Das Machen macht’s – Warum Redaktionen das Ausprobieren üben müssen

Die New York Times (NYT) ist so etwas wie der Goldstandard der Branche. Feuerwerk der investigativen Recherche, globale Marken-Zugkraft, Kompetenz auf allen Kanälen, Sehnsuchtsort für Journalist_innen – und auch die Zahlen stimmen. 2019 verkaufte die NYT 6,5 Millionen Abonnements, davon 5,7 Millionen für digitale Produkte, mit denen allein fuhr sie Erlöse von 450 Millionen Dollar ein. Die Redaktion ist mit 1.700 Mitarbeiter_innen so groß wie nie zuvor. Kein Wunder, dass der demnächst scheidende CEO und Brite Mark Thompson sich nicht mit britischem Understatement aufhält, wenn er über seine achtjährige Amtszeit reflektiert, wie kürzlich geschehen in einem Interview mit der Unternehmensberatung McKinsey.

Nun möchte jede Geschäftsführerin, jeder Chefredakteur, dass ihr oder sein Medienhaus mal eine Art Times wird. Und jede und jeder weiß, dass dies ziemlich ausgeschlossen ist. Aber aus dem Interview können alle etwas mitnehmen, besonders das Eine: Dass man immer erst hinterher schlauer ist. Aufs Ausprobieren kommt es an.

Es sei unglaublich kompliziert, das digitale Geschäft richtig aufzustellen, sagt der ehemalige BBC-Intendant Thompson, der 2012 zur NYT wechselte. Er hatte dort damals ein solides Business vorgefunden, das allerdings an Wachstums-Perspektive vermissen ließ. Er selbst habe dann dreimal vergeblich reorganisiert, seine Nachfolgerin Meredith Kopit Levien, die am 8. September den CEO-Job übernimmt, sei zweimal gescheitert, nun endlich laufe die Sache: „Ich glaube, seit 18 Monaten haben wir Erfolg.“

Wer eher verzagt an die Dinge herangeht, dem wird diese Aussage nicht ermutigen. Wenn sich selbst die New York Times so schwertut, wie sollen es dann diejenigen mit den weniger tiefen Taschen schaffen? Man kann dieses Bekenntnis fünffachen Versagens aber auch anders lesen. Denn es war ja nicht so, dass hier ein Tanker konsequent Richtung Eisberg fuhr und jemand in letzter Minute das Steuer herumgerissen hat. Nein, das Medienhaus war in den vergangenen Jahren auf einem Pfad des Experimentierens mit gemischter Erfolgsbilanz. Und es ist gut möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass auch die gegenwärtige Euphorie irgendwann einmal wieder der Ernüchterung weicht. Aber tendenziell geht es in die richtige Richtung, nämlich nach oben.

In der Change-Management-Terminologie heißt so etwas S-Kurve. Das bedeutet, dass der Erfolgs-Pfad von Veränderungsprozessen nie linear nach oben weist, sondern dass sich das Ganze im Schlingerkurs bergan bewegt. Immer, wenn man denkt, auf dem richtigen Weg zu sein, steht man plötzlich auf einer Art Plateau, dann geht es wieder ein Stück bergab, bevor man das nächste Mal zum Gipfelsturm ansetzt. Das Ganze kann recht ungemütlich sein, denn – siehe oben – man weiß immer erst hinterher, ob es wirklich nachhaltig bergauf gegangen ist, oder man sich am Beginn einer Talfahrt befunden hat. Was man aber daraus lernen kann, ja muss, ist: Hauptsache, man bewegt sich.

Aus diesem Grund ist das klassische Projektmanagement kein guter Ratgeber in Zeiten des Veränderungsdrucks. Beim Wandel nach Plan legt man nämlich vorher schon fest, was hinterher in den Büchern stehen soll. Um die Berg-Analogie weiter zu strapazieren: Dort ist der Gipfel bekannt, der Weg vermessen, jetzt fehlen nur noch all die Schritte, die zum Ziel führen sollen. Agile Change Prozesse hingegen gleichen kleinen Expeditionen. Man wagt sich auf unbekanntes Terrain, tastet sich vor, macht unerwartete Entdeckungen und landet in manch einer Sackgasse, die man idealerweise mit neuen Erkenntnissen hinter sich lässt. Während im Projektmanagement ein Großteil der Energie in das Planen und Nachhalten desselben fließt, funktionieren agile Prozesse wie ein Hybrid-Motor: Die Batterie lädt sich erst beim Fahren auf. Geglückte Experimente verleihen dem Prozess Schwung, der ermöglicht neue Experimente, man tastet sich vor. Statt Wandel umzusetzen, der von oben verordnet wurde, trainieren die Beteiligten ein neues Verhalten, sie selbst geben die Impulse. Und irgendwann ist das Experimentieren Alltags- und Unternehmenskultur. Man merkt gar nicht mehr, dass man sich im dauernden Innovationsmodus befindet.

Die NYT entwickelt auf diese Weise neue Produkte wie am Fließband, so beschreibt es Thompson. Und dies können sich andere in der Tat abschauen, ob Lokalzeitung, öffentlich-rechtlicher Sender oder Medien-Startup. Das Powerhouse des Investigativ- und Meinungsjournalismus hat dabei auch keine Berührungsängste mit den leichten Seiten des Lebens. Eine Million der 6,5 Millionen NYT-Abonnenten_innen hat es zum Beispiel einzig und allein auf das Kreuzworträtsel abgesehen. Andere lassen sich gerne beim Kochen beraten, passen aber bei Weltwirtschaft und Außenpolitik. Womit könnte man noch Kunden_innen an die Marke binden? Der Gedanke sollte nicht nur die Marketing-Abteilung, sondern alle in der Organisation begleiten.

Dies bedingt auch, dass Führungskräfte anders denken. „Viele, viele Führungskräfte sind auf ihre Position gekommen, weil sie etwas großartig konnten. In diesem digitalen Moment braucht man Leute, die eine Sache gut beherrschen und dann etwas anderes lernen können“, sagt Thompson. Mal sehen, was das bei Thompson sein wird. Er ist schließlich erst 63 Jahre alt.

Dieser Text erschien zuerst am 21. August 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School. 

 

Wie viel Meinung verträgt der Journalismus?

Jour­na­lis­ten haben Pri­vi­le­gien, die anderen Bürgern in dem Umfang nicht zuste­hen. Umso stärker stehen sie in der Pflicht. Nur wer gut und unab­hän­gig infor­miert ist, kann als Bürger frei ent­schei­den.

So viel Empö­rung hat Jour­na­lis­mus schon lange nicht mehr ver­ur­sacht. Erst trat Anfang Juni der Leiter des Mei­nungs­res­sorts der New York Times zurück. Er hatte den Gast­bei­trag eines repu­bli­ka­ni­schen Sena­tors durch­ge­hen lassen, der in den Augen vieler Mit­ar­bei­ter zu Gewalt gegen Pro­tes­tie­rende der Black Lives Matter Bewe­gung auf­ge­ru­fen hatte. Welt­weit wurde dar­auf­hin durch­aus auch außer­halb der Medi­en­bran­che darüber debat­tiert, ob bei dem publi­zis­ti­schen Flagg­schiff nun der Mei­nungs­plu­ra­lis­mus durch die Into­le­ranz der „Poli­ti­cal Cor­rect­ness“ abge­löst wurde, oder ob es legi­time Inter­es­sen der Beleg­schaft zu ver­tei­di­gen galt. In Deutsch­land schlug kurz darauf eine Kolumne in der taz Wellen, die bis ins Bun­des­in­nen­mi­nis­te­rium und letzt­lich ins Kanz­ler­amt schwapp­ten. Worum es ging, dürfte kaum jeman­dem ent­gan­gen sein: Die Autorin Hen­g­ameh Yag­hoo­bi­fa­rah hatte anläss­lich der Debatte um Poli­zei­ge­walt geschrie­ben, Poli­zis­ten seien für nichts taug­lich als für die Müll­kippe. Seitdem tobt selbst in der taz-Redak­tion ein Streit darüber, ob das Stück legi­ti­mer Jour­na­lis­mus war. Bun­des­in­nen­mi­nis­ter Horst See­hofer hatte sogar laut über eine Straf­an­zeige nach­ge­dacht, Pres­se­frei­heit hin oder her. Und dann folgte im Juli auch noch der von zahl­rei­chen pro­mi­nen­ten Autoren unter­zeich­nete offene Brief in Harper’s, der sich wort­ge­wal­tig gegen die ver­meint­lich vor­herr­schende „Cancel Culture“ aus­sprach, also in etwa eine Kultur der gut­ge­mein­ten Zensur.

Über das Richtig und Falsch in all diesen Fällen ist schon anderswo aus­rei­chend gestrit­ten worden. Die auf­ge­heizte Debatte um beide Ereig­nisse zeigt aber eins: Der Jour­na­lis­mus als solcher muss sich neu posi­tio­nie­ren in einer Welt der sozia­len Netz­werke und digi­ta­len Medien, die vor Mei­nun­gen, Behaup­tun­gen, Inter­pre­ta­tio­nen und Pro­vo­ka­tio­nen nur so strotzt. Dabei stellen sich einige Fragen. Will er ein­stim­men in das Konzert – oder besser: die Kako­pho­nie – der Stimmen in der Über­zeu­gung, dass auf­ge­klärte Bürger selbst in der Lage sind, sich aus der Viel­falt des Ange­bots ihre Meinung zu bilden? Bemüht er sich soweit dies geht um Neu­tra­li­tät der Bericht­erstat­tung, um mit seinem Qua­li­täts­ver­spre­chen als Fels in der Bran­dung der Auf­merk­sam­keits-Öko­no­mie zu bestehen? Oder muss er gerade diesen Anspruch sogar in Frage stellen, weil die ver­meint­li­che Neu­tra­li­tät einem Ver­ständ­nis von Jour­na­lis­mus ent­springt, das auf dem Bes­ser­wis­ser­tum der gebil­de­ten, zumeist männ­lich gepräg­ten Mehr­heits­kul­tur auf­setzt?

Glaubt man dem jüngst ver­öf­fent­li­chen Digital News Report des Reuters Insti­tu­tes in Oxford, der welt­weit größten fort­lau­fen­den Studie zum digi­ta­len Medi­en­kon­sum, wünscht sich die Mehr­heit der Befrag­ten eine zumin­dest um Objek­ti­vi­tät bemühte Bericht­erstat­tung. In Deutsch­land gaben dies sogar 80 Prozent der Teil­neh­men­den zu Pro­to­koll. Ent­spre­chend gering ist hier­zu­lande der Anteil der­je­ni­gen, die in den Medien ihre eigenen Mei­nun­gen bestä­tigt finden oder mit anderen Per­spek­ti­ven aus der Reserve gelockt werden wollen. Der Slogan „Fakten, Fakten, Fakten“ kommt einem in den Sinn, mit dem der Focus einst gegen den Spiegel antre­ten wollte. In Ländern mit starken öffent­lich-recht­li­chen Sen­de­an­stal­ten sind diese Vor­lie­ben übri­gens ähnlich ver­teilt, wohin­ge­gen in stärker pri­vat­wirt­schaft­lich gepräg­ten Medien-Land­schaf­ten Mei­nungs­plu­ra­lis­mus stärker gefragt ist.

Lese­rin­nen und Leser wün­schen sich zudem immer wieder, dass Kom­men­tare klar als solche gekenn­zeich­net werden. Das ist beson­ders wichtig in den sozia­len Netz­wer­ken, wo Mei­nungs­stü­cke ohne Bindung an eine spe­zi­elle Seite im Nach­rich­ten­fluss auf­tau­chen und das dazu­ge­hö­rige Fak­ten­stück eher selten zusätz­lich ser­viert wird. „Jour­na­lis­ten wissen, das Nach­rich­ten und Kom­men­tare getrennt sind, aber Leser können das oft nicht aus­ein­an­der­hal­ten“, schreibt der Jour­na­lis­mus-Pro­fes­sor Kevin Lerner in einem vom Nieman Lab der Harvard Uni­ver­sity ver­öf­fent­lich­ten Beitrag. Dabei sind in der angel­säch­si­schen Tra­di­tion die Rollen von Repor­tern und Kom­men­ta­to­ren sogar strikt getrennt, wohin­ge­gen Jour­na­lis­ten in Deutsch­land sehr oft beides tun: berich­ten und kom­men­tie­ren. Das schafft eher noch mehr Ver­wir­rung.

Es spricht also einiges für das Modell „Fels in der Bran­dung“: Qua­li­täts­jour­na­lis­mus sollte sich gerade dadurch aus­zeich­nen, dass er anhand von Fakten und Daten Ori­en­tie­rung bietet, Situa­tio­nen und Akti­vi­tä­ten genau beschreibt und sich damit zurück­hält, alles sofort zu bewer­ten. Damit dient er einem Publi­kum, das zuneh­mend ver­un­si­chert ist und Ori­en­tie­rung ver­misst inmit­ten der Mei­nun­gen von Betrof­fe­nen, Exper­ten und der­je­ni­gen, die sich für Exper­ten halten. So viel Plu­ra­lis­mus war schließ­lich nie. Dafür spricht auch, dass das Ver­trauen in die Medien laut Digital News Report weiter gesun­ken ist. Nur noch 38 Prozent der Befrag­ten in den unter­such­ten 40 Ländern und Märkten ver­trauen dem Jour­na­lis­mus gene­rell, das sind vier Pro­zent­punkte weniger als im ver­gan­ge­nen Jahr. Selbst den Marken, die er oder sie selbst regel­mä­ßig nutzt, ver­traut nicht einmal jeder Zweite. Auf­klä­rung durch Fakten klingt da nach einer guten Idee.

Bei näherem Hin­schauen ist die Sache kom­pli­zier­ter. Zunächst einmal hat das, was Lese­rin­nen und Leser über ihre Bedürf­nisse sagen, nicht unbe­dingt etwas mit dem zu tun, was sie tat­säch­lich lesen. Sie mögen sich Neu­tra­li­tät wün­schen, aber sie klicken dann doch viel lieber auf den poin­tier­ten Kom­men­tar. Redak­tio­nen wissen anhand von Daten, dass sie damit eher Reich­weite erzie­len als mit so manch einem fak­ten­ge­tränk­ten Stück. Das gelingt vor allem mit Texten, an denen sich die Gemüter erhit­zen. Und Reich­weite ist nicht nur gut für Anzei­gen­kun­den, sondern auch will­kom­me­nes Mar­ke­ting in einer Zeit, in der viele Medi­en­häu­ser um ihr wirt­schaft­li­ches Über­le­ben kämpfen. Zumal Kom­men­tare deut­lich bil­li­ger zu pro­du­zie­ren sind als auf­wän­dige Recher­chen. Man braucht dazu ledig­lich Mit­ar­bei­ter mit Meinung und Schreib­ge­rät, los geht’s. Die Algo­rith­men der Platt­form-Kon­zerne tun ihr übriges, indem sie Stoffe nach oben spülen, an denen sich viele Men­schen reiben.

Ein wei­te­rer Grund ist kom­ple­xer. Genera­tio­nen von Jour­na­lis­ten haben das Credo der Objek­ti­vi­tät hoch­ge­hal­ten, noch heute zitiert manch einer von ihnen das Bonmot des ehe­ma­li­gen Tages­the­men Mode­ra­tors Hanns Joachim Fried­rich, dass sich ein Jour­na­list niemals mit einer Sache gemein machen solle, nicht einmal mit einer guten. Natür­lich machten sich Jour­na­lis­ten schon damals mit aller­lei Sachen gemein. Eine der Kern­auf­ga­ben des Jour­na­lis­mus ist es ja, denen eine Stimme zu geben, die sonst niemand hören würde. Aber indem man andere spre­chen ließ, trat man als Kom­po­nist des Stücks schein­bar in den Hin­ter­grund – auch wenn man genau das war: die Schöp­fe­rin, die einem Text Struk­tur, Klang und Emotion verlieh und ihn auf diese Weise sehr sub­jek­tiv prägte. Jüngere Jour­na­lis­ten finden die Debatte um Objek­ti­vi­tät deshalb ver­lo­gen. Jede und jeder bringe ohnehin seine eigene Per­spek­tive mit, argu­men­tie­ren sie, und das sei auch gut so. Ein Genera­tio­nen­kon­flikt schwelt.

In dem Argu­ment steckt Wahr­heit. Schwie­rig wird es aber dann, wenn mit der Begrün­dung von Viel­falt jedes jour­na­lis­ti­sche Produkt eine Daseins­be­rech­ti­gung erhält – eine miss­ra­te­nen Kolumne ebenso wie ein Gewalt sank­tio­nie­ren­den Gast­bei­trag. Die Pres­se­frei­heit ist ein von der Ver­fas­sung geschütz­tes Gut. Aber Frei­heits­rechte gehen immer mit einer beson­de­ren Ver­ant­wor­tung einher. Die Frei­heit des einen hört immer dort auf, wo die des anderen beginnt. Die Grenzen müssen demo­kra­tisch aus­ge­han­delt werden. Respekt, Anstand und Rück­sicht­nahme sind Bau­steine der Frei­heit. Je weniger davon vor­han­den ist, umso mehr Regeln werden gebraucht.

Jour­na­lis­ten haben Pri­vi­le­gien, die anderen Bürgern in dem Umfang nicht zuste­hen. Umso stärker stehen sie in der Pflicht. Anders als die­je­ni­gen, die in den sozia­len Netz­wer­ken einfach mal flapsig vor sich hin mut­ma­ßen und meinen, gilt für Repor­te­rin­nen und Kom­men­ta­to­ren der Pres­se­ko­dex. Und ein gene­rel­les Bewusst­sein dafür, was man mit der Macht, die einem ver­lie­hen ist, anrich­ten kann, sollte bei der Berufs­wahl zur Grund­aus­stat­tung gehören. Ebenso wie es in Redak­tio­nen eine Sorg­falts­pflicht gibt, die mög­li­chen Wir­kun­gen von Reich­weite vor einer Ver­öf­fent­li­chung abzu­schät­zen. Wird diese Sorg­falt nicht ange­wandt, schadet das nicht nur den Redak­teu­rin­nen und Repor­tern, die ihre Ver­ant­wor­tung ernst nehmen, sondern dem Jour­na­lis­mus als Ganzem. Und wer das Ansehen des Jour­na­lis­mus beschä­digt, schränkt die Frei­heits­rechte der Gesell­schaft ein. Denn nur wer gut und unab­hän­gig infor­miert ist, kann als Bürger frei ent­schei­den.

Diese Kolumne erschien am 4. August 2020 bei Zentrum Liberale Moderne. 

Aufpasser von nebenan: Der Lokaljournalismus braucht eine digitale Zukunft

Die Hackordnung im Journalismus war über die längste Zeit klar: Man begann vielleicht im Lokalen, weil sich da schnell viel recherchieren, aufdecken, aufschreiben und gestalten ließ. Aber wer in den Augen der Kolleg_innen etwas gelten wollte, musste irgendwann den Sprung in die nationale Berichterstattung schaffen – ob bei Zeitungshäusern, im Radio oder Fernsehen spielte keine Rolle. Die Metriken, mit denen Prestige und Gehälter stiegen, hießen Sichtbarkeit oder Reichweite. Das hat sich nicht grundlegend geändert, was die Binnensicht angeht. Aber mit Blick auf den Journalismus als vierte Gewalt und Säule der Demokratie sieht die Sache ganz anders aus. Da heißt die wichtigste Metrik Vertrauen. Und was das angeht, schneidet der Lokaljournalismus in so gut wie allen Umfragen am besten ab.

Das war auch schon vor der Corona-Krise so. Ob das die Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen ist, amerikanische Umfragen der Marktforscher von Pew Research oder der Digital News Reportdes Reuters Institutes in Oxford, Bürger_innen trauen ihren lokalen Zeitungen und Fernsehstationen mehr als den überregionalen Medieninstitutionen. Nur öffentlich-rechtlichen Sendern, die im Lokalen meist auch recht präsent sind, geben sie bessere Noten. Und was den Wert für die Demokratie angeht, ist der Zusammenhang zwischen gutem Lokaljournalismus und bürgerlichem Engagement eindeutig. Bürger gehen häufiger wählen, kandidieren öfter für politische Ämter, Gemeindefinanzen sind gesünder und die Korruption ist dort niedriger, wo Journalisten den Institutionen vor Ort in die Bücher schauen.[1]

Dass sich so etwas überhaupt belegen lässt, hat einen traurigen Grund: Vor allem in den USA, wo der Kapitalismus ein Stück gnadenloser arbeitet als hierzulande, gibt es bereits weit über tausend Orte und sogar Kleinstädte, in denen keine Lokalredaktionen mehr an der Aufklärung der Bürger_innen arbeiten. Medienwissenschaftler dokumentieren sie als News Deserts. Und man kann die Daten solcher Nachrichtenwüsten gut mit denen jener Orte vergleichen, in denen Journalist_innen den Mächtigen noch auf die Finger schauen und Debatten von örtlichem Interesse initiieren und abbilden.

Wer wissen möchte, was dem Lokaljournalismus womöglich auch hierzulande bevorsteht, dem sei die Lektüre von Margaret Sullivans neuem Buch „Ghosting the News“ ans Herz gelegt.[2] Sullivan ist Medienkorrespondentin der Washington Post, davor hatte sie als Public Editor die Interessen der Leser_innen der New York Times
vertreten. Und davor wirkte sie 13 Jahre lang als Chefredakteurin der Buffalo News, der größten Regionalzeitung im US-Bundesstaat New York außerhalb von New York City. Heute sei die Redaktion dort nur noch halb so groß wie zu ihrer Zeit, schreibt sie, und damit schneide die Buffalo News sogar recht gut ab. Unter dem Druck von Investoren hätten die Redaktionen amerikanischer Zeitungen zwischen 2008 und 2017 schon 45 Prozent der Stellen gestrichen, danach sei der Kahlschlag noch massiver vorangetrieben worden. Zwischen 2004 und 2015 seien 1800 amerikanische Zeitungen komplett vom Markt verschwunden. Und in diesem Jahr hat sogar Groß-Investor Warren Buffett aufgegeben. Lokalzeitungen würden verschwinden, hatte er 2019 in einem Interview prophezeit.

Man merkt Sullivan an, wie sehr sie darum ringt, Perspektiven für den Lokaljournalismus zu entwickeln, und wie wenige Möglichkeiten sie dennoch ausfindig macht. Denn solche Projekte wie das von Alice Dreger in East Lansing im Staat Michigan hören sich ehrenwert, aber nicht nach gesundem Geschäftsmodell an: Dreger hat ein Team von 140 Leuten zusammengestellt, die sich im Nebenberuf mit dem Wohlergehen der Region beschäftigen. Es sind vor allem Studierende, Rentner und andere Freiwillige, die das Zusammentragen, was in der Gemeinde wichtig ist – für 50 Dollar Lohn pro Artikel. Das ist Journalismus als Passion, nicht als Beruf.

Dabei ist Lokaljournalismus für die Bürger wichtiger denn je. Überregionale News finden sie schließlich im Internet überall, wer des Englischen mächtig ist, kann sich über verschiedenste Quellen weltweit auf dem Laufenden halten. Die Branchengrößen wie die New York Times, die Washington Post oder der Guardian greifen das globale Bildungs-Publikum ab. Aber wie das Verkehrskonzept für die eigene Region ausschaut, was hinter den Türen des Rathauses geschieht, und was den Ort sonst noch bewegt, darauf hat Google selten Antworten.

Lokalzeitungen haben sie leider auch nicht immer. Man sollte hier nichts verklären, Lokaljournalismus war nicht immer und überall investigativ und unabhängig. So manch ein Blatt vermischte redaktionelle Inhalte und Werbung, berichtete allzu wohlwollend über die örtliche Prominenz, schrieb die Spalten mit nutzlosem oder unverständlichen Stoff aus dem Gemeinderat voll, nur weil sich dort ein Reporter den Abend um die Ohren geschlagen hatte und füllte Seiten über Seiten mit mittelprächtigen Fotos, weil die Budgets für Recherchen nicht reichten.

Die Digitalisierung kann helfen. Nicht nur, weil das Publizieren technisch einfacher und günstiger wird. Die Denke ist eine neue. Wer möchte, dass Abonnenten für ein Produkt bezahlen, muss sich mehr als früher mit ihren Interessen und Bedürfnissen beschäftigen, Stichwort „Audience first“. Nur wer sein Publikum ernst nimmt, erweist ihm eine echte Dienstleistung, auf die er oder sie nicht verzichten möchte – und für die er/sie dann auch zu zahlen bereit ist. Das können ausführliche Recherchen sein, aber auch datenjournalistische Angebote, die sich mit künstlicher Intelligenz künftig billiger und schneller erstellen lassen werden. Über Geotags haben lokale Anzeigenkunden einen zielgenaueren Zugang zu ihrem Publikum. Und Redaktionen können das Wissen ihrer Leser_innen über digitale Kanäle besser anzapfen und Kommunikation initiieren.

Das alles löst das Finanzierungsproblem noch nicht gänzlich. In den meisten Fällen werden potente Geldgeber nötig sein, denen das Schicksal ihrer Gemeinde am Herzen liegt. Aber auch auf der Suche nach Investoren gilt: Ein starkes journalistisches Produkt ist immer ein gutes Argument.

[1] Siehe Alexandra Borchardt, „Mehr Wahrheit wagen – Warum die Demokratie einen starken Journalismus braucht“, Dudenverlag 2020.
[2] Margaret Sullivan„Ghosting the News – Local Journalism and the Crisis of American Democracy“, Columbia University Press 2020

Dieser Text erschien am 7. August im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School. 

Die Ich AG als Redaktion – kann das klappen?

Nicht jeder kann eine Art Gabor Steingart werden. Als der ehemalige Handelsblatt-Herausgeber den Holtzbrinck-Konzern im Februar 2018 im Streit verlassen hatte, gehörte die Abonnenten-Datei seines „Morning Briefing“ Newsletters mit zum Abfindungspaket. Zwei Jahre später führt Steingart mit Media Pioneer ein kleines aber deutschlandweit bekanntes Medien-Unternehmen mit um die 50 Mitarbeitern, Redaktionsschiff und 36-Prozent-Beteiligung der Axel Springer AG inklusive. Für so eine Wachstumskurve braucht man mehr als nur gute Kontakte und einen Namen, und schon daran dürfte es den meisten mangeln. Dennoch steigt mit den zunehmenden Möglichkeiten der Digitalisierung bei vielen Journalist_innen und Medien-Fachleuten die Lust, es mit dem Gründen wenigstens einmal zu versuchen.

Gerade unter den Leistungsträgern haben etliche genug von Hierarchien und Kommando-Strukturen, routiniertem Reaktions- und Rattenrennen-Journalismus. Sie mögen sich nicht mehr für einen Arbeitgeber aufarbeiten, von dem sie zum Dank für ihren Einsatz neuerdings auch noch auf Kurzarbeit geschickt werden – immerhin die verträgliche Variante einer Krisenstrategie. Aber als Bittsteller mit einem Bauchladen durch die Gegend zu tingeln ist auch kein Spaß in diesen Zeiten, in denen freie Etats gekappt werden, wo es eben nur geht. Ist es eine Lösung, selbst zu publizieren?

Für manche schon. Vor allem in den USA gibt es einen Trend zum journalistischen Freischwimmer. Dort ist das Klima etwas rauer als hierzulande, weil man Journalist_innen eher in die Arbeitslosigkeit schickt, als ihre Jobs mit staatlichen Programmen abzufedern. Aber womöglich entstehen genau deshalb dort auch mehr Möglichkeiten, seinen eigenen Mini-Verlag aufzubauen – ganz ohne Overhead und großen Kapitaleinsatz. Ein Beispiel ist die Plattform Substack. Autor_innen können dort eigene Newsletter aufsetzen und dafür Bezahlmodelle erproben, sofern sie sich mit Premium-Inhalten eine gewisse Reichweite erschrieben haben. Die Washington Post berichtete kürzlich von einer ganzen Reihe namhafter Schreiber_innen, die etablierte Redaktionen verlassen und ein eigenes „mini media empire“ gegründet haben. Zuvor arbeiteten sie für Magazine wie New Republic, Rolling Stone, Sports Illustrated oder New York Magazine, nun werkeln sie auf eigene Rechnung und genießen ihre Autonomie.

Eine von ihnen ist Emily Atkin. Ihr viermal wöchentlich erscheinender Newsletter über die Klimakrise mit dem Titel „Heated“ ist einer der bestbezahlten bei Substack. Atkin, die sich als Wissenschaftsjournalistin Profil und Publikum erworben hatte, war die Auseinandersetzungen mit Redaktionen leid gewesen. „Im Lauf deiner journalistischen Laufbahn kommst du irgendwann an eine Grenze, an der du merkst, dass du nicht mehr von deinem Verlag profitierst sondern dein Verlag von dir“, wird sie von der Post zitiert.  Die Frage sei dann: Gebe die Marke einem so viel wie man selbst der Marke gebe.

Substack wurde 2017 in San Francisco gegründet mit der Idee, Autor_innen die Kontrolle über ihr Werk zurückzugeben. Die Newsletter funktionieren ohne Werbung, es gibt keine Algorithmen, die Journalist_innen behalten die Hoheit über ihre Inhalte und Mailing-Listen.  Einige von ihnen verdienen angeblich über die Abo-Modelle sogar mehr Geld als zu Zeiten ihrer Festanstellung, wobei man davon ausgehen kann, dass nur sehr wenige tatsächlich sechsstellige Beträge einnehmen. Aber sie bedienen einen Trend. Laut dem Digital News Report sind Newsletter ein zunehmend beliebter Zugang zur Welt der Informationen. Sie übernehmen die Rolle der Zeitung, sortieren und bündeln das Nachrichtengeschehen und heben sich damit für manch einen wohltuend vom endlosen, unsortierten Strom an Neuigkeiten in den sozialen Netzwerken ab.

Eine Newsletter-getriebene Ich AG eignet sich vor allem für Spezialisten oder Autoren, die eine ganz bestimmte Stärke kultivieren. Aber auch für andere, die lieber im Team arbeiten, gibt es Möglichkeiten. Ein aktuelles Beispiel – auch aus den USA – ist Defector, eine neu gegründete Kooperative von 18 Journalist_innen, die im vergangenen Jahr aus Protest gegen das Management die auf Sport-Berichterstattung ausgerichtete Plattform Deadspin verlassen hatten. Sie waren offenbar ihr Einzelkämpfer-Dasein satt und wollten gemeinsam etwas Neues wagen. Alle erhalten nun einen Anteil an dem Startup, das sich über Digital-Abos finanzieren will. Unter Kennern sei die Begeisterung groß gewesen, schon am ersten Tag hätten sich 10 000 Leser_innen registriert, berichtete das Team auf Twitter. Hauptsache man habe ausreichend Talente, zitiert die New York Times Defector-Geschäftsführer Jasper Wang, einen ehemaligen Unternehmensberater. Das strukturelle Gerüst darum herum zu bauen, sei nie einfacher gewesen als heute.

Was sich nach einem Traum anhört – der beruflichen Leidenschaft nachgehen und dabei Autonomie genießen – ist allerdings harte Arbeit, nicht immer macht sie Spaß. Konnten sich Journalisten früher ganz auf die Trennung zwischen Redaktion und Verlag verlassen und sich allein der Recherche, dem Schreiben und Redigieren widmen, erfordert der Beruf heute in jedem Fall ein Mindestmaß an wirtschaftlichem Sachverstand, vor allem in Sachen Marketing und Kundenbindung. Dies gilt umso mehr, wenn man selbst gründet. Natürlich geht es um Inhalte, aber man sollte auch Lust haben, sich intensiv mit potenziellen Einnahmequellen, Geldgebern und Geschäftsmodellen auseinanderzusetzen.

Deutschland mit seiner noch recht traditionell geprägten und einigermaßen gut bestückten Medienlandschaft ist nicht das leichteste Spielfeld für neue Medienmacher_innen. Das liegt einerseits am Publikum und an den Geldgebern. Hierzulande zahlt man ungerne für Dienstleistungen, gespendet wird eher wenig, großzügige Mäzene unterstützen lieber Fußballvereine, und auch Stiftungen rücken nur vergleichsweise kleine Beträge heraus. Andererseits liegt es an denen, die etwas wagen müssen: Die Angst davor, einen festen Job in einer Redaktion aufzugeben, ist größer als in Märkten, in denen es solche sicheren Posten ohnehin kaum noch gibt. Aber die technischen Hürden sinken. Und die Experimentierfreude junger (und älterer) Journalist_innen nimmt zu.           

Dieser Text erschien am 31. Juli 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School. 

Journalismus darf etwas kosten – aber wie viel?

Gary Liu, CEO der in Hongkong erscheinenden South China Morning Post, gilt im internationalen Medien-Zirkus als ein Dynamo des digitalen Wandels, auch deshalb, weil er nicht aus der Branche kommt. Liu ist in den USA geboren, in Taiwan und Neuseeland aufgewachsen, hat an der Harvard Business School studiert und dann in verschiedensten Tech-Unternehmen gearbeitet, unter anderem bei AOL, Google und Spotify. Seit 2017 führt er die SCMP mit der Mission, die weltweit wichtigste englischsprachige Quelle für alle zu werden, die sich über China informieren wollen. Bislang kann man das dort kostenlos tun. Seitdem der Verlag 2015 vom chinesischen Internet-Konzern Alibaba gekauft wurde, ging es nur um Reichweite; Millionen Leser_innen rund um den Globus schätzen das. Allerdings kämpft derzeit auch die SCMP: Wirtschaftskrise, die instabile politische Lage, Covid-19 – das Anzeigengeschäft leidet. Jetzt plant das Team um Liu Abo-Modelle. Aber die Erfahrung in der Tech-Branche hat ihn gelehrt: „Es muss etwas Dynamisches sein.“ Jemand, der nur ab und an mal auf der Seite vorbeischaue, werde keinen vollen Preis bezahlen, sagte Liu kürzlich beim Asian Media Leaders Summit der WAN-IFRA.

Ganz oder gar nicht, das war für Zeitungshäuser über die längste Zeit ein Mantra. Entweder die Leser_innen unterschrieben für das Voll-Abo oder sie ließen es bleiben. Und natürlich kostete es für alle gleich viel. Als sich die ersten Verlage vom Papier-Abo in digitale Angebote vorwagten, hieß die größte Sorge: „Nur nicht kannibalisieren!“ Denn das Print-Produkt verdiente (und verdient meist noch immer) das Geld. Was, wenn Tausende Leser_innen auf ein billiges Digital-Abo umsteigen würden? Teure digitale Abonnements waren die Folge. Das überzeugte manche Print-Kunden, erschloss aber kaum neue Käuferschichten. Es ist ein klassisches Dilemma der Disruption, wie es der in diesem Jahr verstorbene Harvard-Professor Clayton Christensen beschrieben hat: Unternehmen sind so sehr um jene Kund_innen bemüht, die ihnen die höchste Gewinnmarge verschaffen, dass sie neue Entwicklungen am Markt versäumen. Das ist vollkommen rational – bis es zu spät ist.

Die Medienbranche hat diese Disruption früher gespürt als zum Beispiel die deutsche Autoindustrie, die sich noch immer mit den Gewinnen aus S-Klasse, 5er-Modell oder schweren SUV darüber hinwegtäuscht, dass sich Mobilitäts-Gewohnheiten und Vorlieben ändern (müssen). Viele Häuser wagen sich mit Digital-Abo-Preisen vor, die nichts mit der stattlichen Summe zu tun haben, die ein Jahres-Abo der Zeitung kostet. Und in der Corona-Krise wurden genau die belohnt. In den ersten Wochen der großen Verunsicherung, in denen die Bürger_innen nur so nach Information und Erklärung gierten, waren Häuser mit einfach zu buchenden digitalen Bezahlangeboten im Vorteil. Die Kund_innen griffen zu – und viele blieben. Auch junge Leute, denen das Print-Abo allenfalls im Elternhaus begegnet, gaben ihre Kreditkartennummer preis.

Die richtigen Preise zu setzen, das kann eine Wissenschaft für sich sein. Aber für die Welt der digitalen (journalistischen) Angebote zeichnen sich einige Trends ab. Der wichtigste ist, dass es keine einheitliche Lösung gibt. Kunden haben unterschiedliche Bedürfnisse und eine unterschiedliche Zahlungsbereitschaft, also muss es unterschiedliche Angebote für verschiedene Kundengruppen geben. Einer Leserin in Deutschland wird ein Digital-Abo der New York Times zum Beispiel niemals so viel wert sein, wie einem Leser aus Brooklyn, weil es für sie maximal ein Zweit-Abo sein wird. Es kann also durchaus funktionieren, ihr ein 50-Cent-pro-Woche Angebot zu machen, während US-Leser_innen weiterhin den vollen Preis bezahlen. Manch eine Medienmarke lockt Kund_innen mit einem abgespeckten Angebot und macht den Zugriff auf die gesamte Produktpalette teurer. Oder sie lässt sich spezielle Produkte etwas kosten, zum Beispiel Pakete, die Rätsel, Service-Angebote oder den Zugriff aufs Archiv enthalten.

Verlage haben tatsächlich auch gute Erfahrungen mit Preiserhöhungen gemacht. Als der dänische Konzern JP Politikens Hus seine Flaggschiff-Zeitung Politiken als E-Paper offensiv zu einem Premium-Preis anbot, stiegen die Verkaufszahlen rasant, ganz nach dem Prinzip: Was viel kostet, muss viel wert sein. In der Corona-Krise gingen dagegen etliche amerikanische Verlage den umgekehrten Weg: Sie machten den Zugriff auf die Berichterstattung kostenfrei, warben aber um freiwillige Beiträge, Spenden und Mitgliedschaften, wie dies der britische Guardian schon lange einigermaßen erfolgreich als Geschäftsmodell betreibt.

Auch der Moment, an dem sich für Leser_innen die Bezahlschranke über dem digitalen Angebot senkt, kann dynamisch gemanagt werden. Bei vielen Marken gibt es grundsätzlich eine bestimmte Anzahl an Texten kostenlos zu lesen (Metered Model), bevor man sich registrieren und dann irgendwann bezahlen muss. Bei anderen herrscht das Freemium-Prinzip: Für einige Genres muss man grundsätzlich zahlen, andere sind immer frei. Wieder andere, wie die schwedische Zeitung Dagens Nyheter, experimentieren damit, Texte in den ersten Stunden kostenfrei zu stellen und die Kund_innen dann zum Registrieren aufzufordern, wenn das Stück besonders begehrt geworden ist. Für die Nutzer_innen ist dies ein Anreiz, öfter mal auf der Seite vorbeizuschauen. Als Grundregel für alle gilt: Immer aus Sicht des_die Kund_in denken.

Nur eine Erkenntnis hat sich in der Branche durchgesetzt: Der Einzelverkauf von Texten oder anderen Stücken ist kein zukunftsfähiges Modell – jedenfalls nicht für die Medienhäuser. Und das muss es auch nicht sein. Den Konsument_innen, die bereit sind, für guten Journalismus zu zahlen, geht es eher selten um den einzelnen Text. Es geht ihnen um Gewohnheit und Rituale, Genuss, ein Erlebnis, die Sicherheit, jederzeit auf Qualität zugreifen und Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu können. Verlage müssen Wege finden, ihren Kund_innen diese Erlebnisse zu verschaffen und sie damit als loyale Nutzer_innen gewinnen.

Auch Gary Liu stellt klar, dass es so genannte Micropayments bei der SCMP nicht geben wird. Das Beispiel Musikindustrie sollte allen eine Warnung sein. Die Musikindustrie sei nicht durch Piraterie umgebracht worden, sagt Liu, „Nicht Napster hat das erledigt, sondern es war iTunes“. In dem Moment, in dem die Leute nicht mehr für das gesamte Album bezahlt hätten, sondern nur noch für einzelne Songs, sei das Geschäft tot gewesen. Als ehemaliger Spotify-Manager weiß er, wovon er spricht.

Dieser Text erschien am 24. Juli 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School.

Jetzt reicht’s mit Lügenpresse – Wenn das Publikum die Medien verteidigt

Beim Thema Medienvertrauen wird gerne mit Superlativen gearbeitet, auch in der Branche selbst. „Noch nie war das Vertrauen in den Journalismus so niedrig“, heißt es dann oder „Vertrauen in die Presse sinkt seit Jahren“. Man sollte hinter beide Behauptungen zumindest ein Fragezeichen stellen, denn wie so oft ist die Wirklichkeit komplizierter. Forscher_innen diagnostizieren keinen drastischen Vertrauensschwund in journalistische Produkte. Im Gegenteil: In der Corona-Krise war die Hoffnung auf Aufklärung durch etablierte Medien ausgeprägt wie lange nicht, selbst bei jungen Leuten. Es geht vielmehr um die Frage, wer wem vertraut – oder eben nicht. Neue Studien bestätigen dies.

Da ist zum Beispiel die Langzeitstudie Medienvertrauen der Universität Mainz. Die repräsentative Umfrage wurde bereits sechsmal durchgeführt, die Werte zum allgemeinen Vertrauen in Medien rangierten in den vergangenen vier Jahren einigermaßen konstant zwischen 40 und 44 Prozent. Das ist kein schlechter Wert, denn eine gesunde Skepsis ist auch ein Zeichen von Medienbildung in der Demokratie. Allerdings legte bei der im Dezember 2019 erhobenen Welle der Anteil derjenigen auf 28 Prozent deutlich zu, die deutliches Misstrauen äußerten. Was hingegen so selten vorkam wie noch nie: Dass sich jemand mit „teils, teils“ äußerte. „Offenbar sehen sich immer mehr Menschen angesichts einer sich immer weiter polarisierenden Debattenkultur dazu veranlasst, auch selbst Position zu beziehen“, schlossen die Forscher_innen daraus. Noch deutlicher wird dies bei dem Vorwurf, die Bevölkerung werde „systematisch von den Medien belogen“. Zwar stimmte knapp jeder Fünfte dieser Aussage zu, 58 Prozent wiesen sie aber zurück – und damit so viele wie nie zuvor.

Dieser Trend zur klaren Meinungsbildung deutet darauf hin, dass sich mehr Menschen mit der Rolle der Medien und des Journalismus in der Demokratie auseinandersetzen als früher. Und das ist eine gute Nachricht. Schließlich haben Redaktionen in den vergangenen Jahren offensiv um das Vertrauen der Bürger_innen geworben. Das ist neu. Schließlich gab es Zeiten, in denen Journalisten so etwas nicht für nötig gehalten hatten. Das war damals, als man Leserpost als lästige Nebenwirkung betrachtete und es zur Berufsehre gehörte, sich bei der Recherche nicht in die Karten schauen zu lassen (manchmal auch, weil es da nicht viel zu sehen gab). Heute, wo Medienhäuser mehr und mehr darauf angewiesen sind, ihre Einkünfte aus Abos oder Mitglieder-Beiträgen zu generieren, kann man sich eine solche (Nach-)Lässigkeit nicht mehr leisten. Auf der einen Seite gewinnt man also Verbündete.

Auf der anderen kommen sie allerdings abhanden, denn das Bekenntnis zur Medienmarke wird immer stärker politisch aufgeladen. Dies belegt auch der aktuelle Digital News Report. Das generelle Vertrauen in Medien hat demzufolge über alle 40 Märkte hinweg etwas gelitten, es sank um vier Prozentpunkte auf 38 Prozent verglichen mit 2019. Aber der Blick auf einzelne Länder ergibt ein differenziertes Bild. In Großbritannien mit einer eher rechts der Mitte orientierten Medienlandschaft kollabierte das Vertrauen derjenigen nahezu, die sich als politisch links identifizieren. Die Berichterstattung über Brexit und ein polarisierender Wahlkampf können als Ursachen gewertet werden. In den USA hingegen vertraut das linke Spektrum den etablierten Medien dagegen deutlich stärker, als dies Angehörige des konservativen Lagers tun. Es geht also deutlich mehr um Gesinnung als um so etwas wie objektive Qualitätsdaten.

Daraus folgt allerdings noch lange nicht, dass sich Medien mit eben dieser Gesinnung diesen Rändern anbiedern sollten. In vielen Ländern gibt es nach wie vor eine große Mehrheit derjenigen, die es schätzen, wenn sich Journalismus zumindest um Objektivität bemüht. In Deutschland ist dieses Bedürfnis laut Digital News Report so ausgeprägt wie nirgendwo: 80 Prozent aller Befragten wünschen sich Unparteilichkeit, nur 15 Prozent hätten nach eigenem Bekunden gerne ihre eigene Sicht auf die Welt bestätigt, und nur fünf Prozent möchten sich durch andere politische Standpunkte herausfordern lassen. Kein Wunder, denn hierzulande haben sich schlechte Erfahrungen besonders eingeprägt mit einer Presse, die eher indoktriniert als informiert.

Diese Zahlen sollte man kennen. Denn gerade die jüngere Generation von Journalist_innen führt eine ausgeprägte Debatte darüber, ob Objektivität eigentlich möglich sei. Die Antwort darauf ist schlicht: Natürlich hat Journalismus immer mit Auswahl zu tun, ob Reportage, Kommentar oder Datenanalyse, und diese Auswahl ist persönlich gefärbt. Ein journalistisches Produkt ist deshalb nie so neutral wie die Lösung einer Mathe-Aufgabe. Aber es wäre grundfalsch, das Bemühen um Fakten und Objektivität deshalb gleich einzustellen. Denn ein Ringen um Wahrheit gehört zur Grundausstattung des Handwerks, damit heben sich Journalist_innen von allen anderen Meinungsmachern ab, die es ja reichlich gibt. Wichtig ist allerdings, dass Reporterinnen und Redakteure mit vielen unterschiedlichen Standpunkten um diese Wahrheit ringen. Das große Ganze ergibt dann den Journalismus.

Eine neue, großangelegte quantitative Studie der Kommunikationswissenschaftler Antonis Kalogeropoulos und Benjamin Toff hat ergeben, dass Vertrauen in die Qualität von Medien und der Grad an Pressefreiheit die wichtigsten Variablen dafür sind, ob Menschen Medien überhaupt nutzen oder ob sie sie ignorieren. Der Bildungsgrad spielte dagegen praktisch keine Rolle. Es lohnt sich also, in diese Qualität zu investieren. Denn wenn sich die Bürger_innen vom Journalismus abwenden, entziehen sie ihm die Lebensgrundlage.

Dieser Text erschien am 17. Juli 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School.

Digitale Meisterprüfung: Was JournalistInnen von Maria Ressa lernen können

 

Maria Ressa als Rockstar des globalen Journalismus zu beschreiben, wäre untertrieben. Als das Reisen noch möglich war, schien die philippinisch-amerikanische Star-Journalistin alle Bühnen der Welt gleichzeitig zu bespielen. Ehemalige CNN-Büroleiterin und Investigativ-Reporterin mit Schwerpunkt Terrorismus, Gründerin von Rappler.com, im Clinch mit dem philippinischen Präsidenten Duterte und dessen diktatorischem Regime, ständig mit einem Bein im Gefängnis und Time Magazine Person of the Year 2018: Praktisch jede Medienorganisation wollte sich von Ressa ihre Konferenz eröffnen lassen. Jetzt, in Covid-19-Zeiten, zoomt sie von einem Webinar zum nächsten, als kämpfe sie um ihr Leben – und das trifft es ziemlich gut. Seitdem sie und ein Rappler-Mitarbeiter am 15. Juni in ihrer Heimat Manila wegen Cyber Verleumdung verurteilt wurden, ist internationale Sichtbarkeit ihre wichtigste Strategie. Das Urteil ist Teil einer Schikane gegen die freie Presse, zu den Tricks gehören auch Anklagen wegen Steuerhinterziehung. Derzeit ist Ressa nur auf Kaution frei. Sollte sie in Haft gehen müssen, wird ihre Anwältin Amal Clooney für sie weiterkämpfen.

Ressa ist für viele Journalistinnen und Journalisten heute, was Bob Woodward und Carl Bernstein zu ihrer Zeit waren, aber nicht nur das: Sie steht auch als Vorbild für den digitalen Journalismus. Das ist nicht ganz selbstverständlich für eine Frau von 56 Jahren in einer Branche, in der sich CEOs damit rühmen, fürs Digitale nur noch bei den „digital Natives“ zu rekrutieren, weshalb manch einer per Hoodie versucht, noch für maximal Ende 30 durchzugehen. Aber Ressa, die mit charismatischem Lächeln, Leidenschaft und Eloquenz regelmäßig stehende Ovationen auslöst, lässt gar keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie schon ganz andere Dinge bezwungen hat als das bisschen digitale Transformation.

Rappler, vor sechs Jahren gegründet, ist als reine Online-Plattform zu einer der wichtigsten Medienmarken auf den Philippinen geworden. Auf Konferenzen sieht man die Chefin häufig selbst mit dem Smartphone live streamen. Und die Mitarbeiter_innen – der Anteil der Frauen liegt bei über der Hälfte – sind auch sonst absolut technikaffin. „Du musst sie mit ihren eigenen Waffen schlagen“, betont Ressa oft. Und dann demonstriert sie gleich dazu, wie sie das meint. Denn Duterte und seine Unterstützer_innen hetzen pausenlos mit Cyber-Trollen gegen Ressa und ihr Team. Mord- und Vergewaltigungsdrohungen gegen die Reporter_innen und deren Familiengehören zum Standard-Repertoire. Aber Rappler schafft es, diese Netzwerke mit Hilfe von Datenjournalismus sichtbar zu machen, zum Beispiel in der „Weaponizing the internet“-Serie. Gäbe es einen digitalen Meisterbrief, die Rappler-Kolleg_innen könnten ihn vorlegen. Oder vielleicht sollte man gleich von einem digitalen Waffenschein sprechen.

Aber Rappler ist auch ein Beispiel dafür, wie dicht Böse und Gut im Netz zusammenliegen. Ressa gehört zu einer der schärfsten Kritiker_innen von Facebook. Nur durch das soziale Netzwerk gelänge es Diktatoren wie Duterte, ihre Propaganda zu verbreiten, die Presse und Opposition plattzumachen versucht. Die Plattform um Mark Zuckerberg habe es bislang versäumt, an den Mechanismen zu drehen, die Hass und Hetze wie Brandbeschleuniger im Netz verbreiten. Gleichzeitig weiß Ressa, dass das Netzwerk vor allem in Regionen wie Südostasien der wichtigste Kanal dafür ist, aufklärerische Ideen und Wissen unter die Menschen zu bringen. Als „Frenemy“ – eine Mischung aus den englischen Wörtern für Freund und Feind – bezeichne sie die Plattformen oft, schreibt die Wissenschaftlerin Julie Posetti, die Ressa seit Jahren eng begleitet, in einem Meinungsstück für CNN.

Genau in diesem Zwiespalt bewegen sich Journalist_innen unablässig dieser Tage. So sehr, wie die Plattformen den Medienhäusern Werbeeinnahmen streitig machen, eröffnen sie auch Möglichkeiten, Inhalte in unterschiedlichsten Formen und auf unterschiedlichsten Wegen zu verbreiten. Digitale Hass-Attacken auf Kommentator_innen und Reporter_innen erschweren den Beruf. Die Möglichkeit, unkompliziert mit dem Publikum ins Gespräch zu gehen und sich dessen Wissen für Recherchen nutzbar zu machen, erleichtern ihn und erweitern seine Möglichkeiten. In der Beziehung zwischen den Tech-Konzernen und Medienmarken ist diese Hass-Liebe Tagesgeschäft. Die „Frenemies“ scheitern kläglich im Kampf gegen Hass und Hetze, machen aber gleichzeitig Geschenke: Google und Facebook fördern Redaktionen und journalistische Projekte mit Hunderten Millionen Dollar – auch das von Facebook gesponserte Digital Journalism Fellowship profitiert davon.

Die Leiterin des Tow Center for Digital Journalism an der Columbia University, Emily Bell, beleuchtet den Gewissenskonflikt der Branche im jüngsten Newsletter des Centers. Anders als für große Konsumgütermarken, die aus Protest gegen Facebooks nachlässigen Umgang mit Hassrede vorerst keine Anzeigen mehr auf der Plattform schalten, könnten sich dies viele Medienmarken gar nicht leisten. Die Reichweite sei für sie eine Überlebensfrage. „Auf Facebook zu werben ist (für diese Marken) wie Lastwagen dafür zu bezahlen, Zeitungen zu Kiosken zu transportieren“, schreibt Bell, es gehe um den Marktzugang.

Von Maria Ressa lässt sich in diesem Zusammenhang lernen: Man kann wie Ressa bei Facebook vorstellig werden und seine Praktiken anprangern. Und man kann die Möglichkeiten digitaler Technologien trotzdem für sich und eine gute Sache nutzen. #HoldTheLine ist Ressas berühmter Hashtag-Schlachtruf. Das gelingt aber nur, wenn man versiert genug ist, mit den Möglichkeiten von Daten und Netz umzugehen. Spätestens mit Blick auf Ressa weiß nun jeder: Nicht einmal das Alter ist eine Entschuldigung dafür, es nicht zu versuchen.

Dieser Text erschien zuerst am 9. Juli 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School.

Wirecard:Eine Pleite – auch für den (deutschen) Wirtschaftsjournalismus

Man könnte sagen, im Nachhinein sind alle schlauer. Im Vorhinein war es nur die Financial Times (FT). Wer die Timeline der Ereignisse rund um den Niedergang des im Dax gelisteten und nun insolventen Finanzdienstleisters Wirecard liest (die FT bietet das Stück ausnahmsweise gratis an), erschrickt schon ein wenig ob der Arglosigkeit vieler Beteiligter, seien es der Wirtschaftsprüfer EY, die deutschen Finanzbehörden – oder heimische Wirtschaftsjournalisten. Statt angesichts der ausdauernden und intensiven Recherchen des britischen Pflicht-Mediums für Wirtschafts- und Finanzakteure hellhörig zu werden, neigte man hier der Sicht der Behörden zuzustimmen, die dem britischen Reporter Dan McCrum unlautere Arbeit vorgeworfen hatten. Sogar die Staatsanwaltschaft München ermittelte gegen den Journalisten. Im Februar zeichnete der Branchendienst Meedia
die Auseinandersetzung um die FT-Berichterstattung nach.

Nun gebührt den FT-Kolleg_innen um McCrum Ehre, ein paar Preise werden wohl drin sein. Großes Lob verdient auch die Chefredaktion, die sich trotz aller Angriffe von außen klar vor das Team stellte. So soll es sein. Als nächstes fragt man sich allerdings: Warum haben Journalist_innen in Deutschland nicht aufgemerkt? Waren sie zu nah dran, oder eher zu weit weg? Denn wenngleich ein Journalist aus London die Story ausgegraben hatte, fand er Unterstützung in Südostasien, wo sich kaum ein deutsches Medienhaus noch Korrespondent_innen leisten kann (die FT hat dort fünf festangestellte Reporter_innen und mehrere Stringer_innen).

Einer der Gründe dürfte sein, dass noch immer zu viel „Er hat gesagt, sie hat gesagt“-Journalismus betrieben wird, vor allem hierzulande. Man betrachtet es schon als Scoop, wenn ein Behördenvertreter oder ein anderer Offizieller einem etwas steckt, das andere nicht wissen. Das hat man dann „exklusiv“. Bernd Ziesemer, ehemals Chefredakteur des Handelsblatts, hat diese Dynamik in einem Gastbeitrag gut beschrieben – der erschien bezeichnenderweise in der FT. Professionelle Kommunikator_innen wissen und nutzen das, indem sie mal dieses, mal jenes Medium bedienen und auf diese Weise gewogen halten.

Da Medienhäuser die Konkurrenz untereinander immer noch als Treiber von Innovation betrachten, geben sich Journalist_innen mit solchem Ruhm auf Zeit zufrieden. Ihrem Publikum dienen sie damit eher nicht. Das hätte im Fall Wirecard von einer schnelleren Aufklärung profitiert – zumindest die wichtigen Fonds hätten dann wohl ihre Posten zeitiger umgeschichtet und Anleger_innen vor herben Verlusten bewahrt. Kein Wunder, dass sich deutsche Mediennutzer_innen in Umfragen einigermaßen skeptisch dazu äußern, ob Journalist_innen mächtige Personen und Unternehmen ausreichend kontrollieren. Nur 37 Prozent gaben das in der deutschen Stichprobe des Digital News Report 2019 zu Protokoll, jüngere Leute waren noch deutlich skeptischer.

Große investigative Recherchen scheitern einerseits oft daran, dass dafür nur die wenigsten Redaktionen Kapazitäten haben. Andererseits fehlen vielen Reporter_innen dafür auch Handwerk und Training. Wie man sich Schritt für Schritt an eine Hypothese heran arbeitet und dann genügend Material und Daten anhäuft, um sie zu belegen oder zu verwerfen, lernt man nicht, wenn man im Volontariat stundenlange Newsdesk-Dienste absolvieren, im Akkord Seiten bauen oder Agenturen plus Google zu sendefähigem Material verquicken muss. Und mit ein, zwei schnellen Interviews zwischendurch ist es auch nicht getan.

Die Journalisten-Ausbildung sollte sich deshalb lieber früher als später darauf werfen, Reporter_innen in investigativen Methoden zu trainieren. Denn die Zukunft des Journalismus liegt genau auf den Feldern, auf denen andere nichts zu bieten haben in einer Welt, in der jeder veröffentlichen kann. Kommentieren kann jede/r Blogger_in, wenngleich nicht immer so, wie man das auf der Journalistenschule lernt. Auf künstliche Intelligenz gestützte Programme werden früher oder später in der Lage sein, Meldungen aller Arten selbst zu schreiben. Selbst einfache Interviews können Bots schon führen, die Homepage bestücken sowieso. Aber in mühevoller Denk- und Such-Arbeit Missständen auf die Spur zu kommen, und dies mit unabhängiger Perspektive zu tun, für diese Aufgaben ist kein anderer Berufszweig gleichermaßen ausgestattet.

Außerdem sollten Medienmarken genau darüber nachdenken, wen sie als Konkurrent_innen und wen als möglichen Kooperationspartner_innen betrachten. Investigativer Journalismus ist häufig teuer und aufwändig, da geht es nicht ohne Zusammenarbeit. Nun muss nicht jede Recherche in Projekte à la Panama Papers ausufern – die Großrecherche wäre ohne das beteiligte internationale Journalisten-Konsortium gar nicht möglich gewesen. Aber im Sinne der Bürger_innen zu denken heißt oft, alte Eitelkeiten über Bord zu werfen. Man kann Stoffe dann immer noch so aufbereiten, dass sie vor allem die eigenen Nutzer_innen begeistern. In der digitalen Informations- und Ablenkungswelt konkurrieren Medienmarken häufig nicht mehr gegen einen anderen Verlag. Ihr größter Gegner ist die Abstinenz des Journalismus.

Dieser Kommentar wurde am 2. Juli im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School veröffentlicht.

Forschung hilft – übrigens auch dem Journalismus

Der Intendant eines großen deutschen Senders ließ die Forscherin nicht einmal ausreden. Sie hatte Zahlen über das sinkende Vertrauen der Bürger in den Journalismus präsentiert, doch der Medienmann, in überschaubarer Runde von gleichrangigen Kollegen umgeben, wiegelte ab. Sein Haus habe seine eigenen Zahlen, sagte er, und denen zufolge stehe man recht gut da. Noch Lust auf eine Debatte? Eben. Die Szene, so beobachtet vor zwei Jahren, steht exemplarisch für eine Branche, die ihren ganzen Stolz aus der täglichen Praxis zieht. Untereinander mögen sich Journalisten und Journalistinnen öffentlich zerfleischen über missratene Kommentare, lückenhafte Recherche, unangebrachte oder fehlende Entschuldigungen, vor allem, wenn die Konkurrenz betroffen ist. Aber gegen Kritik aus der Wissenschaft stehen Praktiker_innen gerne wie eine Wand aus Selbstbewusstsein: Davon, wie es da draußen zugeht, hätten diese Akademiker keine Ahnung.

Dieselben Kolleg_innen, die sich angesichts der Corona-Krise für die wissenschaftliche Methodik stark machen, die nicht auf Wahrheiten baut, sondern auf den stets suchenden Prozess der Wahrheitsfindung, schalten schnell auf Durchzug, wenn Forschung ihnen Erkenntnisse über die eigene Zunft präsentiert. Sagen Wissenschaftler_innen, das Publikum erlebe Journalismus als zu negativ, fühle sich von der Masse der Nachrichten erdrückt, wünsche sich eine Trennung von Meinung und Kommentar oder störe sich am zuweilen überheblichen Ton, kontern Held_innen des Redaktionsalltags ziemlich sicher mit einem „ja, aber …?“ Wie groß da wohl die Stichprobe war, wen man befragt habe, und ob speziell diese Methodik generell irgendeinen Schluss darauf zulasse, was das Publikum wirklich denke. Schließlich habe man ja all diese Software-Analyse-Tools, die einem ziemlich genau zeigten, was gut laufe und was nur so, nun ja, mittelmäßig. Die Botschaft: Bleibt ihr in eurem Elfenbeinturm und lasst uns arbeiten.

Ist das zugespitzt? Vielleicht. Tatsächlich nimmt das Interesse an Publikumsforschung gefühlt in dem Maße zu, in dem das Publikum den Medienmarken abhandenkommt. Digital orientierte Journalist_innen arbeiten sich durchaus schon mal in den Digital News Report des Reuters Institutes aus Oxford ein, die größte fortlaufende Untersuchung über den weltweiten digitalen Medienkonsum. Die neueste Ausgabe wurde übrigens am 16. Juni veröffentlicht, sie deckt 40 Märkte und Länder auf allen Kontinenten ab, 80.000 Menschen wurden befragt. Sie abonnieren Newsletter des Nieman Lab aus Harvard oder des Tow Center for Digital Journalism an der Columbia University. Und die eine oder der andere schaut sich sogar bei deutschen Institutionen um, dem Leibniz Institut für Medienforschung Hans Bredow Institut beispielsweise oder dem IfKW an der LMU München. Aber dass man gemeinsam Ideen spinnt, Formate entwickelt und entsprechend begleiten lässt, ja an der Zukunft des Journalismus bastelt, kommt höchst selten vor.

Das ist schade, denn beide Seiten hätten sich gegenseitig so viel zu sagen. Die akademischen Institute böten den nötigen Abstand zum täglichen „das funktioniert nur so“ und „die Leser mögen das“. Die Praktiker_innen könnten den Forscher_innen haufenweise relevante Themen liefern und beim Studien-Design helfen.

Mit dem Einzug von Datenanalyse und Dashboards in die Redaktionen glauben zwar viele Newsdesk-Teams solche Unterstützung nicht länger zu brauchen. Schließlich sehe man ja nun im Überfluss, welche Stücke bei den Leser_innen und Abonnent_innen „funktionieren“. Dabei vergessen sie aber oft, dass Metriken nur über diejenigen Nutzer Auskunft geben, die man bereits gewonnen hat. Warum man welche Gruppen oder Bevölkerungsschichten gar nicht erreicht, was ihnen fehlt oder sie womöglich abstößt, lässt sich nur mit anderen Mitteln ergründen.

Noch spannender wären regelmäßige Forschungsaufenthalte im Lager des jeweils anderen. Frische Ideen und Impulse schaden weder der Wissenschaft noch den Redaktionen, die Akademiker_innen bekämen eine ordentliche Praxis-Dusche, die Praktiker_innen könnten sich mit Erkenntnissen für ihre Arbeit munitionieren. So etwas ließe sich sogar als Incentive organisieren, das Ermüdung vorbeugt und beim Auftanken hilft.

Okay, solche Vorstellungen klingen einigermaßen naiv für diejenigen, die ein bisschen etwas vom Geschäft verstehen. Wissenschaftler_innen in die Praxis zu schicken würde bedeuten, den zurückbleibenden Kolleg_innen einen Vorsprung im Rennen um die längste akademische Veröffentlichungsliste zu lassen. Denn journalistische Publikationen haben darauf nichts zu suchen. Und Journalist_innen, die das Redaktionsgebäude Richtung Akademie verlassen, werden ziemlich schnell als „Seitenwechsler“ abgeschrieben. Noch stärker als das unterschiedliche Tempo und die Erfolgsmetriken beider Berufe steht einem solchen Austausch die Hybris beider Seiten entgegen.

In Deutschland ist die Trennung dabei besonders scharf. Die eine Partei glorifiziert das Praktische und wertet das Akademische ab – eine Einstellung, die ihre historischen Wurzeln in der Betriebsamkeit des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit haben mag: Zum Forschen blieb damals keine Zeit, es wurde aufgebaut. Die andere Partei blickt leicht verächtlich auf diejenigen herab, die jeden Tag ein neues Fass aufmachen, statt den Dingen anständig auf den Grund zu gehen. Akademischer Stolz ist auch ein Teil Entschädigung für schlechte Bezahlung und mühsame Karrierewege. So lässt man sich lieber gegenseitig in Ruhe und geht seiner Wege.

Für den Journalismus selbst ist das bedauerlich. Aber vielleicht ändert sich das noch. Fast wünscht man sich einen Christian Drosten der Medienforschung herbei, der wie der berühmte Virologe regelmäßig ausführlich und in aller Seelenruhe erklärt, wie publikumsgerechter Journalismus wirklich geht – Irrwege eingeschlossen. Es dürfte übrigens auch eine Christiane sein.

Dieser Beitrag wurde am 26. Juni 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School publiziert.

Mehr Mensch oder mehr Journalist? Es ist kompliziert, besonders in den sozialen Netzwerken

Für Evan Smith, Mitgründer des gemeinnützigen News-Portals Texas Tribune, schien die Sache klar zu sein. „Wir nehmen Unparteilichkeit ernst wie einen Herzinfarkt“, sagte er 2018 auf einer Lokaljournalismus-Tagung in Oxford. Die mehrfach preisgekrönte Publikation hat sich auf Politikjournalismus spezialisiert, und ein paar Regeln müssten da sein, fand Smith: Er und sein Team gehörten keinen Parteien an, gingen nicht wählen, stellten keine Wahlplakate in ihre Vorgärten, auch Autoaufkleber seien tabu.

Viele Bürger*innen würden vermutlich laut klatschen bei dieser starken Ansage. Aber gerade in diesen Tagen, in denen Rassismus auch innerhalb der Medienbranche das große Thema ist, zeigt sich: So einfach ist das mit der Unparteilichkeit nicht. In amerikanischen Medienhäusern mussten jüngst mehrere Redaktionsleiter ihre Ämter niederlegen oder ruhen lassen, weil ihre Belegschaften ihnen zu viel Neutralität zum Vorwurf gemacht haben. Die Redakteure, zum Beispiel der Chef des Meinungsressorts der New York Times, hatten Gastbeiträge oder Überschriften durchgehen lassen, von denen sich ihre Mitarbeiter persönlich angegriffen, ja bedroht gefühlt haben: als Menschen, nicht als Journalisten. Und in diesem aufgeheizten Klima machten die Medienhäuser gar nicht erst den Versuch, die kritisierten Beiträge als legitime Ausdrücke von Meinungsfreiheit zu verteidigen. Sie entschieden sich für den Schutz ihrer Belegschaften. Zurecht, denn die Freiheit des einen endet immer dort, wo die des anderen beginnt. Der Punkt, an dem sich beide berühren, ist Aushandlungssache. Und es ist an der Zeit, jahrzehntelang erduldetem Unrecht mehr Gewicht zu geben.

Nur weil man eine Haltung hat, ist man auch als Journalist*in noch keine Aktivist*in. Die brillante Kolumnistin der Washington Post, Margaret Sullivan, hat das kürzlich in einem Beitrag treffend beschrieben: Journalist*innen seien der Suche nach der Wahrheit verpflichtet und dem Streben nach einer besseren Gesellschaft. Die Schritte auf dem Weg dorthin gilt es zu verteidigen. Manche Konflikte zwingen Journalist*innen deshalb dazu, sich auf eine Seite zu stellen: immer dann, wenn es um den Schutz der Demokratie, der Menschenwürde oder anderer existenzieller Güter wie der öffentlichen Gesundheit oder der Sicherheit und Ordnung gilt. Aber welche Güter sind existenziell? Hier wird es kompliziert. Was für die eine Minimum-Standard ist, betrachtet der andere als verhandelbar.

Schon im Redaktionsalltag sind die Grenzen fließend, wenn es um die Vereinbarkeit von Berichterstattung und persönlichen Werten geht. Aber besonders schwierig wird es, wenn sich Journalist*innen in den sozialen Netzwerken bewegen. Dort ist jeder zuerst Individuum, sieht sich aber mit Anforderungen von Redaktionen konfrontiert, die schlicht nicht zu erfüllen sind. Einerseits sollen Reporter*innen und Redakteur*innen mit möglichst hoher Präsenz den Ruhm ihres Hauses mehren, der Schlüssel dazu ist Reichweite. Und wer etwas vom Geschäft versteht weiß: Die bekommt man nicht mit dem pflichtschuldigen Klick auf das Retweet-Symbol. Für Medienhäuser ist es ein Gewinn, wenn sich ihre Stars als Neben-Marken profilieren und auf diese Weise Publikum binden. Aber zu viel Chuzpe ist den meisten Chefredakteur*innen auch nicht recht. Die Kolleg*innen mögen sich doch bitte allzu drastische Meinungsäußerungen oder rüde Sprache verkneifen, heißt es dann. Man trete schließlich doch immer im Namen des Hauses auf, allen „views are my own“-Bemerkungen in der Twitter-Bio zum Trotz. Es haben schon einige Journalist*innen ihren Job verloren, weil ihnen – womöglich zu fortgeschrittener Stunde – ein paar Dutzend Zeichen im Ton verrutscht waren.

Die New York Times hat kürzlich ein internes Dokument des Innenpolitik-Ressorts beim Konkurrenten Washington Post gezogen, das es in sich hat. Auf zwölf eng beschriebenen Seiten, die in vier Empfehlungen münden, hat eine Kommission darin zusammengetragen, was die Belegschaft von den Regeln und Praktiken im Umgang mit sozialen Netzwerken hält. Nicht viel, sei hier zusammengefasst. Beklagt werden die beschriebenen widersprüchlichen Anforderungen, Intransparenz, eine fehlende Strategie aber auch einen Mangel an Fairness beim Durchsetzen von Regeln. „Wer ein Star ist, kann sich alles erlauben“, heißt es in einem Kommentar. Andere Kolleg*innen hingegen würden abgemahnt, wobei sich Redaktionsleiter dabei zu sehr dem Herdentrieb hingäben. Gleichzeitig unternehme die Chefredaktion zu wenig, um Mitarbeiter*innen zu verteidigen oder zu schützen, wenn sie mit Hasskommentaren attackiert werden. Kulturell tue sich ein Graben zwischen den Generationen auf. Vor allem Frauen und Minderheiten würden häufig im Regen stehengelassen. Lehne man aus all diesen Gründen ein Engagement in den sozialen Netzwerken ganz ab, schade das womöglich der eigenen Karriere, beklagten die Reporter*innen. Schließlich sei reges Posten ein Weg, intern und extern auf sich aufmerksam zu machen. Gerade Twitter ist schließlich ein Journalisten-Biotop.

Ein solches oder ähnliches Papier ließe sich vermutlich in fast jeder Redaktion erstellen. Denn Chefredaktionen belassen es häufig bei dem Hinweis, man möge eben gesunden Menschenverstand walten lassen und sich so verhalten wie auch sonst im öffentlichen Raum. Nur sind die Netzwerke eben ein Raum, der nach den Regeln der Plattform-Konzerne bewirtschaftet wird, die Aufmerksamkeit verstärken. Fazit: Die Kolleginnen und Kollegen werden von ihren Häusern als Journalisten gefordert, als Menschen aber allein gelassen.

Was also tun? Um das vorwegzunehmen: Ein Rezept, das alle Seiten zufriedenstellt, gibt es nicht. Wichtig sind aber ein paar Dinge. Dazu gehören eine klare Strategie, was die Marke mit Hilfe sozialer Netzwerke erreichen will. Erwartungen an die Mitarbeiter sollten deutlich formuliert werden, es muss klar sein, was vertretbar ist und was rote Linien überschreitet. So wie jede große Medienmarke einen Style-Guide hat, sollte es auch Anleitungen für das Navigieren von Twitter, Facebook und Co. geben. Das hilft dabei, Regeln transparent und fair durchzusetzen.

Manch einer mag solche Vorgaben als Einschränkung persönlicher Freiheiten betrachten. Aber die sollte akzeptabel sein angesichts der Privilegien, die der Beruf mit sich bringt. Journalismus ist nun einmal eine Dienstleistung am Bürger, ihr Kern ist Glaubwürdigkeit, gezahlt wird mit Vertrauen. Ausbrüche von Häme, Wut und Sarkasmus dienen in der Regel niemandem, sie fachen nur jene Hasstiraden an, vor denen andere dann geschützt werden müssen. Was zum wichtigsten Punkt führt: Wer seine Mitarbeiter*innen dazu ermutigt, sich auf dem Tummelplatz der sozialen Netzwerke zu behaupten, muss ihnen auch beistehen, wenn sie sich dort Blessuren holen.

Dieser Text erschien zuerst am 12. Juni 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School.