Verlockt, verwöhnt, verbunden: Mit dieser Preispolitik erobern Verlage die Herzen ihrer Kunden

Wer viel unterwegs ist, hat sich längst daran gewöhnt, dass Preise nicht nur von der Qualität des Produkts abhängen: Airlines verkaufen ihre Tickets je nach Nachfrage, bei Booking.com zahlen Smartphone-Nutzer und loyale Kunden günstigere Raten für Hotelzimmer, an der Tankstelle steht manchmal ein anderer Liter-Preis an der Zapfsäule als der, den man noch vor ein paar Minuten an der Einfahrt gesehen hatte. Und womöglich wird zukünftig auch die Kneipe zu einer Art Bier-Börse: „The rise of surge pricing: It will eventually be everywhere“, betitelte die Financial Times kürzlich eine größere Recherche, nachdem eine britische Pub-Kette angekündigt hatte, zu Stoßzeiten mehr fürs Bier zu verlangen. 

In der Medienbranche halten sich die flexiblen Preismodelle noch in Grenzen, aber es gibt sie: Die New York Times verlangt für das Abo in Europa deutlich weniger als auf dem Heimatmarkt. Andere Marken wie der zur schwedischen Bonnier-Gruppe gehörende Dagens Nyheter arbeiten mit dynamischen Bezahlschranken, die hochgezogen werden, sobald ein Text häufig und ausführlich gelesen und geteilt wird, die Nutzer ihn also als besonders attraktiv bewerten. Außerdem scheinen Abos zuweilen Verhandlungssache zu sein. Nic Newman und Craig Robertson vom Reuters Institute in Oxford bezeichnen es als eines der erstaunlichsten Erkenntnisse einer auf Deutschland, die USA und Großbritannien fokussierten Studie, welche Bandbreite an Abo-Preisen verschiedene Nutzer für ein und dasselbe Produkt zu zahlen scheinen. Die Untersuchung Paying for News: Price-Conscious Consumers Look for Value amid Cost-of-Living Crisis erschien im September 2023.

Flexible Preise sind kein „No Go“ mehr

Flexible Preise galten lange als „No-Go“. Aber womöglich ist es nur fair, dass diejenigen mehr für ein Produkt zahlen, denen es mehr bedeutet. Angesichts der rasant wachsenden Möglichkeiten künstlicher Intelligenz ist es absehbar, dass sich in verschiedensten Branchen Preismodelle durchsetzen werden, die berücksichtigen, wann, wie häufig, wie intensiv und von welchem Endgerät aus ein Nutzer auf bestimmte Produkte und Dienstleistungen zugreift. Verlage sind also gut beraten, schon jetzt mit Kreativität an die Sache zu gehen. Denn zwischen Paywall, Mitgliedschaften und dem unbegrenzt kostenlosen Zugriff gibt es noch eine Reihe von flexiblen Möglichkeiten. Wichtig ist allerdings, dass man sich über seine Strategie und Zielgruppen im Klaren ist – und die darf man getrost differenzieren.

Die New York Times zum Beispiel wird für die wenigsten Menschen in Übersee beim Abo-Abschluss erste Wahl sein, anders als in ihrem Kernverbreitungsgebiet rund um New York City. Es ist nur logisch, dass der Verlag nicht allen Kunden den gleichen Preis anbietet. Der Guardian verzichtet ganz auf Bezahl-Zwang, weil sich die Geschäftsführung darauf verlassen kann, dass ein beträchtlicher Teil des politisch eher links engagierten Publikums aus moralischer Verpflichtung freiwillig für den Journalismus zahlt und ihn auch anderen zugänglich machen möchte. Fast nirgendwo anders funktioniert dieses Modell so gut wie dort.  

Eine vielversprechende Mischform ist der Text zum Verschenken. Schon jetzt erlauben viele Medienmarken ihren Abonnenten, Beiträge mit einer begrenzten Anzahl von Nutzern zu teilen. Für das dänische Journalismus-Portal Zetland ist das ein Erfolgsprinzip: Abonnenten dürfen Geschichten unbegrenzt oft verschenken. „Journalismus funktioniert als Gespräch“, sagt Zetland-CEO Tav Klitgaard. Das 2016 gegründete, strikt auf konstruktiven Journalismus fokussierte Medienunternehmen generiert auf diese Weise Leser-Einnahmen und Reichweite gleichermaßen, und es scheint sich auszuzahlen. Seit 2019 ist Zetland profitabel und hat mittlerweile 40.000 zahlende Kunden, die pro Monat im Schnitt 17 Euro hinlegen. Ein Drittel davon ist jünger als 33 Jahre. Die Gründer führen dies natürlich nicht nur auf das Geschenk-Konzept zurück, sondern auf die  journalistische Qualität und ein stark auf Audio ausgelegtes Angebot.  

Auch das kulturelle Umfeld ist für die Preisgestaltung relevant

Wer an Preis- und Geschäftsmodellen arbeitet, sollte sich aber nicht nur mit seinen Produkten und Nutzern, sondern auch mit dem kulturellen Umfeld beschäftigen. US-Amerikaner zum Beispiel sind das Spenden gewöhnt, sie tun es in den vielfältigsten Zusammenhängen gerne und reichhaltig. In Deutschland, wo man Wohltätigkeit vor allem vom Staat erwartet, weil man ohnehin kräftig Steuern zahlt, ist die Spender-Kultur weniger ausgeprägt. Preise und Leistung werden genauer abgeglichen. Wer hier auf Mitgliedsmodelle setzt, muss mindestens eine gute Story bieten.

Für alle Kulturräume gilt: Verlage, die allzu starr an ihren Bezahlmodellen festhalten, machen es sich unnötig schwer. Viele Medienhäuser erleben, dass eine harte Paywall das Wachstum irgendwann versiegen lässt, weil ein Grund-Potenzial ausgeschöpft ist. Die NOZ-Gruppe experimentiert deshalb neuerdings mit flexibleren Modellen, um unterschiedliche Nutzerbedürfnisse besser abzuschöpfen – die Bezahlschranken variieren je nach Themenfeld und Angebot. Als Grundregel lässt sich feststellen: Themen und Formate, die es auch anderswo gibt, sollten eher frei zugänglich sein. Bei Marken mit Alleinstellungsmerkmal  können sich höhere Barrieren lohnen. Mancher Inhalt lässt sich über Anzeigeneinnahmen besser monetarisieren. 

Wichtig ist auch, dass sich Abos schnell kündigen lassen. Vertriebsleuten alter Schule mag das Magenkrämpfte bereiten. Aber wer sich im Abo fühlt wie im Gefängnis, wird bei nächster Gelegenheit ausbrechen und nie wiederkommen. Es ist deutlich sinnvoller, Kunden jederzeit gehen zu lassen, ihnen aber immer wieder neue Angebote zu machen. Dabei darf man ihnen ruhig ein bisschen auf die Nerven gehen. KI wird dabei helfen, die richtigen Anreize zu setzen. 

Die Forscher des Reuters Institutes haben übrigens herausgefunden, dass es kaum Unterschiede zwischen den Altersgruppen gibt, was die Zahlungsbereitschaft für Journalismus angeht. Allerdings weichen die Preisvorstellungen voneinander ab – auf eine Weise, die für die Verlage eher ungünstig ist. Während für ältere Kunden das Zeitungsabo der Referenzrahmen sei, verglichen jüngere die Angebote mit den Kosten und Nutzen von Netflix und Spotify, sagt Autor Nic Newman. Ein E-Paper-Abo ist derzeit zwar das lukrativste digitale Medienprodukt, dessen Fans dürften aber mittelfristig weniger werden. 

Man kann nur jedem Verlagsverantwortlichen raten, offen an die Preisgestaltung heranzugehen. Während einige Nutzer strikt aufs Budget schauen und am liebsten penibel abrechnen möchten, mögen die anderen bereit sein, für eine Art Deutschland-Ticket für Journalismus tatsächlich 49 Euro zu zahlen. Und wenn man hier mal fantasieren darf: Vielleicht könnten sogar Öffentlich-Rechtliche und ein paar Verlage ihre Streitigkeiten beilegen und eine Flatrate für Qualitätsjournalismus entwickeln, eine Art aufgestockte Haushaltsabgabe, bei der man sich quer durch verschiedenste Angebote lesen und hören kann. Kern aller Modelle sollte es sein, gewohnheitsbildend zu wirken – auch wenn das nur mit Hilfe von Rätseln und Kochrezepten funktioniert. Im Sinne einer gut informierten, aufgeklärten Bevölkerung und Wählerschaft ist es wichtig, dass Menschen Interesse an Journalismus entwickeln und es durch verschiedenste Lebenslagen beibehalten. Dann werden sie auch immer mal wieder zahlen.                    

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 28. September 2023. Aktuelle Kolumnen lassen sich mit einem Abo lesen. 

Und jetzt das Wetter! – Warum Redaktionen bei der Abo-Jagd weiter denken müssen

Es mag an Corona liegen, dass sich so manch eine*r an den Fernsehbildern in der ersten Februarhälfte kaum sattsehen konnte: Hilfsfahrzeuge, die andere Hilfsfahrzeuge aus Schneewehen schleppen, feststeckende Busse, Straßen- und Schwebebahnen, rotwangige Kinder, die verschneite Hügel herunterrodeln, all das moderiert von Korrespondent*innen, die ebenso selten zum Einsatz kommen wie deren mitgeführter, sichtbar im Schrank gealterter Ballon-Anorak. Endlich mal raus aus der Bund-Länder-Impf-und-Öffnungs-Krisen-Dauerschleife bebildert mit der obligatorischen Impf-Szene, hinein ins pralle, kalte Leben. Kanzlerinnen-Korrespondent*innen mögen darüber stöhnen, Investigativ-Reporter*innen die Nase rümpfen, aber manchmal interessiert die Leute eben nur eines: das Wetter.

Solche Publikums-Vorlieben haben für viele Journalist*innen das Zeug zu einer schweren Kränkung. Da recherchieren sie monatelang an einer Story, sichten Excel-Tabellen, schwatzen Quellen vertrauliche E-Mails ab, riskieren Nerven, Gesundheit und Sicherheit, und warum schließen Kund*innen dann ein Abo ab: Damit sie die Kreuzworträtsel-App nutzen oder sich bei den Kochrezepten bedienen können. So wachsen beim Branchen-Vorbild New York Times die Verkäufe genau jener digitalen Produkte deutlich schneller, die nichts mit dem Nachrichtengeschäft zu tun haben.

Auch wenn deutsche Verlage darüber sinnieren, wie sie ihre Abo-Angebote aufwerten könnten, denken sie eher selten an eine aufgestockte Politik- oder gar Feuilleton-Redaktion. Von den 16 Punkten, die Medien-Manager*innen dem Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger in seine im Februar veröffentlichten Trend-Umfrage tippten, hatten die Allerwenigsten mit klassischem Journalismus zu tun. Genannt wurden Features wie Gewinnspiele, Archiv-Zugang, Events, Rabatte im Online-Shop, Traueranzeigen, interaktive Elemente, Gamification und Plus-Newsletter – letzterer enthält zwar Journalismus, selten aber die große Reportage, deren Recherche auch Nachwuchsjournalist*innen noch erstaunlich oft ins Zentrum ihrer beruflichen Ambitionen rücken. Und dann zitiert der nahezu trommelnd optimistische, von der Agentur Schickler verfasste Bericht noch den Digitalchef der NOZ-Mediengruppe, Nicolas Fromm, mit den Worten: „Insgesamt gibt es drei wichtige Hebel für unseren Erfolg: Technologie gepaart mit Datenanalyse, Markt-Nutzer-Knowhow und Organisation.“ Hallo, war da noch was? Oder anders gefragt: Verkauft sich Journalismus etwa nicht?

Davon kann keine Rede sein. Starker Journalismus, der nahe an den Bedürfnissen des Publikums liegt, ist nach wie vor die Säule, auf der die Kundenbindung ruht. Exklusive, exzellent geschriebene Geschichten mit hohem Erklär-, Erzähl- und sonstigem Mehrwert ziehen Menschen zur Marke und stärken sie. Das bestätigt die New York Times ebenso wie die schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter (DN), die das vergangene Jahr wegen des rasanten Digital-Abo-Wachstums als das wohl erfolgreichste seit den 1990ern bilanziert. Aber während viele Redaktionen noch daran rätseln, welche Geschichten genau denn die Leser*innen zur Herausgabe ihrer Zahlungsinformation motivieren, empfehlen andere längst: größer denken! Die Kund*innen entscheiden sich nämlich nach einer längeren Reise für das Abo, und da gehört ein ganzes Paket an Erfahrungen dazu. Das Lesevergnügen ist nur ein Teil davon.

Für Dagens-Nyheter-Chefredakteur Peter Wolodarski war zum Beispiel der Umstieg auf die Zahlungs-App Klarna ein Schlüssel zum Erfolg. Wolodarski liebt starken Journalismus und kauft gerne große Talente ein, aber auf dem Wachstums-Pfad trugen die dynamische Paywall, das Testen verschiedener Preismodelle und die vereinfachten Prozesse rund ums Abonnieren und Kündigen mindestens genauso zur Beschleunigung bei wie redaktionelle Projekte. Nichts war allerdings so wirkungsvoll wie der Tag, an dem Greta Thunberg die DN-Chefredaktion übernahm – journalistisch vielleicht nicht der stärkste, aber am Abend habe man mit mehr als 10 000 Abos im Plus gestanden, erzählt ein Manager. Andere skandinavische Verlage experimentieren mit Bots, die zum Beispiel über Hausverkäufe schreiben und auf diese Weise ordentlich Abos generieren. Müssen Reporter*innen da beleidigt sein? Eher nicht, denn das lässt ihnen mehr Zeit für Recherchen in der Lokalpolitik. Die sind wichtig für Vertrauen, Image und journalistische Mission, führen aber selten zum Abo-Verkauf.

Hier liegt auch einer der Gründe, warum der Einzelverkauf von Texten praktisch nirgendwo funktioniert. Menschen zahlen selten für Texte, die gibt es im Überfluss. Sie investieren in Erlebnisse, Verlässlichkeit, Zugehörigkeit, Service und ein Qualitätsversprechen. Ein einzelner Text, von dem man am Anfang nicht weiß, wo am Ende der Mehrwert liegt, ist ein zu vages Angebot. Eine starke Redaktion alleine kann ihre PS genauso wenig auf die Straße bringen wie starke Verlagsabteilungen, der Erfolg liegt in der Kooperation. Investigativ-Recherchen alleine holen das Publikum nicht ab, manchmal muss es auch das Wetter sein.

Nutzerfreundlichkeit war übrigens schon bei der gedruckten Zeitung zentral, nur hieß es damals noch nicht User Experience (UX). Schon immer wurden deutlich mehr Abos wegen unzuverlässiger Zustellung oder ruppigem Service an der Kunden-Hotline gekündigt als mit der Begründung, dass einem ein Kommentator nicht passt. Für die Redaktion kann es sogar beruhigend sein, nicht die gesamte Last der Abo-Akquise auf ihren Schultern zu spüren. Wenn’s mal wieder gar nicht läuft mit der Conversion, dann liegt’s bestimmt an der UX. Ein bisschen Trost geht immer.

Diese Kolumne erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 11. Februar 2021.

Die gläsernen Reporter kommen – Auf der Suche nach den richtigen Daten

Früher hatte ein Chefredakteur definitiv die Lacher auf seiner Seite, wenn er öffentlich über „Käi Pi Eis“ witzelte. So ein Zeug wie Key Performance Indicators (KPIs), also Kennzahlen, die Leistung mess- und vergleichbar machen sollen, war definitiv etwas für die von der anderen Seite. Gemeint waren damit die Typen aus dem Verlag oder aus anderen Branchen und Unternehmen, wo man Management lernen musste und nicht einfach nur so managte. Mochten sich Journalisten an manchen Tagen wie Handwerker fühlen, nur dass sie elektronische Flächen mit Zeilen füllten statt Ziegel zu schichten, in dem Punkt waren sie ganz Künstler: Der Wert ihrer Werke lasse sich keinesfalls in Excel-Tabellen abbilden, fanden sie.   

Ein paar Lacher würden Redaktionsleiter mit dem KPI-Gag heute vermutlich immer noch kassieren, aber den meisten ist das Witzeln vergangen. Stattdessen überlegen sie, wie sie ihre Journalisten behutsam dafür erwärmen können, die Wirksamkeit ihrer Arbeit mit Daten abzubilden. Denn nur so lassen sich knappe Ressourcen besser steuern. Welche Texte, Podcasts und Videos fesseln Kund*innen für wie lange, wie sieht der typische Leser*innen-Weg in den Wochen vor dem Abschluss eines Abos aus, mit welchen Inhalten hält man Abonnent*innen besonders bei Laune? Besser wär’s, man wüsste es. 

Fakt ist, moderne Redaktionen erfreuen sich durchaus daran, Daten aller Arten zu erheben, zu analysieren und zu nutzen – nur dann nicht, wenn es um individuelle Leistungen und gar Ziele geht. Ist es in anderen Branchen selbstverständlich, Mitarbeiter*innen nach Output, Geschwindigkeit oder Verkäufen zu bewerten, haben Journalist*innen – zumindest in Deutschland – eher Schwierigkeiten damit. Journalismus könne man nicht auf diese Weise kategorisieren, argumentieren sie dann, und wissen damit Betriebsrat und Gewerkschaften auf ihrer Seite. Denn den meisten Arbeitnehmervertretern ist jegliche Art individueller Leistungskontrolle suspekt.

Einerseits haben sie zuweilen recht. Denn auch rund um redaktionelle Angebote gibt es eine Menge Daten, die wenig oder das Falsche aussagen, verwirren oder in die Irre leiten. Der Weg zu sinnvollen Kennzahlen ist oft lang und von Versuch und Irrtum geprägt. Andererseits spüren manche, dass sie mit ihrer Opposition falsch liegen, pflegen sie aber trotzdem – aus Eigeninteresse.

Dahinter steckt Angst, und auch die ist berechtigt. Früher konnte man noch die Reichweite des Mediums stolz vor sich hertragen, selbst wenn man ahnte, dass nicht jeder eigene Text ein Kracher war. „Die FAZ lesen vielleicht ein paar Hunderttausend, aber uns liest ganz Deutschland!“, belehrte der ältere dpa-Kollege die junge Kollegin, was damals aufmunternd gemeint war. Das ist ein Vierteljahrhundert her, das Selbstverständnis hat aber überlebt. Heute allerdings zeigen redaktionelle Analytics sehr individuell, ob tatsächlich ganz Deutschland liest, oder ob der scharf durchdachte Essay die Leser*innen komplett kalt lässt oder sie nach durchschnittlich zehn Zeilen rauswirft. Und offene Dashboards machen das im Zweifel auch für die Kolleg*innen transparent. Die Sorge ist groß, dass solche Angaben als Leistungsanalyse missbraucht und bei der nächsten Sparrunde gegen einzelne Reporter*innen und Redakteur*innen genutzt werden.

Wie gehen Führungskräfte mit diesem Dilemma um? Denn natürlich ist es wichtig, solche Daten zu erheben, um Mitarbeiter*innen sanft in die strategisch gewünschte Richtung oder entlang ihrer eigenen Stärken zu steuern. Schließlich kommt es darauf an, mit schrumpfenden Kapazitäten mehr zu erreichen. Und das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Ein Stück, dass kaum jemand sieht, hört, liest, kann nichts bewegen, so gut es auch gemeint sein mag. Journalismus rechtfertigt sich über seine Wirkung, weniger denn je ist er reine Chronistenpflicht.

Gefragt sind also Metriken zum Mögen. Und da kommt es auf ein paar Dinge an. Zunächst einmal sollten es die richtigen sein. Zahlen, die nur die Eitelkeit befriedigen, weil sie in ein Chart gepackt hohes Wachstum suggerieren und sich deshalb bei der Präsentation im Führungskreis gut machen, werden zurecht keine Akzeptanz finden. Klicks und Seitenaufrufe zum Beispiel mögen zwar beeindruckend sein, sagen aber nichts darüber aus, ob Inhalte wirklich Kunden binden und am Ende Einnahmen generieren. Sie fördern höchstens die Art Journalismus, für die sich selbst außerhalb der Branche das Wort Clickbait durchgesetzt hat.

Außerdem müssen die Zahlen die Strategie abbilden. Wer auf digitale Abos abzielt, braucht andere Kennwerte als derjenige, dem Reichweite wichtig ist, wer viele Abo-Abschlüsse aber eine hohe Kündigerquote hat, muss wieder anderes messen. Gewöhnlich dauert es eine Weile, bis Redaktionen ihre „North Star“ Metrik gefunden haben, also ein meist aus mehreren Zahlen kombinierter Wert, der aussagt, ob man sich in die richtige Richtung bewegt. Erst wenn das gelungen ist, lohnt es sich, auch die Mitarbeiter*innen darauf einzuschwören.

Darüber hinaus müssen die Zahlen verständlich und einfach zu kommunizieren sein. Philipp Ostrop, Mitglied der Chefredaktion bei Lensing Media, berichtet von den Erfahrungen bei den Ruhr Nachrichten: „Wir haben am Anfang unserer Digital-Abo-Reise den Fehler gemacht, die Newsrooms auf den schönen neuen Dashboards mit zu vielen und zu wenig relevanten Daten und Metriken zu nerven. Das war zu kompliziert und vor allem nicht handlungsorientiert.“ Die Leitfrage müsse lauten: Wer benötige welche Zahlen, um davon abzuleiten, was nun zu tun sei.

Ideal ist ein einziger Wert, der aussagt, ob ein Text zum gewünschten Ziel beiträgt oder nicht. Das kann die Anzahl der Abonnenten sein, die ein Stück lesen, was ein Hinweis auf Loyalität und Kundenbindung ist. Bei Lensing sind es die Daily Active Subscribers. Andere Redaktionen kombinieren mehrere Metriken zu einem Wert. Wieder andere kommunizieren allein die Zahl der Digital-Abo-Abschlüsse. Allerdings setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass selten nur eine einzige Geschichte zum Griff nach der Kreditkarte motiviert. Einige Redaktionen, zum Beispiel schauen sich deshalb das Leseverhalten in den Wochen vor dem Abo-Abschluss an. Alle Texte, die in dieser Zeitspanne auftauchen, werden als wirksam eingestuft.

Hierzulande zögern die meisten Redaktionen noch, solche Messwerte zu nutzen, um damit Kolleg*innen zu bewerten oder ihnen Ziele zu setzen. Man hofft, dass sie aus eigenem Antrieb gut abschneiden wollen. In amerikanischen Newsrooms wird Leistung mit höherer Selbstverständlichkeit bewertet. Die Seattle Times hat dabei eine interessante Strategie entwickelt: Die Kolleg*innen treten im Wettbewerb gegen sich selbst an. Sie müssen ihren Vorjahreswert an wirksamen Texten – gemessen an der Nähe zu Abo-Abschlüssen – jeweils um 15 Prozent übertreffen. Auf diese Weise stehe Qualität im Zentrum, sagt der geschäftsführende Redakteur Danny Gawlowski. „Wenn ich die Opern-Kritikerin mit dem Kollegen vergleiche, der über Fußball schreibt, ist das Unsinn.“ Allerdings habe es ein paar Jahre und etliche Diskussionen inklusive Verwirrung gekostet, bis man sich auf die gegenwärtige Metrik verständigt habe – und natürlich suche man nach immer noch besseren Messmethoden.

Ganz wichtig dabei sind Transparenz und eine offene Diskussionskultur. So erlebt es zumindest der geschäftsführende Redakteur der schwedischen Zeitung Dagens Nyheter, Caspar Opitz. Die meisten Kolleginnen und Kollegen fänden es gut, dass sie wüssten, wie ihre Geschichten abschnitten, sie wollten ja gelesen werden. Man nutze die Erkenntnisse aber vor allem, um daraus zu lernen, nicht für Sanktionen. „Mitarbeiter sollen sich sicher fühlen“, ist der Leitsatz von Dagens Nyheters Chefredakteur Peter Wolodarski. Er findet es wichtig, Arbeitnehmervertreter frühzeitig in alle Prozesse einzubinden. Der Journalistenberuf sei schon fordernd genug.

Mitarbeitern Sicherheit bieten, das ist Kern guter Führung. Das bedeutet aber nicht, das Team im wohlig-warmen Gefühl zu baden, dass alles so bleiben kann, wie es ist – denn das wird es nicht. In Zeiten rasanten Wandels heißt Sicherheit bieten vor allem, Mitarbeiter*innen auf dem Weg in die Ungewissheit zu begleiten. Zahlen und Ziele helfen dabei, Erwartungen klar zu formulieren, zu kommunizieren und wenn nötig gemeinsam anzupassen. Das ist zumindest ein Gerüst, an dem man sich entlanghangeln kann. Auch wenn es manchmal ins Schwanken gerät.  

Dieser Text erschien zuerst am 29. Mai 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School.