Excel statt Prosa: Was Journalisten künftig können sollten

Man kann es traurig finden, dass Dirk Kurbjuweit nun Chefredakteur des Spiegel ist, selbst wenn man in der jüngsten Personalrochade keine Loyalitäten zu beachten hat. Immerhin geht dem Magazin ein überragender Beobachter und Schreiber verloren, der sich nun in strategischer Arbeit und Machtkämpfen aufreiben muss, statt das zu fabrizieren, was die Marke ebenso dringend braucht: erstklassigen Journalismus. Vor allem aber ist man als Unbeteiligte – womöglich zu Unrecht – verwirrt. Wird nicht seit Jahren auf ziemlich allen Branchen-Konferenzen gepredigt, dass es eine der größten Sünden bei Beförderungen ist, auf die exzellente Fachkraft zu setzen statt auf jene Kolleginnen und Kollegen mit dem größtmöglichen Führungspotenzial? Schließlich brauchen Medienhäuser in diesen Tagen vor allem versierte Strategen, die es zudem schaffen, Talente zu binden. 

Die Signalwirkung der Entscheidung, die Schreibkraft Nummer eins zum Chef von Deutschlands wichtigstem Nachrichtenmagazin zu machen, ist nicht zu unterschätzen. Junge Journalistinnen und Journalisten beobachten das und ziehen daraus ihre Schlüsse. Und damit stellen sie womöglich ihre beruflichen Weichen in eine ungünstige Richtung. Müssen die Medienschaffenden der Zukunft doch viele neue Dinge trainieren, die erst langsam in die Ausbildungspläne der Branche einsickern. Recherche und Schreiben gehören dazu, bilden aber nur noch einen kleinen Teil des Redaktionsalltags ab. Hier sind sieben Fertigkeiten, die auf jeden Fall zu den künftigen Grundkompetenzen gehören:

Verständnis von Geschäftsmodellen und Strategie

Die Entschuldigung, sich als Redaktionsmitglied nicht mit profanen Dingen wie Geldverdienen beschäftigen zu müssen, können sich künftig vielleicht noch ein paar Künstler leisten. Selbst denen hilft es zu wissen, wie ihre Gehälter erwirtschaftet werden. Schon heute haben viele Chefredakteure Ergebnisverantwortung, und das ist gut so. Wer mit seinem Journalismus etwas bewirken will, muss ihn gezielt einsetzen und dessen Erfolge kontrollieren. Ansonsten ist er nicht viel mehr als eine kostspielige Form der Selbstbefriedigung. Medienhäuser werden es sich künftig immer weniger leisten können, Ressourcen zu vergeuden. Im gerade anbrechenden Zeitalter von Künstlicher Intelligenz ist eine Strategie besonders wichtig. Wer da noch rein nach Bauchgefühl agiert und alles macht, nur weil man es machen kann, wird seine Redaktion überfordern und sein Publikum ohnehin. Journalisten, die strategisch denken können, tun sich zudem leichter mit einer Zukunft als Entrepreneure – eine Möglichkeit, die das Fach heute zum Glück eröffnet. 

Wissen über und Erfahrung in der Anwendung von KI

Künstliche Intelligenz eröffnet dem Journalismus große Chancen, birgt aber auch Risiken. Sie ist schon jetzt nützlich sowohl in der Recherche als auch in der Produktion und beim Ausspielen von Journalismus. Man kann damit unter anderem Quellen aufspüren, Interviews vorbereiten, datenjournalistisch arbeiten, Inhalte zielgruppengerecht entwickeln und personalisiert verteilen. „Journalisten aller Ressorts sollten sich mit KI beschäftigen“, sagte Garance Burke, Investigativ-Journalistin der Nachrichtenagentur AP in der vergangenen Woche auf dem IPI World Congress in Wien. Es ist aber auch wichtig, die Grenzen und Gefahren von KI zu kennen. Gibt es keine Kontrolle, kann sie dazu beitragen, Stereotype und Fehler zu potenzieren. Jede künstliche Intelligenz ist immer nur so gut wie der Datensatz, auf dem sie aufbaut.  

Kompetenz im Umgang mit Zahlen und Daten

Es soll noch heute Journalisten geben, die sich damit brüsten, in Mathe immer versagt zu haben. Möglicherweise gehören dazu einige derjenigen, die in der Wahlberichterstattung regelmäßig Prozent und Prozentpunkte verwechseln. Allerdings wird Datenjournalismus immer wichtiger werden, allein weil es immer mehr Daten gibt. Außerdem hilft Datenanalyse dabei, auf der Basis von Fakten ab und an mal die Agenda zu setzen, statt der Agenda anderer hinterher zu jagen. Gefragt, wie sich die Journalistenausbildung ändern müsse, riet Florencia Coelho, Ausbildungsredakteurin bei der argentinischen Zeitung La Nacion, auf dem IPI Congress vor allem eines: „Alle müssen lernen, mit Excel Tabellen zu arbeiten“.

Abgesehen von der Inhalte-Produktion kommt Datenverständnis auch in der Redaktion gelegen, wenn es darum geht, Nutzerzahlen zu analysieren und zu interpretieren. Je nach Strategie zeigen verschiedene Metriken, welche Inhalte erfolgreich sind und welche Mühe man sich sparen kann. Im Vorteil ist, wer solche Daten lesen und – noch besser – die Vorgaben entsprechend anpassen kann. 

Freude an kurzen oder spielerischen Formaten 

Im Journalismus sind in den vergangenen Jahren rund um Social Media und Datenanalyse viele neue Jobs entstanden. Dennoch ist der Traum vieler angehender Journalisten gleich geblieben: einmal eine Seite Drei schreiben. Das ist schade. Denn mit kurzen Formaten – insbesondere Video – spricht man Zielgruppen an, die der Journalismus früher eher ignoriert hat. Viele Menschen lassen sich zudem lieber auf komplexe Themen ein, wenn sie dies spielerisch tun können. Ein Beispiele dafür ist das von der Financial Times mit großem Aufwand produzierte Climate Game. Gerade junge Menschen nähern sich Nachrichten besonders gerne, wenn es lustig zugeht. Comedy-Formate sind gefragt. Das hunderte Zeilen lange Feature wird weiterhin Aufmerksamkeit finden, wenn es entsprechend erzählt ist. Aber mit der Vielzahl der Plattformen steigen die Möglichkeiten, Inhalte anders zu vermitteln. Gut für junge Absolventen ist: Wer neue Formen beherrscht, hat weniger Konkurrenz. Viele Redaktionen sind gut gefüllt mit versierten Schreibern. Wer Neues einbringen kann, ist gefragt.     

Faktenwissen zu Klimawandel und Nachhaltigkeit 

Der Klimawandel ist das größte vorhersehbare Risiko für die Menschheit. Redaktionen haben deshalb die Pflicht, ihr Publikum dabei zu unterstützen, zukunftsorientierte Entscheidungen für sich, ihre Kinder und ihr Umfeld zu treffen. Jede Journalistin, jeder Journalist braucht ein Basiswissen in diesem Feld, das sämtliche Ressorts durchzieht und nach Einordnung ruft. Redaktionen wie Radio France haben deshalb damit begonnen, sämtliche Mitarbeitende in Sachen Klimafakten zu schulen. In der Journalistenausbildung sollte die Wissensvermittlung zum Thema Nachhaltigkeit eine Selbstverständlichkeit werden.   

Kenntnisse im Projekt- und Change-Management

Man mag argumentieren, dass das Managen von Veränderungen Chefsache ist, und Journalistenschüler sind noch keine Chefinnen oder Chefs. Aber auch Berufsanfänger werden heute oft schon mit Projekten betraut, auch, weil sie sich Verantwortung wünschen. Bei der zum britischen Konzern Reach gehörenden Marke Birmingham Live war es zum Beispiel eine Volontärin, die den überaus erfolgreichen Newsletter Brummie Muslims entwickelte, der sich an die muslimische Bevölkerung richtet. Es ist deshalb nützlich, wenn schon junge Mitarbeitende wissen, wie man Projekte managt, Koalitionen schmiedet, Befürworter auf seine Seite zieht, Ergebnisse nachhält und mit Fehlern umgeht. All das ist kein Hexenwerk, es gibt Werkzeuge dafür, die sich immer wieder auspacken lassen. Je früher man sie beherrscht, umso selbstverständlicher wendet man sie an.     

Kenntnisse aus Kommunikationswissenschaft, Psychologie und Neurowissenschaften

Es gibt zahlreiche akademische Disziplinen, die dem Journalismus viel zu sagen hätten. Nur halten sich beide Seiten gerne auf Distanz. Man wirft sich gegenseitig Praxisferne beziehungsweise Oberflächlichkeit vor. Dabei könnten Praktiker und Forscher viel voneinander lernen. Für Journalisten ist es wichtig zu wissen, wie Menschen Informationen aufnehmen und verarbeiten, welche Reize wirken und welche überfordern. Schon lange forschen Wissenschaftler zum Beispiel zum Thema Nachrichtenvermeidung, erst seit kurzem wird dies von Redaktionen ernsthaft diskutiert. Journalisten fordern von anderen oft, dass sie sich mit der Wirkung ihres Tuns auseinandersetzen müssen, in Kommentaren verlangen sie dies zum Beispiel regelmäßig von den großen Tech-Konzernen. Es wird Zeit, dass sie diesen Rat auch selbst beherzigen.       

Diese Kolumne erschien am 31. Mai 2023 bei Medieninsider.


Von wegen „Digital Natives“ – Gerade beim jungen Publikum klafft die Medienkompetenz weit auseinander

Es ist eine bequeme Annahme, dass sich manche Probleme mit dem Generationenwechsel von selbst lösen werden. Leider fällt sie immer wieder durch den Wirklichkeitstest. Dies trifft auch auf die Fähigkeit zu, mit dem Digitalen im Allgemeinen und digitalen Medien im Besonderen kompetent umzugehen. Belegt wird das von einer großen Studie für Deutschland, die in dieser Woche von der Stiftung Neue Verantwortung veröffentlicht wurde und Pflichtlektüre für alle sein sollte, die etwas mit Journalismus zu tun haben. Denn unter den vielen interessanten Einzelergebnissen fällt eins besonders ins Auge: Gebildete junge Menschen erreichen in dem Test im Durchschnitt die besten Werte aller Altersgruppen, während ihre Altersgenossen mit niedriger Schulbildung schlechter abschneiden als ältere Jahrgänge mit ähnlichem Ausbildungsniveau. Kurz gesagt: Der Begriff „Digital Natives“ beschreibt kaum mehr als eine Wunschvorstellung. Vielmehr wird der digitale Graben tiefer.

Es lohnt sich, die Studie genauer zu lesen, denn etliche Aussagen sollten Redaktionen schwer zu denken geben. Nicht nur ist das Niveau der Medienbildung insgesamt mau: Im Durchschnitt erreichten die Befragten nicht einmal die Hälfte der möglichen Punktzahl, nur jede*r Fünfte qualifizierte sich in den Kategorien hohe oder sehr hohe Medienkompetenz. Aber einige Erkenntnisse rufen direkt nach Taten.

Da ist zum einen der Vorwurf einer „von oben“ gesteuerten Presse. Etwa ein Viertel der Befragten nimmt nach eigenem Bekunden an, Politik und Journalist*innen arbeiten Hand in Hand und täuschen die Bevölkerung, „Lügenpresse“ lässt grüßen. Woran die Menschen das festmachen, ergibt sich nicht. Aber eine Unterrichtseinheit in der Schule reicht vermutlich nicht, um das Gegenteil zu beweisen. Hier rächt sich eine Politik-Berichterstattung, die sich nach wie vor zu sehr auf Statements von Funktionsträger*innen und zu wenig auf die Recherche von Themen fokussiert. Wer Politiker*innen und Journalist*innen ständig gemeinsam in Bild und Gespräch wahrnimmt, wird womöglich auch bei kritischen Interviewfragen den Eindruck nicht los, hier werde über die Köpfe der Bürger*innen hinweg verhandelt. Dazu passt, dass der Lokaljournalismus in den meisten Studien auch international die höchsten Vertrauenswerte genießt. Er ist eben näher dran.

Besonders schwer taten sich die Teilnehmer*innen der Untersuchung damit, Journalismus von Werbung zu unterscheiden oder Kommentare von Nachrichten. Wer seine Informationen überwiegend aus den sozialen Netzwerken bezieht, verirrt sich der Studie zufolge besonders häufig im Überangebot und Nebeneinander von unabhängiger, überprüfter auf der einen und interessengeleiteter Information auf der anderen Seite. Nutzer*innen, die sich direkt in Nachrichten-Apps schlau machen, schneiden dagegen deutlich besser ab. Das ist bedenklich, da der weit überwiegende Teil der Medienkonsument*innen über die Plattformen Dritter auf Journalismus zugreift, Tendenz steigend. Bei den jungen Leuten nutzen laut aktuellem Digital News Report 84 Prozent den Seiteneinstieg, nur ein geringer Teil geht also direkt auf Website oder App.

In der Branche wird immer wieder die Notwendigkeit diskutiert, Beiträge nach Kategorien zu kennzeichnen. Aber ein schlichtes „Kommentar“ in der Dachzeile reicht möglicherweise nicht aus. In der Studie konnte zum Beispiel kaum jemand ein Advertorial identifizieren, selbst wenn es als Anzeige gekennzeichnet war. Auch das Label „Kolumne“ wurde als wenig hilfreich empfunden. Die Wirkung von Kennzeichnungen ist offenbar auch bei Falschinformationen begrenzt. Selbst wenn soziale Netzwerke Lügen eindeutig als solche ausweisen, ist das offenbar nicht für alle ein Grund dafür, sie als solche zu behandeln.

Wenn es nur noch gut ausgebildete Menschen schaffen, sich einigermaßen sicher in der digitalen Medienwelt zu bewegen, sind das schlechte Nachrichten für die Demokratie. Die Gefahr steigt, falsch oder gar nicht informiert zu sein und deshalb schlechte Entscheidungen zu treffen. Die Ergebnisse der Studie unterstreichen, was die Forschung schon länger nahelegt: dass das Internet den Zugang zu Information und Wissen nicht etwa egalitärer, sondern ungleicher gemacht hat. Antonis Kalogeropoulos hatte dies 2018 in einer Studie für Großbritannien belegt. Demnach kamen in der alten Welt von Print und linearem Fernsehen Menschen mit niedrigem Bildungsgrad häufiger mit Journalismus in Kontakt als heute, wo jeder zwar ständig an seinem Smartphone herumfingert, darauf aber eher chattet und spielt, statt nach Information zu fahnden. In der Zeit vor Netflix und Spotify griffen auch weniger Bildungsbeflissene schon mal aus Langeweile zur herumliegenden Zeitung oder ließen die Nachrichten an sich vorbeirauschen, schnappten dabei das eine oder andere auf. Exzellent ausgebildete Nutzer*innen sind dagegen heute in der Lage, sich deutlich besser und vielfältiger zu informieren als je zuvor.

Was also tun, damit Journalismus nicht zum Klassen-Privileg wird? Medienbildung erreicht Menschen kaum noch, sobald sie die Schule verlassen haben. Gerade die ältere Generation ist besonders anfällig für „Fake News“, ebenso die Jüngeren, die sich Informationen bewusst oder unbewusst entziehen. Schon jede*r Dritte gilt laut Digital News Report als Nachrichten-Verweiger*in.

Redaktionen stehen in besonderer Verantwortung. Medientrainings in Schulen sollten Standard werden, aber nicht als „wir erklären euch mal was“ von oben herab. Junge Leute können fantastische Reporter*innen sein, man muss sie nur ermutigen. Journalismus und die Aufklärung gehören zudem auf die Plattformen, auf denen sich die Nutzer*innen bewegen. Die Tagesschau mit ihren vielfältigen digitalen Angeboten macht vor, wie so etwas gehen kann – in der Studie der Stiftung Neue Verantwortung schneidet sie vergleichsweise gut ab. Idealerweise begeistern Medien das Publikum so, dass es den direkten Weg auf die Nachrichten-App findet und keine Verwechselungsgefahr besteht. Aber dazu muss auch der Journalismus besser werden: weniger fixiert auf Institutionen, dafür mehr auf Menschen und Themen, stärker im Austausch mit den Nutzer*innen, transparenter, was die eigene Arbeitsweise angeht.

Die Medien können die Aufgabe allerdings nicht alleine stemmen. Öffentliche Institutionen und Privatwirtschaft müssen nicht nur besser aufklären. Aus jedem Plattform-Design muss klar hervorgehen, was die Konsument*innen von Inhalten erwarten können: Ist das nur Werbung oder Bla Bla, oder ist da echter Journalismus drin? Was Zeitungen einigermaßen gelungen ist, muss auch im Digitalen möglich sein.

Diese Kolumne erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 26. März 2021.

Fördert die Ausbildung! Wie der Staat den unabhängigen Journalismus wirklich stützen könnte

Über so ein Geschenk kann sich nicht jede Branche freuen. 220 Millionen Euro hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr locker gemacht, um deutschen Medienunternehmen zu helfen, angeblich bei der „digitalen Transformation“. In Fach- und Verlagskreisen streitet man sich seitdem trefflich darüber, was mit dem Geld passieren soll. Lobbyisten-Werk, schimpfen die einen, das Ganze werde versickern wie Kohle-Subventionen, nichts als lebensverlängernde Maßnahmen für besonders bräsige Verlagshäuser. Innovative Gründer und andere, die sich für den Journalismus einsetzen, gingen dagegen leer aus. Experten wie der Medienwissenschaftler Christopher Buschow aus Weimar denken so oder ähnlich, zusammen mit Christian-Mathias Wellbrock hat er ein viel beachtetes Gutachten zur Innovationsförderung im deutschen Journalismus für die Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen veröffentlicht und ist seitdem auf allen Kanälen zum Thema präsent. Die anderen sind natürlich die Verlage selbst. Nach deutlich zweistelligen Einbrüchen im Anzeigengeschäft ringen viele um ihre Existenz. Sie argumentieren staatstragend mit ihrer Rolle als Säule der Demokratie, damit untertreiben sie nicht. Kassenwart ist das Bundeswirtschaftsministerium, demnächst soll es ein Konzept geben.

Die Erwartungen daran sind niedrig, denn bislang regiert das Prinzip Gießkanne, und schon die Grundfrage ist ungeklärt: Wie fördert man das eigentlich, die „digitale Transformation“? Geht es um neue Technik, um Organisation, oder doch nur um die Abfederung von Härten in einer Verlagsbranche, die seit ungefähr 15 Jahren mit sinkenden Druckauflagen und Anzeigenerlösen kämpft und bei der Begeisterung des Publikums für digitalen Journalismus viel zu langsam in die Puschen gekommen ist? Eine Antwort wäre: Man beginnt bei den Menschen, die in der Branche arbeiten. Für die Zukunft der Medienbranche sind Investitionen in Aus- und Weiterbildung kritisch. Denn im Journalismus zeichnet sich ein gigantisches Personalproblem ab.

In der Welt draußen ist das noch wenig bekannt. Die politische Diskussion wird schließlich von den großen Medienmarken beherrscht, zu denen nach wie vor ausreichend qualifizierte Bewerber*innen drängen. Redet man mit Vertreter*innen von Regionalverlagen, sieht die Sache anders aus. „Das Geschäftsmodell Zeitungen wird nicht von der Auflage zuerst zusammenbrechen, sondern vom Personal“, sagte kürzlich ein im Digitalen recht umtriebiger Chefredakteur einer süddeutschen Lokalzeitung. Die Zahl der Bewerbungen nehme rasant ab, die Qualität der Bewerber*innen ebenso. Das gilt für Journalist*innen, die sich in der leidenden Branche wenige Perspektiven ausrechnen und jene jungen Leute, die mit dem Beruf gar nichts mehr anfangen können. Noch viel mehr gilt es aber für junge Leute mit IT-Kompetenz. Die gehen lieber gleich zu Originalen wie Facebook, Google oder Spotify, wo die Gehälter höher, die Work-Life-Balance besser und die Kultur cooler sind. In der Studie „Are Journalists Today’s Coal Miners?“ hat eine Forscher*innen-Gruppe aus Oxford und Mainz das Thema 2019 ausführlich beleuchtet (die Autorin dieser Kolumne war Teil des Teams).

Aber nicht nur mit der Rekrutierung von Berufseinsteigern haben die Verlage ein Problem. In den Redaktionen und Verlagsabteilungen gibt es eine große Unwucht zwischen dem, was die Mitarbeiter*innen können und dem, was sie können müssten. Das zieht sich hinauf bis in Chefredaktionen und Verlagsleitungen. Die Redaktionen sind gut gefüllt mit Reporter*innen und Redakteur*innen, die zwar brillant oder zumindest versiert im Recherchieren, Schreiben und Redigieren sind, sich aber mit digitalen Erzählformaten, Produktentwicklung und Kundennähe kaum auskennen, ganz zu schweigen von Veränderungsmanagement. Schlimmer, aus den Journalistenschulen kommen in großer Zahl junge Leute nach, die sich dafür ebenso wenig interessieren und am liebsten nur große Reportagen schreiben wollen.

Jetzt rächt sich außerdem, dass man in der Branche jahrzehntelang Menschen wegen ihrer journalistischen Kompetenz in Leitungspositionen befördert hat, nicht jedoch wegen ihrer Management-Qualitäten – und dass sie damit oft heillos überfordert sind. Gerade die talentierteren unter ihnen spüren das. Gerne würden sie sich entsprechend weiterbilden, aber dafür ist das Geld nicht da. Viele landen im Burnout oder verlassen die Branche für Jobs, in denen es auch mal Wachstum zu feiern, statt Krise zu verwalten gibt. Die anderen ducken sich weg und hoffen, dass das bis zur Rente oder zumindest dem nächsten Abfindungsprogramm niemandem auffällt. Energie und Kompetenzen verkümmern, weil sie niemand abholt zur Reise in die digitale journalistische Zukunft.

Hinzu kommt ein erbitterter Konkurrenzkampf in der Branche, der zwar am Kiosk seine Berechtigung hatte aber längst nach hinten losgeht, weil die wahren Wettbewerber im Silicon Valley sitzen oder dort, wo man dessen Rezepte kopiert. Die Verlage haben es versäumt voneinander zu lernen, Kompetenzen zu bündeln und Innovationen selbst zu entwickeln, von denen die Branche und damit auch der Journalismus profitieren könnte. Kooperationen entwickeln sich nur langsam, ein Beispiel ist Drive, das gemeinsame Daten-Projekt verschiedener Regionalzeitungen und der dpa.

Was könnte man alles erreichen, würde man nur einen Teil der 220 Millionen Euro in die Ausbildung junger Journalist*innen stecken, die verschiedenste Perspektiven und Fähigkeiten in die Verlage tragen könnten? Welches Potenzial ließe sich erschließen, würde man gestandene Redaktions- und Verlagskolleg*innen für die digitale Transformation fit machen? Flächendeckende Trainings in Veränderungsmanagement, Kundenorientierung und Leadership sind Investitionen, die der Branche langfristig mehr nutzen als das nächste neue Redaktionssystem. Bevor man sich für Technik entscheidet, muss man schließlich wissen, was man damit machen will. Strategien aber können nur Menschen entwickeln.

Tragisch besonders in Deutschland ist, dass man all diese Aufgaben weitgehend Google und Facebook überlässt, die großzügig Bildungsprogramme für Verlage finanzieren (Transparenz: Das Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School, in dessen Rahmen diese Kolumne entsteht, wird von Facebook unterstützt, die Autorin ist zudem in Programmen engagiert, die von der Google News Initiative gefördert werden). Damit machen sich die Medienhäuser noch abhängiger von den Plattform-Konzernen, die ohnehin schon viel zu häufig definieren, was bitte Innovation zu sein hat. Die Ironie dabei: Geißeln Kommentator*innen im Leitartikel gerne die Übermacht der Tech-Monopole, wird deren Geld intern nur zu gerne angenommen – weil es keine Alternative gibt.

Dabei wäre staatliches Geld für Journalismus in der Bildung am besten investiert. Hier bliebe die journalistische Unabhängigkeit gewahrt, gleichzeitig würde man nachhaltig in die Zukunft investieren. Als Vorbild könnte man die Diskussion in der Entwicklungshilfe nehmen, die heute aus gutem Grund Entwicklungszusammenarbeit heißt. Geld ausschütten per Gießkanne ist das Rezept von gestern. Strukturen aufbauen und Hilfe zur Selbsthilfe anstoßen, darauf kommt es an.

Diese Kolumne erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 26. Februar 2021.

Wirecard:Eine Pleite – auch für den (deutschen) Wirtschaftsjournalismus

Man könnte sagen, im Nachhinein sind alle schlauer. Im Vorhinein war es nur die Financial Times (FT). Wer die Timeline der Ereignisse rund um den Niedergang des im Dax gelisteten und nun insolventen Finanzdienstleisters Wirecard liest (die FT bietet das Stück ausnahmsweise gratis an), erschrickt schon ein wenig ob der Arglosigkeit vieler Beteiligter, seien es der Wirtschaftsprüfer EY, die deutschen Finanzbehörden – oder heimische Wirtschaftsjournalisten. Statt angesichts der ausdauernden und intensiven Recherchen des britischen Pflicht-Mediums für Wirtschafts- und Finanzakteure hellhörig zu werden, neigte man hier der Sicht der Behörden zuzustimmen, die dem britischen Reporter Dan McCrum unlautere Arbeit vorgeworfen hatten. Sogar die Staatsanwaltschaft München ermittelte gegen den Journalisten. Im Februar zeichnete der Branchendienst Meedia
die Auseinandersetzung um die FT-Berichterstattung nach.

Nun gebührt den FT-Kolleg_innen um McCrum Ehre, ein paar Preise werden wohl drin sein. Großes Lob verdient auch die Chefredaktion, die sich trotz aller Angriffe von außen klar vor das Team stellte. So soll es sein. Als nächstes fragt man sich allerdings: Warum haben Journalist_innen in Deutschland nicht aufgemerkt? Waren sie zu nah dran, oder eher zu weit weg? Denn wenngleich ein Journalist aus London die Story ausgegraben hatte, fand er Unterstützung in Südostasien, wo sich kaum ein deutsches Medienhaus noch Korrespondent_innen leisten kann (die FT hat dort fünf festangestellte Reporter_innen und mehrere Stringer_innen).

Einer der Gründe dürfte sein, dass noch immer zu viel „Er hat gesagt, sie hat gesagt“-Journalismus betrieben wird, vor allem hierzulande. Man betrachtet es schon als Scoop, wenn ein Behördenvertreter oder ein anderer Offizieller einem etwas steckt, das andere nicht wissen. Das hat man dann „exklusiv“. Bernd Ziesemer, ehemals Chefredakteur des Handelsblatts, hat diese Dynamik in einem Gastbeitrag gut beschrieben – der erschien bezeichnenderweise in der FT. Professionelle Kommunikator_innen wissen und nutzen das, indem sie mal dieses, mal jenes Medium bedienen und auf diese Weise gewogen halten.

Da Medienhäuser die Konkurrenz untereinander immer noch als Treiber von Innovation betrachten, geben sich Journalist_innen mit solchem Ruhm auf Zeit zufrieden. Ihrem Publikum dienen sie damit eher nicht. Das hätte im Fall Wirecard von einer schnelleren Aufklärung profitiert – zumindest die wichtigen Fonds hätten dann wohl ihre Posten zeitiger umgeschichtet und Anleger_innen vor herben Verlusten bewahrt. Kein Wunder, dass sich deutsche Mediennutzer_innen in Umfragen einigermaßen skeptisch dazu äußern, ob Journalist_innen mächtige Personen und Unternehmen ausreichend kontrollieren. Nur 37 Prozent gaben das in der deutschen Stichprobe des Digital News Report 2019 zu Protokoll, jüngere Leute waren noch deutlich skeptischer.

Große investigative Recherchen scheitern einerseits oft daran, dass dafür nur die wenigsten Redaktionen Kapazitäten haben. Andererseits fehlen vielen Reporter_innen dafür auch Handwerk und Training. Wie man sich Schritt für Schritt an eine Hypothese heran arbeitet und dann genügend Material und Daten anhäuft, um sie zu belegen oder zu verwerfen, lernt man nicht, wenn man im Volontariat stundenlange Newsdesk-Dienste absolvieren, im Akkord Seiten bauen oder Agenturen plus Google zu sendefähigem Material verquicken muss. Und mit ein, zwei schnellen Interviews zwischendurch ist es auch nicht getan.

Die Journalisten-Ausbildung sollte sich deshalb lieber früher als später darauf werfen, Reporter_innen in investigativen Methoden zu trainieren. Denn die Zukunft des Journalismus liegt genau auf den Feldern, auf denen andere nichts zu bieten haben in einer Welt, in der jeder veröffentlichen kann. Kommentieren kann jede/r Blogger_in, wenngleich nicht immer so, wie man das auf der Journalistenschule lernt. Auf künstliche Intelligenz gestützte Programme werden früher oder später in der Lage sein, Meldungen aller Arten selbst zu schreiben. Selbst einfache Interviews können Bots schon führen, die Homepage bestücken sowieso. Aber in mühevoller Denk- und Such-Arbeit Missständen auf die Spur zu kommen, und dies mit unabhängiger Perspektive zu tun, für diese Aufgaben ist kein anderer Berufszweig gleichermaßen ausgestattet.

Außerdem sollten Medienmarken genau darüber nachdenken, wen sie als Konkurrent_innen und wen als möglichen Kooperationspartner_innen betrachten. Investigativer Journalismus ist häufig teuer und aufwändig, da geht es nicht ohne Zusammenarbeit. Nun muss nicht jede Recherche in Projekte à la Panama Papers ausufern – die Großrecherche wäre ohne das beteiligte internationale Journalisten-Konsortium gar nicht möglich gewesen. Aber im Sinne der Bürger_innen zu denken heißt oft, alte Eitelkeiten über Bord zu werfen. Man kann Stoffe dann immer noch so aufbereiten, dass sie vor allem die eigenen Nutzer_innen begeistern. In der digitalen Informations- und Ablenkungswelt konkurrieren Medienmarken häufig nicht mehr gegen einen anderen Verlag. Ihr größter Gegner ist die Abstinenz des Journalismus.

Dieser Kommentar wurde am 2. Juli im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School veröffentlicht.