Gemeinschaft stiften – Journalismus, Digitalisierung und die Bedeutung der lokalen Medien

Ein Blick über den Atlantik lohnt sich nicht immer, wenn man Entwicklungen in Deutschland verstehen und prognostizieren will, aber mit Blick auf den Lokaljournalismus kann er als Warnung dienen. So zeigt ein jüngst veröffentlichter Report, dass sich in den USA die Zahl der Regional- und Lokalzeitungen in den vergangenen 20 Jahren um etwa ein Drittel verringert hat. 80 Prozent der verbleibenden Angebote – gedruckt und digital – erscheinen nur einmal wöchentlich, in 206 Landkreisen haben die Bürger überhaupt keine Möglichkeit mehr, sich aus unabhängigen Quellen zu informieren. Nun ist es forsch, die Wiederwahl des US-Präsidenten Donald Trump, der wenig Respekt für demokratische Institutionen hat, auf die steigende Anzahl der so genannten Nachrichtenwüsten zurückzuführen. Aber der Zusammenhang zwischen Lokaljournalismus und Demokratie ist durchaus belegt.

Wo es unabhängigen Journalismus gibt, gehen mehr Menschen zur Wahl und kandidieren für politische Ämter. Gemeindefinanzen werden besser gemanagt, wenn den Entscheidungsträgern jemand auf die Finger schaut. Und natürlich dient der Journalismus den Bürgern nicht nur als Informationsquelle; er initiiert und vermittelt auch gesellschaftliche Debatten.[1]

Digitalisierungs-Skeptiker suchen die Gründe dafür, warum Medien im Digitalzeitalter unter Druck geraten sind, häufig allein bei den schier übermächtigen Plattformkonzernen wie Google, Meta, TikTok und OpenAI. Sie hätten den Medienhäusern den direkten Zugang zu ihren Kunden und damit auch Einnahmen streitig gemacht. Das ist nicht falsch, aber zusätzlich wirken subtilere Mechanismen. Die Plattform-Konzerne haben den Menschen vorgemacht, wie Nutzerfreundlichkeit aussieht und prägen damit deren Ansprüche an Geschwindigkeit, Bequemlichkeit, Personalisierung und Design – Netflix, Amazon, Apple und Spotify lassen grüßen. Gerade junge Menschen erwarten heute, dass Nachrichten über die von ihnen genutzten Plattformen zu ihnen finden, sie suchen kaum noch bewusst danach. Auch umfangreichere Angebote wie Podcasts und Dokus möchten sie überall und jederzeit konsumieren können. Und da Informationen im Überfluss vorhanden sind, ist Journalismus für viele von einem „must have“ zu einem „nice to have“ Produkt geworden. Zudem ist die nächste Ablenkung immer nur einen Klick entfernt. Medienhäuser müssen sich also deutlich mehr Mühe geben als früher, um ihre Produkte attraktiv zu machen.   

Das hat auch positive Seiten. Noch nie waren Neugründungen im Journalismus so einfach wie heute. Man braucht weder eine Druckerei noch eine Sendelizenz, um Inhalte unter die Leute zu bringen. Und etlicher der neu entstandenen Startups – vom Newsletter und Podcast bis hin zur kanalübergreifenden journalistischen Marke – bedienen gezielt Gruppen und Bedürfnisse, die von den traditionellen Medien vernachlässigt wurden und werden. Außerdem sind die Formate vielfältiger geworden. Journalismus gibt es heute nicht mehr nur als Text, Hörstück oder Film, sondern auch als interaktive Daten-Analyse, YouTube Video, Instagram Reel oder TikTok. Damit lassen sich auch Zielgruppen erreichen, die nie eine Tageszeitung in die Hand genommen hätten.

Für die Geschäftsmodelle des Journalismus ist dies aber eine Herausforderung. Das gilt gerade für den Lokaljournalismus, den man nicht skalieren kann. Während viele Print-Verantwortliche aus Angst um die schönen Gewinne aus dem Anzeigen- und Abo-Geschäft den Wandel blockierten, setzte der Online-Journalismus in den vergangenen beiden Jahrzehnten auf Reichweite statt auf stabile Beziehungen zu loyalen Nutzern. Dafür eignen sich vor allem Inhalte, die auch überregional „funktionieren“. Diese Strategie orientierte sich an den zunehmend einflussreichen Plattformkonzernen, die schnell wichtige Distributionswege beherrschten. Junge Journalisten wurden deshalb Experten im schnellen „Copy and Paste“ am Bildschirm und in der Optimierung von Inhalten für Suchmaschinen, statt sich „draußen“ und am Telefon in Reportage und investigativer Recherche zu üben. Das rächt sich. Die Kontakte in die Gemeinden hinein rissen ab, die Institutionen dort behalfen sich und kommunizierten fortan direkt mit ihrem Publikum, wie eine neue Studie der Otto-Brenner-Stiftung dokumentiert.

Währenddessen brach das Print-Geschäft ein, während das Online-Anzeigengeschäft nicht lieferte, was sich viele Medienmanager in den frühen Tagen davon versprochen hatten. Nun wurde zurückgerudert. Heute gelten loyale, stabile Beziehungen zu Nutzern – ausgedrückt in Abos oder Mitgliedschafts-Modellen – zu den verlässlichsten Einnahmequellen von Medienmarken. Aber kaum jemand erwartet, damit die goldenen Jahre der Print-Ära replizieren zu können.

Gleichzeitig passte sich auch die politische Landschaft den neuen Kommunikationswegen an. Politiker übten sich in der verkürzten Botschaft und der direkten Kommunikation mit den Bürgern, Journalisten wiederum griffen die knackigsten Botschaften nur zu gerne auf. Vor allem Amtsträger mit ausgeprägtem Machtinstinkt und verhaltenem Interesse an der demokratischen Auseinandersetzung begannen, Medien zu umgehen, zu diskreditieren, und Propaganda zu verbreiten – der weitaus größte Anteil der so genannten Des- und Misinformation wird willentlich von Politikern verbreitet, nicht von Trollfarmen und Bots.  

Während das Vertrauen der Bürger in die traditionellen Medienmarken nicht so stark gesunken ist, wie dies oft dargestellt wird, verändert sich dennoch deren Konsumverhalten. Die schiere Masse an Nachrichten gekoppelt mit einer von vielen angstvoll beobachteten Weltlage und dem oft aggressive Ton der Auseinandersetzung treibt Menschen weg vom Journalismus. Der Anteil derjenigen, die bewusst Nachrichten vermeiden, ist laut dem Digital News Report des Reuters Institutes in den zurückliegenden Jahren stetig auf im weltweiten Durchschnitt 39 Prozent gestiegen. In Deutschland gab 2024 nur noch etwa jeder Zweite an, sich für Nachrichten zu interessieren, ein Rückgang um 19 Prozentpunkten innerhalb von zehn Jahren.

Die gute Nachricht für den Lokaljournalismus ist: Nicht nur genießt er mit das höchste Vertrauen beim Publikum. In Deutschland schneiden zum Beispiel nur noch die „Tagesschau“ und „Heute“ besser ab als die Regional- oder Lokalzeitung, das Muster ist auch anderen Ländern erkennbar. Über alle Altersgruppen hinweg toppen Nachrichten aus der jeweiligen Region auch die Liste, wenn Nutzer gefragt werden, für welche Themen sie sich am meisten interessieren. Dies gilt selbst für die jungen Zielgruppen, um die sich alle Medien so bemühen.

Aber dass sich dieses potenzielle Interesse in tatsächlichen Nachrichtenkonsum und Umsätze umwandeln lässt, ist kein Selbstläufer. Medienhäuser müssen sich um ihr jeweiliges Publikum bemühen. Das fällt vor allem denjenigen schwer, die in der alten journalistischen Welt aufgewachsen sind, wo man sich vor allem als Welterklärer verstand. Jetzt gilt es jedoch, vom routinierten Besserwisser zum neugierigen Forschenden zu werden. Redaktionen müssen erkunden, welche Themen und Produkte ihre Nutzer wirklich brauchen, um die Herausforderungen des täglichen Lebens zu meistern. Dazu müssen sie mit ihnen (wieder) ins Gespräch kommen. Idealerweise experimentieren sie damit, welche Nutzergruppen sie zusätzlich für sich gewinnen könnten und letztlich, wofür welche Kunden zahlen.

Künstliche Intelligenz kann beim Erschließen des Publikums helfen. Medienmacher hoffen, dieses zum Beispiel über personalisierte und womöglich hyperlokale Angebote zu erreichen. Sie verweisen auf die immer besseren Möglichkeiten, auf Knopfdruck das Format zu wechseln – vom Text zum Hörstück, Video, Comic oder Chat. KI wird den Zugang zu Daten und damit die Recherche-Tiefe verbessern und die journalistische Produktion effizienter machen.

Demgegenüber stehen die Risiken, und da in erster Linie eine wirtschaftliche Gefahr: KI könnte den Journalismus unsichtbar machen. Stieß man bei einer traditionellen Google-Suche noch auf Links, die einen idealerweise zu Angeboten von Medienmarken führten, fördert die KI-gestützte Suche nur noch Fließtext zutage. Menschen kommen nicht mehr mit den Quellen der Information in Kontakt und verlernen, was Journalismus ist. Dies, verbunden mit einer Flut an automatisch generierten Inhalten, wird von vielen in der Branche als bedrohlicher empfunden als die Möglichkeiten, mit Hilfe von KI Desinformation zu produzieren. Abgesehen davon kann Künstliche Intelligenz Stereotype skalieren, hat einen besorgniserregenden ökologischen Fußabdruck und führt zu Auseinandersetzungen um Copyright und Persönlichkeitsverletzungen, wenn geklonte Stimmen oder Avatare Menschen ersetzen.

Noch ist nicht gesagt, wie die Nutzer auf Inhalte reagieren, deren Produktion mit KI unterstützt wurde oder die gänzlich auf KI-Anwendungen basieren. In Umfragen zeigen sie sich je nach Nachrichten-Sujet mehr oder weniger skeptisch – so lange keine gravierenden Patzer passieren, wie kürzlich bei einem Radiosender aus Krakau; dessen Macher hatten das Experiment stolz als reine KI-Produktion ohne menschliche Kontrolle konzipiert. Zum Entsetzen einiger Hörer hatte dort eine Avatar-Moderatorin ein fiktives Interview über aktuelle Themen mit der Literatur-Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska geführt – nur war diese bereits 2012 verstorben. Sicher ist, dass sich zwei Spielarten des Journalismus nicht von KI werden ersetzen lassen: die investigative Recherche, denn Sprachmodelle recherchieren nicht, und lokaler Journalismus, den dieser skaliert nicht. Beide können jedoch erheblich von KI profitieren, wenn sie richtig und verantwortungsbewusst eingesetzt wird. 

Wie nun lässt sich der Journalismus fördern und weiterentwickeln in dieser Welt der Umbrüche, von denen viele analog und gar nicht digital sind? Zunächst einmal gilt es, die Pressefreiheit zu stärken. Journalismus ist ein unverzichtbares Gut; er stützt und belebt freie Gesellschaften und die Demokratie. Allen voran sind da Regierungen, Entscheidungsträger und andere „Influencer“ gefragt. Sie müssen gewährleisten, dass Widerspruch und Debatten möglich sind. Zudem braucht der Journalismus eine wirtschaftliche Basis. Neben privaten und öffentlichen Geldgebern, Stiftungen und finanzkräftigen Individuen kann hier jeder einzelne beitragen: jedes Abo, jede Mitgliedschaft bei einer Medienmarke zählt. Verlage sollten die Größe haben, öffentlich-rechtliche Angebote zu stützen, statt sie zu bekämpfen. Denn die Öffentlich-Rechtlichen bringen auch jene Menschen mit Journalismus in Berührung, die niemals für ein Abo zahlen würden. Nicht zuletzt müssen aber die Medienhäuser selbst an der Qualität ihres Journalismus arbeiten, ihn auf ihr jeweiliges Publikum ausrichten und damit in die digitale Zeit führen.

Starker Journalismus ist Journalismus, der seine Zielgruppen kennt und bedient, relevante Plattformen bespielen kann, KI bewusst und strategisch einsetzt, Vielfalt fördert und abgleicht, seine Wächterfunktion ausbaut, sich mit seiner Wirkung beschäftigt und den Ansprüchen, die er an andere stellt, selbst gerecht wird. Tut er dies nicht, bekommt er schnell ein Glaubwürdigkeitsproblem. Journalismus muss nahe an den Menschen sein, vor allem der lokale.

Der amerikanische Medien-Berater Douglas K. Smith, der Hunderte Medienmanager und Verlags-Teams in den USA und Europa dabei betreut hat, ihre Häuser in die digitale Zukunft zu führen, hat das in einem Interview so formuliert: “Die Gesellschaft hat sich verändert von einer Welt der Freunde, Familien und Orte zu einer Welt der Märkte,

Netzwerke und Organisationen. Diese Veränderung hat im Lokalen ein Vakuum zurückgelassen. (…) Lokaljournalismus hat die Chance, Gemeinschaft zu stiften und damit Orten wieder einen Sinn zu geben.” Das ist eine große Aufgabe aber eine, mit der jede Redaktion gleich morgen beginnen kann.

Dieser Text erschien bei epd Medien am 26. November 2024. Er basiert auf einem Vortrag, den ich bei den Augsburger Mediengesprächen am 11. November 2024 gehalten habe.   

„Deal or deal with it“ – Was im Rennen um Verträge mit KI-Anbietern wichtig ist

Die Anbieter so genannter Large-Language-Modelle bilden neue KI-Oligopole, die Publisher in ein neues und zugleich längst bekanntes Dilemma stürzen. Über eine neue Bedrohung der Medienvielfalt und drei Aspekte, was Publisher dagegen unternehmen können.

Wer sein Berufsleben bei angesehenen Medienmarken verbracht hat, dem geht der Begriff Qualitätsjournalismus meist locker von den Lippen. Man macht sich eher selten bewusst, dass andere das Wort als Instrument der Zensur betrachten könnten. Viele derjenigen, die dem Journalistenberuf in eher repressiven politischen Umgebungen nachgehen, haben aber genau das schon erlebt: Ihnen wurden der Zugang verwehrt oder Informationen vorenthalten, weil Regierungen das Prädikat „Qualitätspresse“ auf diejenigen beschränkten, von denen sie sich geringen Gegenwind versprachen. Vor ein paar Jahren wäre der Experten-Ausschuss Qualitätsjournalismus im Europarat deshalb fast bei der Diskussion des Titels steckengeblieben. 

Deals mit OpenAI: Im Vordergrund geht es um Verlässlichkeit, im Hintergrund um Einnahmen

An diese Auseinandersetzung erinnert man sich, wenn nun ein Medienunternehmen nach dem anderen „Deals“ mit OpenAI, Microsoft oder anderen KI-Großanbietern abschließt. Auch hier geht es nämlich um „Qualitätsmedien“, nur haben die Definitionsmacht in diesem Fall kapitalstarke Unternehmen der Tech-Branche. Associated Press, Axel Springer (Politico, Insider, Bild, Welt), Financial Times, Le Monde, La Prisa, Newscorp (Wall Street Journal, New York Post) – alle haben bereits verschiedenste Vereinbarungen mit den Tech-Oligopolisten abgeschlossen. Vordergründig geben sie an, ihren Journalismus zur Verfügung zu stellen, um auf diese Weise die Verlässlichkeit der Sprachmodelle (Large Language Models, abgekürzt LLM) zu sichern. Im Hintergrund kämpfen sie um Einnahmen, um die künftige Sichtbarkeit ihrer Medien-Marken in KI-basierten Suchmaschinen – und damit ums Überleben ihrer Geschäftsmodelle. 

Andere wie die New York Times und sechs Regionalzeitungsmarken des US-Investors Alden Global Capital haben Open AI verklagt. Auch wenn sie argumentieren, es gehe ihnen um das Wohlergehen der amerikanischen Gesellschaft, wollen sie damit wohl vor allem den Preis nach oben treiben und sich Schadenersatzklagen vom Leib halten. Die stehen zu befürchten, sollten KI-Tools Medieninhalte mit unseriösen Quellen vermixen und daraufhin unter renommierten Marken Fehler verbreiten. Hier ist die Strategie umgekehrt: Qualität wird vorenthalten und als Druckmittel benutzt. 

Das alles ist legitim, aber wo bleibt der große und vielfältige Rest? Für wenige Auserwählte hieße die Entscheidung, „Deal or no deal“, schreibt Pete Brown in einer neuen Analyse in der Columbia Journalism Review, in der er die wenigen bekannten Daten zu den Geschäftsabschlüssen und ihre Bedeutung analysiert. Für diejenigen, die nicht an den Tisch geladen werden, heiße es eher: „deal with it“. Nach welchen Kriterien die Tech-Anbieter ihre Verhandlungspartner auswählen, welche Optionen jeweils im Gespräch sind, und um welche Volumina es geht, kann man nur erraten. Neben Marktanalysen dürfte Lobbying eine Rolle spielen und eben das, was Marken an „Qualität“ zu bieten haben. Die Monopolisten entscheiden nach Gutsherrenart. 

Jeder kämpft für sich – und stürzt alle in Abhängigkeiten

An für die sie weniger interessante Journalismus-Produzenten oder ihnen nahestehende Institutionen händigen sie als Trostpreis Förderprogramme aus, wie Medienhäuser dies schon von der Google News Initiative und dem Facebook Journalism Projekt kennen. Aber ein systematisches Herangehen ist weder von Seiten der Tech-Anbieter noch der Medienbranche erkennbar. Dort kämpft – bis auf Ausnahmen – fast jeder für sich allein. Damit verstricken sich die Medienhäuser immer weiter in das Netz von Abhängigkeiten, das Big Tech seit Beginn der Plattform-Ökonomie gesponnen hat. Nicht wenigen dürfte dabei die Luft ausgehen.

Die Bedrohung wirkt dieses Mal noch erdrückender als in den vorherigen Wellen der Digitalisierung, wo sich Medienhäuser immerhin Reichweite erhofften, weil ihre Marken in Suchergebnissen oder den sozialen Netzwerken auftauchten. Ob sich Nutzer mittelfristig noch über die beiden großen Loyalitätstreiber Apps und Webseiten binden lassen, wenn sich Wissens- und Informationshunger bequem durch Dialogformate stillen lassen, ist fraglich. Die Telekom hatte auf dem Mobile World Congress 2024 als erster Anbieter weltweit die Studie eines Smartphones ohne Apps präsentiert, bei dem ein KI-Assistent die Such-Arbeit übernimmt (sprachlich lässt man es gerne menscheln). 

Einige Experten vermuten allerdings, dass die Branche jetzt mehr Verhandlungsmacht hat. Das liegt daran, dass KI-getriebene Sprachmodelle viele Fehler machen, wenn sie nicht ständig mit frischen Fakten gefüttert werden – was in der Natur der Sache steckt. Schließlich kalkulieren sie nur Wahrscheinlichkeiten und brauchen Informationen zum Abgleich dessen, was richtig und falsch ist. In der Fachsprache heißt das retrieval-augmented generation (RAG). Mike Cook vom King’s College in London vergleicht diesen Prozess in einer Analyse für The Conversation mit einem Examen bei geöffnetem Lehrbuch. Auf einen Prompt hin kalkuliert das Modell die wahrscheinliche Antwort und gleicht sie mit Faktenwissen von verlässlichen Quellen ab. Verlässliche Informationen werden umso wichtiger, je mehr KI-generierte Inhalte das Internet zumüllen. Anbieter wie OpenAI fürchten deshalb juristische Auseinandersetzungen und Regulierung. Man kann sich allerdings vorstellen, dass die Anzahl der für diesen Abgleich nötigen „Lehrbücher“ begrenzt ist.

Drei Aspekte, die nun für Publisher wichtig werden

Für die Branche sind aus all diesen Gründen drei Dinge besonders wichtig. 

Erstens: Medienunternehmen müssen noch mehr als bislang alles daransetzen, direkte Beziehungen zu ihren Nutzern aufzubauen. Dies gilt besonders für Marken mit geringerer Reichweite, die eine geographische oder thematische Nische bedienen. Die Digitalisierung hat die Gründung neuer, rein digitaler Medienunternehmen ermöglicht und damit die Medienvielfalt gestärkt. Im Zeitalter der LLM werden es aber jene schwer haben, die auf rein transaktionale Beziehungen setzen. Nutzer werden nicht mehr für Inhalte bezahlen, die ihnen jeder Prompt liefern kann, sondern nur noch Geld ausgeben, wenn sie eine hohe emotionale Affinität zum Produkt, zum Team oder zur Marke haben. Daran gilt es zu arbeiten. Unternehmen, die auf Mitgliedschaften setzen, dürften einen Vorteil haben.

Zweitens: Alle Medienunternehmen sollten an ihren Qualitätsstandards arbeiten, wie sie zum Beispiel im Zertifizierungsprozess der Journalism Trust Initiative festgeschrieben sind. Regulierer könnten Tech-Anbietern wie OpenAI und Co. auferlegen, solche – einigermaßen objektiven – Gütekriterien zu nutzen, wenn sie künftig über Partnerschaften oder „Deals“ entscheiden. Auf diese Weise käme mehr Transparenz in den Verhandlungsprozess, Qualität wäre überprüfbar und nicht mehr über Bauchgefühl oder die lautesten Lobbyisten definiert. Renommierte Marken würden sich womöglich über ein mehr an Bürokratie ärgern, aber dafür hätte man die Wettbewerbsbedingungen etwas angeglichen. 

Drittens: Medienhäuser sollten sollten sich zusammenschließen und gemeinsam mit den KI-Herstellern verhandeln. Jeff Jarvis, emeritierter Journalismus Professor an der CUNY, schlägt vor, dass sich die Branche auf eine gemeinsame Schnittstelle – ein „News API“ – einigt, was den Lizensierungsprozess für das oben beschriebene Abgleichverfahren vereinfachen könnte. Dies könnte unter Federführung der Nachrichtenagenturen und Verbändengeschehen, sagte Jarvis in einem Interview für den EBU News Report Trusted News in the Age of Generative AI, der Mitte Juni erscheint (Alexandra ist Lead-Autorin des Reports). Ansätze für ein gemeinsames Vorgehen gibt es in Skandinavien, wo Verlage zum Beispiel in Norwegen an einem gemeinsamen Sprachmodell arbeiten oder sich wie in Schweden auf Standards zum Umgang mit KI geeinigt haben. 

Dass ein einheitliches Vorgehen gelingen könnte, daran glaubt derzeit zwar niemand in der Branche. Dazu gibt es zu viele Risse zwischen kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Anbietern, zwischen digitalen Vorreitern und Hinterbänklern, zwischen Konkurrenten mit Blick auf Regionen und Fachgebiete und – nicht zu vergessen – zwischen der Medienbranche und der Tech-Industrie. Aber Veränderung gelingt bekanntlich, wenn der Druck hoch genug ist. Das könnte schon bald der Fall sein. An einer „data apocalypse“ (Mike Cook) kann niemandem gelegen sein. 

Dieser Text erschien am 30. Mai 2024 bei Medieninsider. Aktuelle Kolumnen lassen sich mit einem Abo lesen. 

(Alb-)Traumberuf Journalist – So könnten Verlage der Nachwuchskrise begegnen

Es ist eine Weile her, da galt der „Volontärsbeauftragte“ als eine Art Wächter vor dem Paradies. Die Journalistenausbildung war begehrt, und wer sich bewarb, musste dafür einiges tun – zum Beispiel zum „Probearbeiten“ antreten. Mittlerweile hat sich die Dynamik ins Gegenteil verkehrt.

Assessment Center möge er das gar nicht mehr nennen, sagte ein für die Ausbildung verantwortlicher Kollege einer deutschen Regionalmarke kürzlich auf dem Forum Lokaljournalismus. „Es ist mittlerweile so, dass wir uns bei denen bewerben.“ 

Die Branche steckt in der Talentekrise

Zunächst hatte man sich – typisch Journalistin – gewundert, im April 2024 wegen einer fünf (!) Jahre alten Studie zu der Veranstaltung der Bundeszentrale für Politische Bildung eingeladen worden zu sein. Im Workshop-Raum wurde allerdings schnell klar: Der Titel der Studie Are Journalists Today’s Coal Miners? hat keinerlei an Aktualität verloren und beschreibt die gegenwärtige Situation in den Regionalverlagen recht genau. Zusammengefasst: Immer weniger junge Menschen interessieren sich für Journalistenjobs, die Qualität der Bewerbungen sinkt – und etliche von denen, die dann doch anheuern, sind schnell wieder weg. Die Branche steckt mitten in der Talente-Krise.

Dabei habe man die Anforderungen doch schon gesenkt, lamentierten einige Diskutanten. Früher habe man Anschreiben mit Rechtschreibfehlern sofort weggelegt oder müde abgewunken, wollte jemand das Abenteuer Journalistenberuf ohne Führerschein wagen. Heute versuche man, jegliche Homeoffice-Wünsche mit den Anforderungen des aktuellen Geschäfts zu verbinden. Aber wo nicht Berlin, Hamburg, Leipzig, oder Köln in der Nähe seien, winkten heute die meisten jungen Leute ab. 

Die Gründe für das mangelnde Interesse am einstigen Traumberuf sind vielfältig. Einstiegsgehälter nach dem Volontariat „knapp unter Busfahrer in München“ (so ein Teilnehmer), hohe Arbeitsbelastung, die schwierige Situation der Branche und zunehmende Anfeindungen gehören dazu. Der wichtigste dürfte aber das sein, was ein Chefredaktionsmitglied so beschrieb: „Die jungen Leute haben keinen Produktkontakt mehr“.

Wer sich vorwiegend auf Instagram und TikTok über das Weltgeschehen auf dem Laufenden hält, dem fehlen nicht nur die Vorbilder, die mit dem Weißen Haus im Hintergrund die Lage erklären, in Schutzweste vor Trümmern in Charkiw stehen oder als sonor plaudernde Radiomoderatorin den morgendlichen Erstkontakt zur Außenwelt herstellen. Der potenzielle Nachwuchs fragt sich auch, warum er für etwas, das heute jeder selbst produzieren kann, eine Ausbildung und eine Marke als Ausspielkanal baucht, die jeder mit seinen Großeltern assoziiert. Wer dann noch auf Führungskulturen aus dem vergangenen Jahrhundert trifft, schaltet ab.

All dies wurde in der oben genannten, 2019 vom Reuters Institute in Oxford und der Universität Mainz herausgegebenen und von der Deutsche Telekom Stiftung finanzierten Studie thematisiert. Dort ging es auch um mangelnde Vielfalt in Redaktionen Deutschlands, Schwedens und Großbritanniens, was damals vielen als das drängende Thema erschien. Beim Stichwort Talentekrise hatten noch viele abgewunken. Ein Grund ist, dass die Debatte über Journalismus und Medien vorwiegend von den großen Marken dominiert wird, bei denen sich der Bewerbermangel in Grenzen hielt. Aber nun, da viele Baby-Boomer in Rente gehen, wissen Regionalverlage kaum noch, wo der Nachwuchs herkommen soll. Und viele derjenigen, die dann doch einsteigen, wollen arbeiten wie die Alten, statt dem Verlagshaus den Weg in die Zukunft zu zeigen. Sie wollen lange Geschichten recherchieren und schreiben, statt TikToks zu produzieren (oder der „human in the loop“ bei der KI-assistierten Produktion zu sein).

Viele in der Branche scheinen verzweifelt, doch die Lage ist nicht aussichtslos. Es gibt Mittel und Wege, die Attraktivität des Journalistenberufs und der Branche zu steigern.

Lösung eins: Diversität

Man kann gleich zwei Probleme lösen, in dem man sie miteinander kombiniert. Viele Häuser ringen ohnehin um mehr Vielfalt in den Redaktionen, um die Gesellschaft abzubilden und hoffentlich neue Zielgruppen zu erreichen. Das heißt: Theoretisch könnten sie aus einem deutlich größeren Kandidaten-Pool schöpfen als früher, wo überwiegend die sehr gute Deutschnote Voraussetzung für eine Journalistenkarriere war. Zweitens haben etliche Verlage das erkannt und tun eine ganze Menge, um sich attraktiver für junge Kollegen zu machen. Leider ist dies anstrengend. 

Mit dem Öffnen der Tore für junge Menschen, deren Herkunft, Bildung, Hautfarbe, Muttersprache oder Religionszugehörigkeit nicht der Mehrheit entsprechen, ist es nämlich nicht getan. Man muss zunächst aktiv um sie werben und sie dann auch entsprechend ermutigen, begleiten, zum Teil extra ausbilden. Gerade Kinder aus Einwandererfamilien werden oft von ihren Familien vom Weg in den Journalismus abgehalten. Großeltern oder Eltern hätten viel dafür riskiert und geopfert, heißt es dort, um den Kindern den Aufstieg zu ermöglichen. Im Gegensatz zur Medizin, zur Juristerei oder dem Ingenieurwesen gilt der Journalismus nicht als Aufstiegsberuf – zumal Pressefreiheit in einigen Herkunftsländern nicht vorgelebt werden konnte.

Lösung zwei: Anpassungsdruck abbauen 

Die nächste Hürde ist die Redaktionskultur. Wer zu einer Minderheit gehört und trotzdem brilliert, tut das oft unter erheblichem Anpassungsdruck. Diese Kandidaten haben ein exzellentes Gespür für die Mehrheitsnormen und werden sich diesen eher anpassen, als dagegenzuhalten. Das heißt dann für die Redaktionen, dass sie zwar optisch besser aussehen, aber inhaltlich nicht von der Vielfalt profitieren. Eine wertschätzende Kultur, in der man abweichende Stimmen ermutigt, ihnen zuhört und ihre Ideen auch mal umsetzt, ist die Grundvoraussetzung für ein inklusives Klima. 

Es geht darum, die Stärken der jungen Kollegen zu erkennen, zu nutzen und darin zu investieren, nicht darum, sie in das alte Schema zu pressen. Wer das hinbekommt, entwickelt nicht nur loyale Mitarbeiter, sondern hilft auch dem Produkt und damit letztlich dem Publikum. Beim Birminghamer Ableger der größten britischen Regionalzeitungsgruppe Reach war es zum Beispiel eine muslimische Volontärin, die den preisgekrönten Newsletter  Brummie Muslims entwickelt und zu einer Erfolgsgeschichte gemacht hatte. 

Lösung drei: Weg von den Muster-Ausbildungen

Verlage haben einige interessante, zum Teil sogar erfolgreiche Versuche in der Mache, um den Trend zu drehen. Die einen setzen Karriereseiten auf, die barrierefrei konzipiert sind, also Bewerber nicht mit übermäßigen Anforderungen abschrecken. Die anderen haben Quereinsteiger eingestellt: die ehemalige Versicherungskauffrau, die jetzt Service-Stücke schreibt, die ehemalige Kindergärtnerin, die es versteht, mit verschiedensten Menschen ins Gespräch zu kommen; den Instagramer mit den vielen Followern, der die Marke bei jungen Leuten bekannt macht – wenngleich er niemals als Blattmacher im Sonntagsdienst einsetzbar sein wird. Die WAZ brüstet sich damit, Deutschlands erstes Klimavolontariat anzubieten. Und dann gibt es tatsächlich solche Arbeitgeber, die mehr zahlen – ein Deutschland-Ticket gibt es obendrauf. Die Ausbildungsbeauftragte der Freien Presse Chemnitz, Jana Klameth, brachte es beim Forum Lokaljournalismus auf den Punkt: „Wir brauchen viele zugeschnittene Volontariate. Eines für alle, das geht nicht mehr.“

Diese Herausforderung bleibt

Mit etwas Mühe, der richtigen Verkaufe und ein paar Anreizen dürfte das Werben eigentlich gelingen. Ist „Purpose“ nicht angeblich eines der wichtigsten Themen für die jüngeren Generationen? Einige Verlage beobachten das; allerdings zieht dieses Argument wohl vor allem bei Frauen. Der Nachwuchs sei überwiegend weiblich, heißt es. Und das hat man ja schon in anderen Berufen beobachtet, in denen Status und Gehälter in gleichem Maße sanken wie die Arbeitsanforderungen stiegen.

Was aber noch überzeugender sein sollte als das Sinnstiftende am Beruf ist die Aussicht auf eine Top-Qualifikation. Journalisten müssen heute so viel mehr können als früher: Es geht nicht nur ums Geschichtenerzählen, sondern um Produktentwicklung, Datenanalyse, den Umgang mit KI, das Verständnis von Geschäftsmodellen und Distributionskanälen – alles Fähigkeiten, die Bewerber auch in anderen Branchen hoch attraktiv machen. Und hiermit tut sich für die Medienhäuser das nächste Problem auf.

Dieser Text erschien bei Medieninsider am 30. April 2024. Aktuelle Kolumnen lassen sich mit einem Abo lesen. 

Junge Nutzer, die unbekannten Wesen – und warum Journalismus sie doch erreichen kann

Wenn Verlagsmanager und Senderverantwortliche über junge Menschen sprechen, kommt einem zuweilen der Titel eines Aufklärungsbestsellers aus den sechziger Jahren in den Sinn: Meine Frau, das unbekannte Wesen. Vielen Verantwortlichen in den Medienhäusern scheinen die jungen Nutzer so nah und doch so fern zu sein, wie damals offenbar dem einen oder anderen die Ehefrau. Dabei könnte man so viel lernen, würde man den Objekten der Begierde einfach mal zuhören. 

Das hat nun eine Gruppe von Medienforschern im Auftrag von FT Strategies und dem Knight Lab getan. Der Report Next Gen News: understanding the audiences of 2030 eignet sich durchaus, nun ja, als Aufklärungslektüre.  

Einige Erkenntnisse aus der Studie, die keine Umfrage ist, sondern sich mit tatsächlichem Verhalten beschäftigt, dürften für die Medienbranche schmerzhaft sein. Etliche sind aber nur unangenehm, wenn man sich vor Arbeit drücken möchte. Denn die jungen Nutzer in den drei untersuchten Märkten USA, Nigeria und Indien schätzen Journalismus durchaus. Sie können oft nur nichts mit jenem Journalismus anfangen, der in vielen Redaktionen jahrzehntelang als Goldstandard galt und sich wohl schon damals nicht ausreichend verkauft hätte, wäre er nicht in lukrative Geschäftsmodelle verpackt gewesen.

Junge Menschen wollen kein Geschwurbel

Zunächst also zu den womöglich nicht so willkommenen Wahrheiten. Die erste ist, dass der so genannte Qualitätsjournalismus schon immer eine Sache für Eliten war. Er erreichte eine relativ kleine Schicht gebildeter Menschen, vorrangig Männer. Wer dazugehören wollte, empfand einen gewissen Stolz dabei, sich durch Bleiwüsten quälen zu können oder Nachrichten auszusitzen, von denen vielleicht zehn Prozent mit dem eigenen Leben zu tun hatten – darunter der Wetterbericht. 

Die junge Generation hingegen ist selbstbewusster als ihre Vorgänger. Sie findet sich mit Geschwurbel nicht mehr ab, da sie dank Digitalisierung weiß, dass man alles auch einfacher, anschaulicher, respektvoller oder lustiger erklären kann. Dies gilt insbesondere in Märkten und für Menschen, denen der Zugang zu vielfältigen Informationen früher verschlossen war.

Zu diesem Blick von oben herab gehört auch die recht willkürliche Einteilung in harte und weiche Nachrichten, Stoffe oder Ressorts. Als hart galten Politik und Wirtschaft, als weich, oder zumindest weicher, eben der Rest. Nicht einmal die in den Siebzigerjahren geprägte Aussage, das Private sei politisch, konnte Nachrichtenchefs für die längste Zeit davon überzeugen, dass die Wortblase eines Ministerpräsidenten mehr Nachrichtenwert hat als Debatten um die Aufteilung der Familienarbeit, der ewige Stau auf der Bundesstraße oder der ökologische Fußabdruck des Skiurlaubs. Zwar wunderten sich Redaktionsleiter ab und an, dass überwiegend Männer Zeitung lasen, aber selten dachten sie darüber nach, woran das lag – und noch seltener taten sie etwas dagegen. 

Die jüngere Generation, in der Männer und Frauen zumindest versuchen, sich mit ähnlichem Einsatz ums Familienleben zu kümmern, hält plötzlich Themen für relevant, die Chefredakteure älterer Jahrgänge – überwiegend ehemalige Politikreporter – maximal in Frauenzeitschriften geduldet hätten. Aber für die Jungen ist das Private eben politisch, das Weiche zuweilen ziemlich hart.

Auch unter Jungen gilt: Klasse statt Masse – nur eben anders

Besonders unpopulär dürfte die Einsicht sein, dass die Branche im Digitalen früh falsch abgebogen ist und auf Masse statt Qualität gesetzt hat. Denn das rüttelt am Selbstbild von Digitalchefs, die sich üblicherweise als Chef-Innovatoren betrachten. Aber Hingucker schaffen selten Loyalität, sorgfältiges Kuratieren ist journalistisches Kerngeschäft. Zu spät dämmerte es vielen Verantwortlichen, dass verlässliche, vertrauensvolle Beziehungen zu den Nutzern das Kapital erfolgreicher Medienunternehmen sind – wie schon zur Blütezeit des Zeitungsabos. Junge Menschen empfinden das ganz genauso. Sie schätzen Tiefe, Augenhöhe – auch im Umgang mit Fehlern – , Sorgfalt in der Auswahl und Ansprache. Keinesfalls wollen sie von Meldungen erdrückt werden. Erfolgsgeschichten wie die dänische Online-Marke Zetland, die mit ihrem „slow journalism“ bei einem vergleichsweise jungen Publikum gut ankommt und profitabel ist, belegen das. 

In der Untersuchung von FT Strategies gaben viele zu Protokoll, dass sie Push-Mitteilungen zwar als Informationsquellen nutzten, aber nie öffneten. (Zu Papierzeiten las man schließlich oft auch nur die Schlagzeilen.) „Sifting through the noise“: Aus dem Nachrichtenstrom das herauszufischen, was für sie Nährwert hat, ist für die Jungen zur Kulturtechnik geworden. Und weil Ablenkung und Unterhaltung überall sind, erwarten sie vom Journalismus einen Mehrwert. Zwei Drittel wünschen sich, er solle konstruktiv und lösungsorientiert sein.   

Der vertrauensvolle News-Anchor ist heute Influencer – und Experte auf seinem Gebiet

Vertrauensvolle Beziehungen hängen oft an Persönlichkeiten. Ähnlich wie die Alten Ulrich Wickert, Anne Will oder Peter Kloeppel schätzten, folgen die Jüngeren „ihren“ Influencern, wie Mai Thi Nguyen-Kim oder (international) Sophia Smith Galer. Der Unterschied ist, dass journalistische Influencer auf Kanälen unterwegs sind, auf denen die Linien zwischen Journalismus, Meinung und Marketing verschwimmen, die Studie nennt das „information context collapse“. Aber es wäre pure Arroganz zu behaupten, junge Menschen seien zu dumm, das zu erkennen. Sie betrachten stattdessen alle Veröffentlichungen mit einer ausgeprägten Skepsis. Auch bei den traditionellen Medienmarken wittern sie zuweilen Interessen, die nicht ganz mit dem Pressekodex zu vereinbaren sind – wer mag es ihnen verdenken?  

Was junge Nutzer wirklich von älteren unterscheidet: Sie erwarten mehr Authentizität. Dem Chefredakteur, der in der Konferenz regelmäßig murmelte, man müsse nicht im Krieg gewesen sein, um darüber zu schreiben, würden sie ein fröhliches „doch!“ zurufen. Immerhin gibt es ausreichend Menschen mit allen möglichen Erfahrungen, warum lässt man sie nicht zu Wort kommen? Weniger als frühere Generationen verlassen sie sich auf Seniorität und Hierarchie. Dies stellt Redaktionen vor ein Problem. Denn woher soll man all die jungen Kollegen nehmen, die „authentisch“ mit ihren Alterskohorten auf Augenhöhe kommunizieren – und was tun sie mit den anderen? Schließlich spüren junge Reporter schnell, was sie liefern müssen, um ihre Chefs zu beeindrucken, manch einer schreibt schon mit 30 so, wie er es sich beim 50-jährigen, intern hochgelobten Kollegen abgeschaut hat. Hier sind eine aktive Personalpolitik und eine wertschätzende Redaktionskultur gefragt. Gestandene Redakteure brauchen Offenheit und eine gewisse Demut. Sie sollten ihre alten Glaubenssätze auch mal hinterfragen und in Sachen Angriffslustigkeit und Wörter-Verliebtheit abrüsten, ohne sich den Jungen anzubiedern und journalistische Grundsätze aufzugeben.   

Junge Menschen zu verstehen und mit journalistischen Produkten zu erreichen ist also gar nicht so schwer. Man muss sich aber Mühe geben. Und das scheuen viele, die lieber mit alten Geschäftsmodellen Geld verdienen als Beziehungen aufbauen wollen. Eine wichtige Erkenntnis der Studie sollte ihnen jedoch zu denken geben: Auch ältere Nutzer integrieren moderne Technologie gerne in ihren Lebensstil – nur mit Zeitverzug. Großeltern kommunizieren heute selbstverständlich mit WhatsApp, verschicken digitale Fotos, nutzen Facebook oder gar TikTok. Wer die Jungen gewinnt, sichert sich deshalb womöglich auch die Loyalität der Alten – auch wenn die sich nur ungern duzen lassen. Helje Solberg, Chefredakteurin beim norwegischen Fernsehsender NRK, beobachtet zudem einen positiven Nebeneffekt, den sie in Interviews für den EBU News Report skizziert hat: Formate, die bei jungen Leuten ankommen, erwiesen sich häufig als inklusiver, sie erreichten Menschen verschiedener Bildungsgrade, Herkünfte und Gesellschaftsschichten. Womöglich sollte das die Definition von Qualitätsjournalismus sein.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 28. März 2024. Aktuelle Kolumnen lassen sich mit einem Abo lesen. 


Gesellschaft des Misstrauens

Was ist zu tun gegen Miss- und Desinformation, für Medienvielfalt und Zusammenhalt? Eine Antwort. 

Man kann sich dem Thema Falsch­information von zwei Seiten annähern. Auf der einen, der schaurig-alarmschlagenden, mangelt es nicht an drastischer Sprache und düsteren Szenarien. Dort warnen Experten vor einer Welt der künstlich verfälschten oder gänzlich fabrizierten Ton-, Bild- und Textdokumente, die täuschend echt daherkommen, skalieren und deshalb das Ende des Konzepts Vertrauenn oder gleich der Wahrheit einläuten.

Auf der anderen, der nüchtern-akademischen, bemühen sich Forscher, das prognostizierte Drama im Lichte des Jetzt zu spiegeln. Mit Blick auf die Datenlage argumentieren sie: Abgesehen von seit jeher üblicher politischer Propaganda, die sich vom Wahlplakat über den Tweet bis zum Politikerinterview zieht, seien verhältnismäßig wenige Menschen überhaupt solchen Desinformationsattacken ausgesetzt. Es handele sich um ein „Heavy User“-Phänomen, das sich womöglich weniger auf alltägliches Verhalten auswirke, als die Alarmschlagenden dies vermuteten. „Desinformation ist ein begrenztes Problem mit begrenzter Reichweite in der Öffentlichkeit“, schrieben Andreas Jungherr und Ralph Schroeder 2021. Die Prominenz des Themas in der öffentlichen Debatte lasse sich am besten mit dem Begriff „moralische Panik“ erklären.   

Welcher dieser Seiten man sich zugetan fühlt, hängt stark vom Menschenbild ab. Wer bevorzugt denjenigen folgt, die Schlimmes befürchten, traut seinen Mitmenschen – und womöglich sich selbst – wenig zu. Er hält sie in der Mehrzahl für unaufmerksam, gutgläubig, leicht beeinfluss- und verführbar. Sowohl die historische Erfahrung mit Diktaturen als auch Forschung zur Manipulierbarkeit des Gehirns unterstützen diese Einschätzung. Von einem solchen skeptischen Standpunkt her muss es das strategische Ziel sein, Formen der Desinformation – manche sprechen von Fake News – so weit es geht zu unterbinden. Als Schuldige werden häufig die digitalen Plattformen mit ihren auf Reichweite optimierten Geschäftsmodellen identifiziert, die es zu regulieren gelte.

Eine Frage des Menschenbilds 

Wer eher an die Urteilskraft, Lernfähigkeit und Kapazität von Menschen glaubt, sich frei zu entscheiden, betrachtet die Lage gemeinhin entspannter. Die Nutzer von digitalen und anderen Angeboten würden künftig schlicht mehr Skepsis walten lassen, statt alles blind zu glauben, was sich in Text, Bild und Ton über sie ergießt. Diejenigen, denen ein solches Menschenbild stärker zusagt, fühlen sich womöglich Erik Roose zugetan, dem Intendanten des öffentlich-rechtlichen Senders von Estland. Der sagte kürzlich in einem Interview: „Damals zu Sowjetzeiten wusste man: Was in der Zeitung steht, ist zu 100 Prozent Desinformation. Man musste zwischen den Zeilen lesen.“ 

Diese Fähigkeit beherrschen nicht alle Menschen, aber offensichtlich dennoch ein großer Teil der Bevölkerung. Das zeigte sich zum Beispiel in der Covid-19-Pandemie. Die Weltgesundheitsorganisation hatte schon vor einer „infodemic“ gewarnt, bevor sie das Virus im März 2020 zu einer weltweiten Gefahr erklärt hatte. Tatsächlich aber verhielten sich viele Menschen mustergültig und informierten sich bei traditionellen Medienmarken; das Vertrauen in Medien war 2020 sprunghaft gestiegen. 

Allerdings sorgen sich auch eher optimistische Beobachter, dass exponentiell wachsende Desinformation das generelle Vertrauen in Informationen zerstören könnte. Frei nach Hannah Arendt heißt dies: Wenn man annimmt, alles könnte manipuliert sein, glaubt man gar nichts mehr. Ohne eine gesunde Skepsis mündiger Bürgerinnen und Bürger würde Demokratie nicht funktionieren, aber der Übergang kritischer Beobachtung zur Misstrauensgesellschaft ist potenziell fließend. Schon jetzt zeigt sich, dass junge Menschen, die in einer unübersichtlichen Medienwelt aufgewachsen sind, dem, was sie sehen, hören und lesen, weniger vertrauen als frühere Generationen.

Macht der Multiplikatoren

Traditionelle Medien prägen diese Debatte stärker, als sie dies womöglich einräumen würden. Je ausführlicher und drastischer sie über all die Möglichkeiten berichten, mit denen sich Informationen, Dokumente und Medienprodukte verfälschen lassen, umso misstrauischer werden die Nachrichtenkonsumenten. 

Insbesondere Multiplikatoren – zum Beispiel politische Entscheidungsträger und Regulierungsbehörden –, die ihr Profil schärfen wollen, greifen solche Debatten gerne auf. In den vergangenen Jahren ließ kaum eine Grundsatzrede zum Zustand der Demokratie das Thema Fake News unerwähnt. Auf diese Weise beeinflusst das Narrativ der Desinformation das Maß, in dem sich Bürger davon bedroht fühlen. Politiker mit entsprechenden Instinkten erspüren dies. Der Weg von der Sonntagsrede zum Gesetz kann deshalb kurz sein.  

Gleichzeitig wurden Begriffe wie Fake News und Desinformation von politischen Kräften instrumentalisiert, um die Arbeit von seriösen Journalisten und Medien zu diskreditieren. Dahinter steckt Eigennutz: Manches, was recherchiert und publiziert wird, passt ihnen nicht. Vor allem autoritäre und zu autoritärem Gebaren neigende Politiker verwenden Fake News seit ­Jahren als Kampfbegriff gegen die Presse, allen voran der ehemalige US-Präsident Donald Trump. 2019 beklagte der Herausgeber der New York Times, A.G. Sulzberger, dass binnen weniger Jahre mehr als 50 Regierungschefs und Staatspräsidenten auf fünf Kontinenten den Begriff Fake News genutzt hätten, um gegen Medien vorzugehen. 

Der Begriff der Desinformation wurde von politischen Kräften instrumentalisiert, um seriösen Journalismus zu diskreditieren 

Das Thema Falschmeldungen hat in den vergangenen Jahren eine solche Wucht bekommen, dass sich daraus eine Art Desinformations-Bekämpfungs-Komplex entwickelt hat: ein Zusammenspiel von Medien, Geldgebern und Regulierungsorganen, das sich nicht nur positiv auswirkt. So missbrauchen Regierungen die entsprechende Regulierung zuweilen dazu, Presse- und Meinungsfreiheit oder gar Grundrechte einzuschränken.

Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Center for News, Technology and Innovation aus Anlass der weltweit 50 Wahlen in diesem Jahr. Bei der Förderung von Medienangeboten fixieren sich große Geldgeber häufig dermaßen auf den Kampf gegen Desinformation, dass Redaktionen Ressourcen für jene Recherchen fehlen, die etwas noch Wichtigeres vollbringen müssen: erst einmal Fakten und Informationen heranzuschaffen, bevor es an das Verifizieren und Entkräften von Falsch­meldungen geht. Bei einem Round-Table zu Desinformation im Ukraine-Krieg 2022 waren sich Teilnehmende sowohl aus der Ukraine als auch aus Russland einig, dass eine unklare Informationslage eine weitaus größere Herausforderung in der Kriegsberichterstattung sei als Falsch­meldungen.

Fake News haben politische Wurzeln

Der Kampf gegen Desinformation setzt zudem häufig an der falschen Stelle an, weil die Kritiker oft Ursache mit Wirkung verwechseln. Das Phänomen Fake News hat politische Wurzeln, die weit in die Zeit vor Social Media zurückreichen. Die sozialen Netzwerke und Tech-Plattformen sind demzufolge keine alleinigen Verursacher gesellschaftlicher Spaltung, sondern vor allem nützliche und wirkmächtige Instrumente, um sie zu verstärken.

Das Ringen um eine vielfältige, von Wissens- und Erkenntnisdurst bestimmte Informationslandschaft muss deshalb auch und insbesondere bei den Ursachen ansetzen, nicht erst bei der Symptombekämpfung. Nur – dem stehen mächtige Interessen entgegen.

Dass Desinformation in der gegenwärtigen Welt zumindest ausreichend Abnehmer findet, hat in erster Linie fünf Ursachen: 

Erstens, politische Polarisierung. Diese ist nicht erst durch die sozialen Netzwerke entstanden, sondern hat ihre Wurzeln in den Protestbewegungen der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. In dem Maße, in dem Frauen, ethnische Minderheiten und andere benachteiligte Gruppen nach Positionen von Einfluss und Macht griffen, die ihnen vorenthalten wurden, verstärkte sich in den gesellschaftlich dominierenden Schichten die Angst vor dem Bedeutungs- und Kontrollverlust.

Gegenüber denjenigen, die mit neuem Selbstbewusstsein nach Teilhabe riefen, versammelten sich diejenigen, die um ihre Privilegien fürchteten und fortan versuchten, diese zu zementieren. Religiöse Konflikte und Wirtschaftslobbys mit Interesse am Zurückdrängen von Klimapolitik reicherten dieses Gebräu an. Soziale Netzwerke, angetrieben von Geschäftsmodellen der Aufmerksamkeits­ökonomie, erleichterten es den jeweiligen Gruppen, Gleichgesinnte zu finden und Ideologie-Cluster zu bilden.

Verursacht aber hat „Big Tech“ die Spaltung nicht. Eine Arbeit des Berkman Klein Center for Internet & Society an der Har­vard University zeigt, dass zum Beispiel bei der US-Wahl 2016 in erster Linie polarisierende Politiker und traditionelle Medien Desinformation betrieben haben, nicht etwa soziale Netzwerke oder sogenannte Troll-Fabriken, in denen Auftragsarbeiter bewusst Falschmeldungen fabrizieren.

Soziale Netzwerke und Tech-Plattformen sind ­keine alleinigen Verursacher 
gesellschaftlicher Spaltung, sondern wirkmächtige
In­strumente der Verstärkung

Für Osteuropa kommen Vaclav Stetka und Sabina Mihelj in ihrem Buch „The Illiberal Public Sphere. Media in Polarized Societies“ zu einem ähnlichen Schluss: Traditionelle Medien, oft von politischen Interessen korrumpiert, seien die primären Kanäle der Desinformation.         

Zweiter Grund, eine komplexer werdende, sich rasant wandelnde Welt. Diese sogenannte VUCA-Umgebung – kurz für volatile, uncertain, complex, ­ambiguous (flüchtig, unsicher, komplex, mehrdeutig) – gibt Populisten Auftrieb, die mit knackigen Botschaften einfache Lösungen versprechen. Die Kriege in der Ukraine und in Gaza, politische Repression, Fluchtbewegungen, wirtschaftliche Unsicherheit und Klimawandel verängstigen Menschen. Manche sprechen von Polykrisen, ein Konzept, das von dem britischen Historiker Adam Tooze popularisiert wurde. Die neuen Möglichkeiten durch generative KI dürften viele Branchen, Job-Profile und das Bildungssystem verändern und damit noch mehr Menschen verstören. Als Konsequenz sucht manch einer Halt bei charismatischen Führungspersönlichkeiten, Ideologien oder Institutionen, die Stabilität und klare Strukturen versprechen.

Drittens, hybride Kriegsführung mit „information operations“. Dass moderne Kriege nicht nur mit Waffen an der Front, sondern auch über digitale Informationskampagnen mit dem Ziel ausgefochten werden, Gesellschaften zu destabilisieren, ist fast schon Allgemeingut. Insbesondere der Angriff Russlands auf die Ukraine und das weitere Erstarken Chinas haben die geopolitische Polarisierung vorangetrieben.

Das Ausmaß der digitalen Beeinflussung von Wahlen in einem Jahr, in dem fast die halbe Weltbevölkerung in verschiedenen Formen an die Urnen geht, ist derzeit nicht abzuschätzen. Es wäre allerdings verfehlt, die Verantwortung für politische Machtverschiebungen oder das Erstarken bestimmter Kräfte in erster Linie externen Einflüssen zuzuschreiben. Innenpolitische Machtstrukturen oder deren Auflösung dürften Wahlen in weitaus größerem Maße beeinflussen. 

Viertens, die unübersichtliche Nachrichtenvermittlung. Das Erstarken der Online-Plattformen hat das Medien­system aus den Angeln gehoben und die Möglichkeiten des Nachrichtenkonsums von Orten, Zeiten und festen Formaten gelöst. Die Angebote sind deshalb heute zwar vielfältiger als zu Zeiten des linearen Fernsehens und Radios und der Zeitung auf Papier – vom stundenlangen Podcast bis TikTok ist alles dabei. Dafür fühlen sich die Nutzenden aber zunehmend ­verwirrt.

Studien wie „Use the News“ oder „Next Gen News“ belegen dies gerade für die junge Generation. Die informiert sich vor allem in den sozialen Netzwerken, und dort lässt sich im ständigen Fluss von Meldungen zuweilen schwer zuordnen, ob die Nachricht aus einer seriösen Quelle stammt, eine Meinungsbekundung oder womöglich eine Werbebotschaft ist.

Es gibt zwar bislang keine Belege dafür, dass dies junge Menschen anfälliger für Desinformation macht. Im Gegenteil, ältere Generationen, die nicht so versiert im Umgang mit digitalen Angeboten sind, scheinen sich leichter täuschen zu lassen. Aber für Ungeübte ist im Informationsstrom schwer zu erkennen, was glaubwürdiger Journalismus ist. Manche bezweifeln auch, dass man ihn überhaupt braucht. Zudem können Satire oder andere humoristische Formate leicht als Desinformation wahrgenommen werden, wenn sie nicht klar gekennzeichnet sind.

Die Angebote sind im Vergleich zur linearen Zeit so vielfältig, dass die Nutzer zunehmend verwirrt sind 

Fünftens, die technischen Möglichkeiten durch Künstliche Intelligenz. Für diejenigen, die bewusst Desinformationen fabrizieren, sind die derzeit sich wie durch Zellteilung vermehrenden Tools der generativen KI nützliche Werkzeuge. In Sekunden und Minuten lassen sich Videos lippensynchron mit anderen Tonspuren hinterlegen, Pornos mit Gesichtern von Prominenten ausstaffieren, geklonte Stimmen für politische Botschaften einsetzen, bewegte und statische Bilder zu jedem erdachten Inhalt fabrizieren. Der Sicherheitsexperte Jean-Marc Rickli vom Geneva Centre for Security Policy spricht von „Weapons of Mass Disinformation“, analog zu „Weapons of Mass Destruction“. 

Ob Menschen solche Desinformation strategisch im Auftrag anderer oder aus Spaß und Langeweile fabrizieren, ist natürlich politisch relevant. In beiden Fällen ist aber die genaue Wirkung kaum absehbar. Zu den gefürchteten „Deep Fakes“ kommen auch noch die „Cheap Fakes“: nachlässig veränderte Inhalte, die man bei genauerem Hinsehen als solche enttarnen könnte, es aber nicht tut, weil man das, was man sieht, glauben will.

Forschung zufolge nutzen Menschen in sozialen Netzwerken sogar mehr Informationsquellen als ihre Zeitgenossen, die sich traditionell informieren. Nur filtert das Gehirn die Informationen oft so, dass sie zum Weltbild passen. Das Grundproblem liegt also nicht in der KI, sondern im Kopf.

KI braucht Regeln

Dem Problem der Desinformation wird man nur begegnen können, wenn man an allen fünf Punkten ansetzt. Von hinten aufgerollt heißt das: Natürlich brauchen KI-Anwendungen Regeln. Der European AI Act, der im Mai 2024 vom European Council verabschiedet wurde, ist ein sinnvoller erster Schritt. Er teilt KI-Tools in Risikoklassen ein, reguliert dementsprechend ihren Einsatz, und verlangt Transparenz. KI hilft auch denen, die Gutes im Sinn haben: Die Verifizierung von Inhalten wird einfacher – wenngleich Sicherheitsexperten vor einer asymmetrischen Entwicklung warnen. Medienforscher um Felix Simon hingegen argumentierten in einer Analyse 2023, dass Ängste übertrieben ­seien, generative KI würde die Desinformation auf eine neue Stufe heben. Nach wie vor konsumiere nur ein kleiner Anteil der Bevölkerung in großem Maße Falschmeldungen. Vielerorts gebe es demgegenüber ein funktionierendes Mediensystem, das Menschen ermögliche, sich zuverlässig und hochwertig zu informieren. 

Polarisierung und Konflikt statt Konsens war für Medien lange ein lukratives Geschäftsmodell. Statt aber den Zusammenhalt zu stärken, trugen sie zur Spaltung bei

Allerdings ist dieses System angeschlagen. Die früher lukrativen, anzeigenbasierten Geschäftsmodelle funktionieren in der digitalen Welt nur noch bedingt, und die Nachrichtennutzer sind in der Mehrzahl nicht bereit, diesen finanziellen Einbruch aus eigener Tasche auszugleichen. KI-basierte Suchmaschinen lassen zudem befürchten, dass Quellen ­unsichtbar ­werden. Gleichzeitig fühlen sich viele Menschen von einem immer schnelleren und schrilleren Informationsangebot überfordert oder schlicht nicht angesprochen. Besonders Medienhäuser überschätzen oft, wie viel Interesse an Nachrichten in der breiten Öffentlichkeit besteht. Die Nachrichtenmüdigkeit und -abstinenz nimmt zu (s. dazu auch die Grafik auf S. 43).

Stärkung der Medienvielfalt

Gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Akteure müssen deshalb dazu beitragen, den Journalismus, die Medienvielfalt und die Pressefreiheit auf verschiedenen Wegen zu stärken. Menschen brauchen verlässliche, unabhängige Informationen, um gute Entscheidungen treffen zu können. Viele Medienhäuser müssen dazu allerdings umdenken. Für sie war Polarisierung lange ein lukratives Geschäftsmodell. Konflikte verkauften sich besser als Konsens, steile Thesen besser als Nuancen. Statt den Zusammenhalt zu stärken, trugen sie zur Spaltung bei. Im Ringen um eine vertrauenswürdige Informationslandschaft dürfte ein Journalismus, der Menschen zuhört und sich an ihren Bedürfnissen orientiert, wichtiger sein als die besten Fact-Checking-Tools. 

Den anderen hier skizzierten Ursachen für Desinformation – Krieg, Polarisierung, allgemeine Überforderung – lässt sich nur politisch begegnen. Es gilt, Aggressoren zurückzudrängen und politische Konflikte, wo es möglich ist, diplomatisch zu lösen. Die Institutionen von Demokratie und Gesellschaft müssen daran arbeiten, Menschen mit Fakten kompetent zu machen, ihnen nahezubringen, was sie verbindet und so den Zusammenhalt und ihre Resilienz zu stärken. Nur so lässt sich Desinformation der Nährboden ­entziehen.     

Dieser Essay erschien am 24. Juni 2024 als Aufmacher-Stück eines Schwerpunkts in der Zeitschrift Internationale Politik

Die Black Box der KI-Debatte: Worüber Medienmacher lieber schweigen

Es gibt dieser Tage zwei Sorten von Medienmachern: diejenigen, die sich tagein, tagaus mit künstlicher Intelligenz beschäftigen und diejenigen, die das nicht tun. Zuweilen entsteht der Eindruck, dass die erste Gruppe vor Begeisterung kaum noch wahrnimmt, dass es die zweite überhaupt gibt. Es ist ein bisschen wie in den frühen Tagen des Online-Journalismus: Die einen vernetzen sich mit Gleichgesinnten, kommentieren dieselben Studien, treffen sich auf den immer gleichen Konferenzen, vergleichen ihre Tools. Die anderen versuchen, einfach ihren Job zu machen. Wie damals scheint in der Branche eine Art Bekenntniszwang zu herrschen: Entweder man schwärmt von den Möglichkeiten der KI, oder man recherchiert, wann sie denn nun die Menschheit auslöschen wird. Viele andere halten aber lieber die Klappe. Sie sorgen sich, als Innovationsfeinde zu gelten.    

Dabei wäre gerade jetzt, wo die ersten KI-Tools ausgerollt werden, eine breite und vielschichtige Debatte wichtig. Denn es geht um praktisch alles: jeden einzelnen Job, den Wert der jeweiligen Marke, die Zukunft von Geschäftsmodellen, das Vertrauen in den Journalismus als Ganzen. Der Launch von ChatGPT im November 2022 hat ein Tor aufgemacht, hinter dem sich verschiedene Wege auftun. Jene first mover, die das Thema vorantreiben, sind gut beraten, jene außerhalb ihrer Bubble um kritische Fragen zu bitten – so, wie es der Herausgeber der New York Times, A.G. Sulzberger, in einem kürzlich veröffentlichten Interview empfiehlt: „Ich habe die Erkenntnis gewonnen, dass der Weg voran in jeglicher Phase gigantischer Transformation ist, Fragen zu stellen, die Antworten mit Skepsis zu betrachten und an keine Wunderwaffen zu glauben.“

Eine Kolumne kann das Für und Wider des Einsatzes generativer KI im Journalismus nicht erschöpfend behandeln. Aus der Fülle der Szenarien und Argumente sollen hier deshalb nur ein paar Themen angerissen werden, über die derzeit selten oder gar nicht gesprochen wird. Es geht sozusagen um die Black Box der Debatte.

Erstens: Alle reden über gefährdete Jobs, kaum jemand über Verantwortung und Haftung 

Der Einsatz generativer KI in Redaktionen ist deshalb so riskant, weil sie streng genommen im Widerspruch zum Kern des Journalismus steht. Journalismus bedeutet Faktentreue und Genauigkeit; so definierte es der Ausschuss zu Qualitätsjournalismus des Europarats. Wer es pathetischer mag, spricht von Wahrheit. Große Sprachmodelle, wie sie der GenKI zugrunde liegen, berechnen aber lediglich Wahrscheinlichkeiten. Ihr Ziel ist es, sich den Fakten möglichst weit anzunähern und damit im Zweifel Wahrheit zu simulieren. Bestehen Lücken, halluzinieren sie. Einem Großteil der Nutzer ist dies mittlerweile bewusst. Dies bedeutet aber auch, dass Journalisten sämtliche Fakten überprüfen müssen, bevor sie bei mit KI ergänzten Texten oder Illustrationen auf den Sendeknopf drücken. Eine Recherche des britischen Mediendienstes Press Gazette beschreibt entsprechende Prozesse rund um ein neues Tool namens Gutenbot, mit dem die Verlagsgruppe Reach ihre Reichweite steigert. Dem Bericht zufolge ist der Produktionsdruck immens. Wer aber haftet bei Fehlern? Sind es die Hersteller der Tools, die Verlage, oder die Redakteure am Ende der Kette? Während zum Beispiel beim Einsatz selbstfahrender Autos Haftungsfragen im Kern der Debatte stehen, werden sie im Journalismus kaum thematisiert. Dies ist jedoch zwingend, sobald KI-Experimente für den täglichen Gebrauch skaliert werden. Die Glaubwürdigkeit ist das höchste Gut einer Medienmarke. Wer Gefahr läuft, sie zu ruinieren, sollte das Risiko kennen.

Zweitens: Es wird viel darüber gesprochen, was geht, aber wenig darüber, was das Publikum wirklich braucht 

Generative KI ermöglicht vieles, sekundenschnelle Übersetzungen in viele Sprachen gehören derzeit zu ihren stärksten funktionstüchtigen Features. Theoretisch könnte jedes Medienhaus seine Inhalte auf diese Weise im Rest der Welt verbreiten. Aber ist es wirklich das, worauf die Welt wartet? Tech-affine Journalisten und Manager sind schnell begeistert von neuen Tools und Formaten, doch manches davon lässt die Nutzer kalt. Man denke an komplizierte Multimedia-Produktionen, Nachrichten auf Abruf über smarte Lautsprecher, virtuelle Realität oder auch die simple Kommentarfunktion unter Onlinetexten. Der größte Teil der Journalismuskonsumenten zeigte kein Interesse daran (ebenso wie die sich ihrer Nutzer-Forschung gerne rühmenden Tech-Konzerne bislang weder smarte Brillen noch das Metaverse unter die Leute bringen konnten). Wie das Publikum reagiert, gehört bislang zu den großen Unbekannten in der KI-gestützten Medienwelt. Je bequemer zu nutzen, desto besser – das könnte eine Faustregel sein. Aber inmitten der Flut an (KI-fabrizierten) Inhalten und Deep Fakes könnte auch das Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit wachsen. Der Journalismus muss erforschen, was seinen Adressaten wirklich nutzt.   

Drittens: Es wird viel über Anwendungen gesprochen aber wenig darüber, was die dahinterliegende Technologie für Klima, Umwelt und Arbeitnehmer bedeutet

Generative KI verbraucht ein Vielfaches der Energie, die eine Google-Suche benötigt. Der CO2-Fußabdruck ist Fachleuten zufolge geschätzt fünfmal so hoch. Hinzu kommt der Wasserverbrauch in den Serverparks jener Tech Konzerne, über die die gängigsten Modelle laufen. Eine Studie des Data and Society Research Institutes beschäftigt sich nicht nur mit den Umweltkosten von generativer KI sondern auch damit, unter welchen Bedingungen Menschen die entsprechenden Modelle trainieren oder für Rohstoff-Nachschub sorgen. In den Medienhäusern herrscht dazu Schweigen. Chefredakteure, die noch vor Kurzem beim Klimajournalismus nachlegen wollten, schwärmen nun von den Möglichkeiten der KI. Nachhaltigkeit war gestern. Das ist einer Branche unwürdig, die verspricht, die Öffentlichkeit über Zukunftsfragen aufzuklären. Hier gilt die alte Regel, man muss nicht alles machen, was man machen kann. 

Viertens: Viele Redaktionen arbeiten an ethischen Regeln für den Gebrauch von KI, aber wenige thematisieren, was außerhalb ihres Einflusses liegt 

Mittlerweile gibt es in fast allen großen Medienhäusern ethische Regeln für den Einsatz von KI. Der Bayerische Rundfunk gehörte zu den ersten in Deutschland, die solche publik gemacht hatten. Im Detail unterscheiden sich die Dokumente, aber allen ist gemeinsam, dass sie sich um eine Balance zwischen Experimentierfreude und Risikobegrenzung bemühen. Das ist lobenswert. Aber wie wirksam werden solche ethischen Gerüste sein, wenn Mitarbeiter Software-Pakete nutzen, deren Vorgaben sie weder einsehen können noch verstehen würden? In den meisten Organisationen ist die Abhängigkeit von Microsoft Teams schon jetzt gewaltig. Die gegenwärtigen Co-Pilot-Funktionen dürften sich täglich verbessern. Auf manchem mit dem Smartphone aufgenommenen Foto ist der Himmel schon lange blauer als in Wirklichkeit. Da können Redaktionen noch so sehr beschwören, Bilder nicht zu verfälschen. Die Abhängigkeit von wenigen Tech-Konzernen ist auch im Kleinen immens, nicht nur im Großen, wenn es um Geschäftsmodelle geht. Felix Simon hat dieses Spannungsverhältnis in einem Report für das Tow-Center an der Columbia Universität gut beschrieben. Nicht jedes Haus wird es sich leisten können, eigene Sprachmodelle zu bauen. Da helfen nur branchenübergreifende Kooperationen. Die Zukunft der Medien wird auch davon abhängen, wie gut eine solche Zusammenarbeit klappt.   

Fünftens: Redaktionen betonen die Bedeutung von Menschen am Ende der KI-Produktionskette, aber was ist mit dem Anfang? 

Das Thema Vielfalt ist in den Medienhäusern in den vergangenen Jahren viel diskutiert worden – und es fällt ihnen immer wieder vor die Füße. Bauern, die mit Traktoren die Auslieferungen von Zeitungen verhindern wollten, haben Chefredaktionen jüngst daran erinnert, dass Vielfalt nicht nur Gleichstellung der Geschlechter und ethnische Diversität bedeutet, sondern dass auch der Stadt-Land-Konflikt einiger Aufmerksamkeit bedarf. Wenn Redaktionen nicht gegensteuern, werden KI-getriebene Produkte Stereotype eher verstärken als brechen – oder sich beim Brechen vergreifen, so wie der kürzlich von Google zurückgezogene Bild-Generator, der zu viel Diversity abbildete. Auch Redaktionen, die den Grundsatz „Human in the loop“ beherzigen, werden es im Eifer des Gefechts schwer haben solche Fehlgriffe zu reparieren. Hinzu kommt, dass KI zunehmend ins Recruitment einziehen wird, zum Beispiel als Tool zum Sichten von Lebensläufen. Journalismus sollte die Gesellschaft abbilden, wie sie ist. Dieses Ziel muss stehen. Hoffentlich gibt es künftig ein paar KI-Tools, die dabei helfen. 

Ohnehin sollte KI im Journalismus Werkzeug bleiben und nicht zum Schöpfer werden. Um es mit A.G. Sulzbergers Worten aus dem zuvor zitierten Interview zu sagen: „Unser Vorteil ist, dass wir von Menschen geführte Unternehmen sind, in denen Journalisten von den besten Redakteuren unterstützt werden und die Redakteure von den höchsten Standards. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Werkzeuge immer für uns arbeiten, und dass wir mit unseren Namen dahinterstehen, statt ihnen ein Eigenleben zu gewähren, wie wir das andere haben tun sehen.“ 

Auch jeder Hype hat ein Eigenleben. Umso wichtiger ist es zu definieren, was Journalismus in der KI-Zukunft leisten soll.  

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 27. Februar 2024.

Der Abgesang auf die Medienbranche kommt zu früh

Durchforstete man zu Beginn des Jahres 2024 einschlägige Quellen nach Branchenanalysen, entsteht der Eindruck, Beobachter und Protagonisten des journalistischen Treibens hätten sich zum Abgesang verabredet. 

► In The News About the News Business is Getting Grimmer, berichtet die New York Times über die jüngsten Entlassungswellen bei großen Titeln mit dem Verweis, dass in den USA jeder zweite Landkreis keinen Zugang zu Lokaljournalismus mehr habe. 

► Der Medienjournalist Ezra Klein beendete eine Liste sterbender Medienmarken mit dem Resümee, nur die sehr kleinen oder die ganz großen Spieler könnten überleben. 

► Zuvor hatten Reporter der New York Times vorgerechnet, dass Milliardäre wie Jeff Bezos bei ihren Investitionen in den Journalismus nichts anderes erreicht hätten, als sich um ihr Vermögen zu erleichtern. 

► Der New Yorker Medienprofessor Jeff Jarvis stellt die Frage: Is it time to give up on old news?, während ein Kolumnist der Washington Post prognostizierte: Journalism may never again make money

► Nach einem Treffen von Medienmanagern am Reuters Institute in Oxford schrieb der Berater David Caswell, die meisten der Teilnehmenden betrachteten Künstliche Intelligenz als existenzbedrohend. 

Zuversicht klingt anders. Was bedeutet das? Sind alle Versuche, den Journalismus in die nicht mehr ganz so neue digitale Welt zu bringen, vergebliche Liebesmühe?

Tatsächlich klingen auch die von Nic Newman für seinen jährlichen, am Reuters Institute erscheinenden Trend-Report befragten Medienmanager aus aller Welt in diesem Jahr skeptischer als noch 2023. Nicht einmal jeder zweite der mehr als 300 Chefredakteure, CEOs und weiterer Entscheider geht zuversichtlich ins Jahr. Eine der größten Herausforderungen sei, dass immer weniger Nutzer über soziale Netzwerke und Suchmaschinen zu journalistischen Inhalten finden. Der Trend dürfte sich verschärfen, wenn sich Menschen Inhalte nicht mehr von Suchmaschinen sondern von Chatbots servieren lassen. Gleichzeitig leiden immer mehr Titel darunter, dass in einer von Konflikten geprägten Welt viele Nutzer das ständige Bombardement mit Nachrichten nicht mehr ertragen können und deshalb den Medienkonsum vermeiden.

Für eine Zukunft des Journalismus: Daran sollten Medien arbeiten

Glücklicherweise liegen Journalisten, Analysten und Futuristen oft ziemlich daneben mit ihren Einschätzungen. Ein Grund ist, dass sie gerne Scoops produzieren: Jeder will der Erste sein, der den Untergang prognostiziert. Außerdem wirkt der Herdentrieb. Man nimmt die These der Konkurrenz, läuft damit weiter und setzt gerne noch einen drauf. Zudem – und das ist entscheidend – machen sie ihre Rechnungen viel zu oft ohne das Publikum – und das geschieht nicht nur in der Medienbranche. Man stellt Annahmen in den Raum, ohne den Beweis der Wirklichkeit abzuwarten.

Natürlich ist es kaum zu leugnen, dass alte, anzeigenbasierte Geschäftsmodelle, mit denen reichlich Geld verdient wurde, nicht mehr oder nur noch sehr begrenzt funktionieren. Es ist auch wahr, dass der Verkauf von Digital-Abos einer zähen Bergtour gleicht. Daraus aber zu schließen, man bewege sich zwangsläufig auf eine Welt ohne Journalismus zu, ignoriert ein paar fundamentale Fakten. Der zu früh verstorbene Harvard Professor Clayton Christensen, der die Theorie der Disruption entwickelt hat, hätte geraten, mal über die Jobs to be done nachzudenken, in modernerer Newsroom-Terminologie könnte man auch von User Needs sprechen. Von diesen Jobs gibt es einige: 

Menschen brauchen faktentreue Informationen, um Entscheidungen zu treffen 

Das gilt für Fachleute ebenso wie für Konsumenten, Staatsbürger, Bewohner einer Stadt oder Gemeinde. Die Pandemie hat gezeigt, dass der Journalismus die erste Adresse für diese Informationen ist, wenn viel auf dem Spiel steht. Wer annimmt, das Publikum gäbe sich mit allerlei Content zufrieden, unterschätzt die Bedürfnisse eines Großteils seiner Mitmenschen. Natürlich mögen einige durch Propaganda verführbar sein oder sich von der Welt abkapseln. Das für die gesamte Bevölkerung anzunehmen, zeugt von Überheblichkeit. Eine journalistische Grundversorgung ist deshalb zentral. Hier sind öffentlich-rechtliche Modelle gefragt, um auch ohne Gewinnabsichten alle Generationen und Gesellschaftsschichten auf dem Laufenden zu halten. Regierungen müssen dafür sorgen, sie am Leben zu erhalten.

Menschen sind neugierig und wollen die Welt verstehen 

Journalismus hat einen Bildungsauftrag. Doch dem kommt er nicht immer nach. So manch eine Politik-Story liest sich eher wie der Beitrag des Strebers, der seine Mitschüler im Kampf um gute Noten ausstechen möchte, als wie der Versuch, die gesamte Klassengemeinschaft mitzunehmen. Medien-Führungskräfte scheinen das zu ahnen. Laut dem Trend-Report des Reuters Institutes nennen sie bessere Erklär-Formate und konstruktiven Journalismus als die wichtigsten zwei Strategien, um dem Überdruss entgegenzuwirken. Wer auf diesem Gebiet sein Profil schärfen möchte, sollte sich Ros Atkins‘ The Art of Explanation besorgen. Der BBC-Journalist hat in dem 2023 erschienenen Buch aufgeschrieben, wie akribisch er jene News Explainers erarbeitet, mit denen er sich einen Namen gemacht hat.     

Menschen suchen Gemeinschaft und Zugehörigkeit

Marken, die es schaffen, ein solches Gefühl zu stiften – sei es über politische, geographische oder an Interessen gebundene Identifikation – haben ein gutes Fundament, auf dem sie aufbauen können. Konsumenten wollen zudem ernst genommen werden. Medienmarken wie das dänische Zetland, die die Zeit und Bedürfnisse ihrer Nutzenden respektieren und dosiert erklärenden, hintergründigen Journalismus in verschiedenen Formaten anbieten, treffen durchaus auf zahlungsbereite Kunden. Zetland macht mit einer vergleichsweise jungen Kundschaft Gewinn.   

Menschen wollen den Austausch

Menschen erfreuen sich an der Vielfalt und Schönheit der Welt, sie wollen berührt werden und sich in andere Menschen einfühlen, und sie wollen Freude teilen. Das Buchgeschäft zum Beispiel floriert, obwohl sowohl das Buch als auch der unabhängige Buchhandel schon oft totgesagt wurden. Aber weder hat das E-Book das Werk aus Papier verdrängt, noch konnten Amazon und große Handelsketten dem unabhängigen Buchhandel die Luft abdrücken. Werden sie gut geführt, sind Buchläden Begegnungsstätten, in denen man stöbert, sich austauscht, nach Geschenken und Inspiration sucht. Nach wie vor öffnen Bücher Türen zur Welt, wie es auch der Journalismus tun sollte.

Menschen wollen Eskapismus

Menschen müssen und wollen ihren Alltag bewältigen, und dazu gehört auch Entspannung. Bei manch einem Medienkritiker spürt man förmlich das Naserümpfen darüber, dass die New York Times viele ihrer Digital-Abos wegen der Kochrezepte und Rätsel verkauft. Aber beides deckt fundamentale Bedürfnisse ab, und auch die hat Journalismus traditionell bedient. Das mag nicht zu jeder Marke passen, zur Kundenbindung taugt es allemal.

Der Verkauf von Journalismus ist anspruchsvoll, und KI macht die Sache nicht leichter. Aber wer sich mit den Bedürfnissen potenzieller Nutzergruppen beschäftigt und es schafft, zu ihnen stabile Beziehungen aufzubauen, ist auf dem richtigen Weg. Es ist kein Zufall, dass die pessimistischsten Analysen derzeit aus den USA kommen, wo man amerikanische Phänomene gerne zum globalen Trend erklärt. Doch dort ist die Lage besonders prekär, denn Investoren haben die Regionalmedien ausgesaugt, das öffentlich-rechtliche Grundrauschen fehlt. Aber auch in Amerika entstehen junge Marken, die Gemeinschaft stiften, alte Flaggschiffe halten die Stellung. Das Berufsbild wird sich wandeln, vermutlich auch das, was wir heute unter Journalismus verstehen. Das ändert aber nichts daran, dass Menschen Journalismus brauchen, und zwar überall auf der Welt.  

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 29. Januar 2024.

Wiedervorlage für Chefredaktionen: ein Merkzettel (nicht nur zu Jahresbeginn)

Sich zum neuen Jahr eine Liste an Dingen vorzunehmen, ist zurecht etwas aus der Mode gekommen. Schließlich lehrt die Erfahrung, dass die wenigsten dieser Projekte den Januar überleben – und hätte man sie nicht längst in Angriff genommen, wenn sie einem wirklich wichtig wären? Eine Kolumne über Vorsätze zu schreiben, ist erst recht gewagt, denn Journalisten wollen in der Regel noch weniger belehrt werden, als sie das von ihrem Publikum annehmen. Deshalb veröffentlichen die meisten Branchen-Publikationen lieber Prognosen. Das klingt nach intellektuellem Mut, Weitblick und Fachkenntnis, und wenn es dann nicht klappt wie vorhergesagt, hat man sich halt geirrt. 

Anders als verpuffende Vorsätze hat das Irren keinen Beigeschmack von mangelnder Willenskraft. Allerdings gibt es ein paar Dauerbrenner in der Medienbranche, die – wenn schon nicht auf eine Vorsätze-Liste – wenigstens auf einen Merkzettel gehören, den leitende und leiten wollende Menschen in Redaktionen und Verlagen 2024 ab und an mit der Wirklichkeit abgleichen können. Hier sind ein paar Vorschläge:

Erstens: Immer an die Strategie denken

Egal ob es um künstliche Intelligenz geht, um inhaltliche Schwerpunkte, um Investitionen in Technik, Personal oder Plattformen: Die Zahl der Möglichkeiten übersteigt grundsätzlich jene der Projekte, die mit Blick auf die Ressourcen möglich und mit Blick auf die Zielgruppen nötig sind. Nur wer eine Strategie hat, kann sinnvoll sortieren und steuern. Eine solche Strategie beantwortet mindestens diese Fragen: Warum existiert meine Organisation? Für wen existiert sie? Wie erreichen wir ihre Ziele? Und: Wie messen wir Erfolg? 

Alle neuen Vorhaben sollten die Strategie stützen. Wer keine hat, läuft Gefahr, sich von Beratern oder selbsternannten Innovatoren sinnlose Investitionen aufschwatzen zu lassen, Erfolgsrezepte anderer ohne Blick auf die eigenen Besonderheiten zu kopieren, stets dem nächsten shiny new thing nachzujagen und damit alle an den Rand des Wahnsinns oder in die Kündigung zu treiben. 

Zweitens: Der KI-Hype ist real, aber KI ist es auch

Was künstliche Intelligenz angeht, kristallisieren sich derzeit grob gesagt drei Gruppen heraus: Die einen reiten auf der Höhe der Hype-Welle und prognostizieren das Ende des Journalismus, wie wir ihn kennen. Die vom anderen Extrem betrachten KI als Werkzeug zur Effizienzsteigerung, mehr nicht. Dazwischen gibt es jene pragmatischen Optimisten, die hoffnungsvoll, engagiert und dennoch besonnen experimentieren, das Ende des Hypes herbeisehnen und dabei heimlich hoffen, dass alles nicht so schlimm kommt, wie es Gruppe eins prognostiziert. 

In dem im Dezember erschienenen Reuters-Report Changing Newsrooms 2023, der auf einer nicht repräsentativen, internationalen Umfrage unter Medien-Führungskräften beruht, gab nur ein Fünftel der Befragten an, dass generative KI die Prozesse im Journalismus fundamental verändern wird, etwa drei Viertel prognostizierten keinen grundlegenden Wandel. Da erfahrungsgemäß nur besonders engagierte Manager auf solche Umfragen antworten, lässt sich aus diesem Ergebnis eine gewisse Lethargie ableiten, von der auf den entsprechenden Konferenzen, bei denen sich immer dieselben Spezialisten treffen, wenig ankommt. 

All jenen, die schon zu viele Hypes haben kommen und gehen sehen und erst einmal abwarten wollen, sei jedoch ans Herz gelegt, dass die auf großen Sprachmodellen (LLMs) basierende KI tatsächlich eine strukturverändernde Umwälzung ist. 

Überschwang hin oder her, wer jetzt nicht an Regeln zu Transparenz, Datenschutz, Copyright oder Bildbearbeitung arbeitet, bekommt die Geister, die sich gerade entwickeln, irgendwann nicht mehr in die Flasche zurück. Nach gegenwärtiger Faktenlage wird generative KI den Journalismus grundlegend verändern. 

Drittens: Weiterbildung kostet, keine Weiterbildung kostet mehr 

Die Digitalisierung und der damit verbundene Wandel von Verhalten und Präferenzen haben Redaktionen und Verlagen reihenweise Veränderungen abverlangt. Dennoch gibt es immer noch Kollegen, die diese Herausforderungen weiträumig umfahren. Spätestens der Einzug der KI wird dies unmöglich machen. Von der Investigativ-Reporterin bis zum Desk-Redakteur: Alle werden anders arbeiten müssen. Weiterbildung wird deshalb wichtiger denn je (dazu auch meine 2024 Prognose für das Nieman Lab). Der digitale Graben innerhalb von Redaktionen müsse geschlossen werden, sagt Anne Lagercrantz, Vize-Intendantin des schwedischen Fernsehens. Dabei geht es um mehr als um formelle Trainingsangebote. Ein Kulturwandel ist nötig. Medienhäuser müssen lernende Organisationen werden. Das klappt nicht per Anordnung von oben, als „Change a la Chef“. Es geht um ständiges Ausprobieren, Messen von Erfolgen, Reflektion, Nachsteuern. Kommen interdisziplinäre Teams in den Veränderungs-Rhythmus, kann das Spaß machen. Und sind die Selbsthilfe-Techniken erlernt, lassen sich teure Berater sparen.

Viertens: Mit Vielfalt allein lässt sich nicht viel erreichen

Es ist beschämend, aber nach Jahren der Diskussion gehört das Thema Vielfalt auch in diesem Jahr auf Wiedervorlage. Klar, es gibt erhebliche Fortschritte, vor allem bei den Karrierechancen für Frauen in Medienhäusern. In der bereits oben zitierten Studie des Reuters Institutes geben neun von zehn Medienmanagern an, ihr Haus mache bei der Gleichstellung der Geschlechter einen guten oder sehr guten Job. Etwas weniger Selbstbewusstsein zeigten die Führungskräfte, wenn es um andere Vielfaltskriterien geht, zum Beispiel ethnische, soziale oder politische Diversität. Aber in Wahrheit hat sich in vielen traditionellen Häusern noch nicht allzu viel gedreht, weder bei der Vielfalt in wichtigen Positionen noch bei der Ansprache des Publikums. Dabei ist die Breite und Tiefe der Perspektiven Voraussetzung für eine gelungene digitale Transformation, die Zielgruppen passgenau bedient. 

In Abgründe blicken lässt ein – zugegeben etwas beleidigter – im Dezember erschienener Essay des ehemaligen Meinungschefs der New York Times im Economist. Nach seiner Einschätzung hat die Unfähigkeit des Hauses, Vielfalt in der Führungsetage durchzusetzen, zu einer internen Polarisierung geführt, die ein breites Meinungsspektrum nicht mehr zulasse. Vielfalt kann eben nur nach außen wirken, wenn unterschiedliche Menschen intern wertschätzend miteinander umgehen, sich gegenseitig zuhören und einfach mal machen lassen.

Fünftens: Alle reden von Nutzerbedürfnissen, aber Schablonen funktionieren selten

Nachdem Kundenorientierung in anderen Branchen seit der Geburt der Marktwirtschaft Erfolg verspricht, haben das neuerdings auch Redaktionen verstanden. Nutzerbedürfnis-Modelle, maßgeblich entwickelt und vorangetrieben vom ehemaligen BBC-Mann Dmitry Shishkin, der künftig das internationale Geschäft von Ringier als CEO anführt, sind in Deutschland nicht zuletzt wegen des Drive Projekts der DPA und der Unternehmensberatung Schickler populär geworden. Es fällt allerdings auf, dass sich viele Redaktionen, die nun versuchen, ihr Angebot an den Bedürfnissen der Nutzenden auszurichten, immer noch streng am ursprünglichen BBC-Modell orientieren. Das ist in Ordnung, um von der Fixierung auf das mit Breaking News assoziierte Update me-Bedürfnis wegzukommen. Aber tatsächlich hat nicht nur jedes Medium eine ganz eigene Nutzerstruktur, sondern jede Zielgruppe tickt anders, jedes Ressort bedient verschiedene Bedürfnisse. 

Shishkin hat das Modell deshalb längst weiterentwickelt – und das sollten Redaktionen auch tun. Was brauchen die Leser, Hörer, Zuschauer wirklich von einer bestimmten Marke? Man könnte sie mal fragen – oder einfach im Alltag beim Lösen ihrer Probleme beobachten, wie dies der leider verstorbene Clayton Christensen schon 2012 vorgeschlagen hatte. Er hätte sich zum Beispiel kaum darüber gewundert, dass die NYT einen Teil ihres digitalen Erfolgs dem Verkauf von Kochrezepten verdankt.

Sechstens: Wer Klimajournalismus kann, kann Journalismus

Im Journalismus ist wohl wenig herausfordernder, als spannend, faktentreu, gut verständlich und anschaulich über alle Facetten des Klimawandels und die Lösung der damit verbundenen Probleme so zu berichten, dass das Publikum dabei bleibt. Dies liegt daran, dass das Thema sich langsam entwickelt, polarisiert, in vielen Menschen Schuldgefühle und deshalb Verdrängungsmechanismen auslöst. Das heißt aber auch: Wer dieses schwierige Fach beherrscht, dem kann man praktisch alle journalistischen Aufgaben zutrauen. So zumindest lautet das Fazit des EBU News Reports Climate Journalism That Works – Between Knowledge and Impact, der 2023 veröffentlicht wurde (ich war Lead Autorin). Der Klimajournalismus ist als Spielfeld geeignet, um sich mit Nutzerbedürfnissen zu befassen, Strategie zu entwickeln, mit neuen Formaten für diverse Zielgruppen zu experimentieren und aus Fehlern zu lernen. Aus diesem Grund lohnt sich die Investition. Am Ende des voraussichtlich wärmsten Jahres seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen kann man sagen: starker Klimajournalismus und Nachhaltigkeitsstrategien sind ein Muss für Medienhäuser und Filmproduktionen. Auch das Publikum erwartet das.                   

Siebtens: Dinge sein zu lassen ist ein Muss – immer 

Wer sich in diesem Text bis hierher vorgearbeitet hat, kann jetzt Erleichterung empfinden – oder das Gegenteil. Die Coaching- und Beratungspraxis zeigt: Stop doing, das strategische Ausmisten, Seinlassen, Herunterfahren von Aktivitäten gehört zu den größten Herausforderungen für viele Redaktionen und Verlage. Das liegt daran, dass überall Ideen und Innovationen gefeiert werden, das Abschaffen von liebgewonnenen Routinen und Praktiken aber eher Widerstand hervorruft oder schlechte Laune macht – die dann den Überbringer der Botschaft trifft. Denn viele Menschen beziehen ihren Status und damit ihre Sicherheit aus Aktivitäten, die streng genommen niemand mehr braucht. Deshalb lässt man sie stillschweigend weitermachen. Dabei ist Stop Doing wichtig. Es setzt Energien und Ressourcen frei, verleiht der Arbeit Fokus und stützt damit die Strategie. Strukturiertes Ausmisten verlangt, dass man die entsprechenden Mitarbeitenden und ihre Rollen versteht, um sie idealerweise in neue Aufgaben zu coachen. Preise gewinnt damit niemand. Aber nur wer Stop Doing beherrscht, kann beim Doing richtig glänzen.   

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 5. Januar 2024.

Zurück in die 90er: Warum sich auch Entscheider-Briefings mit Nutzerbedürfnissen beschäftigen sollten

Der Entscheider muss ein seltsames Wesen sein. Seine Diät ist einseitig, dafür aber reichhaltig. Er ist ein Mensch der Wörter, ja, er liebt das digital gewordene Blei. Er schätzt Verlässlichkeit, Überraschungen sind nicht sein Ding. Bescheid wissen über das Berufliche scheint sein Leben zu sein. Vermutlich ist er ein Mann. 

Dieser Eindruck kann beim Blick auf jene journalistischen Produkte entstehen, die speziell für die so genannten Entscheider aufgelegt sind und sich derzeit rasant verbreiten. Ihre Schöpfer treibt eine gemeinsame Motivation an: Sie betrachten den Entscheider als ein Wesen mit Geld.  

Das Newsletter-Menü von Table Media, das Hauptstadt Briefing von Pioneer Media, das neue Dossier der Süddeutschen Zeitung und das erwartete deutsche Politico: Es sind einige der einheimischen Kreationen, in denen Menschen wie Table-Gründer Sebastian Turner das womöglich einzige aus sich selbst heraus profitable Geschäftsmodell für Journalismus sehen: Fachleute erklären Fachleuten die Welt. Domänenkompetenz oder Deep Journalism nennt Turner das. Gemeinsam mit dem Journalistikprofessor Stephan Russ-Mohl hat der ehemalige Herausgeber des Tagesspiegels sogar ein Buch mit diesem Titel herausgegeben*. Gegen dessen Kernbotschaft, dass Journalisten etwas von der ihnen anvertrauten Materie verstehen sollten, kann man definitiv nichts einwenden. Aber es geht nicht um Einnahmen allein.

Problemfall Politikjournalist

Vor allem die um Berlin, Brüssel oder andere Machtzentren kreisenden Briefings werden erstellt von einer Spezies an Politikjournalisten, die zunehmend ungehalten auf kaum noch überhörbare Botschaften aus ihren Redaktionen reagieren. Deren Tenor: Viele ihrer Geschichten aus dem Inneren des Apparats begeistern zwar deren Protagonisten, bei gewöhnlichen Lesern lösen sie aber den gefürchteten Scroll-Reflex aus. Das heißt: Sie hangeln sich so lange an den Teasern entlang, bis sie etwas finden, das sie wirklich interessiert. Der Einzug der Metriken in die Inhalte-Steuerung hat vor allem eine Erkenntnis hervorgebracht: Der traditionelle politische Journalismus, vor allem jener der „die hat gesagt, der hat gesagt“-Variante interessiert das Publikum so wenig wie Ostereier im Advent. Er bringt selten Klicks und Abos ohnehin nicht. 

Neuerdings führen viele Häuser zudem so genannte User-Needs-Modelle ein. Und auch da kann der klassisch-informationsschwangere Politikjournalismus wenig glänzen. Erspart uns eure ewigen Updates, heißt es plötzlich vom Desk. Unsere Nutzer wollen mehr Erklärung, Unterhaltung, Inspiration, Emotion. Spätestens, wenn die Redaktionsleitung dann noch ein Seminar zum konstruktiven Journalismus besucht hat und gerne mehr Perspektive, Lösungen, gar Hoffnung herbeirecherchiert haben will, versteht der in Polarisierung geübte Politikjournalist die Welt nicht mehr. War er gestern noch die Nummer eins, segelte auch mal durch bis in die Chefredaktion, gilt er heute vielerorts als Problemfall, der umlernen muss.

Kein Wunder, dass die neuen Briefings Magnete für jene geworden sind, die sich in ihren Haupthäusern seltsam heimatlos vorkommen. Bei den Spezial-Newslettern darf man wieder „richtigen Journalismus“ machen. So sehen das wohl viele. Und so wirkt auch so manch ein Briefing wie eine Rolle rückwärts in den Journalismus der Neunzigerjahre. Man könnte auch sagen: Endlich wieder mehr FAZ wagen. 

Spätestens hier muss ein Disclaimer kommen: Natürlich ist es vollkommen richtig, sich über Zielgruppen Gedanken zu machen, es ist sogar zwingend. Und umso besser, wenn die angepeilten Zielgruppen auch zahlen können. Und selbstverständlich hat jedes der Briefings seine ganz eigenen Stärken und Schwächen. Aber der Journalismus hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weiterentwickelt, und das hat Gründe.

Ja, da war diese Digitalisierung. Aber damit einher ging auch die Erkenntnis, dass nicht alle (erfolgreichen) Menschen weiße, gebildete Männer sind. Und dass selbst weiße, gebildete Männer auch andere Bedürfnisse haben, als tagein, tagaus an den Lippen ihrer politischen Repräsentanten, CEOs, oder als solchen ausgewiesenen großen Denkern zu hängen. Sie sind Väter, Liebespartner, Hobby-Köche, Mountainbike-Fans und dabei umgeben von Frauen, deren Lebenswirklichkeit als Managerinnen, Richterinnen und Ingenieurinnen sie durchaus interessiert. Hinzu kommen all jene Kollegen mit Einwanderungsgeschichte, verschiedener sexueller Orientierung, körperlichen Beeinträchtigungen, die sich in dem tatsächlich schon früher an finanzkräftige Entscheider gerichteten Einheitsjournalismus nur höchst selten wiederfanden. All das hatte zur Folge, dass Medien vielfältiger geworden sind – nach innen und immer häufiger auch sichtbar nach außen.

Auch nicht der Entscheider lebt allein von Information

Nicht jedes Briefing hält da mit. Das ist nur konsequent, denn sein Ziel ist nicht Vielfalt sondern die Bubble. In der möchte man Wortführer werden, wie dies lange Zeit nur die Großen vom Schlage Financial Times oder FAZ gewesen sind. Man kennt sich, und man schreibt für diejenigen, die man kennt über das, was sie eigentlich schon kennen – nur vielleicht nicht im Detail. So ein Briefing wird dann zu einer Art Heimathafen, ein vertrauter Ort, an dem alles seinen Platz hat, wie früher in der Tageszeitung, als deren Welt noch in Ordnung war. Das kann ein Geschäftsmodell sein, auch wenn es zunehmend lebhaft werden dürfte im Hafen-Wettbewerb.

Doch Konzepte wie jenes der Domänenkompetenz verkennen: Der Mensch lebt nicht von Information allein – nicht einmal der Entscheider. Was das User-Needs-Modell für den allgemeinen Nutzer feststellt, gilt schließlich auch für jenen mit Bubble-Nähe. Er möchte Nachrichten, das schon. Aber womöglich plagen ihn Fragen, für die er Erklärungen sucht, Probleme, die gemanagt oder gelöst werden wollen. Und an dieser Stelle sind Journalisten nicht nur als Fakten-Rechercheure, sondern auch als Bedürfnis-Forscher gefragt. 

Brauchen die Adressaten wirklich den x-ten Terminkalender der Woche, oder interessiert sie womöglich mehr, wie sich ein Shitstorm verkraften, das Amt mit Familienaufgaben vereinbaren oder eine klare Wahlkampf-Botschaft formulieren lässt? Enthält der Newsletter genug frische Luft, sprich Ideen von außen, Köpfe jenseits des eingeschwungenen Zirkels? Ist er, ja, vielfältig genug? Schaut er auch mal über die Grenzen hinweg, beleuchtet Erfolgsgeschichten aus anderen Teilen der Welt? Gerade diejenigen, die neue Produkte entwickeln, müssen sich all den Themen stellen, die den Veränderungsgeist in Redaktionen beflügelt und so manch eine Verwerfung ausgelöst haben. Wer sich in alte Rituale flüchtet, wird irgendwann nur noch alt aussehen. Und das ist garantiert kein Geschäftsmodell.  

*Sebastian Turner, Stephan Russ-Mohl (Hrsg.) 2023, Deep Journalism – Domänenkompetenz als redaktioneller
Erfolgsfaktor, Herbert von Halem Verlag. Alexandra Borchardt hat einen Essay dazu beigetragen.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 28. November 2023

Zwischen Energieschub und Datensalat: So klappt das mit den Redaktionsmetriken

Was nicht gemessen wird, wird nicht erledigt. In den Künstlerflügeln von Redaktionen mag diese alte Weisheit aus der Wirtschaftswelt noch immer nach kleinkarierter Controller-Denke klingen. Aber mit dem Generationswechsel in den Verlagshäusern hat sich selbst unter Journalisten die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich mit Hilfe von Kennzahlen nicht nur jenes Wachstum treiben lässt, das die eigenen Arbeitsplätze sichert. Daten übermitteln auch Signale, ob die Verbindung zu den Menschen noch stimmt. Metriken sind selbstverständliche Begleiter des Redaktionsalltags geworden. Allerdings gehen Meinungen und Erfahrungen dazu weit auseinander, was denn nun gemessen werden kann und vor allem, was davon an wen kommuniziert werden sollte.

Martin Baron, ehemaliger Chefredakteur der Washington Post, beschreibt in seinem neuen Buch Collision of Power einerseits, wie er immer ungehaltener wurde angesichts der von ihm bei Kollegen beobachteten „absichtlichen Ignoranz dessen, was nötig ist, um ein gesundes Geschäft zu führen, des selbstgerechten Moralisierens und der reflexhaften Opposition gegen das Durchsetzen von Verhaltensstandards, selbst solcher, denen die Mitarbeiter bei ihrer Einstellung zugestimmt hatten“. 

Andererseits erzählt er auch vom Widerstand gegen Metriken, mit denen WaPo-Eigentümer Jeff Bezos die Redaktion antreiben wollte – zum Beispiel die Vorgabe, dass bestimmte Texte innerhalb von 15 Minuten umgeschlagen werden sollten als wären sie Amazon-Päckchen. Baron schreibt, er habe in seiner Karriere meist gedacht, „dass Verleger und ihre Business-Teams nicht begriffen hatten, welche Mühe und welche Ressourcen notwendig sind, um Qualitätsjournalismus zu produzieren – und dass ihre Metriken mit gelegentlichen Ausnahmen Bullshit waren“.

Unter dem Strich aber, so klingt es durch, hatten die neuen Strategien und Standards, die Bezos einforderte, die Redaktion eher beflügelt. Das wird zum Großteil daran gelegen haben, dass der Multimilliardär kräftig in Personal und Technik investierte. Das wird derzeit zwar teilweise wieder rückabgewickelt, allerdings arbeiten viele wohl jeder lieber in einer Organisation, in der Leistung intern und extern gesehen und in der an Zukunft gebastelt wird, statt die Gegenwart zu verwalten. Wie ein Fitnessarmband können Metriken die Motivation ordentlich treiben, wenn sie richtig gesetzt werden. Damit das klappt, sind einige Grundsätze hilfreich. Hier sind fünf Punkte, wie es mit den Metriken funktioniert.

Erstens: Den eigenen Weg finden 

Verlage suchen gerne anderswo nach Erfolgsgeschichten und hoffen, sie kopieren zu können. Das gelingt allerdings nur bedingt. Kaum ein Haus ist vergleichbar mit der New York Times, deren Führungskräfte auf Branchenkonferenzen umlagert werden. Auch kleinere skandinavische Marken eignen sich nur eingeschränkt als Vorbilder – wenngleich deutsche Verlage allzu gerne in die Nordländer schauen, wo die Zahlungsbereitschaft für Digitalabos am höchsten ist. Jeder Verlag muss zunächst eine Strategie für seinen Journalismus und Geschäftsmodelle entwickeln, die zum eigenen Markt und zur Marke passen. Erst dann folgen die Metriken, die diesen Wachstumspfad flankieren. Ansonsten liefen Redaktionen Gefahr, ihren Journalismus den gesetzten Metriken anzupassen, anstatt sie so zu setzen, dass sie dem Journalismus dienten, schrieb Elisabeth Gamperl in einem 2021 erschienenen Report für das Reuters Institute. Das Papier, für das die SZ-Journalistin datenaffine Redaktionsmanager von Medienhäusern wie The Guardian, The Times, Globe and Mail, and Dagens Nyheter interviewt hatte, enthält einige wertvolle Ratschläge dazu, wie das gehen kann.  

Zweitens: Die Redaktionskultur beachten und entsprechend kommunizieren

Redaktionen sind unterschiedlich. Das betrifft nicht nur den Grad der Digitalisierung und das allgemeine Datenverständnis, sondern auch die Kommunikations- und Fehlerkultur. Während zum Beispiel beim schwedischen Dagens Nyheter jeder Journalist jederzeit am eigenen Bildschirm die Erfolge und Misserfolge aller Kollegen abrufen kann, sind hierzulande viele Verlage sehr darum bemüht, solche Auswertungen nur individuell oder sehr dosiert zu verteilen – vor allem um Redakteure und Betriebsräte nicht gegen sich aufzubringen. Eine leitende Redakteurin einer Regionalzeitung erklärte es in einem Workshop jüngst so:  „In den Konferenzen kommunizieren wir nur die Erfolge, die Fehler werden individuell besprochen.“. Oft gehen die gesammelten Datensätze nur an Führungskräfte. Eine Redaktion, die stolz auf ihren investigativen Journalismus ist, fühlt sich womöglich demotiviert von Hitlisten, in denen stets Service-Texte dominieren. Ebenso verwirrend kann es sein, wenn das leitende Personal ständig über Klickraten jubelt, obwohl Aboabschlüsse das Ziel sind. Solche „Eitelkeitsmetriken“, wie Medienforscher Nic Newman sie nennt, mögen legitime Kosmetik für Präsentationen vor der Geschäftsführung sein, lenken aber vom Ziel ab. Natürlich können sich Redaktionskulturen auch wandeln. Aber solche Veränderungsfreude entfachen nur Führungskräfte, die konstruktiv kommunizieren können und nicht solche, die Metriken als Mittel des Prinzips „teile und herrsche“ einsetzen. Schließlich sollten Daten vor allem dazu eingesetzt werden, aus den verfügbaren Ressourcen mehr zu machen. Kaum ein Journalist produziert gerne allein für das Redaktionsarchiv.      

Drittens: Simpel bleiben 

Die wirkungsvollsten Metriken sind jene, die jeder versteht. Noch besser sind sie, wenn Kollegen daraus ableiten können, was jetzt zu tun ist. Das klingt simpel, wird aber nicht überall so gesehen. Sehr oft werden die Redaktionskennzahlen von Datenanalysten entwickelt, die sich nicht vorstellen können, dass sich vielen Redakteuren die Schönheit einer Excel-Tabelle nicht erschließt. Die Folge sind komplizierte Formeln, die nur Eingeweihte deuten können. Einige Redaktionen beweisen Mut zur Lücke und trimmen ihre Kollegen darauf, zum Beispiel nur auf die täglich eingeloggten Abonnenten zu schauen – ein Zeichen dafür, ob die Nutzerloyalität und damit die Abohaltbarkeit stimmt. Andere wiederum entwickeln aus einer Kombination von Metriken einen Wert, den es im Auge zu behalten gilt. Die  Financial Times zum Beispiel hatte es mit ihrer „R x F x V“-Formel (Recency, Frequency, Volume) geschafft, die Zahl ihrer Digitalabonnenten binnen zehn Jahren auf über eine Million zu verzehnfachen. Aber selbst das mag manch einem zu kompliziert sein. Da hilft nur einfach starten und langsam steigern – und aufpassen, dass man nicht doch irgendwann mit Datensalat endet.  

Viertens: Veränderungen nicht scheuen

Da hat man die Redaktion nun endlich für Daten erwärmt, sind alle gespannt auf die „Conversions“ wie auf das tägliche Päckchen im Adventskalender – und plötzlich soll man verkünden, dass man von nun an auf die zehn Texte vor dem Aboabschluss schauen wird? Kein Redaktionsmanager gibt gerne zu, dass eine Metrik ihr Ziel verfehlt. Doch der Weg zu funktionierenden Kennzahlen ist anstrengend und führt in manche Sackgasse. Die klarsten Metriken nutzen nichts, wenn sie ein Klima erbitterter Konkurrenz oder gar Angst forcieren oder sich als letztlich sinnlos erweisen. Danny Gawlowski von der Seattle Times kann wunderbar vom Ringen der Redaktion um die richtigen Werte erzählen. Dort hat man ein Verfahren etabliert, bei dem Redakteure sich nicht untereinander vergleichen, sondern nur gegen sich selbst antreten: Wer die gleiche Aufgabe hat, muss idealerweise 15 Prozent besser abschneiden als im Jahr zuvor. Jemand, der über Opern schreibt, könne sich unmöglich mit jemandem messen, der das örtliche Football-Team begleitet, so Gawlowski. Aber ein bisschen sportlichen Ehrgeiz sollten auch die Kulturkollegen mitbringen.

Fünftens: Von Ausreißern lernen

Wo Daten ausgewertet werden, geht es oft ums Große. Man schaut auf Häufungen, Volumen, die Top-Performer. Manchmal sind aber gerade die Ausreißer wichtige Signale dafür, was gegen jeden Instinkt funktioniert oder an welchen Schrauben man drehen könnte. Schneidet ein Stück zu einem Thema herausragend ab, das sonst als eher schwer verkäuflich gilt, mag das ein Zufall sein. Wahrscheinlicher aber ist, dass es eine Ursache gibt. Vielleicht war die Sendezeit richtig gewählt, vielleicht hat der politische Kontext gestimmt, möglicherweise klang auch die Überschrift ungewöhnlich emotional oder eine Protagonistin ist ein Star in den sozialen Netzwerken. Es sei gut investierte Zeit, nach positiven Überraschungen zu fahnden, habe Jeff Bezos der Redaktion mitgegeben, so Baron. Sei etwas erfolgreich, ohne dass man es bewusst forciere, liege da womöglich eine Chance.

Ohnehin müssen laut dem Amazon-Gründer auch gute Regeln manchmal gebrochen werden. Bei einer Mitarbeiterversammlung der Washington Post sagte er laut Baron: „Manche Dinge sind so schwer zu messen, dass du […] sie nicht wirklich messen kannst und Bauchgefühl und Intuition nutzen musst. Und dann gibt es andere Dinge, die über den Metriken stehen. Das sind Prinzipien, die dir so wichtig sind, dass du ihnen folgen musst, selbst wenn die Metriken dir das Gegenteil nahelegen.“ Was diese Prinzipien oder – besser – Werte sind, muss jede Redaktion für sich festlegen.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 30. Oktober 2023.