Es ist eine bequeme Annahme, dass sich manche Probleme mit dem Generationenwechsel von selbst lösen werden. Leider fällt sie immer wieder durch den Wirklichkeitstest. Dies trifft auch auf die Fähigkeit zu, mit dem Digitalen im Allgemeinen und digitalen Medien im Besonderen kompetent umzugehen. Belegt wird das von einer großen Studie für Deutschland, die in dieser Woche von der Stiftung Neue Verantwortung veröffentlicht wurde und Pflichtlektüre für alle sein sollte, die etwas mit Journalismus zu tun haben. Denn unter den vielen interessanten Einzelergebnissen fällt eins besonders ins Auge: Gebildete junge Menschen erreichen in dem Test im Durchschnitt die besten Werte aller Altersgruppen, während ihre Altersgenossen mit niedriger Schulbildung schlechter abschneiden als ältere Jahrgänge mit ähnlichem Ausbildungsniveau. Kurz gesagt: Der Begriff „Digital Natives“ beschreibt kaum mehr als eine Wunschvorstellung. Vielmehr wird der digitale Graben tiefer.
Es lohnt sich, die Studie genauer zu lesen, denn etliche Aussagen sollten Redaktionen schwer zu denken geben. Nicht nur ist das Niveau der Medienbildung insgesamt mau: Im Durchschnitt erreichten die Befragten nicht einmal die Hälfte der möglichen Punktzahl, nur jede*r Fünfte qualifizierte sich in den Kategorien hohe oder sehr hohe Medienkompetenz. Aber einige Erkenntnisse rufen direkt nach Taten.
Da ist zum einen der Vorwurf einer „von oben“ gesteuerten Presse. Etwa ein Viertel der Befragten nimmt nach eigenem Bekunden an, Politik und Journalist*innen arbeiten Hand in Hand und täuschen die Bevölkerung, „Lügenpresse“ lässt grüßen. Woran die Menschen das festmachen, ergibt sich nicht. Aber eine Unterrichtseinheit in der Schule reicht vermutlich nicht, um das Gegenteil zu beweisen. Hier rächt sich eine Politik-Berichterstattung, die sich nach wie vor zu sehr auf Statements von Funktionsträger*innen und zu wenig auf die Recherche von Themen fokussiert. Wer Politiker*innen und Journalist*innen ständig gemeinsam in Bild und Gespräch wahrnimmt, wird womöglich auch bei kritischen Interviewfragen den Eindruck nicht los, hier werde über die Köpfe der Bürger*innen hinweg verhandelt. Dazu passt, dass der Lokaljournalismus in den meisten Studien auch international die höchsten Vertrauenswerte genießt. Er ist eben näher dran.
Besonders schwer taten sich die Teilnehmer*innen der Untersuchung damit, Journalismus von Werbung zu unterscheiden oder Kommentare von Nachrichten. Wer seine Informationen überwiegend aus den sozialen Netzwerken bezieht, verirrt sich der Studie zufolge besonders häufig im Überangebot und Nebeneinander von unabhängiger, überprüfter auf der einen und interessengeleiteter Information auf der anderen Seite. Nutzer*innen, die sich direkt in Nachrichten-Apps schlau machen, schneiden dagegen deutlich besser ab. Das ist bedenklich, da der weit überwiegende Teil der Medienkonsument*innen über die Plattformen Dritter auf Journalismus zugreift, Tendenz steigend. Bei den jungen Leuten nutzen laut aktuellem Digital News Report 84 Prozent den Seiteneinstieg, nur ein geringer Teil geht also direkt auf Website oder App.
In der Branche wird immer wieder die Notwendigkeit diskutiert, Beiträge nach Kategorien zu kennzeichnen. Aber ein schlichtes „Kommentar“ in der Dachzeile reicht möglicherweise nicht aus. In der Studie konnte zum Beispiel kaum jemand ein Advertorial identifizieren, selbst wenn es als Anzeige gekennzeichnet war. Auch das Label „Kolumne“ wurde als wenig hilfreich empfunden. Die Wirkung von Kennzeichnungen ist offenbar auch bei Falschinformationen begrenzt. Selbst wenn soziale Netzwerke Lügen eindeutig als solche ausweisen, ist das offenbar nicht für alle ein Grund dafür, sie als solche zu behandeln.
Wenn es nur noch gut ausgebildete Menschen schaffen, sich einigermaßen sicher in der digitalen Medienwelt zu bewegen, sind das schlechte Nachrichten für die Demokratie. Die Gefahr steigt, falsch oder gar nicht informiert zu sein und deshalb schlechte Entscheidungen zu treffen. Die Ergebnisse der Studie unterstreichen, was die Forschung schon länger nahelegt: dass das Internet den Zugang zu Information und Wissen nicht etwa egalitärer, sondern ungleicher gemacht hat. Antonis Kalogeropoulos hatte dies 2018 in einer Studie für Großbritannien belegt. Demnach kamen in der alten Welt von Print und linearem Fernsehen Menschen mit niedrigem Bildungsgrad häufiger mit Journalismus in Kontakt als heute, wo jeder zwar ständig an seinem Smartphone herumfingert, darauf aber eher chattet und spielt, statt nach Information zu fahnden. In der Zeit vor Netflix und Spotify griffen auch weniger Bildungsbeflissene schon mal aus Langeweile zur herumliegenden Zeitung oder ließen die Nachrichten an sich vorbeirauschen, schnappten dabei das eine oder andere auf. Exzellent ausgebildete Nutzer*innen sind dagegen heute in der Lage, sich deutlich besser und vielfältiger zu informieren als je zuvor.
Was also tun, damit Journalismus nicht zum Klassen-Privileg wird? Medienbildung erreicht Menschen kaum noch, sobald sie die Schule verlassen haben. Gerade die ältere Generation ist besonders anfällig für „Fake News“, ebenso die Jüngeren, die sich Informationen bewusst oder unbewusst entziehen. Schon jede*r Dritte gilt laut Digital News Report als Nachrichten-Verweiger*in.
Redaktionen stehen in besonderer Verantwortung. Medientrainings in Schulen sollten Standard werden, aber nicht als „wir erklären euch mal was“ von oben herab. Junge Leute können fantastische Reporter*innen sein, man muss sie nur ermutigen. Journalismus und die Aufklärung gehören zudem auf die Plattformen, auf denen sich die Nutzer*innen bewegen. Die Tagesschau mit ihren vielfältigen digitalen Angeboten macht vor, wie so etwas gehen kann – in der Studie der Stiftung Neue Verantwortung schneidet sie vergleichsweise gut ab. Idealerweise begeistern Medien das Publikum so, dass es den direkten Weg auf die Nachrichten-App findet und keine Verwechselungsgefahr besteht. Aber dazu muss auch der Journalismus besser werden: weniger fixiert auf Institutionen, dafür mehr auf Menschen und Themen, stärker im Austausch mit den Nutzer*innen, transparenter, was die eigene Arbeitsweise angeht.
Die Medien können die Aufgabe allerdings nicht alleine stemmen. Öffentliche Institutionen und Privatwirtschaft müssen nicht nur besser aufklären. Aus jedem Plattform-Design muss klar hervorgehen, was die Konsument*innen von Inhalten erwarten können: Ist das nur Werbung oder Bla Bla, oder ist da echter Journalismus drin? Was Zeitungen einigermaßen gelungen ist, muss auch im Digitalen möglich sein.
Wir brauchen digital mündige Bürger!
Das Phänomen der Fake News wird sich in Zukunft noch verstärken. Ändern lässt sich das kaum. Deshalb sind Kampagnen zur digitalen Mündigkeit mindestens so notwendig wie einst jene zur Alphabetisierung.
Für diejenigen, die mit der rasanten Verbreitung von „Fake News“ das Ende der Demokratie herannahen sehen, dürfte 2020 ein beunruhigendes Jahr werden. Die Wahlen in den USA und ein Amtsenthebungsverfahren gegen den amtierenden Präsidenten Donald Trump stehen an, beides wird das Land weiter polarisieren und die Bürger eher empfänglicher für Lügen und allerlei Verschwörungstheorien machen. Erfahrungsgemäß schwappen die Debatten darüber ungebremst über den Atlantik. In Großbritannien wurde schon gewählt, und wenngleich selbst hartgesottene Digital-Pessimisten sich schwer damit tun sollten, das klare Votum für Premier Boris Johnson und gegen Labour-Herausforderer Jeremy Corbyn der Aktivität von Trollfabriken oder ähnlichem zuzuschreiben, gehörten Falschinformationen und die Debatte darum im Wahlkampf zum permanenten Grundrauschen. Wie sehr müssen wir uns also fürchten?
Man könnte sagen: sehr. Und genau darin liegt eine Chance. Die Verbreitung von „Fake News“ und die Debatte darüber müssen ein Anlass dafür sein, Bürger im großen Stil fit für die neue Kommunikations-Welt zu machen. Kampagnen zur digitalen Mündigkeit sind mindestens so notwendig wie einst jene zur Alphabetisierung, die die Menschen fit für die Welt des gedruckten Wortes und die Demokratisierung möglich gemacht haben.
Gleich vorweg: Das Phänomen der Falschinformation als solches wird nicht nur bleiben, es wird sich verstärken. Künstliche Intelligenz ermöglicht es schon jetzt selbst Laien, für wenig Geld sogenannte deep fakes zu kreieren, also zum Beispiel täuschend echt wirkende Videos von Politikern mit entsprechenden Tonspuren zu basteln. Und die technischen Möglichkeiten dafür verbessern sich schneller als die Werkzeuge, um den Verursachern das Handwerk zu legen. Hacker und Geheimdienste in aller Welt werden dies aus verschiedensten Motiven heraus zu nutzen wissen. Die Produktionsseite lässt sich also kaum in den Griff bekommen.
Algorithmen anpassen
Etwas besser stehen die Chancen dafür, das Übel auf Seiten der Verteiler zu bekämpfen. Die Plattform-Konzerne haben die Informationen bislang weitgehend ungeprüft und nur nach kommerziellen Kriterien gewichtet in die Welt geblasen. Sie könnten eben diese Gewichtung ändern, sprich, ihre Algorithmen anpassen und Nachrichten von vertrauenswürdigen Quellen höher bewerten als jene von unbekannten oder gar erwiesenermaßen zweifelhaften. Der Müll würde so zwar nicht aus dem Netz verschwinden aber weniger sichtbar und damit auch seltener geteilt werden.
Die Journalism Trust Initiative, initiiert und getragen von der Organisation Reporter ohne Grenzen, der European Broadcasting Union und anderen namhaften Medien-Institutionen, hat hier wichtige Vorarbeit geleistet. Nun müssen die Konzerne das Übel auch anpacken wollen, notfalls unter mehr oder weniger sanftem Druck von Regulierungbehörden. Hier liegt zugegeben ein Risiko, denn Regulierer könnten sich auf diese Weise auch dem Einfluss kritischer Stimmen entledigen. Man möchte weder einem Donald Trump noch einem Viktor Orban das Privileg zubilligen, über die Qualität von Journalismus zu urteilen. Dies sollte Gremien überlassen bleiben, die sich der Neutralität und Faktentreue verschrieben haben.
Am wichtigsten ist es allerdings, bei den Empfängern anzusetzen. Bislang wissen nur die wenigsten Bürger, nach welchen Kriterien Inhalte im Netz verteilt werden und an ihre Adressaten gelangen, wer Zugang zu diesen Kanälen hat und wie leicht sich erlogene aber täuschend echt wirkende Informationen erstellen lassen. Auch über die Besitzverhältnisse der digitalen Infrastruktur sind eher nur die Fachleute informiert. Zumindest kann nicht vorausgesetzt werden, dass jedem Nutzer klar ist, dass hinter der Kurzvideo-Plattform TikTok ein chinesischer Konzern steckt. Davon abgesehen, dass auch diejenigen, die es wissen, mit TikTok arbeiten oder es nutzen – aus Spaß, oder weil man damit eben viele Kunden erreicht.
„Finnland ist winning the war“
Noch am ehesten kann vorausgesetzt werden, dass das Publikum zumindest Grundkenntnisse darüber hat, wie Journalismus funktioniert. Dass sich Reporter und Redakteure im Normalfall an ethische und handwerkliche Regeln gebunden fühlen – Beispiele sind das Vier-Augen-Prinzip und das Einholen mehrerer Quellen – haben viele Bürger schon gehört, auch wenn sie es nicht immer glauben. Und ein Großteil der Bevölkerung verlässt sich eher auf etablierte Marken wie die „Tagesschau“, Sender wie die BBC oder auf ihre Lokalzeitung als auf zweifelhafte „Experten“, die manch ein Facebook-Beitrag nach oben schwemmt. Das lässt sich aus Medienkonsum-Studien wie dem Digital News Report ablesen.
Aber all das ist keine Selbstverständlichkeit. Aufklärung tut also Not. Bislang funktioniert das am besten in der jungen Generation. Junge Leute betrachten „Fake News“ eher als Belästigung denn als echte Gefahr. Viele von ihnen haben gelernt, sich durch die Abgründe des Internets zu navigieren – um den Preis, dass sie allen Informationen mit größerer Skepsis begegnen als die älteren Generationen, inklusive dem Qualitätsjournalismus. Sie bringen sich das gegenseitig bei oder lernen es in der Schule, wo es natürlich die beste Infrastruktur für digitale Bildung gibt.
Anders geht es den Älteren. Sie sind einerseits anfälliger für Falschmeldungen, weil sie weniger über die Online-Welt wissen, andererseits aber auch verletzlicher, weil sie gezielt von Algorithmen als mutmaßlich leichte Beute angesteuert werden. Es ist erwiesen, dass Senioren sehr viel häufiger Falschmeldungen bekommen und teilen als ihre Enkel. Bildungsprogramme für diejenigen, die Schule und Universität bereits verlassen haben, sind also existentiell, wenn einem der aufgeklärte Umgang der Bevölkerung mit der Kommunikations- und Informationsinfrastruktur am Herzen liegt. Dies sollte und muss in allen Demokratien der Fall sein. Am Beispiel Finnland lässt sich ablesen, dass das recht ordentlich funktionieren kann. Eine 2014 begonnene Aufklärungskampagne über „Fake News“ war so erfolgreich, dass CNN in einem Feature bereits triumphierte: „Finnland is winning the war on fake news“. Selbst aus Singapur seien Regierungsvertreter angereist, um das Erfolgsrezept zu kopieren. Aber auch anderswo gibt es gute Initiativen für generationenübergreifende digitale Bildung, zum Beispiel in Tschechien.
Dort, wo diese Aufklärung nicht existiert, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Regierungen gar kein Interesse an der digitalen Mündigkeit ihrer Bürger haben. Eine verwirrte Öffentlichkeit ist anfälliger für einfache, populistische Interpretationen der Lage, eine kritische Presse und unangenehme Fakten stören so manch einen Amtsträger nur. Digitale Bildung darf deshalb nicht nur in der öffentlichen Hand liegen. Wer dazu beiträgt, dient der Demokratie. Unabhängige Medien zum Beispiel können gar nicht genug dafür tun.
Diese Kolumne erschien am 20. Dezember 2020 bei Zentrum Liberale Moderne