Von wegen Troll-Farmen – „Fake News” sind ein Problem, aber anders, als viele denken

Gefälschte Videos, fingierte Posts, Lügengeschichten und das alles massenhaft verbreitet von Bots über soziale Netzwerke: „Fake News“ werden häufig als ähnlich ansteckend beschrieben wie das Corona-Virus. So hatte die Weltgesundheitsorganisation die „Infodemic“ lange vor der Pandemie ausgerufen. Am 2. Februar war das, weltweit gab es damals noch nicht einmal 15.000 bestätigte Fälle von Covid-19. Allerdings verhält es sich mit dem Begriff „Fake News“ eher wie mit einigen anderen, wenn man sie unter das Vergrößerungsglas der Forschung legt: Die Fakten dazu unterscheiden sich nicht unwesentlich von dem, was gemeinhin darunter verstanden wird.

In der öffentlichen Debatte, wie sie auch von besorgten Politiker*innen geführt wird, insinuiert das Schlagwort in erster Linie die Manipulation von Bild, Ton und Text. Oft spielen darin feindliche politische Kräfte, geldgierige Hacker*innen oder zumindest Spaßvögel eine Rolle, die ihr gefälschtes Material über Facebook und Co. auf nichtsahnende Bürger*innen abwerfen. Eine ganze Fact-Checking-Industrie ist um diese Annahmen herum entstanden.

Nun ist es wichtig, Informationen zu verifizieren – es gehört zum Beispiel zur Job-Beschreibung von Journalist*innen. Allerdings tragen genau diese eine ordentliche Portion Mitschuld am Dilemma. Dies hat jetzt eine großangelegte Studie des Berkman Klein Center for Internet and Society an der Universität Harvard bestätigt, acht Autor*innen waren daran beteiligt. Anders als oft angenommen tragen der Untersuchung zufolge falsche Aussagen von Politiker*innen, die dann von traditionellen Medien wiedergegeben werden, am stärksten zur Verbreitung von Fehlinformation bei. Soziale Netzwerke hingegen spielten eine untergeordnete Rolle.

Das Problem werde von Eliten verursacht und von den Massenmedien getrieben, so die Harvard-Studie. Politiker*innen beuteten dabei gnadenlos drei Standard-Praktiken des klassischen Journalismus aus: den Fokus auf Institutionen und Eliten (wenn es der Präsident sagt, ist es eine Nachricht), die Suche nach der Schlagzeile (je krawalliger, desto besser) und das Streben nach Neutralität (nur nicht so wirken, als würde man sich auf eine Seite schlagen). Zwar haben die Wissenschaftler*innen dies nur für die USA untersucht, aber die Dynamiken sind überall ähnlich.

Neu ist diese Erkenntnis nicht. Auch andere Forscher*innen haben schon belegt, dass die Reichweite traditioneller Medien einen großen Einfluss auf die Verbreitung von Fehlinformationen hat. Und selbst die Bürger*innen wissen es besser. Sie betrachten Falschaussagen von Politiker*innen als mit Abstand wichtigste Quelle von „Fake News“, rund 40 Prozent der Befragten äußerten sich entsprechend im diesjährigen Digital News Report. Nur zwischen 10 und 14 Prozent dagegen schoben die Verantwortung ausländischen Geheimdiensten, gewöhnlichen Bürger*innen, den Medien (13 Prozent) oder Aktivist*innen zu. Auch schon in früheren Ausgaben der Groß-Studie, zum Beispiel 2018, dachten die Befragten bei „Fake News“ nicht zuallererst an Lügengeschichten. Viel eher kam ihnen schlechter, fehlerhafter oder tendenziöser Journalismus in den Sinn.

Was folgt daraus? Zunächst einmal ist das eine gute Nachricht für die Medien. Sie haben es in der Hand. Sie können abwägen, zum Beispiel welchen präsidentiellen Narrativ sie wiedergeben, wie sie eine Aussage einordnen oder ob sie ein Zitat mit Märchenstunden-Charakter womöglich am besten gleich weglassen. Sie können den Verbreiter*innen von Falschinformationen damit die von ihnen so begehrte Bühne verweigern. Um in der Corona-Virus-Begrifflichkeit zu bleiben: Superspreader von „Fake News“ kann man nur mit Quarantäne unschädlich machen. Auch gegen schlechten Journalismus oder politische Schlagseite in der Einordnung können Redaktionen deutlich leichter vorgehen als gegen Troll-Farmen in fernen Ländern oder russische „information operations“. Und dass viele Bürger*innen dies so klarsehen, sollte die ganze Sache erleichtern.

Einfach ist dies dennoch nicht. Denn der Reflex des klassischen Journalismus sitzt tief, Amtsträger*innen damit zu entzaubern, dass man sie beim Wort nimmt. Und die Wähler*innen haben natürlich ein Recht darauf zu erfahren, was für einen Blödsinn manch ein von ihnen gewählter Repräsentant zumindest verbal verzapft. Gefährlich wird es allerdings, wenn der Faktencheck allzu viel Energien absorbiert. Redaktionen, die einen Großteil ihrer Zeit damit verbringen, die Aussagen von Politiker*innen zu überprüfen, werden nicht mehr genügend Ressourcen für eigene Recherchen haben. Statt selbst die Agenda zu setzen und Institutionen in Zugzwang zu setzen, sind sie Gejagte des nie versiegenden Zitate-Betriebs. Selbstbewusstes Weglassen kann also durchaus eine Strategie sein, um sich die Hoheit über die Tagesordnung zurückzuerobern.

Was all das nicht heißt: Facebook und andere soziale Netzwerke aus der Verantwortung zu entlassen. So wie auch die traditionellen Medien haben es die Plattformen in der Hand, schädliche Inhalte nicht oder zumindest nur mit geringer Priorität weiterzuverbreiten. Im Fall von Covid-19 gehören dazu zum Beispiel von Politiker*innen proklamierte Therapien, die womöglich lebensgefährlich sind. Der Fakten-Check sollte bei den Plattform-Konzernen zum Standard-Repertoire gehören. Und mit der Hoheit über Algorithmen haben sie einen kraftvollen Hebel in der Hand, der Redaktionen so nicht zur Verfügung steht.

Bürger*innen sind mehr denn je aufgerufen, nicht alles zu glauben, skurrile Aussagen selbst zu überprüfen. Eine solche generell skeptischere Grundhaltung tut der Gesellschaft nicht immer gut, auch die Medien leiden unter dem gestiegenen Misstrauen Institutionen gegenüber. Aber es gehört zum Erwachsensein, Verantwortung dafür zu übernehmen, welchen Informationen man folgt. In dem Fall hat die junge Generation der älteren übrigens etwas voraus. Junge Leute sitzen Studien zufolge deutlich seltener Falschinformationen auf als ihre Eltern und Großeltern, weil sie im Zweifel eher mal googeln. Auch das sollte in der Debatte Hoffnung machen.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School am 9. Oktober 2020

Ein Werte-Algorithmus für Schwedens Radio – Wo bleibt die Innovation im deutschen Journalismus?

Der schwedische öffentlich-rechtliche Rundfunk nimmt seinen Aufklärungs- und Bildungs- Auftrag äußerst ernst. Dazu gehört zum Beispiel, dass Redakteurinnen und Redakteure dort keine Kommentare verfassen dürfen. „Wir sind für die Fakten da“, betont Radio-Intendantin Cilla Benkö regelmäßig bei öffentlichen Auftritten. Dies entspreche den Werten von Public Service Medien. Künftig möchte Sveriges Radio (SR) das Ringen um diese Werte nicht mehr nur allein den Kolleg*innen überlassen. Ein eigens für den Sender entwickelter Algorithmus soll dafür sorgen, dass es in den digitalen Angeboten mehr Vielfalt und Personalisierung gibt. Dies soll den Journalismus für ein breiteres Publikum interessant machen.

„Wir sind davon überzeugt, dass das neue Modell die Qualität unseres Journalismus verbessert“, schreibt der Chefredakteur für Digitales, Olle Zachrison, in einem Blog Post der London School of Economics, wo er am Forschungsprojekt Journalismus und Künstliche Intelligenz beteiligt ist. Dies gelte nicht nur für die Verpackung und Verteilung, sondern auch für die Inhalte der einzelnen Geschichten.

Man kann dies getrost eine starke journalistische Innovation nennen – oder auch einen Angriff aufs journalistische Bauchgefühl. Denn wenn man ehrlich ist, trifft die Intuition, auf die Redakteur*innen jahrzehntelang so stolz waren, nicht immer die beste Entscheidung im Sinne der Allgemeinheit. Weil Redaktionen gemeinhin nicht sehr divers sind, ist es auch ihr Output oft nicht. Und statt die algorithmische Auswahl von Inhalten den Plattform-Konzernen zu überlassen, die nach ihren eigenen Bedürfnissen optimieren, geht SR nun in die Offensive und baut das: einen Algorithmus mit Werten.

Nach welchen Kriterien die schwedischen Kolleg*innen ihn füttern, lässt sich am besten in Zachrisons Text nachlesen. Aber dass so etwas passiert, ist fast noch interessanter als das „Wie“. Immerhin befindet man sich in einer Branche, die zwar in allerlei an „die Politik“ gerichteten Kommentaren lautstark Innovationsfreude einfordert, sich aber selbst an vielen Orten eher durch das Gegenteil auszeichnet – zum Beispiel in Deutschland.

Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls ein jüngst veröffentlichtes Gutachten im Auftrag der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen. „Die Innovationslandschaft des Journalismus in Deutschland“, heißt es nüchtern, aber die Botschaft ist eindringlich: An neuen Ansätzen und Projekten, die die von Krisen geprägte Branche wirklich weiterbringen, fehle es allerorten. Die Autoren Christopher Buschow und Christian-Mathias Wellbrock nennen eine lange Liste von Gründen dafür. Ein Mangel an Gründergeist und Talenten, Defizite in der Ausbildung, eine fehlende Verzahnung von Forschung und Praxis, träge etablierte Verlage, rechtliche Hürden sowie eine dem journalistischen Berufsstand eigene skeptische Grundhaltung gehörten dazu. Außerdem fehlten Kapitalgeber*innen mit längerem Atem. Allerdings seien Netzwerke der Innovation am Entstehen, beobachten die Autoren, die ihren Job schlecht gemacht hätten, würden sie nicht eine ebenso lange Liste an Verbesserungsvorschlägen liefern.

Nun wäre es ungerecht, die Medienszene in Deutschland in einer Art Dämmerschlaf zu vermuten. In vielen großen Häusern gibt es hoch innovative Abteilungen mit dem Potential, andere anzustecken, und hier und da gedeihen spannende Start-ups. Aber die Dringlichkeit, etwas für die Zukunft des Journalismus als solches zu tun, wird noch nicht überall gesehen. Die großen Marken sind weitgehend mit sich selbst und ihren Interessen beschäftigt, statt sich zu verbünden. Anders als in anderen europäischen Ländern, zum Beispiel Österreich, hat man die Förderung von journalistischen Innovationen viel zu lange allein Google und Facebook überlassen – um sich dann gerne über die Abhängigkeit von den amerikanischen Konzernen zu beschweren. Und anders als zum Beispiel in den USA spielen Stiftungen bei der Unterstützung von Journalismus, Journalisten-Ausbildung und Journalismus-Forschung nur eine untergeordnete Rolle.

Selbst wenn es dann Geld gibt, weiß niemand so recht, wie man es verteilen soll. Es ist bezeichnend, dass die Bundesregierung den Verlagen im Nachtragshaushalt zum Corona-Paket im Juli für die kommenden Jahre 220 Millionen Euro für die digitale Transformation zugesagt hat, ohne dass dafür bislang das Geringste eines Konzepts bekannt geworden ist. Man kann von kräftiger Lobbyarbeit im Hintergrund ausgehen. Wie genau definiert man schließlich digitale Transformation?

Anfangen kann man bei so einer Aufgabe immer mit dem erwünschten Ergebnis. Es muss um einen Journalismus gehen, der mehr Menschen aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen mit inhaltlicher Qualität erreicht, als dies der gegenwärtige tut. Es geht um Inhalte, Ausbildung, Technologie und Werte. Sich die Hoheit über die Algorithmen zurückzuerobern, wie dies Sveriges Radio macht, ist dabei ein wichtiger Schritt. Starker Journalismus für alle – in der digitalen Medienwelt steht das Projekt noch am Anfang.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 2. Oktober 2020.

Exklusivität vs. Ethik – Wie viel Verantwortung haben Journalist*innen?

Kürzlich sind die alte und die neue Welt des Journalismus ordentlich aufeinandergeprallt. Natürlich lassen sich beide nicht so scharf trennen, aber wenn einer, der am Zusammenstoß Beteiligten, Bob Woodward heißt, darf man das wohl so beschreiben. Woodward ist am bekanntesten als Teil des Journalisten-Gespanns Woodward und Bernstein, das einst den Watergate-Skandal enthüllte. In seinem gerade erschienenen Buch mit dem Titel „Rage“ nimmt er sich den amerikanischen Präsidenten vor. 18 Interviews hat er dafür mit Donald Trump geführt, und in einem davon hatte der ihm erzählt, wie gefährlich das neue Coronavirus sei. Pikantes Detail: Das war am 7. Februar. Schon damals war das kaum exklusiver Stoff, könnte man sagen. Allerdings hatte Trump die Gefahr gleichzeitig öffentlich heruntergespielt. Deshalb sieht Woodward nun schlecht aus: Hätte der die Information aus moralischer Verantwortung heraus nicht gleich publizieren müssen, statt auf die Buchveröffentlichung im September zu warten?

Genau darüber ist in der Medien-Szene und darüber hinaus ein Streit ausgebrochen. Woodward habe nur seine Auflage steigern wollen, sagen die einen. Er habe die Sache erst einmal sauber recherchieren wollen, sagt Woodward. Und dann gibt es die, die Woodward ohnehin für überschätzt halten. Dieser leide unter einem Mangel an moralischer Neugier, schreibt Alex Nazaryan. Der Autor ist ebenfalls in der Washingtoner Journalisten-Szene unterwegs, für die Los Angeles Times hat er mit spürbarer Empörung nicht nur „Rage“ sondern gleich Woodwards gesamtes Werk verrissen.

Da mag es offene Rechnungen gegeben haben. Aber die Frage, die dahinter liegt, ist brisant. Wem gegenüber sind Journalist*innen verantwortlich, wenn sie bei Recherchen etwas erfahren, dessen zügige Veröffentlichung den Lauf der Dinge zum Guten beeinflussen könnte: ihrem Verlag, der von der Exklusivität profitiert und deshalb mehr am Einschlag eines Scoop-Kometen als an einer Vielzahl von Nachrichten-Schnuppen interessiert ist? Oder der Öffentlichkeit, die ein Interesse daran haben muss, dass Missstände so schnell wie möglich publik werden? Die Frage lässt sich nur von Fall zu Fall beantworten. Aber das Missfallen im Fall Woodward hat auch mit einem Generationen-Konflikt im Journalismus zu tun.

Die alten Dickschiffe der Branche wie die Washington Post, New York Times oder in Deutschland Der Spiegel und natürlich die Buchverlage leben vom dicken Scoop oder eben vom Bestseller. Er ist ihr Geschäftsmodell. Schneller, exklusiver, einfach besser zu sein als die Konkurrenz wirkt als Treibstoff, die großen Enthüllungen prägen ihr Selbstverständnis. Dahinter steckt nicht nur die Gier nach Aufmerksamkeit, Ruhm und Ehre. Die Ethik dahinter wird auch geprägt von der Denke: Erst wenn es richtig laut knallt, hört jeder den Schuss. Es muss eine Entrüstungs-Schwelle überschritten werden, um Akteure wie zum Beispiel Gesetzgeber oder Unternehmen dazu zu bewegen, etwas zu verändern. Gleichzeitig müssen alle Recherchen gerade bei komplexen Themen juristisch wasserdicht sein. Viele Veröffentlichungen, die erwartbar Ärger nach sich ziehen, werden von der Sorge begleitet, mächtige Objekte der Berichterstattung könnten ein Medienhaus in Grund und Boden klagen. All diese Erwägungen prägen Überlegungen dazu, wie schnell man bestimmte Dinge ans Licht zerren muss.

Die jüngere Generation von Journalist*innen muss sich mit den juristischen Fallstricken ebenso beschäftigen wie ihre Vorgänger. Aber die Idee, dass das Wohl des Medienhauses über allem steht, passt vielen nicht mehr in einer Zeit, in der Kollaborationen mit anderen, Beteiligung der Leser/User*innen an Recherchen und persönliche Verantwortung für den publizistischen Auftritt stärker ins Zentrum rücken. Im digitalen „Audience first“ sieht man sich mehr als Partner seines Publikums denn als Teil einer Operation, in der gilt: „Ego first“. In Abwandlung des Claims der Süddeutschen Zeitung, die sich neuerdings mit dem Slogan „Mut entscheidet“ schmückt, könnte man den Journalismus neueren Typs auch so beschreiben: „Demut entscheidet“.

Dazu passt es überhaupt nicht, der Öffentlichkeit um des schönen Scoops willen relevante Informationen vorzuenthalten. Nun mag man im Fall Woodward argumentieren, es hätte rein gar nichts geändert, Trumps Einschätzung zum Virus früher zu publizieren. Die Bürger+innen haben längst gelernt, auf das gesprochene Wort des Präsidenten nicht allzu viel zu geben. Aber die von Woodward so verschnupfte Reaktion erstaunt nun doch. Womöglich hat sie mit seiner Verankerung im Washingtoner Establishment zu tun. Politikjournalist*innen interessieren sich häufig eher für Macht als für das, was Macht anrichtet. Anders gesagt: „den Präsidenten zu Fall bringen“ steht auf Woodwards Prioritäten-Liste vielleicht höher als „Leben retten“ – wobei man in dem Fall argumentieren könnte, dass das eine mit dem anderen verknüpft ist.

Was die Sache lehrt: Journalist*innen täten gut daran, sich mit den Folgen ihres Tuns stärker auseinanderzusetzen. Es gibt ihn schließlich immer wieder, den Journalismus, der im Dienste des Scoops und der Schlagzeile gnadenlos Verletzlichkeiten ausbeutet. Die jüngste Kontroverse um die Veröffentlichung von WhatsApp-Nachrichten eines Kindes in der Bild-Zeitung, das sich nach dem Mord an seinen Geschwistern in höchster Not einem Freund anvertraut hatte, ist ein trauriges Beispiel dafür. In dem Fall hat sogar Springer-Konzernchef Mathias Döpfner Fehler eingeräumt.

Aber auch in weniger drastischen Fällen denken Journalist*innen häufig zu wenig darüber nach, was es mit Menschen macht, wenn sie plötzlich Objekte der Berichterstattung werden. Die Kommunikationswissenschaftlerin Ruth Palmer hat ein aufschlussreiches Buch darüber geschrieben: „Becoming the News – How ordinary people respond to the media spotlight“.

Auch das ist klar: Reporter*innen sind keine Sozialarbeiter*innen. Ethisch können sie sich trotzdem verhalten. Wie dies gehen kann, haben Jodi Kantor und Megan Twohey in ihrem Buch „She said“ dokumentiert. Die Autorinnen beschreiben in diesem Lehrstück investigativer Recherche, wie sie den Skandal um Harvey Weinstein aufgedeckt und die MeToo-Debatte behandelt haben. Besonders interessant daran sind die Diskussionsprozesse innerhalb der New York Times: Wie Investigativ-Chefin Rebecca Corbett stets mahnte, mehr Fakten zu sammeln statt Aussagen – zum Beispiel Verträge mit Verschwiegenheitsklauseln. Wie viel Material die Reporter*innen zusammentragen mussten, bis endlich die Entscheidung fiel: jetzt wird veröffentlicht. Und wie sie mit ihren Quellen kommuniziert hatten, transparent, klar, sie ernst nehmend. Auch bei Weinstein war der Antrieb der Scoop. Aber bis zum Schluss ging es auch um die Frauen.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 18. September 2020. 

 

Empört, empörter, am empörtesten – Wider den Kommentar-Reflex

Journalist*innen sind leidenschaftlich, das gehört zur Berufsbeschreibung. Menschen, deren Job-Profil es zuweilen verlangt, in kürzester Zeit Meinungen zu entwickeln, aus denen in nicht wesentlich längerer Zeit Kommentare oder Leitartikel werden sollen, trainieren genau das gerne: zackig und auf den Punkt urteilen. Auch deshalb ist Twitter bei Journalist*innen so beliebt. Nicht nur, weil man sich dort besser als anderswo über Branchentrends, neue Erkenntnisse aus der Medienforschung, die Karriereschritte der Kolleg*innen und Job-Angebote informieren kann. Auch nicht nur, weil sich dort allerlei Berufsgruppen mit erhöhtem Ausdrucks- und Geltungsdrang treffen, sodass man vielerlei Stoff zur Berichterstattung findet. Sondern auch, weil es reizvoll ist, die Kunst des 280-Zeichen-Kommentars zu perfektionieren, der meist daherkommt wie ein Instant-Gericht, das man allein mit heißem Wasser zum Leben erweckt: dampfend, bunt, aber wenig gehaltvoll.

Manche solcher Tweets quellen im Umlauf der sozialen Netzwerke ähnlich auf wie eine Trocken-Mahlzeit aus der Tüte. Ähnlich schnell hat man sie satt. Aber man bekommt sie nicht mehr in die Tüte hinein.

Die Aufregung über die in der taz veröffentlichten Anti-Polizei-Kolumne
der Autor*in Hengameh Yaghoobifarah kann man getrost in die Kategorie Tütensuppe zählen. Es ist wenig vorstellbar, dass die Berichterstattung über diesen geschmacklich einigermaßen missglückten Satire-Versuch ohne Twitter ein solches Volumen bekommen hätte. Empört, empörter, am empörtesten – kaum ein Journalist, der nicht meinte, dazu etwas meinen zu müssen. Und die Politik war mit dabei. Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte sogar laut über eine Anzeige nachgedacht. Beim Deutschen Presserat gingen 382 Beschwerden ein.

Wochen später, die Branche arbeitete sich mittlerweile längst an anderen Themen ab, veröffentlichte der nun seine Entscheidung: Die Satire verstoße nicht gegen den Pressekodex, sie sei vom Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt. Es lohnt sich, die Begründung nachzulesen, denn anhand der Argumentation lässt sich manch anderer Konflikt bewerten. Im Groben geht sie so: Erstens verletze der Text nicht die Würde einzelner Personen, sondern richte sich pauschal gegen eine Berufsgruppe. Zweitens müsse sich die Polizei als Organ der Exekutive harte Kritik gefallen lassen. Drittens sei die Polizei eine gesellschaftlich anerkannte Berufsgruppe und verdiene deshalb keinen besonderen Schutz, anders als zum Beispiel ethnische und religiöse Minderheiten. Das Stück sei zwar ein „drastisches Gedankenspiel“, ließe aber Raum für Interpretationen. Die Meinungsfreiheit einer einzelnen Autor*in ist also schützenswerter, als es die Gefühle einer Gruppe sind, die in Deutschland in weiten Teilen der Bevölkerung vom Image „Freund und Helfer“ getragen wird.

Die Kolumne kann nun hoffentlich dort ruhen, wo sie hingehört hätte: auf den Friedhof der Stücke, die sich, bevor es Twitter gab, aus Mangel an Qualität, Originalität, Aussagekraft und Geschmack klanglos versendet hätten. Aber leider bietet sich das soziale Netzwerk als Tummelplatz für Besserwisser und Schneller-Merker genau dafür an, solche Stücke ans Licht zu zerren und, um im Bild zu bleiben, heißes Wasser darauf zu gießen. Das wäre nicht weiter problematisch, blieben all die findigen Kommentator*innen dort unter sich – man kann das ja ignorieren und sich wieder dem klugen Twitter-Stoff zuwenden (auch der Presserat hatte seine Begründung getwittert).

Nur hat das Ganze mindestens zwei Probleme: Erstens werden manche Dinge so unverhältnismäßig aufgeblasen, dass plötzlich ein Individuum im Shitstorm-Feuer steht, dessen Würde, psychische und womöglich auch physische Gesundheit dann tatsächlich in Gefahr ist. Wer sich mit dem Thema Mobbing im Netz beschäftigen möchte, dem sei Jon Ronsons Buch „So you have been publicly shamed“ ans Herz gelegt. Yaghoobifarah zum Beispiel bekam Morddrohungen. Und zweitens haben solche Empörungszyklen keinerlei Mehrwert für das Publikum, für das man den Journalismus doch eigentlich produziert. Abgesehen davon, dass eine gelegentliche Auseinandersetzung damit nicht schadet, was die Meinungsfreiheit in der Demokratie ihren Bürgern wert sein sollte.

Der größte Teil des Publikums ist nämlich klug genug, um solche Texte a) zu ignorieren, b) zu lesen und zu vergessen und c) seine Zeit für wichtigere Themen zu nutzen. Dazu gehört durchaus das Thema rechte Tendenzen in der Polizei, aber darüber möchten die meisten Bürger*innen lieber Fakten lesen als unbeholfene Gedanken-Spielereien. Nur werden wirklich wichtige Stoffe, aufschlussreiche Recherchen und mühevoll zusammengestellte Informationen nur zu häufig von Themen überlagert, die sich bei näherem Hinsehen als Meinungs-Eintopf aus der Tüte erweisen. Kein Wunder, dass nicht einmal ein Drittel (29 Prozent) der Leser*innen im Digital News Report 2019 der Aussage zustimmte, die Themen, die Medien aufgriffen, seien für sie relevant.

Das heißt nicht, dass man sich nicht empören darf. Aufreger-Themen regen zum Nachdenken an, beleben die Debatte am Familien- und Stammtisch, manche werden sogar zu Abitur-Aufgaben. Aber Aufmerksamkeit ist begrenzt. Guter Journalismus respektiert die Zeit seines Publikums. Man möchte sich schließlich öfter begegnen.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School am 10. #September 2020.

Grüner Journalismus – Wie viel Spezialisierung braucht die Branche?

Wolfgang Blau, deutscher Pionier des digitalen Journalismus und bis vor kurzem Top-Manager im globalen Verlagshaus Conde Nast, kommentiert auf Twitter auch dann häufig die Klimakrise, wenn unter Kolleg_innen gerade andere Themen im Trend sind. Im September fragte er in die Runde, ob es eine spezielle Journalisten-Ausbildung zu den Themen Klima, Umwelt, Nachhaltigkeit gäbe. Könne man das lernen, wie zum Beispiel Sportjournalismus? Das Echo war verhalten. Wissenschaftsjournalismus ja, Umweltjournalismus – hm.

Die gute Nachricht ist eigentlich eine schlechte: Das Feld hat Zukunft. Nachhaltiger Konsum und Lebenswandel wird von einer Wohlfühl- zur Überlebensfrage. Es geht um eine klima- und naturverträgliche Wirtschaft und Versorgung von Milliarden Menschen. Journalist_innen sind dabei als Expert_innen in vielerlei Hinsicht gefragt. Einerseits geht es darum, in jedem Lebens- und Wirtschaftsbereich Umwelteffekte zu bewerten und daraus abzuleiten, wie gute Nachhaltigkeitsstrategien und Umweltpolitik aussehen, wie sich Industrie und Bevölkerung verhalten sollten. Wer über diese Felder berichtet, sollte viel von Daten und deren Einordnung verstehen, komplexe Zusammenhänge verständlich erklären können und nicht dem journalistischen „Schneller, Schriller, Exklusiver“ nachjagen, das den Politikjournalismus prägt. Der Gewinner von heute könnte schließlich der Verlierer von morgen sein, übrig bliebe zerstörte Glaubwürdigkeit. Die Corona-Krise hat vielen Menschen deutlich vor Augen geführt, wie schnell im komplexen Lagen Fakten von neuen Fakten überholt werden. In der Wissenschaft bedeutet das Erfolg, nicht Niederlage.

Andererseits wird der investigative Umweltjournalismus wichtiger: Wo passieren echte Schweinereien, wo werden jetzt mit großen Projekten oder in der Produktentwicklung falsche oder gar fatale Weichen gestellt, wo sitzen mutwillige und gedankenlose Verhinderer? In vielen Teilen der Welt ist Umweltberichterstattung lebensgefährlich, denn Recherchen kollidieren oft mit mächtigen Interessen. Die Organisation Reporter ohne Grenzen hatte erst kürzlich Alarm geschlagen: Es gebe immer mehr Angriffe auf Reporter_innen, die in Sachen Umweltzerstörung recherchierten, dokumentierten sie. In den vergangenen fünf Jahren seien zehn Kolleg_innen wegen ihrer Arbeit ermordet worden. Was Journalisten hier lernen müssen: investigative Recherche, Selbstschutz und Risiko-Minimierung.

Der langjährige Moderator der ZDF-Sendung Terra X, Dirk Steffens, muss solche Bedrohungen zwar nicht fürchten, fühlt sich angesichts wachsender Naturzerstörung aber schon manchmal wie auf einem Schlachtfeld. In einem furiosen Interview
mit dem Magazin journalist sagt er: „Ich habe mal angefangen, weil ich erzählen wollte, wie schön die Welt ist. Und inzwischen fühle ich mich wie ein Kriegsberichterstatter. Ich stehe oft vor Trümmern und berichte darüber, was warum kaputtgegangen ist. (…) Die Dimension der Krise ist so gewaltig, dass man das Problem gar nicht mehr vermittelt bekommt. Die Corona-Krise ist wahrscheinlich klein im Vergleich zu Krisen wie Artensterben, Klimawandel und all den anderen Ökoproblemen.“ Was ihn besonders ärgert: Wenn Umweltjournalisten als Aktivisten abgewertet würden. Eine Politikjournalistin würde man ja auch nicht als Demokratie-Aktivistin bezeichnen. Die Lebensgrundlagen der Menschheit zu verteidigen, liege in unser aller Interesse. Der journalist hat dem Thema übrigens das ganze Heft gewidmet.

Der britische Guardian hatte im Oktober 2019 Schlagzeilen gemacht mit seinem klaren Bekenntniszum Klima- und Naturschutz als unverrückbare Grundhaltung der Redaktion. Statt vom Klimawandel spricht die Redaktion seither nur noch von der Klimakatastrophe oder Klimakrise. Bei aller Liebe zu kontroversen Debatten kommt niemand mehr zu Wort, der entsprechende Fakten anzweifelt. Seit Ende Januar 2020 lehnt das Medienhaus Anzeigen von Unternehmen aus dem Sektor fossile Brennstoffe kategorisch ab. So konsequent positionieren sich die wenigsten Marken.

Aber braucht man wegen all dem einen Studiengang „Grüner Journalismus“? Bislang ist die Branche gut gefahren mit der Ausbildung von Allroundern. Wer zum Beispiel schnell, präzise und farbig sein kann wie ein Sportjournalist, kann auch über Politik berichten, so die Denke. Das wird tausendfach gelebt bei Personalrochaden in Redaktionen – und ist vielleicht auch ein Grund dafür, warum manch eine politische Geschichte daherkommt wie ein Fußballturnier. Eine gute Investigativ-Journalistin kann sich jedes Feldes annehmen, ob es in der Wirtschaft, im Sport oder im Gesundheitswesen etwas aufzudecken gilt. Wechseln Reporter_innen von einem Fach ins andere, tut das dem Journalismus häufig gut. Bei der britischen Financial Times war es schon immer bewährte Praxis, Fach-Korrespondenten nach spätestens fünf Jahren auf neue Themen zu werfen. Guter Journalismus lebt davon, das Publikum mit frischen Perspektiven überraschen zu können.

Je komplexer die Themen sind, desto schwieriger werden solche Wechsel allerdings. Es dauert eine Weile, bis man sich mit Themen in der Tiefe vertraut gemacht hat. Mit einem Mangel an Expertise kann man sich schnell blamieren. Allerdings lässt sich Wissen auch von Expert_innen einholen. Journalist_innen sollten eher trainieren, die richtigen Fragen zu stellen, als auf alles eine Antwort zu wissen. Ihre Aufgabe wird künftig stärker als je zuvor im Handwerk liegen: Datenanalyse, das Bespielen verschiedener Plattformen, investigative Recherche und Storytelling, Produktentwicklung, Interaktion mit dem Publikum. Wer das kann, kommt auf allen Feldern weit, auch im Umweltjournalismus.

Star-Reporter_innen, die auf ihren jeweiligen Fachgebieten brillieren, werden auch ihre Plätze finden. Aber zum Beginn einer Laufbahn auf ein einziges Thema zu setzen, birgt immer ein gewisses Risiko. Außerdem könnte man es auch andersherum betrachten: Grundkenntnisse in Ökologie gehören in jegliche Journalisten-Ausbildung, denn das Thema betrifft alle Felder der Berichterstattung, ob Politik, Sport, Mode, Technologie oder Außenpolitik. Der Journalismus als solcher muss grüner werden.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School am 4. #September 2020.

Vielfalt ist Kern der digitalen Transformation – Zu wenige Redaktionen verstehen das

Natürlich, ohne ein paar Nerds geht bei der digitalen Transformation nichts voran. Sie werden dringend gebraucht, die Kolleginnen und Kollegen, die gerne mit Software und Daten arbeiten, neue Tools und Plattformen lieben und sofort „hier!“ rufen, wenn Tech-Konzerne wieder mal ein Produkt gelauncht haben. Taugt das etwas, um den Journalismus besser zu machen, oder ist es nur eine nette Spielerei, ein Versprechen, das allein fremde Kassen füllt? So Nerd, so gut. Das Problem beginnt, wenn Technik der einzige Fokus der Veränderung bleibt. Führungskräfte delegieren dann die Verantwortung an entsprechende Teams, der Rest der Belegschaft fühlt sich nicht angesprochen oder traut sich vor lauter Respekt gar nicht mehr heran. Dabei ist Digitalisierung viel mehr. In ihrem Kern steht ein Kulturwandel hin zu einer vernetzten Welt. Die ist idealerweise inklusiver und bietet mehr Teilhabe als die analoge Gesellschaft, in der Kommunikation und Lernen oft nur als Einbahnstraßen funktionierten. Und ein Grundprinzip dieser neuen Welt ist Vielfalt.

Doch genau damit tun sich Medienhäuser in aller Welt schwer. In der Hautfarbe zu weiß, jedenfalls in den entsprechenden Regionen, in der Führung zu männlich, vor allem bei den prestigeträchtigen Marken zu akademisiert – Redaktionen bilden mitnichten die Gesellschaften ab, denen sie eigentlich dienen sollen. Chefredakteur_innen wissen das. Die Süddeutsche Zeitung hat in ihrer Reihe digitale Projekte jüngst sogar eine ganze Reihe von Gastbeiträgen zum Thema aufgelegt, Titel: „Was sich ändern muss“, gemeint ist der Journalismus. Aber bislang haben die Medienhäuser in der Regel wenig dafür getan, wie eine Studie des Reuters Instituts und der Universität Mainz vom Sommer 2019 belegt, die Deutschland, Großbritannien und Schweden analysiert hatte. Die Neuen Deutschen Medienmacher*innen stellten Ähnliches in diesem Jahr in ihrer Untersuchung zu leitenden Journalist_innen mit Migrationshintergrund fest. „Viel Wille, kein Weg“, lautete der Titel.

In den USA, wo man das Thema Diversität etwas beherzter angeht, hat sich nun der Medienkonzern Gannett zum Wandel verpflichtet. Die Muttergesellschaft der Tageszeitung USA Today und von mehr als 260 Lokalzeitungen hat sich zum Ziel gesetzt, die Belegschaft bis 2025 genauso vielfältig zu machen, wie das Land aussieht. „Gannett verpflichtet sich, eine Kultur zu schaffen, in der sich jeder Mitarbeiter sicher, akzeptiert und in seiner gesamten Identität geschätzt fühlt“, sagte Konzern-Chefin Maribel Perez Wadsworth. Es geht auch um eine andere Berichterstattung: über Themen, die Hautfarbe, ethnische Herkunft und soziale Gerechtigkeit berühren. Noch in diesem Jahr sollen dafür konzernweit 60 Stellen geschaffen werden, wie das Nieman Lab der Harvard University berichtete. Mit der Bekanntgabe des Ziels veröffentlichten die Gannett-Publikationen jeweils Statistiken darüber, wie ihre Redaktionen zusammengesetzt sind – ein wichtiger Schritt.

Es ist nicht nur die Black-Lives-Matter-Bewegung, die in Sachen Diversität einiges ins Rollen gebracht hat. Natürlich ist Vielfalt „the right thing“, das moralisch Gebotene, aber die Medienkrise verschärft sich, und da entdeckt so manch einer auch die ökonomische Logik. Auf der Suche nach Einnahmen schauen Redaktionen auf ihr Publikum und es dämmert ihnen: Da ginge noch mehr. Beim Umbau auf einen digitalen Journalismus nach dem Konzept „Audience first!“ wird vielen Häusern bewusst, dass ihr Journalismus ganze Gruppen ignoriert hat, auch solche, die durchaus bereit wären, dafür zu zahlen. Nur hat man sich um sie bislang nicht gekümmert. Nun nähert man sich an. Und dabei lernen viele: „Audience first“ ist undenkbar, ohne dass Vertreter_innen dieser Gruppen auch in irgendeiner Weise in den Redaktionen repräsentiert sind, idealerweise auch in der Führung. Es gilt, den richtigen Ton zu treffen, relevante Inhalte zu finden, die passenden Plattformen zu bespielen. Im Zentrum des Ganzen stehen nicht länger Journalistinnen und Journalisten mit ihrem Bauchgefühl und dem, was sie sich von ihren Vorgängerinnen und Vorgängern abgeguckt haben, sondern das Publikum mit seinen Bedürfnissen und das, was man anhand von Daten über das Publikum weiß. Digitale Transformation im Journalismus bedeutet eben nicht ein Weiter wie bisher, nur mit neuen Tools. Es geht darum, Journalismus neu zu denken, nämlich vom Nutzer her.

Ein Hexenwerk ist das Ganze nicht, es macht aber Arbeit. Zahlen erheben, Ziele setzen und nachhalten, Einstellungsverfahren professionalisieren, Diskussionskultur verändern – manches rüttelt an den Grundfesten, dem Selbstverständnis und muss geübt werden. Die Empfehlungen der Autorin sind nachzulesen in: „Getting real about diversity and talent: ten recommendations“, einem im Januar 2020 veröffentlichten Report für die European Federation of Journalists. Wenn in Redaktionen die Erkenntnis einsickert, dass digitale Transformation und Vielfalt zusammengehören wie Bericht und Kommentar, dürfte beides etwas schneller vorangehen. „Das Richtige“ ist es noch dazu.

Dieser Text erschien am 28. August im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School. 

Das Machen macht’s – Warum Redaktionen das Ausprobieren üben müssen

Die New York Times (NYT) ist so etwas wie der Goldstandard der Branche. Feuerwerk der investigativen Recherche, globale Marken-Zugkraft, Kompetenz auf allen Kanälen, Sehnsuchtsort für Journalist_innen – und auch die Zahlen stimmen. 2019 verkaufte die NYT 6,5 Millionen Abonnements, davon 5,7 Millionen für digitale Produkte, mit denen allein fuhr sie Erlöse von 450 Millionen Dollar ein. Die Redaktion ist mit 1.700 Mitarbeiter_innen so groß wie nie zuvor. Kein Wunder, dass der demnächst scheidende CEO und Brite Mark Thompson sich nicht mit britischem Understatement aufhält, wenn er über seine achtjährige Amtszeit reflektiert, wie kürzlich geschehen in einem Interview mit der Unternehmensberatung McKinsey.

Nun möchte jede Geschäftsführerin, jeder Chefredakteur, dass ihr oder sein Medienhaus mal eine Art Times wird. Und jede und jeder weiß, dass dies ziemlich ausgeschlossen ist. Aber aus dem Interview können alle etwas mitnehmen, besonders das Eine: Dass man immer erst hinterher schlauer ist. Aufs Ausprobieren kommt es an.

Es sei unglaublich kompliziert, das digitale Geschäft richtig aufzustellen, sagt der ehemalige BBC-Intendant Thompson, der 2012 zur NYT wechselte. Er hatte dort damals ein solides Business vorgefunden, das allerdings an Wachstums-Perspektive vermissen ließ. Er selbst habe dann dreimal vergeblich reorganisiert, seine Nachfolgerin Meredith Kopit Levien, die am 8. September den CEO-Job übernimmt, sei zweimal gescheitert, nun endlich laufe die Sache: „Ich glaube, seit 18 Monaten haben wir Erfolg.“

Wer eher verzagt an die Dinge herangeht, dem wird diese Aussage nicht ermutigen. Wenn sich selbst die New York Times so schwertut, wie sollen es dann diejenigen mit den weniger tiefen Taschen schaffen? Man kann dieses Bekenntnis fünffachen Versagens aber auch anders lesen. Denn es war ja nicht so, dass hier ein Tanker konsequent Richtung Eisberg fuhr und jemand in letzter Minute das Steuer herumgerissen hat. Nein, das Medienhaus war in den vergangenen Jahren auf einem Pfad des Experimentierens mit gemischter Erfolgsbilanz. Und es ist gut möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass auch die gegenwärtige Euphorie irgendwann einmal wieder der Ernüchterung weicht. Aber tendenziell geht es in die richtige Richtung, nämlich nach oben.

In der Change-Management-Terminologie heißt so etwas S-Kurve. Das bedeutet, dass der Erfolgs-Pfad von Veränderungsprozessen nie linear nach oben weist, sondern dass sich das Ganze im Schlingerkurs bergan bewegt. Immer, wenn man denkt, auf dem richtigen Weg zu sein, steht man plötzlich auf einer Art Plateau, dann geht es wieder ein Stück bergab, bevor man das nächste Mal zum Gipfelsturm ansetzt. Das Ganze kann recht ungemütlich sein, denn – siehe oben – man weiß immer erst hinterher, ob es wirklich nachhaltig bergauf gegangen ist, oder man sich am Beginn einer Talfahrt befunden hat. Was man aber daraus lernen kann, ja muss, ist: Hauptsache, man bewegt sich.

Aus diesem Grund ist das klassische Projektmanagement kein guter Ratgeber in Zeiten des Veränderungsdrucks. Beim Wandel nach Plan legt man nämlich vorher schon fest, was hinterher in den Büchern stehen soll. Um die Berg-Analogie weiter zu strapazieren: Dort ist der Gipfel bekannt, der Weg vermessen, jetzt fehlen nur noch all die Schritte, die zum Ziel führen sollen. Agile Change Prozesse hingegen gleichen kleinen Expeditionen. Man wagt sich auf unbekanntes Terrain, tastet sich vor, macht unerwartete Entdeckungen und landet in manch einer Sackgasse, die man idealerweise mit neuen Erkenntnissen hinter sich lässt. Während im Projektmanagement ein Großteil der Energie in das Planen und Nachhalten desselben fließt, funktionieren agile Prozesse wie ein Hybrid-Motor: Die Batterie lädt sich erst beim Fahren auf. Geglückte Experimente verleihen dem Prozess Schwung, der ermöglicht neue Experimente, man tastet sich vor. Statt Wandel umzusetzen, der von oben verordnet wurde, trainieren die Beteiligten ein neues Verhalten, sie selbst geben die Impulse. Und irgendwann ist das Experimentieren Alltags- und Unternehmenskultur. Man merkt gar nicht mehr, dass man sich im dauernden Innovationsmodus befindet.

Die NYT entwickelt auf diese Weise neue Produkte wie am Fließband, so beschreibt es Thompson. Und dies können sich andere in der Tat abschauen, ob Lokalzeitung, öffentlich-rechtlicher Sender oder Medien-Startup. Das Powerhouse des Investigativ- und Meinungsjournalismus hat dabei auch keine Berührungsängste mit den leichten Seiten des Lebens. Eine Million der 6,5 Millionen NYT-Abonnenten_innen hat es zum Beispiel einzig und allein auf das Kreuzworträtsel abgesehen. Andere lassen sich gerne beim Kochen beraten, passen aber bei Weltwirtschaft und Außenpolitik. Womit könnte man noch Kunden_innen an die Marke binden? Der Gedanke sollte nicht nur die Marketing-Abteilung, sondern alle in der Organisation begleiten.

Dies bedingt auch, dass Führungskräfte anders denken. „Viele, viele Führungskräfte sind auf ihre Position gekommen, weil sie etwas großartig konnten. In diesem digitalen Moment braucht man Leute, die eine Sache gut beherrschen und dann etwas anderes lernen können“, sagt Thompson. Mal sehen, was das bei Thompson sein wird. Er ist schließlich erst 63 Jahre alt.

Dieser Text erschien zuerst am 21. August 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School. 

 

Wie viel Meinung verträgt der Journalismus?

Jour­na­lis­ten haben Pri­vi­le­gien, die anderen Bürgern in dem Umfang nicht zuste­hen. Umso stärker stehen sie in der Pflicht. Nur wer gut und unab­hän­gig infor­miert ist, kann als Bürger frei ent­schei­den.

So viel Empö­rung hat Jour­na­lis­mus schon lange nicht mehr ver­ur­sacht. Erst trat Anfang Juni der Leiter des Mei­nungs­res­sorts der New York Times zurück. Er hatte den Gast­bei­trag eines repu­bli­ka­ni­schen Sena­tors durch­ge­hen lassen, der in den Augen vieler Mit­ar­bei­ter zu Gewalt gegen Pro­tes­tie­rende der Black Lives Matter Bewe­gung auf­ge­ru­fen hatte. Welt­weit wurde dar­auf­hin durch­aus auch außer­halb der Medi­en­bran­che darüber debat­tiert, ob bei dem publi­zis­ti­schen Flagg­schiff nun der Mei­nungs­plu­ra­lis­mus durch die Into­le­ranz der „Poli­ti­cal Cor­rect­ness“ abge­löst wurde, oder ob es legi­time Inter­es­sen der Beleg­schaft zu ver­tei­di­gen galt. In Deutsch­land schlug kurz darauf eine Kolumne in der taz Wellen, die bis ins Bun­des­in­nen­mi­nis­te­rium und letzt­lich ins Kanz­ler­amt schwapp­ten. Worum es ging, dürfte kaum jeman­dem ent­gan­gen sein: Die Autorin Hen­g­ameh Yag­hoo­bi­fa­rah hatte anläss­lich der Debatte um Poli­zei­ge­walt geschrie­ben, Poli­zis­ten seien für nichts taug­lich als für die Müll­kippe. Seitdem tobt selbst in der taz-Redak­tion ein Streit darüber, ob das Stück legi­ti­mer Jour­na­lis­mus war. Bun­des­in­nen­mi­nis­ter Horst See­hofer hatte sogar laut über eine Straf­an­zeige nach­ge­dacht, Pres­se­frei­heit hin oder her. Und dann folgte im Juli auch noch der von zahl­rei­chen pro­mi­nen­ten Autoren unter­zeich­nete offene Brief in Harper’s, der sich wort­ge­wal­tig gegen die ver­meint­lich vor­herr­schende „Cancel Culture“ aus­sprach, also in etwa eine Kultur der gut­ge­mein­ten Zensur.

Über das Richtig und Falsch in all diesen Fällen ist schon anderswo aus­rei­chend gestrit­ten worden. Die auf­ge­heizte Debatte um beide Ereig­nisse zeigt aber eins: Der Jour­na­lis­mus als solcher muss sich neu posi­tio­nie­ren in einer Welt der sozia­len Netz­werke und digi­ta­len Medien, die vor Mei­nun­gen, Behaup­tun­gen, Inter­pre­ta­tio­nen und Pro­vo­ka­tio­nen nur so strotzt. Dabei stellen sich einige Fragen. Will er ein­stim­men in das Konzert – oder besser: die Kako­pho­nie – der Stimmen in der Über­zeu­gung, dass auf­ge­klärte Bürger selbst in der Lage sind, sich aus der Viel­falt des Ange­bots ihre Meinung zu bilden? Bemüht er sich soweit dies geht um Neu­tra­li­tät der Bericht­erstat­tung, um mit seinem Qua­li­täts­ver­spre­chen als Fels in der Bran­dung der Auf­merk­sam­keits-Öko­no­mie zu bestehen? Oder muss er gerade diesen Anspruch sogar in Frage stellen, weil die ver­meint­li­che Neu­tra­li­tät einem Ver­ständ­nis von Jour­na­lis­mus ent­springt, das auf dem Bes­ser­wis­ser­tum der gebil­de­ten, zumeist männ­lich gepräg­ten Mehr­heits­kul­tur auf­setzt?

Glaubt man dem jüngst ver­öf­fent­li­chen Digital News Report des Reuters Insti­tu­tes in Oxford, der welt­weit größten fort­lau­fen­den Studie zum digi­ta­len Medi­en­kon­sum, wünscht sich die Mehr­heit der Befrag­ten eine zumin­dest um Objek­ti­vi­tät bemühte Bericht­erstat­tung. In Deutsch­land gaben dies sogar 80 Prozent der Teil­neh­men­den zu Pro­to­koll. Ent­spre­chend gering ist hier­zu­lande der Anteil der­je­ni­gen, die in den Medien ihre eigenen Mei­nun­gen bestä­tigt finden oder mit anderen Per­spek­ti­ven aus der Reserve gelockt werden wollen. Der Slogan „Fakten, Fakten, Fakten“ kommt einem in den Sinn, mit dem der Focus einst gegen den Spiegel antre­ten wollte. In Ländern mit starken öffent­lich-recht­li­chen Sen­de­an­stal­ten sind diese Vor­lie­ben übri­gens ähnlich ver­teilt, wohin­ge­gen in stärker pri­vat­wirt­schaft­lich gepräg­ten Medien-Land­schaf­ten Mei­nungs­plu­ra­lis­mus stärker gefragt ist.

Lese­rin­nen und Leser wün­schen sich zudem immer wieder, dass Kom­men­tare klar als solche gekenn­zeich­net werden. Das ist beson­ders wichtig in den sozia­len Netz­wer­ken, wo Mei­nungs­stü­cke ohne Bindung an eine spe­zi­elle Seite im Nach­rich­ten­fluss auf­tau­chen und das dazu­ge­hö­rige Fak­ten­stück eher selten zusätz­lich ser­viert wird. „Jour­na­lis­ten wissen, das Nach­rich­ten und Kom­men­tare getrennt sind, aber Leser können das oft nicht aus­ein­an­der­hal­ten“, schreibt der Jour­na­lis­mus-Pro­fes­sor Kevin Lerner in einem vom Nieman Lab der Harvard Uni­ver­sity ver­öf­fent­lich­ten Beitrag. Dabei sind in der angel­säch­si­schen Tra­di­tion die Rollen von Repor­tern und Kom­men­ta­to­ren sogar strikt getrennt, wohin­ge­gen Jour­na­lis­ten in Deutsch­land sehr oft beides tun: berich­ten und kom­men­tie­ren. Das schafft eher noch mehr Ver­wir­rung.

Es spricht also einiges für das Modell „Fels in der Bran­dung“: Qua­li­täts­jour­na­lis­mus sollte sich gerade dadurch aus­zeich­nen, dass er anhand von Fakten und Daten Ori­en­tie­rung bietet, Situa­tio­nen und Akti­vi­tä­ten genau beschreibt und sich damit zurück­hält, alles sofort zu bewer­ten. Damit dient er einem Publi­kum, das zuneh­mend ver­un­si­chert ist und Ori­en­tie­rung ver­misst inmit­ten der Mei­nun­gen von Betrof­fe­nen, Exper­ten und der­je­ni­gen, die sich für Exper­ten halten. So viel Plu­ra­lis­mus war schließ­lich nie. Dafür spricht auch, dass das Ver­trauen in die Medien laut Digital News Report weiter gesun­ken ist. Nur noch 38 Prozent der Befrag­ten in den unter­such­ten 40 Ländern und Märkten ver­trauen dem Jour­na­lis­mus gene­rell, das sind vier Pro­zent­punkte weniger als im ver­gan­ge­nen Jahr. Selbst den Marken, die er oder sie selbst regel­mä­ßig nutzt, ver­traut nicht einmal jeder Zweite. Auf­klä­rung durch Fakten klingt da nach einer guten Idee.

Bei näherem Hin­schauen ist die Sache kom­pli­zier­ter. Zunächst einmal hat das, was Lese­rin­nen und Leser über ihre Bedürf­nisse sagen, nicht unbe­dingt etwas mit dem zu tun, was sie tat­säch­lich lesen. Sie mögen sich Neu­tra­li­tät wün­schen, aber sie klicken dann doch viel lieber auf den poin­tier­ten Kom­men­tar. Redak­tio­nen wissen anhand von Daten, dass sie damit eher Reich­weite erzie­len als mit so manch einem fak­ten­ge­tränk­ten Stück. Das gelingt vor allem mit Texten, an denen sich die Gemüter erhit­zen. Und Reich­weite ist nicht nur gut für Anzei­gen­kun­den, sondern auch will­kom­me­nes Mar­ke­ting in einer Zeit, in der viele Medi­en­häu­ser um ihr wirt­schaft­li­ches Über­le­ben kämpfen. Zumal Kom­men­tare deut­lich bil­li­ger zu pro­du­zie­ren sind als auf­wän­dige Recher­chen. Man braucht dazu ledig­lich Mit­ar­bei­ter mit Meinung und Schreib­ge­rät, los geht’s. Die Algo­rith­men der Platt­form-Kon­zerne tun ihr übriges, indem sie Stoffe nach oben spülen, an denen sich viele Men­schen reiben.

Ein wei­te­rer Grund ist kom­ple­xer. Genera­tio­nen von Jour­na­lis­ten haben das Credo der Objek­ti­vi­tät hoch­ge­hal­ten, noch heute zitiert manch einer von ihnen das Bonmot des ehe­ma­li­gen Tages­the­men Mode­ra­tors Hanns Joachim Fried­rich, dass sich ein Jour­na­list niemals mit einer Sache gemein machen solle, nicht einmal mit einer guten. Natür­lich machten sich Jour­na­lis­ten schon damals mit aller­lei Sachen gemein. Eine der Kern­auf­ga­ben des Jour­na­lis­mus ist es ja, denen eine Stimme zu geben, die sonst niemand hören würde. Aber indem man andere spre­chen ließ, trat man als Kom­po­nist des Stücks schein­bar in den Hin­ter­grund – auch wenn man genau das war: die Schöp­fe­rin, die einem Text Struk­tur, Klang und Emotion verlieh und ihn auf diese Weise sehr sub­jek­tiv prägte. Jüngere Jour­na­lis­ten finden die Debatte um Objek­ti­vi­tät deshalb ver­lo­gen. Jede und jeder bringe ohnehin seine eigene Per­spek­tive mit, argu­men­tie­ren sie, und das sei auch gut so. Ein Genera­tio­nen­kon­flikt schwelt.

In dem Argu­ment steckt Wahr­heit. Schwie­rig wird es aber dann, wenn mit der Begrün­dung von Viel­falt jedes jour­na­lis­ti­sche Produkt eine Daseins­be­rech­ti­gung erhält – eine miss­ra­te­nen Kolumne ebenso wie ein Gewalt sank­tio­nie­ren­den Gast­bei­trag. Die Pres­se­frei­heit ist ein von der Ver­fas­sung geschütz­tes Gut. Aber Frei­heits­rechte gehen immer mit einer beson­de­ren Ver­ant­wor­tung einher. Die Frei­heit des einen hört immer dort auf, wo die des anderen beginnt. Die Grenzen müssen demo­kra­tisch aus­ge­han­delt werden. Respekt, Anstand und Rück­sicht­nahme sind Bau­steine der Frei­heit. Je weniger davon vor­han­den ist, umso mehr Regeln werden gebraucht.

Jour­na­lis­ten haben Pri­vi­le­gien, die anderen Bürgern in dem Umfang nicht zuste­hen. Umso stärker stehen sie in der Pflicht. Anders als die­je­ni­gen, die in den sozia­len Netz­wer­ken einfach mal flapsig vor sich hin mut­ma­ßen und meinen, gilt für Repor­te­rin­nen und Kom­men­ta­to­ren der Pres­se­ko­dex. Und ein gene­rel­les Bewusst­sein dafür, was man mit der Macht, die einem ver­lie­hen ist, anrich­ten kann, sollte bei der Berufs­wahl zur Grund­aus­stat­tung gehören. Ebenso wie es in Redak­tio­nen eine Sorg­falts­pflicht gibt, die mög­li­chen Wir­kun­gen von Reich­weite vor einer Ver­öf­fent­li­chung abzu­schät­zen. Wird diese Sorg­falt nicht ange­wandt, schadet das nicht nur den Redak­teu­rin­nen und Repor­tern, die ihre Ver­ant­wor­tung ernst nehmen, sondern dem Jour­na­lis­mus als Ganzem. Und wer das Ansehen des Jour­na­lis­mus beschä­digt, schränkt die Frei­heits­rechte der Gesell­schaft ein. Denn nur wer gut und unab­hän­gig infor­miert ist, kann als Bürger frei ent­schei­den.

Diese Kolumne erschien am 4. August 2020 bei Zentrum Liberale Moderne. 

Aufpasser von nebenan: Der Lokaljournalismus braucht eine digitale Zukunft

Die Hackordnung im Journalismus war über die längste Zeit klar: Man begann vielleicht im Lokalen, weil sich da schnell viel recherchieren, aufdecken, aufschreiben und gestalten ließ. Aber wer in den Augen der Kolleg_innen etwas gelten wollte, musste irgendwann den Sprung in die nationale Berichterstattung schaffen – ob bei Zeitungshäusern, im Radio oder Fernsehen spielte keine Rolle. Die Metriken, mit denen Prestige und Gehälter stiegen, hießen Sichtbarkeit oder Reichweite. Das hat sich nicht grundlegend geändert, was die Binnensicht angeht. Aber mit Blick auf den Journalismus als vierte Gewalt und Säule der Demokratie sieht die Sache ganz anders aus. Da heißt die wichtigste Metrik Vertrauen. Und was das angeht, schneidet der Lokaljournalismus in so gut wie allen Umfragen am besten ab.

Das war auch schon vor der Corona-Krise so. Ob das die Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen ist, amerikanische Umfragen der Marktforscher von Pew Research oder der Digital News Reportdes Reuters Institutes in Oxford, Bürger_innen trauen ihren lokalen Zeitungen und Fernsehstationen mehr als den überregionalen Medieninstitutionen. Nur öffentlich-rechtlichen Sendern, die im Lokalen meist auch recht präsent sind, geben sie bessere Noten. Und was den Wert für die Demokratie angeht, ist der Zusammenhang zwischen gutem Lokaljournalismus und bürgerlichem Engagement eindeutig. Bürger gehen häufiger wählen, kandidieren öfter für politische Ämter, Gemeindefinanzen sind gesünder und die Korruption ist dort niedriger, wo Journalisten den Institutionen vor Ort in die Bücher schauen.[1]

Dass sich so etwas überhaupt belegen lässt, hat einen traurigen Grund: Vor allem in den USA, wo der Kapitalismus ein Stück gnadenloser arbeitet als hierzulande, gibt es bereits weit über tausend Orte und sogar Kleinstädte, in denen keine Lokalredaktionen mehr an der Aufklärung der Bürger_innen arbeiten. Medienwissenschaftler dokumentieren sie als News Deserts. Und man kann die Daten solcher Nachrichtenwüsten gut mit denen jener Orte vergleichen, in denen Journalist_innen den Mächtigen noch auf die Finger schauen und Debatten von örtlichem Interesse initiieren und abbilden.

Wer wissen möchte, was dem Lokaljournalismus womöglich auch hierzulande bevorsteht, dem sei die Lektüre von Margaret Sullivans neuem Buch „Ghosting the News“ ans Herz gelegt.[2] Sullivan ist Medienkorrespondentin der Washington Post, davor hatte sie als Public Editor die Interessen der Leser_innen der New York Times
vertreten. Und davor wirkte sie 13 Jahre lang als Chefredakteurin der Buffalo News, der größten Regionalzeitung im US-Bundesstaat New York außerhalb von New York City. Heute sei die Redaktion dort nur noch halb so groß wie zu ihrer Zeit, schreibt sie, und damit schneide die Buffalo News sogar recht gut ab. Unter dem Druck von Investoren hätten die Redaktionen amerikanischer Zeitungen zwischen 2008 und 2017 schon 45 Prozent der Stellen gestrichen, danach sei der Kahlschlag noch massiver vorangetrieben worden. Zwischen 2004 und 2015 seien 1800 amerikanische Zeitungen komplett vom Markt verschwunden. Und in diesem Jahr hat sogar Groß-Investor Warren Buffett aufgegeben. Lokalzeitungen würden verschwinden, hatte er 2019 in einem Interview prophezeit.

Man merkt Sullivan an, wie sehr sie darum ringt, Perspektiven für den Lokaljournalismus zu entwickeln, und wie wenige Möglichkeiten sie dennoch ausfindig macht. Denn solche Projekte wie das von Alice Dreger in East Lansing im Staat Michigan hören sich ehrenwert, aber nicht nach gesundem Geschäftsmodell an: Dreger hat ein Team von 140 Leuten zusammengestellt, die sich im Nebenberuf mit dem Wohlergehen der Region beschäftigen. Es sind vor allem Studierende, Rentner und andere Freiwillige, die das Zusammentragen, was in der Gemeinde wichtig ist – für 50 Dollar Lohn pro Artikel. Das ist Journalismus als Passion, nicht als Beruf.

Dabei ist Lokaljournalismus für die Bürger wichtiger denn je. Überregionale News finden sie schließlich im Internet überall, wer des Englischen mächtig ist, kann sich über verschiedenste Quellen weltweit auf dem Laufenden halten. Die Branchengrößen wie die New York Times, die Washington Post oder der Guardian greifen das globale Bildungs-Publikum ab. Aber wie das Verkehrskonzept für die eigene Region ausschaut, was hinter den Türen des Rathauses geschieht, und was den Ort sonst noch bewegt, darauf hat Google selten Antworten.

Lokalzeitungen haben sie leider auch nicht immer. Man sollte hier nichts verklären, Lokaljournalismus war nicht immer und überall investigativ und unabhängig. So manch ein Blatt vermischte redaktionelle Inhalte und Werbung, berichtete allzu wohlwollend über die örtliche Prominenz, schrieb die Spalten mit nutzlosem oder unverständlichen Stoff aus dem Gemeinderat voll, nur weil sich dort ein Reporter den Abend um die Ohren geschlagen hatte und füllte Seiten über Seiten mit mittelprächtigen Fotos, weil die Budgets für Recherchen nicht reichten.

Die Digitalisierung kann helfen. Nicht nur, weil das Publizieren technisch einfacher und günstiger wird. Die Denke ist eine neue. Wer möchte, dass Abonnenten für ein Produkt bezahlen, muss sich mehr als früher mit ihren Interessen und Bedürfnissen beschäftigen, Stichwort „Audience first“. Nur wer sein Publikum ernst nimmt, erweist ihm eine echte Dienstleistung, auf die er oder sie nicht verzichten möchte – und für die er/sie dann auch zu zahlen bereit ist. Das können ausführliche Recherchen sein, aber auch datenjournalistische Angebote, die sich mit künstlicher Intelligenz künftig billiger und schneller erstellen lassen werden. Über Geotags haben lokale Anzeigenkunden einen zielgenaueren Zugang zu ihrem Publikum. Und Redaktionen können das Wissen ihrer Leser_innen über digitale Kanäle besser anzapfen und Kommunikation initiieren.

Das alles löst das Finanzierungsproblem noch nicht gänzlich. In den meisten Fällen werden potente Geldgeber nötig sein, denen das Schicksal ihrer Gemeinde am Herzen liegt. Aber auch auf der Suche nach Investoren gilt: Ein starkes journalistisches Produkt ist immer ein gutes Argument.

[1] Siehe Alexandra Borchardt, „Mehr Wahrheit wagen – Warum die Demokratie einen starken Journalismus braucht“, Dudenverlag 2020.
[2] Margaret Sullivan„Ghosting the News – Local Journalism and the Crisis of American Democracy“, Columbia University Press 2020

Dieser Text erschien am 7. August im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School. 

Die Ich AG als Redaktion – kann das klappen?

Nicht jeder kann eine Art Gabor Steingart werden. Als der ehemalige Handelsblatt-Herausgeber den Holtzbrinck-Konzern im Februar 2018 im Streit verlassen hatte, gehörte die Abonnenten-Datei seines „Morning Briefing“ Newsletters mit zum Abfindungspaket. Zwei Jahre später führt Steingart mit Media Pioneer ein kleines aber deutschlandweit bekanntes Medien-Unternehmen mit um die 50 Mitarbeitern, Redaktionsschiff und 36-Prozent-Beteiligung der Axel Springer AG inklusive. Für so eine Wachstumskurve braucht man mehr als nur gute Kontakte und einen Namen, und schon daran dürfte es den meisten mangeln. Dennoch steigt mit den zunehmenden Möglichkeiten der Digitalisierung bei vielen Journalist_innen und Medien-Fachleuten die Lust, es mit dem Gründen wenigstens einmal zu versuchen.

Gerade unter den Leistungsträgern haben etliche genug von Hierarchien und Kommando-Strukturen, routiniertem Reaktions- und Rattenrennen-Journalismus. Sie mögen sich nicht mehr für einen Arbeitgeber aufarbeiten, von dem sie zum Dank für ihren Einsatz neuerdings auch noch auf Kurzarbeit geschickt werden – immerhin die verträgliche Variante einer Krisenstrategie. Aber als Bittsteller mit einem Bauchladen durch die Gegend zu tingeln ist auch kein Spaß in diesen Zeiten, in denen freie Etats gekappt werden, wo es eben nur geht. Ist es eine Lösung, selbst zu publizieren?

Für manche schon. Vor allem in den USA gibt es einen Trend zum journalistischen Freischwimmer. Dort ist das Klima etwas rauer als hierzulande, weil man Journalist_innen eher in die Arbeitslosigkeit schickt, als ihre Jobs mit staatlichen Programmen abzufedern. Aber womöglich entstehen genau deshalb dort auch mehr Möglichkeiten, seinen eigenen Mini-Verlag aufzubauen – ganz ohne Overhead und großen Kapitaleinsatz. Ein Beispiel ist die Plattform Substack. Autor_innen können dort eigene Newsletter aufsetzen und dafür Bezahlmodelle erproben, sofern sie sich mit Premium-Inhalten eine gewisse Reichweite erschrieben haben. Die Washington Post berichtete kürzlich von einer ganzen Reihe namhafter Schreiber_innen, die etablierte Redaktionen verlassen und ein eigenes „mini media empire“ gegründet haben. Zuvor arbeiteten sie für Magazine wie New Republic, Rolling Stone, Sports Illustrated oder New York Magazine, nun werkeln sie auf eigene Rechnung und genießen ihre Autonomie.

Eine von ihnen ist Emily Atkin. Ihr viermal wöchentlich erscheinender Newsletter über die Klimakrise mit dem Titel „Heated“ ist einer der bestbezahlten bei Substack. Atkin, die sich als Wissenschaftsjournalistin Profil und Publikum erworben hatte, war die Auseinandersetzungen mit Redaktionen leid gewesen. „Im Lauf deiner journalistischen Laufbahn kommst du irgendwann an eine Grenze, an der du merkst, dass du nicht mehr von deinem Verlag profitierst sondern dein Verlag von dir“, wird sie von der Post zitiert.  Die Frage sei dann: Gebe die Marke einem so viel wie man selbst der Marke gebe.

Substack wurde 2017 in San Francisco gegründet mit der Idee, Autor_innen die Kontrolle über ihr Werk zurückzugeben. Die Newsletter funktionieren ohne Werbung, es gibt keine Algorithmen, die Journalist_innen behalten die Hoheit über ihre Inhalte und Mailing-Listen.  Einige von ihnen verdienen angeblich über die Abo-Modelle sogar mehr Geld als zu Zeiten ihrer Festanstellung, wobei man davon ausgehen kann, dass nur sehr wenige tatsächlich sechsstellige Beträge einnehmen. Aber sie bedienen einen Trend. Laut dem Digital News Report sind Newsletter ein zunehmend beliebter Zugang zur Welt der Informationen. Sie übernehmen die Rolle der Zeitung, sortieren und bündeln das Nachrichtengeschehen und heben sich damit für manch einen wohltuend vom endlosen, unsortierten Strom an Neuigkeiten in den sozialen Netzwerken ab.

Eine Newsletter-getriebene Ich AG eignet sich vor allem für Spezialisten oder Autoren, die eine ganz bestimmte Stärke kultivieren. Aber auch für andere, die lieber im Team arbeiten, gibt es Möglichkeiten. Ein aktuelles Beispiel – auch aus den USA – ist Defector, eine neu gegründete Kooperative von 18 Journalist_innen, die im vergangenen Jahr aus Protest gegen das Management die auf Sport-Berichterstattung ausgerichtete Plattform Deadspin verlassen hatten. Sie waren offenbar ihr Einzelkämpfer-Dasein satt und wollten gemeinsam etwas Neues wagen. Alle erhalten nun einen Anteil an dem Startup, das sich über Digital-Abos finanzieren will. Unter Kennern sei die Begeisterung groß gewesen, schon am ersten Tag hätten sich 10 000 Leser_innen registriert, berichtete das Team auf Twitter. Hauptsache man habe ausreichend Talente, zitiert die New York Times Defector-Geschäftsführer Jasper Wang, einen ehemaligen Unternehmensberater. Das strukturelle Gerüst darum herum zu bauen, sei nie einfacher gewesen als heute.

Was sich nach einem Traum anhört – der beruflichen Leidenschaft nachgehen und dabei Autonomie genießen – ist allerdings harte Arbeit, nicht immer macht sie Spaß. Konnten sich Journalisten früher ganz auf die Trennung zwischen Redaktion und Verlag verlassen und sich allein der Recherche, dem Schreiben und Redigieren widmen, erfordert der Beruf heute in jedem Fall ein Mindestmaß an wirtschaftlichem Sachverstand, vor allem in Sachen Marketing und Kundenbindung. Dies gilt umso mehr, wenn man selbst gründet. Natürlich geht es um Inhalte, aber man sollte auch Lust haben, sich intensiv mit potenziellen Einnahmequellen, Geldgebern und Geschäftsmodellen auseinanderzusetzen.

Deutschland mit seiner noch recht traditionell geprägten und einigermaßen gut bestückten Medienlandschaft ist nicht das leichteste Spielfeld für neue Medienmacher_innen. Das liegt einerseits am Publikum und an den Geldgebern. Hierzulande zahlt man ungerne für Dienstleistungen, gespendet wird eher wenig, großzügige Mäzene unterstützen lieber Fußballvereine, und auch Stiftungen rücken nur vergleichsweise kleine Beträge heraus. Andererseits liegt es an denen, die etwas wagen müssen: Die Angst davor, einen festen Job in einer Redaktion aufzugeben, ist größer als in Märkten, in denen es solche sicheren Posten ohnehin kaum noch gibt. Aber die technischen Hürden sinken. Und die Experimentierfreude junger (und älterer) Journalist_innen nimmt zu.           

Dieser Text erschien am 31. Juli 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School.