Am 6. Juni 1971 erregte das Hamburger Magazin Stern mit einem Cover weltweites Aufsehen. „Wir haben abgetrieben“, ließ es 374 bekannte und unbekannte Frauen im Heft bekennen, 28 davon auf dem Titelbild. Das war damals mehr als ein Tabu-Bruch, es verstieß gegen das Gesetz. Im November 2020 schmückte wieder eine Promi-Galerie das Blatt: „Ich bin eine Quotenfrau“, liest man da, 40 erfolgreiche Frauen bekennen sich dazu. Die Assoziation wird gewollt gewesen sein, gesellschaftliche Befindlichkeiten erklären sich oft über die geltenden Tabus. Man kann die Aktion als Fortschritt verstehen oder mit leichtem Befremden zur Kenntnis nehmen, was heute als radikal gilt.
Seitdem sich die Bundesregierung zur Frauenquote bekannt hat, werden jedenfalls auch die Leitartikel zum Thema wieder entstaubt. Nun, so mahnen deren Autor*innen an, müssten sich neben den Zahlen endlich Unternehmenskulturen ändern. Schließlich soll Vielfalt nicht nur von der Fototapete strahlen, sondern auch im vielfach belegten Sinne positiv wirken. So weit, so richtig. Allerdings lassen die Kommentator*innen dabei so gut wie nie durchblicken, wie es mit der Gleichstellung in ihren eigenen Redaktionen aussieht.
Eine solche Offenbarung wäre zwar unüblich aber interessant. Denn in den meisten Medienhäusern ist (wenn überhaupt vorhanden) schon das Zahlenwerk peinlich, die Kultur, nun ja. Dass gut gemeint nicht gut gemacht ist, lässt sich in diesen Fällen wörtlich verstehen.
Nun ist das Ganze eine komplexe Sache. Früher konnten CEOs das Thema „Frauenförderung“ noch mit Verweis auf den Betriebskindergarten abmoderieren. Bei der Kultur aber geht es ans Eingemachte: Es handelt sich um diejenigen Werte, Normen und Einstellungen, die den Unternehmensalltag bestimmen, ohne dass es dazu eine Ansage bräuchte. Dummerweise sind es genau jene ungeschriebenen Gesetze, die die Organisation bislang erfolgreich gemacht haben, zumindest nach Lesart ihres Führungspersonals. Deshalb gleicht der Aufruf zum Kulturwandel in den Augen mancher der Ansage, nun mal ordentlich an genau dem Ast zu sägen, auf man so gemütlich sitzt. Und das gerade in Zeiten, wo der Sturm ohnehin schon kräftig am Baum rüttelt. Das gilt in Medienhäusern genau wie anderswo auch.
Die Medienbranche leidet zudem noch unter einer Besonderheit. Vor allem in Redaktionen ist man oft stolz darauf, dass hier Journalist*innen führen und keine Manager*innen, die womöglich noch das Vokabular aus der Business School importieren. Professionelles Management ist in diesen Biotopen oft sehr kluger, schlagfertiger und beobachtungsstarker Individualist*innen nahezu verpönt. Das macht die Sache nicht leichter, aber die Unternehmenskultur eben auch nicht besser. Stöhnen die Mitarbeiter*innen in großen Häusern unter hierarchischen Strukturen, überkommenen Belohnungssystemen und Diskussions-Ritualen, in denen sich alles in Richtung Alpha-Mensch ausrichtet wie an einem Nordstern, beklagen sich jene in Neugründungen oft über nicht minder anstrengende und schwer zu durchblickende Buddy-Systeme. Kein Wunder, dass sich Neuzugänge, die eigentlich mehr Vielfalt bringen sollten, entweder mit Verve an die herrschende Kultur anpassen oder den Laden nach einer Weile genervt wieder verlassen, ohne viel bewirkt zu haben.
Wer in Sachen Vielfalt wirklich etwas verändern will, kommt nicht umhin, ein paar Instrumente in die Hand zu nehmen. Da geht es um professionelles Recruitment, Onboarding und Coaching. Wichtig ist ein anständiges Zahlenwerk dazu, wie sich die Belegschaft zusammensetzt und wie hoch die Verweildauer einzelner Gruppen ist. Außerdem sollte nicht nur der Input angeschaut werden (wer trägt hier bei?), sondern auch der Output (produzieren die Beitragenden tatsächlich mehr Vielfalt?). Und das in der Mitte darf keine Black Box bleiben. Wer und wie wird im Unternehmen belohnt, wie werden Diskussionen gefördert und gelenkt und wie holt man die ins Boot, die in der alten Kultur großgeworden sind und ihre Privilegien nun verteidigen? Da gibt es viel zu tun.
Für die Studie „Changing Newsrooms 2020“ hat das Reuters Institute for the Study of Journalism in Oxford kürzlich leitende Medienschaffende aus aller Welt zum Thema Vielfalt und Talent-Management befragt. Immerhin mehr als jede*r Zweite gab an, dass in ihrer*seiner Organisation Daten über die Diversität der Belegschaft und des Managements gesammelt würden, 46 Prozent sagten, bei ihnen sei jemand speziell für das Thema abgestellt, und immerhin ein Drittel gab zu Protokoll, es sei auch ein Budget dafür eingeplant. Allerdings war die Studie nicht repräsentativ, gibt also nur das Bild derjenigen wieder, die auch gerne geantwortet haben. Die wiederum waren erstaunlich selbstzufrieden. 40 beziehungsweise 43 Prozent stimmten der Aussage zu, sie seien gut darin, Mitarbeitende unterschiedlicher sozialer Herkunft und Ethnien in der Organisation zusammenzubringen. Erstaunliche vier von fünf Befragten gaben an, in Sachen Geschlechtergerechtigkeit einen guten Job zu machen.
Die Realität sieht anders aus, wie eine andere in diesem Jahr veröffentlichte Studie des Instituts zeigt. Demnach steht der Anteil an Chefredakteurinnen weltweit in einem starken Missverhältnis zum Anteil der Journalistinnen in Redaktionen. Die regelmäßig von Pro Quote veröffentlichten Zahlen für Deutschland zeigen, dass es auch hierzulande noch viel Luft nach oben gibt. Zudem kann Statistik über wahre Macht- und Einflussverhältnisse hinwegtäuschen. Zweifelsohne gibt es einen – allerdings nicht statistisch gestützten – Trend zur (jüngeren) Digitalchefin, die sich häufig auch Chefredakteurin nennen darf. Die Fäden ziehen trotzdem fast überall Chefredakteure und CEOs traditioneller Prägung. Man müsse es ja nicht gleich übertreiben mit dem Wandel, das mag die Denke der Gesellschafter sein. Oft allerdings fängt er deshalb gar nicht erst an. Die alte Kultur lebt weiter, der flammende Leitartikel zur Frauenquote verhallt.
Der Stern übrigens ist laut der Statistik von Pro Quote ein Vorbild in Sachen Gleichstellung, zumindest den Zahlen nach. Das mag auch daran liegen, dass das Mutterhaus Gruner+Jahr von CEO Julia Jäkel geführt wird. Für das Cover hat sie sich allerdings nicht fotografieren lassen.