finanzierungs-Monokultur entstanden, über die ungern laut geredet wird. Nicht wenige Verlagshäuser üben sich in dem Spagat, die Plattform-Konzerne auf der Meinungsseite zwar zu geißeln, aber im Geschäftsalltag dennoch zuzugreifen, wenn es um die Unterstützung von Innovationsprojekten geht. Die Journalisten Alexander Fanta und Ingo Dachwitz haben in der vergangenen Woche eine Studie dazu veröffentlicht, wie sehr die deutsche Medienlandschaft mittlerweile von der Google-News-Initiative abhängt. (Transparenz-Hinweis: Die Autorin dieses Textes profitiert selbst maßgeblich von Aufträgen und Institutionen, hinter denen als Geldgeber sowohl Google als auch Facebook stehen.)

Die deutsche Medienbranche ist also eng mit amerikanischen Interessen verwoben, und dies nicht nur, weil der US-Finanzinvestor KKR knapp unter 50 Prozent der Anteile am Medienkonzern Axel Springer hält. Der deutsche Journalismus allerdings muss sich vor dem amerikanischen keinesfalls verstecken. Eine global agierende Medienmarke wie die New York Times oder ein Innovations-Power-Haus wie die Washington Post gibt es hierzulande nicht. Wohl aber so viele Redaktionen in der Fläche, dass wirkliche News Deserts wohl kaum entstehen werden. In manchen Dingen ist Amerika tatsächlich schneller, größer, stärker als andere. In anderen jedoch einfach nur anders – oder weit hinterher.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 29. Oktober 2020.

Der weltweite Medientreff Twitter ist eine Blase – Kann man sie ignorieren?

Wer als Journalist*in seine/ihre eigene Branche verstehen will, kommt ohne Twitter kaum aus. Das soziale Netzwerk ist ohne Zweifel der weltweit größte Medientreff. Diejenigen, die das tägliche Geschäft bestreiten, treffen dort auf die anderen, die sich aus wissenschaftlicher Perspektive mit Kommunikation beschäftigen. Und praktischerweise tummelt sich dort auch allerlei Top-Personal aus anderen Branchen, denen es auf die Vermittlung von Inhalten und Botschaften ankommt: Politiker*innen, Autor*innen, Wissenschaftler*innen mit Publikationsdrang und all deren Gefolgsleute. Aber wie repräsentativ ist das Bild über die gesellschaftliche Debatte, das dort entsteht?

Ein Aufenthalt in anderen Sphären tut zuweilen gut, um Selbstbild mit Fremdbild abzugleichen. Eine Konferenz zum Beispiel, die sich an keine der genannten Berufsgruppen richtet, ist ein guter Test. Nach vollendeter Keynote spendet das Publikum Applaus, aber keinen einzigen Tweet. Für die Journalistin fühlt sich das an, als sei sie gar nicht aufgetreten. Und dann gibt es noch die Stipendiaten-Gruppe, hochbegabte Naturwissenschaftler*innen und Ingenieur*innen, mit denen man einen ganzen Tag lang über Journalismus und die Medien debattiert. Ob denn Twitter für Journalisten wichtig sei, fragt ein Teilnehmer, man fragt zurück: „Wer von euch ist auf Twitter?“ Eine Hand erhebt sich zögernd und auf halbe Höhe. Ah, willkommen in der anderen Welt, ist das womöglich die echte?

Twitter ist wichtig für die meinungsbildende Elite. Aber wer Journalismus für ein allgemeines Publikum macht und nicht nur für seine Bezugsgruppe, sollte sich so einen Realitätstest schon dann und wann einmal gönnen. Denn viele „normale“ Menschen kommen mit Twitter allein dadurch in Berührung, dass Journalist*innen über die Tweets von Prominenten berichten, ob Politiker, Künstlerin oder bedeutungssuchender Denker sei dahingestellt. Selbst die Tweets von US-Präsident Trump bekommen erst dann Reichweite, wenn Massenmedien sie aufgreifen, erst kürzlich wieder hat dies eine Harvard-Studie
belegt. Außerdem ist Twitter eine Heavy-User Plattform. So sind zum Beispiel in den USA zehn Prozent der Nutzer für 80 Prozent aller Tweets verantwortlich.

All das sollten sich Redaktionen in Erinnerung rufen, wenn sie mit Shitstorms konfrontiert sind – ein Wort übrigens, das man im englischen Sprachraum besser nicht nutzen sollte, es wird dort eher wörtlich verstanden. Mit einem solchen, vor allem auf Twitter ausgetragenen Protest sah sich in der vergangenen Woche die Süddeutsche Zeitung konfrontiert. Einer ihrer Musik-Kritiker hatte sich kürzlich den Star-Pianisten Igor Levit vorgenommen, der nicht nur ein hochbegabter Klavierspieler, sondern auch so etwas wie ein Star-Twitterer ist. Um die Geschichte zusammenzufassen: Der Kritiker war nicht begeistert von Levit, und die Mehrheit der über den Text Tweetenden nicht vom Kritiker und auch nicht von der SZ, die dem Kritiker Raum gegeben hatte.

Nun hatten die Kritiker des Kritikers allen Grund, den Text im Allgemeinen und einige seiner Formulierungen anzugreifen. Es war ein schlechter Text, der vermischte, was nicht zusammengehört, und schlimmer: selbst bei wohlwollender Betrachtung antisemitisch. Die SZ-Chefredaktion hat sich deshalb nach einer ersten Stellungnahme, die sich eher vor den Autor stellte, bei Levit und ihren Leserinnen und Lesern wortreich entschuldigt, und die Kolumnistin Carolin Emcke mit einer Analyse nachlegen lassen, die etwa doppelt so lang und in der Zeitung deutlich prominenter platziert war als das Ursprungsstück.

Nur Insider wissen, was letztlich den Ausschlag für diesen Meinungsumschwung gegeben hat. Waren es die nicht verstummenden Tweets, Abo-Kündigungen, Levit selbst, oder war es der Unmut der Redaktion über den Beitrag? Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt jedenfalls nutzte die Chance, um den Münchner Kolleg*innen von Berlin aus zuzurufen: „Wer Journalismus betreibt, sollte nicht beim ersten Shitstorm einknicken.“

Nimmt man diese Überschrift wörtlich, hat er recht. Führungskräfte sollten ihre Mitarbeiter*innen zunächst einmal vor Angriffen aus den sozialen Netzwerken schützen, statt sie der Masse zum Fraß vorzuwerfen. Ein wichtiger Grund ist, dass die Twitter-Empörung etwas mit der allgemeinen Stimmungslage zu tun haben kann aber keinesfalls muss. Zudem richten sich unpopuläre Meinungen oft gegen die allgemeine Stimmungslage, was sie nicht automatisch unwichtig macht. In diesem Sinne wäre ein schnelles Nachgeben das von Poschardt beschriebene Einknicken. Außerdem heißt Journalismus, dass jemand einen solchen Text beauftragt, gegengelesen und damit die Verantwortung dafür übernommen hat. Und dieser Jemand handelt im Auftrag der Chefredaktion. Distanzieren sich Chefredakteur*innen derart klar von ihren Mitarbeiter*innen, wirkt das ein wenig so, als erklärten VW-Top-Manager, sie hätten mit dem Abgas-Skandal nichts zu tun. Wobei man auf die Entschuldigung aus dem VW-Vorstand bis heute wartet.

Twitter komplett zu ignorieren, ist aber auch keine gute Idee. Immerhin ist das Netzwerk ein von überdurchschnittlich gebildeten Menschen genutztes Stimmungsbarometer. Es empfiehlt sich also, die Debatte dort zu verfolgen und zu analysieren, bevor man sie mit „schon wieder so ein Shitstorm“ abtut. Wenn der Ton stimmt und Argumente statt Polemik den Unmut prägen, ist es richtig und wichtig zu reagieren.

Starke Medienmarken verfügen über Meinungsmacht, Reichweite und den Anspruch an journalistische Qualität. Man kann von ihnen Sorgfalt bei der Publikation eines Artikels erwarten. Wurde diese Sorgfalt vernachlässigt, sind Konsequenzen nötig, womöglich auch eine Entschuldigung. Bei der New York Times musste ein Ressortleiter seinen Posten räumen, nachdem zweimal in Folge Gastbeiträge erschienen waren, die er angeblich nicht gelesen hatte.

Auch wenn sich Chefredakteur*innen anderer Medien daran belustigen: Es gehört manchmal mehr Rückgrat dazu, aus Fehlern zu lernen, als stur auf seinem Kurs zu beharren. Allerdings sollte dies transparent geschehen, gut begründet werden, und die Fürsorgepflicht gegenüber dem Autor oder der Autorin muss gewahrt bleiben.

Im Fall der SZ dürfte nicht Twitter den Ausschlag gegeben haben, sondern die Verletzung von Igor Levit selbst, der sich in einem zunehmend belastenden Klima des Antisemitismus in Deutschland behaupten muss. Eine Entschuldigung hätte er auch ohne Empörungswelle verdient gehabt.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School am 23. Oktober 2020.

 

Business first oder Ego first? Was der Schlagabtausch zwischen dem „Spiegel“ und Gabor Steingart über Journalismus lehrt

Für Brancheninsider*innen scheint es eine Art Fest zu sein, denn so manch einer hat mit der einen oder der anderen Seite noch eine Rechnung offen, der Rest der Welt hingegen mag davon kaum etwas mitbekommen: der Kleinkrieg zwischen Media Pioneer-Kapitän Gabor Steingart und seinem ehemaligen Heimathafen Der Spiegel. Hatten die Parteien ihre Scharmützel bislang eher in den sozialen Netzwerken und über ein paar Mediendienste ausgetragen, bewegten sie sich in der vergangenen Woche auf eine neue Eskalationsstufe. Der Spiegel hatte im typischen Duktus Steingarts Integrität und unternehmerisches Werk in Frage gestellt, Steingart mit einem Artikel „Märchenstunde mit dem Spiegel“ zurückgeschlagen. Von ungewöhnlich scharfer Tonlage spricht der Kressreport
in einem hastig aus Tweets von Dritten und Zitaten zusammengezimmerten Stück.

An dieser Stelle soll es aber weder um verletzte Gefühle noch die Überprüfung von Fakten in Sachen Media Pioneer gehen, sondern vielmehr um ein Problem des deutschen Journalismus: Sein (prominentes) Führungspersonal beschäftigt sich unglaublich gerne mit sich selbst. Das wäre unterhaltsam anzusehen, würde es nicht dem Journalismus als solchem schaden. Denn das Publikum, vor allem das jüngere, hat solche Ego-Schlachten satt. Und das ältere ist ihnen müde geworden.

In der alten Medienwelt war Polarisierung noch aufregend. Man suchte danach in den Zeitungen und Magazinen. Der Spiegel hatte Geschichten von gefallenen Helden schon immer im Repertoire, in den 1990ern kamen die Wirtschaftsmedien hinzu. Daumen hoch oder Daumen runter, Sieger oder Verlierer, Machtkämpfe allerorten – man personalisierte komplexe Themen und punktete damit beim Publikum. Damals klappte das gut. Heute wird man von Kommentaren und Urteilen angeschrien, sobald man sein Mobiltelefon öffnet. Die Welt hat sich weiterentwickelt. Viel Journalismus hingegen ist in den 1990ern stehengeblieben.

Am Beispiel Covid-19 oder der Klimakrise zeigt sich, dass die Gegenwart zu komplex ist für Geschichten in Schwarz oder Weiß. Statt von Held*in und gefallenen Held*innen ist sie bevölkert von einigermaßen Ratlosen, die sich im schnellen Wandel der Dinge vorantasten und dabei Orientierung suchen. Im Kern der digitalen Transformation stehen nicht Antworten, sondern die Erkenntnis, dass nur ewiges Fragen, Ausprobieren und Lernen weiterführt. Für ewig siegesgewisse und ebenso oft verletzte Egos ist deshalb immer weniger Platz.

Gerade das junge Publikum kann mit Journalismus nichts anfangen, dessen größter Verdienst es ist, andere in den Senkel zu stellen. Zu negativ, zu verletzend und unfair – und zu wenig hilfreich für das eigene Leben, urteilten sie in einer der wenigen Studien, die sich qualitativ mit dem Medienkonsum junger Menschen befassen. Aber auch ältere Semester wenden sich von Medien ab, wenn sie nur schlechte Laune verbreiten und beim Konsumenten ein Gefühl der Ohnmacht auslösen. Sie konsumieren solche Stücke zwar zum Zeitvertreib, zahlen aber eher nicht dafür. Entertainment gibt es schließlich überall umsonst.

Auch aus diesem Grund haben sich Institutionen wie das Constructive Institute oder das Solutions Journalism Network
gebildet. Beiden ist gemein, dass sie sich eher mit denen beschäftigen, die Lösungen suchen als mit denen, die sich über Lösungssucher*innen lustig machen. Man mag über Gabor Steingart als Mensch, über seinen journalistischen und Führungs-Stil denken, was man mag. Aber als Unternehmensgründer gehört er zu den Lösungssuchern. Der Journalismus braucht Entrepreneure, die neue Geschäftsmodelle ausprobieren, wo die Alten scheitern oder an ihre Grenzen stoßen. Davon profitieren letztlich alle Medienhäuser. Denn wenn die Bürger*innen Journalismus erst einmal für verzichtbar halten, ist keinem einzigen der alten Platzhirsche geholfen. Der Konkurrent sitzt heute nicht mehr im anderen Verlagsgebäude. Er greift an in Gestalt der schieren Anzahl von Angeboten, die um die Aufmerksamkeit des Publikums buhlen. Gerade in den kleineren Häusern wird dies oft besser verstanden. Wo weniger Glanz ist, geht es öfter ums Geschäft. Kund*innen wollen interessiert, begeistert und gebunden werden – es ist genug zu tun. Wo es an Zeit für Machtkämpfe mangelt, geht es oft erstaunlich konstruktiv voran.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School am 15. Oktober 2020