Optimismus wird unterschätzt – Was von Marty Baron bleibt

Auf dieser Seite des Atlantiks dürfte Marty Baron einigen auch außerhalb des journalistischen Mikrokosmos ein Begriff sein, der Grund dafür ist „Spotlight“. In dem 2015 mit einem Oscar gekrönten Film treibt ein junger, neuer Chefredakteur ein Recherche-Team bei der Tageszeitung Boston Globe zu Höchstleistungen an. Den Reporter*innen gelingt es schließlich, einen riesigen Missbrauchs-Skandal in der Katholischen Kirche aufzudecken. Der Chefredakteur heißt im wirklichen Leben Martin Baron, und der Schauspieler Liev Schreiber, der ihn spielte, sah ihm im Film tatsächlich ziemlich ähnlich. Zu der Zeit war Baron allerdings schon zur Washington Post (WaPo) abgeschwirrt, wo er 2013 Chefredakteur wurde, kurz bevor Amazon-Chef Jeff Bezos die Zeitung kaufte. Dort hat der @PostBaron, wie er sich auf Twitter nennt, nun genug. 66 Jahre alt ist er, in dieser Woche gab er bekannt, er werde Ende Februar seinen Posten aufgeben.

In mancher Redaktion dürften sich Reporter*innen darüber gerangelt haben, wer Baron zum Abschied würdigen darf. Klar, mit einem solchen gestandenen Journalisten, der in seiner Zeit als Chefredakteur die Redaktion von 500 auf 1.000 Leute vergrößerte, mit ihnen zehn Pulitzer-Preise hereinholte und das mit der Digitalisierung trotzdem erstklassig hinbekam, macht sich jeder gerne gemein. „Democracy dies in darkness“ – der Claim der WaPo wird in kaum einem Artikel fehlen. Und wer es lustiger mag, integriert den Ausdruck „swashbuckling“ in seinen Englisch-Wortschatz. Den benutzte Jeff Bezos, um seinem Geschäftspartner zum Abschied zuzurufen: „Du bist verwegen (swashbuckling) und vorsichtig, du bist diszipliniert und empathisch.“ Anstrengend sei es mit ihm allerdings auch oft gewesen, gab Bezos zu.

Man könnte also viel sagen über diesen Marty, der sich seiner Bedeutung durchaus bewusst war. Allerdings nicht so bewusst, dass er nicht auch immer wieder im kleinen Kreis jungen und erfahrenen Journalist*innen von seiner Arbeit erzählt hätte, wie er das regelmäßig am Reuters Institute for the Study of Journalism getan hat, wo er im Beirat sitzt. Er machte das gerne, auch in der Hoffnung, dass ein paar seiner Botschaften den Weg zurück über den Atlantik finden würden. Erst, wenn er etwas öffentlich gesagt habe, nehme seine Redaktion ihm ab, dass ihm die Sache ernst sei, sagte er einmal. Eines war ihm offenbar ernst, denn er wiederholte das, und es ist hängengeblieben: „Ich stelle nur Optimisten ein.“ Ein Gespür für diejenigen Kolleg*innen, die mit Hartnäckigkeit und Erfolgsglauben Dinge vorantreiben, ob investigative Recherchen oder Produktentwicklung, könnte ein Teil seines Erfolgsrezepts für die digitale Transformation gewesen sein (das andere trug den Vornamen Jeff).

Als pragmatisch-zuversichtliche Optimistin kann man dem nur folgen. Wie schön ist es doch auch als Chefin, Alltag und gerne Bürofluchten mit Kolleginnen und Kollegen zu teilen, die bei jeder kleinen und größeren Krise einmal tief durchatmen und einem dann mit verzweifelt-hoffnungsvollem Lächeln versichern: „Das kriegen wir schon hin.“ Wie schätzt man sie, diejenigen, die immer wieder experimentieren, nachhaken, durchrechnen und letztlich mit der Botschaft um die Ecke biegen: „Das klappt.“

In der Medienbranche allgemein ist der Optimismus als Konzept dagegen wenig beliebt. Das liegt einerseits an den Kennzahlen und den bröckelnden Geschäftsmodellen. Andererseits steht dem aber auch das Selbstverständnis eines Berufsstands entgegen, der oft dem Reflex erliegt, jeder Aufgabe das Wort Krise anzuhängen und sie damit noch ein wenig unlösbarer erscheinen zu lassen, man denke an Corona-Krise, Flüchtlings-Krise, Klima-Krise, Impfstoff-Krise und, ja, Medien-Krise. Optimismus wird in dieser Lesart oft als Schönfärberei missverstanden. Journalisten sollen schließlich kritisch sein und Schweinereien aufklären. Die Welt in Zuversicht zu tauchen, das möge bitte die PR übernehmen. Aus diesem Grund hat auch derjenige Journalismus zuweilen kommunikativ einen schweren Stand, der sich konstruktiv oder lösungsorientiert nennt.

Das Publikum allerdings ist davon zunehmend genervt. Mehr als ein Drittel der Nutzer*innen finden Journalismus zu negativ und schalten deshalb immer wieder mal ab, wie im Digital News Report ein ums andere Jahr zu lesen ist. Nicht unbedingt, weil sie keine schlechten Nachrichten mehr hören mögen, sondern weil viele die Welt um sie herum ganz anders wahrnehmen – zumindest, wenn nicht gerade Pandemie herrscht. Sie machen oft ziemlich positive Erfahrungen mit Kolleg*innen, Freund*innen, Nachbar*innen und wildfremden Menschen im Supermarkt oder am Bahnhof, und haben deshalb das Gefühl, selbst etwas erreichen zu können, wenn sie sich zusammentun und die Dinge anpacken. Herausforderungen müssen bewältigt werden, hilft ja nichts.

Und das ist tatsächlich der Kern des Optimismus: nicht etwa ein rosarotes Weltbild, ein Verleugnen der Tatsachen, ein von Euphorie getränktes Aufspringen auf jeden noch so durchsichtigen Trend. Aber die Zuversicht, dass man mit ordentlichem Einsatz von Gehirnzellen, Fleiß und Kooperation schon irgendwie weiterkommt auf dem Weg zu einer besseren Zukunft, so weit das Ziel auch noch entfernt sein mag. Es geht nicht immer für alle gut aus, manch eine Generation trägt Lasten, die kaum zu schultern sind. Aber wer Max Rosers Langzeit-Datenreihen in Ourworldindata.org folgt, weiß, dass Fortschritt Realität und keine Fiktion ist.

Nun wäre es falsch zu behaupten, dass Fortschritt allein von Optimist*innen gebaut wird. In jedem Team muss es Zweifler*innen geben, die Details und Nuancen sehen, auf Risiken und Gefahren hinweisen und sich nicht von Chef*innen zum Schweigen bringen lassen, die die Welt in „Trouble Shooter und Trouble Maker“ einteilen, auf Deutsch wird das Wort Bedenkenträger sehr abfällig verwendet. So manch ein Unglück hätte verhindert, manch eine Gefahr abgewendet werden können, hätte man rechtzeitig Bedenkenträger*innen Gehör geschenkt. Aber die Kraft steckt im Optimismus, dem Glauben, dass etwas Gutes entstehen kann, wenn man die Sorgen und Zweifel nur ernst genug nimmt.

Ganz sicher haben sie auch Martin Baron beschwert, den großen Investigativ-Journalisten, als er sich vor acht Jahren mit Jeff Bezos traf, um über die Zukunft der WaPo zu sprechen. Werde die Redaktion unabhängig bleiben können unter den Augen eines Mannes, für den die WaPo eher Spielzeug als Berufung zu sein schien, und dessen Unternehmens-Imperium in der Abteilung Menschlichkeit deutlich weniger Sterne verdient als in der Kategorie „Customer Obsession“? Der Chefredakteur war jedenfalls zufrieden mit dem Eigentümer, das hat er eins ums andere Mal betont. Womöglich hätte sich Marty Baron sogar selbst eingestellt.

Dieser Beitrag erschien für den Newsletter des Digital Journalism Fellowship am 28. Januar im Blog der Hamburg Media School

Der weltweite Medientreff Twitter ist eine Blase – Kann man sie ignorieren?

Wer als Journalist*in seine/ihre eigene Branche verstehen will, kommt ohne Twitter kaum aus. Das soziale Netzwerk ist ohne Zweifel der weltweit größte Medientreff. Diejenigen, die das tägliche Geschäft bestreiten, treffen dort auf die anderen, die sich aus wissenschaftlicher Perspektive mit Kommunikation beschäftigen. Und praktischerweise tummelt sich dort auch allerlei Top-Personal aus anderen Branchen, denen es auf die Vermittlung von Inhalten und Botschaften ankommt: Politiker*innen, Autor*innen, Wissenschaftler*innen mit Publikationsdrang und all deren Gefolgsleute. Aber wie repräsentativ ist das Bild über die gesellschaftliche Debatte, das dort entsteht?

Ein Aufenthalt in anderen Sphären tut zuweilen gut, um Selbstbild mit Fremdbild abzugleichen. Eine Konferenz zum Beispiel, die sich an keine der genannten Berufsgruppen richtet, ist ein guter Test. Nach vollendeter Keynote spendet das Publikum Applaus, aber keinen einzigen Tweet. Für die Journalistin fühlt sich das an, als sei sie gar nicht aufgetreten. Und dann gibt es noch die Stipendiaten-Gruppe, hochbegabte Naturwissenschaftler*innen und Ingenieur*innen, mit denen man einen ganzen Tag lang über Journalismus und die Medien debattiert. Ob denn Twitter für Journalisten wichtig sei, fragt ein Teilnehmer, man fragt zurück: „Wer von euch ist auf Twitter?“ Eine Hand erhebt sich zögernd und auf halbe Höhe. Ah, willkommen in der anderen Welt, ist das womöglich die echte?

Twitter ist wichtig für die meinungsbildende Elite. Aber wer Journalismus für ein allgemeines Publikum macht und nicht nur für seine Bezugsgruppe, sollte sich so einen Realitätstest schon dann und wann einmal gönnen. Denn viele „normale“ Menschen kommen mit Twitter allein dadurch in Berührung, dass Journalist*innen über die Tweets von Prominenten berichten, ob Politiker, Künstlerin oder bedeutungssuchender Denker sei dahingestellt. Selbst die Tweets von US-Präsident Trump bekommen erst dann Reichweite, wenn Massenmedien sie aufgreifen, erst kürzlich wieder hat dies eine Harvard-Studie
belegt. Außerdem ist Twitter eine Heavy-User Plattform. So sind zum Beispiel in den USA zehn Prozent der Nutzer für 80 Prozent aller Tweets verantwortlich.

All das sollten sich Redaktionen in Erinnerung rufen, wenn sie mit Shitstorms konfrontiert sind – ein Wort übrigens, das man im englischen Sprachraum besser nicht nutzen sollte, es wird dort eher wörtlich verstanden. Mit einem solchen, vor allem auf Twitter ausgetragenen Protest sah sich in der vergangenen Woche die Süddeutsche Zeitung konfrontiert. Einer ihrer Musik-Kritiker hatte sich kürzlich den Star-Pianisten Igor Levit vorgenommen, der nicht nur ein hochbegabter Klavierspieler, sondern auch so etwas wie ein Star-Twitterer ist. Um die Geschichte zusammenzufassen: Der Kritiker war nicht begeistert von Levit, und die Mehrheit der über den Text Tweetenden nicht vom Kritiker und auch nicht von der SZ, die dem Kritiker Raum gegeben hatte.

Nun hatten die Kritiker des Kritikers allen Grund, den Text im Allgemeinen und einige seiner Formulierungen anzugreifen. Es war ein schlechter Text, der vermischte, was nicht zusammengehört, und schlimmer: selbst bei wohlwollender Betrachtung antisemitisch. Die SZ-Chefredaktion hat sich deshalb nach einer ersten Stellungnahme, die sich eher vor den Autor stellte, bei Levit und ihren Leserinnen und Lesern wortreich entschuldigt, und die Kolumnistin Carolin Emcke mit einer Analyse nachlegen lassen, die etwa doppelt so lang und in der Zeitung deutlich prominenter platziert war als das Ursprungsstück.

Nur Insider wissen, was letztlich den Ausschlag für diesen Meinungsumschwung gegeben hat. Waren es die nicht verstummenden Tweets, Abo-Kündigungen, Levit selbst, oder war es der Unmut der Redaktion über den Beitrag? Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt jedenfalls nutzte die Chance, um den Münchner Kolleg*innen von Berlin aus zuzurufen: „Wer Journalismus betreibt, sollte nicht beim ersten Shitstorm einknicken.“

Nimmt man diese Überschrift wörtlich, hat er recht. Führungskräfte sollten ihre Mitarbeiter*innen zunächst einmal vor Angriffen aus den sozialen Netzwerken schützen, statt sie der Masse zum Fraß vorzuwerfen. Ein wichtiger Grund ist, dass die Twitter-Empörung etwas mit der allgemeinen Stimmungslage zu tun haben kann aber keinesfalls muss. Zudem richten sich unpopuläre Meinungen oft gegen die allgemeine Stimmungslage, was sie nicht automatisch unwichtig macht. In diesem Sinne wäre ein schnelles Nachgeben das von Poschardt beschriebene Einknicken. Außerdem heißt Journalismus, dass jemand einen solchen Text beauftragt, gegengelesen und damit die Verantwortung dafür übernommen hat. Und dieser Jemand handelt im Auftrag der Chefredaktion. Distanzieren sich Chefredakteur*innen derart klar von ihren Mitarbeiter*innen, wirkt das ein wenig so, als erklärten VW-Top-Manager, sie hätten mit dem Abgas-Skandal nichts zu tun. Wobei man auf die Entschuldigung aus dem VW-Vorstand bis heute wartet.

Twitter komplett zu ignorieren, ist aber auch keine gute Idee. Immerhin ist das Netzwerk ein von überdurchschnittlich gebildeten Menschen genutztes Stimmungsbarometer. Es empfiehlt sich also, die Debatte dort zu verfolgen und zu analysieren, bevor man sie mit „schon wieder so ein Shitstorm“ abtut. Wenn der Ton stimmt und Argumente statt Polemik den Unmut prägen, ist es richtig und wichtig zu reagieren.

Starke Medienmarken verfügen über Meinungsmacht, Reichweite und den Anspruch an journalistische Qualität. Man kann von ihnen Sorgfalt bei der Publikation eines Artikels erwarten. Wurde diese Sorgfalt vernachlässigt, sind Konsequenzen nötig, womöglich auch eine Entschuldigung. Bei der New York Times musste ein Ressortleiter seinen Posten räumen, nachdem zweimal in Folge Gastbeiträge erschienen waren, die er angeblich nicht gelesen hatte.

Auch wenn sich Chefredakteur*innen anderer Medien daran belustigen: Es gehört manchmal mehr Rückgrat dazu, aus Fehlern zu lernen, als stur auf seinem Kurs zu beharren. Allerdings sollte dies transparent geschehen, gut begründet werden, und die Fürsorgepflicht gegenüber dem Autor oder der Autorin muss gewahrt bleiben.

Im Fall der SZ dürfte nicht Twitter den Ausschlag gegeben haben, sondern die Verletzung von Igor Levit selbst, der sich in einem zunehmend belastenden Klima des Antisemitismus in Deutschland behaupten muss. Eine Entschuldigung hätte er auch ohne Empörungswelle verdient gehabt.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School am 23. Oktober 2020.