Die KI-Revolution: Darauf müssen Redaktionen aufpassen

Man muss nicht von Technik besoffen sein, um sich all die Potenziale auszumalen, die in der Entwicklung von Bots wie ChatGPT stecken – auch für den Journalismus. Der in dieser Woche erschienene Trend-Report des Reuters Institutes for the Study of Journalism erwartet gar ein „Jahr des Durchbruchs“ für den Einsatz Künstlicher Intelligenz in Redaktionen. Schon länger setzen viele von ihnen KI ein, vor allem für Leseempfehlungen, aber auch für automatisierte Textproduktion. Nun könnte der „Roboterjournalismus“ aber ein neues Level erreichen. 

Der im November gelaunchte Bot von Open AI beantwortet in Windeseile Fragen und hilft sogar bei der Erstellung von Interviewfragen. Er fasst Texte zusammen oder redigiert sie, er spuckt Literaturlisten aus und komponiert sogar Cartoons. Die Möglichkeiten sind grenzenlos. Der Bot von Open AI ist das, was man auf Englisch einen Game Changer nennt. Nimmt man dazu noch die Möglichkeiten, auf Basis von Recherchen animierte Filme zu produzieren, wie das zum Beispiel die Redaktion von Semafor ausprobiert, drängt sich der Eindruck auf: Bald ist alles möglich. 

Und genau hier liegt eine riesige Herausforderung für den Journalismus. Denn schon heute fehlt es in den meisten Medienhäusern vor allem an Fokus und an Klasse, keinesfalls an Masse. Je mehr möglich ist, umso wichtiger wird es zu entscheiden, was man tut, und was man lieber lässt. Einer Branche, die ohnehin lieber mit Bauchgefühl arbeitet als mit Strategie, wird genau das besonders schwerfallen. 

Die Chancen

Unter dem Strich dürfte KI dem Journalismus deutlich mehr nützen, als dass sie ihm schadet. Das JournalismAI Project an der London School of Economics ist ein Fundus entsprechender Innovationen, inklusive Trainingsprogramm. Gerade kleine Redaktionen profitieren von KI, weil sie kleineren Teams mehr leisten können. Software wird Routinearbeiten erledigen, während Reporter tiefer recherchieren – und auch das mit Hilfe von KI. Der Faktencheck wird einfacher, hyperlokale Berichterstattung möglich, Personalisierung von Inhalten und Kundenbindung leichter zu automatisieren.

Vielfalt und Inklusivität lassen sich besser erreichen, wenn Algorithmen dies kontrollieren oder gar steuern. Bei der kanadischen Globe and Mail zum Beispiel bestückt die Software Sophi die Homepage und stellt unter anderem sicher, dass ethnische Minderheiten inhaltlich repräsentiert sind. Anderswo machen automatisierte Übersetzungen auch in seltene Sprachen Beiträge neuen Zielgruppen zugänglich. Für diejenigen, die schlecht lesen können, gibt es Text-to-speech- Software, für solche mit Gehörproblemen maschinelle Transkription. Avatare können dieselbe Nachricht je nach Zielgruppe im entsprechenden Look, Stil, und Komplexitätsgrad vermitteln. Software wie Dall-E hilft dabei, komplexe Inhalte in Bilder zu pressen. Das bedeutet auch, dass verschiedene Audiences präziser bedient werden können. Die Hoffnung besteht, mit neuen Mitteln einen größeren Teil derjenigen zu erreichen, die das Nachrichtengeschehen bislang ignoriert haben – womöglich, weil sie sich nicht angesprochen fühlten.

Die Risiken

Natürlich bestehen auch Risiken. Die Gefahr wächst, auf manipulierte Inhalte hereinzufallen, denn davon wird es reichlich geben. Journalisten werden ihre Rolle als Gatekeeper neu ausfüllen müssen. Bislang sind die Bots darauf trainiert, plausible Inhalte abzuliefern, nicht 100 Prozent Faktentreue. Fachleute sagen, die Lernkurve der KI sei steil, die Fehlerquote sinke rasant. Aber derzeit kann vermutlich niemand mit Sicherheit sagen, ob die maschinellen Möglichkeiten zu mehr Lügengeschichten oder akkuraterer Qualitätskontrolle führen werden. Und natürlich fragen sich Journalisten, wie ihre Aufgaben und Arbeitsperspektiven sich entwickeln werden in einer Welt, in der Maschinen schneller und womöglich verständlicher schreiben und produzieren, als sie das je könnten.

Die Sorgen sind berechtigt. Vor allem jene Kolleg:innen, denen es an Lust, Zeit, Ressourcen und Energie zum Lernen fehlt, könnten am Ende leer ausgehen. Viele Jobs werden sich verändern. Viele Fähigkeiten, die früher nachgefragt waren, stellt die Technik über Nacht in den Schatten. Aber der Einzug von KI in Redaktionen birgt auch Gutes für den Arbeitsmarkt. Gelten Verlagshäuser zum Beispiel heute für Tech-Talente noch als angestaubt, könnten sie zu verlockenden Arbeitgebern werden, wenn KI-Versiertheit künftig zum Job-Profil gehört. Entsprechendes Know-how macht Journalisten auch für andere Branchen attraktiv und damit leichter vermittelbar. Redaktionsarbeit dürfte interessanter werden, wenn Roboter die Routine-Jobs erledigen. 

KI werde Medienunternehmen dabei helfen, „mehr mit weniger zu erreichen und Möglichkeiten in der Produktion und Verteilung besserer Inhalte zu eröffnen“, schreibt Nic Newman im Trend-Report des Reuters Institutes, der auf einer nicht-repräsentativen Umfrage unter Top-Führungskräften in Medienhäusern weltweit beruht. „Aber sie wird auch zu neuen Dilemmata führen, wie diese machtvollen Technologien ethisch und transparent genutzt werden können“, so Newman weiter. 

Eine Frage der Ethik

Wenn sich Journalisten künftig mehr mit Ethik beschäftigen müssen, um nicht von KI überrumpelt zu werden, ist das zunächst einmal eine gute Sache. Tatsächlich ist es zwingend überall dort, wo lernende Software Menschen ersetzt, denn werden Fehler und Vorurteile maschinell skaliert, sind die Schäden potenziell immens. Genauso wichtig wird es aber sein, dass Medienhäuser und Redaktionen ihre Ziele und die dazu passende Strategie penibel entwickeln. Schon bei der digitalen Transformation haben das viele versäumt. Etliches, was nach Innovation klang, wurde gemacht, ohne vorher zu überlegen, auf welche Weise es zum Erfolg von Produkten, Marken oder Missionen beitragen könnte. Man pilgerte lieber zur New York Times, als sich mit den Bedürfnissen der potenziellen Nutzer in der Nachbarschaft zu beschäftigen. So wurde viel Geld und Energie verbrannt. Diese Fehler gilt es zu vermeiden.

Die Versuchung, immer noch mehr zu produzieren, schlicht, weil es möglich ist, könnte eines der größten Probleme des Journalismus noch verschärfen. Laut dem Trend-Report macht die wachsende Nachrichtenmüdigkeit ihres Publikums schon jetzt 71 Prozent der befragten Führungskräfte Sorgen. Dieser kann man nicht mit mehr Masse begegnen, sondern mit Angeboten, die relevant und bedürfnisgerecht sind. Ob sie mit oder ohne KI erstellt werden sollten, das müssen Menschen entscheiden. 

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 11. Januar 2023

Von KI zu EthI – Wie Künstliche Intelligenz mehr Ethische Intelligenz in Redaktionen bringen kann

Wie Künstliche Intelligenz funktioniert, das kennt man ja – zumindest glaubt man es. „Kunden, die xy gekauft haben, mochten auch yz.“ Zumindest ist das die Art von KI, auf die man als Nutzer*in von Amazon, Spotify und allerlei digital ausgespielter Werbung trainiert ist. Heraus kommt immer mehr vom Ähnlichen, so dass man sich irgendwann fragt, welche Art Welt an einem wohl vorbeiziehen mag, während man so vermeintlich gut versorgt durch seine Konsument*innen-Blase schwebt. In Erinnerung bleibt die Anekdote, die eine Medien-Forscherin erzählte. Wie die Managerin eines Plattform-Unternehmens aus dem Silicon Valley sie verständnislos angeschaut habe, als sie von einem Chefredakteur*innen-Workshop sprach. Wozu man diese Rolle denn künftig noch brauche, das übernehme doch alles die Software?

Vor einem Journalismus, der so verstanden werden würde, kann es einem nur grausen. Aber nach anfänglichen Berührungsängsten („nichts geht über uns und unser Bauchgefühl“) hat sich die Debatte unter Medienschaffenden und -Wissenschaftlern, die sich ernsthaft mit den Potentialen von KI für die Branche beschäftigen, in eine gänzlich andere Richtung entwickelt. Mittlerweile geht es darum, wie man den Journalismus mithilfe von Software nicht nur stärken, sondern insbesondere ethischer machen kann. So wie die Emotionale Intelligenz (EI) den Begriff der Intelligenz erweitert hat, sollte also eine Ethische Intelligenz die KI ergänzen, man könnte sie EthI nennen.

Der erste Schritt dahin ist, es zu wollen. Der Bayerische Rundfunk ist dabei kürzlich vorgeprescht: Er hat sich Richtlinien für eine ethische KI verordnet, zehn Prinzipien, auf deren Grundlage entsprechende Software im eigenen Haus entwickelt und angewandt werden soll. Es lohnt sich, die Grundsätze zu lesen, denn sie lassen sich auch auf den Journalismus insgesamt anwenden. Es geht um den verantwortungsvollen Einsatz von Ressourcen, bestmögliche Transparenz und Debatte, Kooperationen und begleitende Evaluation. Anders als bei den von Facebook und Co. verordneten Black Boxes, die nur sehr wenig preisgeben über die Algorithmen, nach denen sie funktionieren, möchte der BR wissen, mit welchen stereotypischen Annahmen Software möglicherweise gespickt ist. Und die Kolleg*innen wollen die Spielregeln selbst bestimmen, im Verbund mit anderen. Ziel ist ein Journalismus, der endlich die Standards erfüllt, die sich Redaktionen oft selbst gesetzt haben, an denen sie aber ebenso oft gescheitert sind. Es geht um Vielfalt und Repräsentation. Der Mehrwert für die Nutzer*innen muss im Mittelpunkt stehen.

Diese Grundprinzipien sind – ganz im Geist der Kollaboration – nicht in einem Chefbüro entstanden. Uli Köppen, Teamleiterin beim BR, arbeitet im Journalism and AI Project der London School of Economics mit, einer internationalen Kooperation von klugen Köpfen aus dem Journalismus, die sich medienübergreifend mit den Potenzialen und Risiken von KI für die Branche auseinandersetzen. Man lernt dort gemeinsam und voneinander, probiert aus, trägt zusammen, verwirft Nutzloses und feiert Erfolge. Das hat den Vorteil, dass nicht jede Organisation die gleichen Fehler machen und Erfolgsgeschichten entwickeln muss. Den bitteren Konkurrenzkampf, den sich Medienhäuser und einzelne Titel jahrzehntelang geliefert haben und noch liefern, haben die Weitblickenden unter den Journalist*innen und Medienmanager*innen hinter sich gelassen. Sie wissen: Die größte Konkurrenz sitzt überall dort, wo man sich bewusst und unbewusst längst angeschickt hat, Qualitätsjournalismus feindlich zu übernehmen.

Beim „Journalism and AI Festival“ mit seinen 15 Panels wurde kürzlich deutlich, welche vielfältigen Möglichkeiten in der KI für den Journalismus stecken, aber auch, dass die Entwicklung noch ziemlich am Anfang steht (alle Panels lassen sich hier
nachhören). Auch das ist gut. Noch lässt sich vieles gestalten. Redaktionen, die sich jetzt nicht mit dem Thema beschäftigen, sollten später nicht sagen, ein Trend habe sie überrollt.

Natürlich birgt die KI auch Gefahren. Verleger*innen unter Kostendruck könnten deren Potenziale nicht für den Journalismus sondern allein als Sparprogramm nutzen. Das Abschöpfen und Interpretieren von Daten könnte aus dem Ruder laufen, exzessive Personalisierung dazu führen, dass Journalismus trennt, statt Gemeinschaft zu stiften. Sehr real ist die Gefahr eines neuen Überangebots. Vor lauter Freude an dem, was technisch möglich ist, mag so manche Redaktion über das Ziel hinausschießen und Nutzer*innen mit allem bombardieren, was sie schon gestern nicht wollten. Dabei muss Journalismus vor allem das: Orientierung bieten. Wäre doch erstaunlich, wenn KI dabei nicht helfen könnte. Allerdings nach Regeln, die von Journalist*innen gestaltet werden.

Dieser Text erschien am 18. Dezember 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School. 

Das Ende des journalistischen Bauchgefühls

Warum tun sich Journalisten und ihr Publikum manchmal so schwer miteinander? Auch, weil häufig das Maß nicht stimmt. Das richtige Maß an Tempo, an News, Verständnis, Vorwissen, Vielfalt. Und Teamarbeit.

Da waren sie wieder, die zwei Seelen in meiner Brust, und sie rangen heftig miteinander. Als die amerikanische Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg im September ihren Kampf gegen den Krebs verlor, wollte sich die Leserinnen-Seele in tiefem Respekt vor der Juristin verneigen, die zur Ikone geworden war. Bis zuletzt hatte RBG, wie sie von ihren Fans fast zärtlich genannt wurde, am Supreme Court für die gleiche Behandlung von Frauen und Männern, für die Rechte der Schwachen gefochten. Im Angesicht des Todes dieser großen Persönlichkeit hätten auch die Redaktionen innehalten müssen, fand die Leserin. Wenigstens für ein paar Stunden hätten sie allein Ruth Bader Ginsburg würdigen können.

Die Journalistinnen-Seele in mir hingegen verstand den Reflex nur allzu gut, der durch praktisch alle Schlagzeilen schwappte. Weiterdrehen, heißt der im Branchen-Jargon, zeigen, was man drauf hat an analytischer Schärfe und politischem Verstand, nicht stehenbleiben beim Ereignis, sondern die Folgen ausleuchten. Bader Ginsburg wird geahnt haben, dass Präsident Donald Trump, dem sie noch 87-jährig und schwerkrank die Stirn geboten hatte, selbst die Nachrichten über ihr Lebensende dominieren würde.

Journalismus bedeutet auch Atemlosigkeit. Schneller sein als andere, besser als die Konkurrenz, weiter denken, pointierter kommentieren – manchmal wissen die Redakteurinnen, Reporter und Kommentatorinnen gar nicht mehr so genau, wen sie damit eigentlich beeindrucken wollen: wirklich das Publikum? Oder vielleicht doch eher den Ressortleiter, die Chefredakteurin, die Kollegen in einer von Krisen gezeichneten Branche? Oder gar nur sich selbst? Man hat das schließlich so gelernt. Erster sein ist wichtig, und wenn man Zweiter ist, muss man wenigstens besser sein. „Better right than first“ heißt ein gängiger Lehrsatz in vielen Redaktionen, die natürlich trotzdem alles Erdenkliche daran setzen, „first“ zu sein.

Wissen die Leser*innen das Tempo zu schätzen?

Aber wie sehen das diejenigen, für die dieser ganze Aufwand eigentlich betrieben werden sollte: die Leser, Hörerinnen, Zuschauer und Nutzerinnen? Wissen sie das Tempo zu schätzen? Fragt man sie, fällt das Urteil recht wohlwollend aus. Rund zwei Drittel der Onlinenutzer stimmten laut dem Digital News Report von 2019 der Aussage zu, dass die Medien gut darin seien, sie über das Tagesgeschehen auf dem Laufenden zu halten. All die Push-Meldungen und eilig zusammengezimmerten Nachrichten zahlen sich also aus, könnte man meinen. Das wäre erfreulich, würde die Beurteilung anderer journalistischer Qualitäten im Vergleich dazu nicht einigermaßen steil abfallen. Gerade einmal jeder zweite Onlinenutzer attestierte den Redaktionen nämlich, die Meldungen des Tages auch angemessen zu erklären. Noch weniger Studienteilnehmer waren der Meinung, dass Journalist*innen einen guten Job dabei machen, den Mächtigen auf die Finger zu schauen. In zwei Kategorien schnitten die Medien besonders schlecht ab. Nicht einmal jeder Dritte fand, dass die ausgewählten Themen für sein tägliches Leben relevant sind. Und gerade einmal 16 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, dass die Medien in der Berichterstattung den richtigen Ton wählen. Der häufigste Vorwurf: Sie seien zu negativ.

„Die größte Herausforderung der digitalen Transformation ist nicht die Technik, sondern der Kulturwandel.“

Man kann das jetzt mit der Begründung abtun, dass das ja nur eine Umfrage ist. Man kann gar damit kontern, selbst viel gefälligere Zahlen vorweisen zu können, wie es der Intendant eines deutschen öffentlich-rechtlichen Senders einmal in kleiner Runde getan hat. Man kann aber auch darüber nachdenken. Beim Digital News Report handelt es sich immerhin um die weltweit größte fortlaufende Online-Untersuchung zum Medienkonsum. Das Reuters Institute for the Study of Journalism der University of Oxford publiziert die Studie jährlich im Juni. Im laufenden Jahr hatten sich mehr als 80.000 Nutzer aus 40 Ländern daran beteiligt, im genannten Jahr 2019 waren es nur unwesentlich weniger. Und auch wenn Durchschnittswerte in Umfragen nie die ganze Geschichte erzählen, ist die Tendenz eindeutig: Nach Meinung des Publikums ist Journalismus zwar aktuell, aber zum Teil nicht besonders relevant. Dazu sei er so negativ und in der Menge oft erschlagend, dass etwa ein Drittel der Leser*innen mindestens zeitweise zu Nachrichten-Verweigerern wird.

Ja, aber …

Wer dem Journalismus erst einmal aus dem Weg geht, weil er ihn nervt, überfordert oder ihm keinen Mehrwert bietet, der ist nicht nur als zahlender Kunde verloren. Er oder sie taucht gar nicht erst in den Nutzerdaten auf, die Präferenzen abbilden sollen und aus denen Redaktionen Schlussfolgerungen darüber ziehen, was inhaltlich „läuft“. Noch schwerer wiegt allerdings: Journalismus-Verweigerer sitzen womöglich schneller Falschmeldungen auf und sind generell weniger gut in der Lage, als Bürger*innen informierte Entscheidungen zu treffen. Die Publikumsnähe des journalistischen Angebots steht in direktem Verhältnis zur Qualität der Demokratie.

Journalist*innen reagieren auf derartige Denkanstöße häufig mit einem beherzten „Ja, aber“. Die Leser*innen verschlängen doch aber alles, was Katastrophe, Streit, Drama und Unglück in der Unterzeile habe. Die Nutzerdaten belegten dies. Investigativ-Reporter*innen widersprechen noch vehementer. Es sei schließlich ihr Job, dem Publikum schlechte Laune zu machen. Nur wenn man Missstände aufdecke, ändere sich etwas zum Guten, argumentieren sie. Beides stimmt. Die Frage ist nur: Findet der Journalismus das richtige Maß? Schließlich geht es darum, ein größtmögliches Publikum zu begeistern. Wer die Job-Beschreibung „vierte Gewalt“ ernst nimmt, darf sich nicht damit zufriedengeben, vor allem im politischen Betrieb oder von der Konkurrenz gelesen zu werden. „Warum hatten die das und wir nicht?“, diese Frage wird in den meisten Redaktionskonferenzen vermutlich mit mehr Nachdruck gestellt als: „Warum interessiert die Leute dieser Stoff nicht, und wie können wir das ändern?“

Eine zunehmend wichtige Frage für die demokratische Wirksamkeit von Journalismus ist außerdem, wen er überhaupt (noch) erreicht. Wenn man ehrlich ist, war diese Quote noch nie so grandios. Zumindest dann nicht, wenn man die gesamte Gesellschaft als Grundlage nimmt. Den Qualitätsmedien ist es zum Beispiel immer schon viel schwerer gefallen, Leserinnen – in diesem Fall bewusst in der weiblichen Form – für sich einzunehmen. Insbesondere bei Wirtschaftstiteln war (und ist) die Leserschaft zu rund 80 Prozent männlich. Das liegt nicht daran, dass sich Frauen nicht für Wirtschaft oder Politik interessieren, im Gegenteil. Viele von ihnen fühlen sich nur nicht angesprochen von einem Journalismus, der sich in Ton und Inhalt rauf und runter um Wettbewerb, Sieg und Niederlage, Helden und gefallene Helden dreht. Leserinnen begeistern sich tendenziell mehr für Auswirkungen von Politik auf den Alltag, persönliche Geschichten, die auch Hoffnung machen, weil sie Wege aus Krisen aufzeigen. Über ständigen Schlagabtausch zu lesen, empfinden sie als ermüdend und Verschwendung ihrer ohnehin knapp bemessenen Zeit.

Junge Leute kreiden den Medien den Hang zur schlechten Laune besonders stark an. Auch mit Sarkasmus und Ironie, auf die man in Redaktionen oft so stolz ist, kommen sie schlecht klar. Sie wünschen sich vom Journalismus mehr Nutzwert für ihr Leben, bessere Erklärungen und gerne auch ein bisschen Spaß – aber eben nicht jenen, der mit einer gewissen Überheblichkeit auf Kosten anderer geht. In persönlichen Gesprächen mit Studierenden verschiedener Fachrichtungen scheint dies ein ums andere Mal durch. Die qualitative Studie How Young People Consume News von Nic Newman vom Reuters Institute belegt ein entsprechendes Nutzerverhalten. Redaktionen müssen diese Bedürfnisse ernst nehmen. Schließlich gibt es kaum ein Medienhaus, das nicht die Sorge hat, die nachwachsenden Generationen an Youtube- oder Instagram-Held*innen oder gleich ganz an Netflix zu verlieren.

Aus der Perspektive der Demokratie sollte es Journalist*innen aber ganz besonders sorgen, dass der digitale Graben in der Mediennutzung tiefer wird. Diejenigen, die hochgebildet und versiert im Umgang mit Online-Angeboten sind, finden in der digitalen Informations- und Medienwelt heute sehr viel bessere, das heißt vielfältigere, hochwertigere und faktenreichere Angebote als in der Zeit vor Suchmaschinen und sozialen Netzwerken. Viele derjenigen hingegen, die früher wenigstens dann und wann mal zur Zeitung griffen, die Fernsehnachrichten anschalteten oder das Radio laufen ließen – und sei es aus Langeweile –, haben heute so viele Möglichkeiten zur Ablenkung und zum Zeitvertreib, dass sie immer seltener mit Journalismus in Kontakt kommen. Forschung belegt das.

„Nach Meinung des Publikums ist Journalismus zwar aktuell, aber zum Teil nicht besonders relevant.“

Journalismus hat also eine gewaltige Bringschuld. Es gilt, das Publikum in all seiner Vielfalt dort abzuholen, wo es ist: auf den Plattformen, die es nutzt, zu den Zeiten, an denen es sich dort aufhält, mit Formaten, die ihm gefallen. Voraussetzung ist allerdings, dass Redaktionen diese Vielfalt erst einmal erkennen. Das fällt ihnen umso schwerer, je ähnlicher die Kolleginnen und Kollegen einander sind, ganz gleich ob das die Ausbildungswege, das Geschlecht, das Alter, die soziale oder die ethnische Herkunft betrifft.

Ein großer und verbreiteter Irrtum ist, dass man sich um Diversität immer noch kümmern kann, wenn die digitale Transformation erst einmal bewältigt ist. Nein, Vielfalt steht im Kern des Wandels hin zu einem Angebot, das die Produkte vom Publikum her denkt. Anders formuliert: Die größte Herausforderung der digitalen Transformation ist nicht die Technik, sondern der Kulturwandel. Diversität muss nicht nur geschaffen, sondern auch geschätzt und gelebt werden.

Vor allem für Journalist*innen heißt das umlernen. Dabei geht es nicht nur um neue Fähigkeiten, die man sich in ein paar Kursen draufschaffen kann. Die Digitalisierung hat die Machtverhältnisse zwischen Nutzern und Produzenten wenn nicht umgekehrt, so doch zumindest ins Wanken gebracht. Früher gab es Bücher wie Den Wirtschaftsteil der Zeitung richtig lesen und nutzen. Auch wer gut ausgebildet war, sollte sich ruhig noch ein wenig anstrengen. Die Medien erzogen sich ihr Publikum, wer nicht folgen konnte, war raus. Das Geld kam ja ohnehin woanders her: von den Anzeigenkunden, die vor allem am zahlungskräftigen, gebildeten Publikum interessiert waren.

Heute sind die Verlage auf jede zahlende Nutzerin, jeden Nutzer angewiesen. Gebrauchsanweisungen liest aber niemand mehr. Wer nicht intuitiv versteht, warum etwas wichtig ist, wie man es nutzt und worauf es ankommt, wendet sich ab. Ein anderes Angebot wartet schon. Die neue Aufgabenstellung heißt also: Nachrichten so anschaulich machen, dass sie möglichst viele Menschen erreichen, die sie verstehen, nutzen können und sich dabei nicht langweilen.

Seite an Seite mit Entwicklern

Das Gute ist, dass es dafür mehr Plattformen und Möglichkeiten gibt als je zuvor. Der Instagram-Post, das TikTok-Video, der Podcast, die interaktive Infografik, virtuelle Realität, ein Videospiel, der E-Mail-Newsletter – was sich für welche Stoffe und Zwecke eignet, lässt sich ausprobieren. Anders als früher weiß man heute dank neuer Datenfülle zum Glück ziemlich genau, was funktioniert. Wer es nicht immer genau weiß sind die Redakteure und Reporterinnen, die ihr Berufsleben lang ihr Bauchgefühl trainiert haben. Das führt noch immer zu manchem Scoop. Aber im Zusammenspiel der verschiedenen Funktionen in den Verlagshäusern schwindet die Definitionsmacht der Journalist*innen. Produkte, die das Publikum begeistern, können nur Seite an Seite mit Entwicklern, Daten- und Marketing-Spezialisten erfunden, gebaut und getestet werden.

Das Bauchgefühl kann irren

Und es kommt noch schlimmer, wenn man das so formulieren will. „Die Leitung des Teams muss immer jemand von der Business-Seite haben“, sagt Anna Aberg, Digitalchefin der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter, die sich durch besondere Innovationsfreude auszeichnet und bei den Digital-Abos schnell wächst. Das ist für manch eine Journalist*in schwer zu ertragen. Es kratzt tief am Selbstverständnis eines Berufsstands, in dem in weiten Teilen heute noch so ausgebildet und geführt wird wie vor 20 Jahren. Es ist ein Berufsstand, der alles Recht dazu hat, stolz darauf zu sein, was von Reporterinnen und Redakteuren täglich geleistet, riskiert und durchgefochten wird, dessen Stolz aber viel zu häufig mit einem Überlegenheitsgefühl einherging – dem Publikum gegenüber und auch den eigenen Kollegen. Mit großem Selbstverständnis haben Journalist*innen die Mitstreiter*innen vom Marketing, der Infografik oder der IT-Abteilung lediglich als Zuarbeiter verstanden. Teamarbeit geht anders, Kundenorientierung auch.

Zum Glück wächst in den Verlagen eine neue Generation heran, die Führung ernst nimmt und als ständiges Lernen versteht. Dazu gehören übrigens auch jene älteren Semester, die es nie gemocht haben, dass man jede schlampige, ungerechte oder unsinnige Entscheidung mit dem eigenen „Bauchgefühl“ rechtfertigen kann. Dies könnte den Ton nicht nur in den Redaktionskonferenzen verändern, sondern womöglich ebenso den der Produkte, für die sich die Nutzer*innen begeistern sollen.

Journalist*innen leisten viel für die Demokratie. Manche riskieren dafür ihre Gesundheit, einige sogar ihr Leben. Dennoch legitimiert sich Journalismus nur über sein Publikum, wie Rasmus Kleis Nielsen, Direktor des Reuters Institutes in Oxford, zu sagen pflegt. Journalismus ist manchmal Kunst, aber viel öfter Dienstleistung. Seine Grundhaltung ist Mut. Vor allem aber sollte es auch Demut sein. 

Dieser Text erschien in „Journalist“, gedruckte Ausgabe November 2020, online am 9. November 2020.

Eine Frage der Macht – Was die Digitalisierung Frauen bringt

Es ist einfach, die Digitalisierung als Erfolgsgeschichte zu erzählen. Hält sie doch all dies bereit: unendliche Möglichkeiten, sich mit Menschen zu verbinden, sich die Welt zu erschließen, Probleme per Datenauswertung zu lösen, sich vielfältiger Mühen des Alltags zu entledigen und sich damit eine nie da gewesene Bequemlichkeit leisten zu können. Es ist ebenso einfach, die Digitalisierung als Geschichte der Bedrohung zu erzählen. Ermöglicht sie doch all das: allumfassende Überwachung, Fremdbestimmung durch Algorithmen, Ökonomisierung aller Lebensbereiche und damit einen nie da gewesenen Druck.

Ob die Digitalisierung einer Gruppe nutzt oder schadet, zum Beispiel Frauen, lässt sich deshalb kaum beantworten. Entscheidend ist, wie wir sie gestalten. Allerdings prägen ein paar Mechanismen die digitale Welt, die sich auf Männer und Frauen tatsächlich unterschiedlich auswirken. Zunächst ist da die komplette Ökonomisierung des Lebens. Was in der westlichen Digital-Debatte als Hyper-Kapitalismus kritisiert wird, kann für Menschen, die bislang nichts haben, ein Segen sein. Denn theoretisch kann sich jeder Bürger, der ein Smartphone besitzt, in den weltweiten Wirtschaftskreislauf einklinken, dort lernen, Waren und Dienstleistungen anbieten, verhandeln, Teams koordinieren, Geschäfte abwickeln.

 

In den Mittelschichten der entwickelten Länder fallen die Vorteile für Frauen geringer aus. Der sichere Arbeitsplatz verschwindet zunehmend zugunsten einer On-Demand-Wirtschaft, in der Leistung auf Abruf bestellt und pro Einheit bezahlt wird. Die Digitalisierung führt dazu, dass die Einkommen aus Arbeit sinken und die aus Kapital steigen. Frauen haben oft das Nachsehen, weil sie davon weniger besitzen und deutlich seltener Firmen gründen. Während viele stolz darauf sind, wie effizient sie als Arbeitsbienen der digitalen Welt Job und Familie vereinbaren, machen diejenigen das Geschäft, die als Unternehmer erfolgreich sind – überwiegend Männer.

Allerdings setzt der ebenfalls bestehende Zwang zur Individualisierung gerade Frauen unter Druck. Die Leistungs- und Vergleichskultur, die vor allem in den sozialen Medien gepflegt wird, macht speziell Mädchen zu schaffen. Einer neuen Studie zufolge leiden sie deshalb besonders häufig unter Depressionen.

Auch die Transparenz, die in den digitalen Netzwerken herrscht, nützt Frauen nicht nur. Klar, sie können sich gegenseitig stärken, Gleichgesinnte finden und ihr Netzwerk ausbauen. Manchmal kann eine Kampagne, die digital angestoßen wird, die Welt verändern. Aber in den digitalen Räumen herrscht eine Ellbogenkultur, die den Lautesten belohnt. Algorithmen setzen jene Beiträge in der Rangfolge an die Spitze, die besonders viele Klicks versprechen. Die also besonders kontrovers, witzig, gewalttätig oder auf andere Weise marktschreierisch sind – die Hingucker eben. Digitale Geschäftsmodelle belohnen Reichweite.

Auf Frauen prasseln in den sozialen Netzwerken außerdem deutlich häufiger Hasstiraden nieder als auf Männer. Die Öffentlichkeit macht sie verletzlich, und sie geraten leicht in die klassische Opferrolle.

Viele haben gehofft, dass Algorithmen zu mehr Gerechtigkeit in zahlreichen Sphären führen. Diese Rechenoperationen, so die Theorie, könnten zum Beispiel wichtige Prozesse wie Bewerbungsverfahren objektiver machen. Wenn eine Software Lebensläufe vorsortiert und nicht ein vorurteilsbeladener Manager, hätten es Bewerber, die nicht seinem Ideal entsprechen, erheblich leichter, in die Endrunde zu gelangen. Was dabei häufig vergessen wird: Algorithmen sind kondensierte Vergangenheit. Sie errechnen aus den verfügbaren Daten das ideale Ergebnis – wenn man sie nicht anders programmiert. Haben sich also bislang vor allem Männer auf einer bestimmten Position bewährt, wird die Software keine Frau vorschlagen. Es kommt darauf an, wie man den Algorithmus füttert.

Und hier liegt der Kern des Problems: Die digitale Welt wird weitgehend von Männern gestaltet. Sie bauen die Geschäftsmodelle der „Winner takes all“-Wirtschaft, die deshalb so genannt wird, weil sie wenige massiv belohnt. Sie programmieren Algorithmen, die von der Job- über die Immobilien- bis hin zur Partnersuche immer stärker die Lebenswege vieler Menschen bestimmen. Frauen hingegen kämpfen um Positionen in der Tech-Branche. Sie fühlen sich oft nicht gewollt, nicht ernst genommen. Die Zahl der Informatikerinnen war in den vergangenen Jahrzehnten zum Teil sogar rückläufig, weil es für Frauen schwierig ist, sich zwischen Nerds und Hipstern zu etablieren. Risikokapitalgeber bevorzugen männliche Firmengründer. Der Kreislauf setzt sich fort.

Die digitale Welt suggeriert nur allzu oft, dass es für alles einen bequemen Weg gibt. Ein paar Klicks, und schon ist man dabei. Ein paar Herzchen, Sternchen, Smileys, und alle sind wunschlos glücklich. Tatsächlich aber stellen sich knallharte Machtfragen. Und Macht wird bekanntlich selten frei Haus geliefert. Man muss sie sich erstreiten und dann auch nutzen, um damit zu gestalten.

Dieser Text ist erschienen in brand eins, Ausgabe 03/2019