Excel statt Prosa: Was Journalisten künftig können sollten

Man kann es traurig finden, dass Dirk Kurbjuweit nun Chefredakteur des Spiegel ist, selbst wenn man in der jüngsten Personalrochade keine Loyalitäten zu beachten hat. Immerhin geht dem Magazin ein überragender Beobachter und Schreiber verloren, der sich nun in strategischer Arbeit und Machtkämpfen aufreiben muss, statt das zu fabrizieren, was die Marke ebenso dringend braucht: erstklassigen Journalismus. Vor allem aber ist man als Unbeteiligte – womöglich zu Unrecht – verwirrt. Wird nicht seit Jahren auf ziemlich allen Branchen-Konferenzen gepredigt, dass es eine der größten Sünden bei Beförderungen ist, auf die exzellente Fachkraft zu setzen statt auf jene Kolleginnen und Kollegen mit dem größtmöglichen Führungspotenzial? Schließlich brauchen Medienhäuser in diesen Tagen vor allem versierte Strategen, die es zudem schaffen, Talente zu binden. 

Die Signalwirkung der Entscheidung, die Schreibkraft Nummer eins zum Chef von Deutschlands wichtigstem Nachrichtenmagazin zu machen, ist nicht zu unterschätzen. Junge Journalistinnen und Journalisten beobachten das und ziehen daraus ihre Schlüsse. Und damit stellen sie womöglich ihre beruflichen Weichen in eine ungünstige Richtung. Müssen die Medienschaffenden der Zukunft doch viele neue Dinge trainieren, die erst langsam in die Ausbildungspläne der Branche einsickern. Recherche und Schreiben gehören dazu, bilden aber nur noch einen kleinen Teil des Redaktionsalltags ab. Hier sind sieben Fertigkeiten, die auf jeden Fall zu den künftigen Grundkompetenzen gehören:

Verständnis von Geschäftsmodellen und Strategie

Die Entschuldigung, sich als Redaktionsmitglied nicht mit profanen Dingen wie Geldverdienen beschäftigen zu müssen, können sich künftig vielleicht noch ein paar Künstler leisten. Selbst denen hilft es zu wissen, wie ihre Gehälter erwirtschaftet werden. Schon heute haben viele Chefredakteure Ergebnisverantwortung, und das ist gut so. Wer mit seinem Journalismus etwas bewirken will, muss ihn gezielt einsetzen und dessen Erfolge kontrollieren. Ansonsten ist er nicht viel mehr als eine kostspielige Form der Selbstbefriedigung. Medienhäuser werden es sich künftig immer weniger leisten können, Ressourcen zu vergeuden. Im gerade anbrechenden Zeitalter von Künstlicher Intelligenz ist eine Strategie besonders wichtig. Wer da noch rein nach Bauchgefühl agiert und alles macht, nur weil man es machen kann, wird seine Redaktion überfordern und sein Publikum ohnehin. Journalisten, die strategisch denken können, tun sich zudem leichter mit einer Zukunft als Entrepreneure – eine Möglichkeit, die das Fach heute zum Glück eröffnet. 

Wissen über und Erfahrung in der Anwendung von KI

Künstliche Intelligenz eröffnet dem Journalismus große Chancen, birgt aber auch Risiken. Sie ist schon jetzt nützlich sowohl in der Recherche als auch in der Produktion und beim Ausspielen von Journalismus. Man kann damit unter anderem Quellen aufspüren, Interviews vorbereiten, datenjournalistisch arbeiten, Inhalte zielgruppengerecht entwickeln und personalisiert verteilen. „Journalisten aller Ressorts sollten sich mit KI beschäftigen“, sagte Garance Burke, Investigativ-Journalistin der Nachrichtenagentur AP in der vergangenen Woche auf dem IPI World Congress in Wien. Es ist aber auch wichtig, die Grenzen und Gefahren von KI zu kennen. Gibt es keine Kontrolle, kann sie dazu beitragen, Stereotype und Fehler zu potenzieren. Jede künstliche Intelligenz ist immer nur so gut wie der Datensatz, auf dem sie aufbaut.  

Kompetenz im Umgang mit Zahlen und Daten

Es soll noch heute Journalisten geben, die sich damit brüsten, in Mathe immer versagt zu haben. Möglicherweise gehören dazu einige derjenigen, die in der Wahlberichterstattung regelmäßig Prozent und Prozentpunkte verwechseln. Allerdings wird Datenjournalismus immer wichtiger werden, allein weil es immer mehr Daten gibt. Außerdem hilft Datenanalyse dabei, auf der Basis von Fakten ab und an mal die Agenda zu setzen, statt der Agenda anderer hinterher zu jagen. Gefragt, wie sich die Journalistenausbildung ändern müsse, riet Florencia Coelho, Ausbildungsredakteurin bei der argentinischen Zeitung La Nacion, auf dem IPI Congress vor allem eines: „Alle müssen lernen, mit Excel Tabellen zu arbeiten“.

Abgesehen von der Inhalte-Produktion kommt Datenverständnis auch in der Redaktion gelegen, wenn es darum geht, Nutzerzahlen zu analysieren und zu interpretieren. Je nach Strategie zeigen verschiedene Metriken, welche Inhalte erfolgreich sind und welche Mühe man sich sparen kann. Im Vorteil ist, wer solche Daten lesen und – noch besser – die Vorgaben entsprechend anpassen kann. 

Freude an kurzen oder spielerischen Formaten 

Im Journalismus sind in den vergangenen Jahren rund um Social Media und Datenanalyse viele neue Jobs entstanden. Dennoch ist der Traum vieler angehender Journalisten gleich geblieben: einmal eine Seite Drei schreiben. Das ist schade. Denn mit kurzen Formaten – insbesondere Video – spricht man Zielgruppen an, die der Journalismus früher eher ignoriert hat. Viele Menschen lassen sich zudem lieber auf komplexe Themen ein, wenn sie dies spielerisch tun können. Ein Beispiele dafür ist das von der Financial Times mit großem Aufwand produzierte Climate Game. Gerade junge Menschen nähern sich Nachrichten besonders gerne, wenn es lustig zugeht. Comedy-Formate sind gefragt. Das hunderte Zeilen lange Feature wird weiterhin Aufmerksamkeit finden, wenn es entsprechend erzählt ist. Aber mit der Vielzahl der Plattformen steigen die Möglichkeiten, Inhalte anders zu vermitteln. Gut für junge Absolventen ist: Wer neue Formen beherrscht, hat weniger Konkurrenz. Viele Redaktionen sind gut gefüllt mit versierten Schreibern. Wer Neues einbringen kann, ist gefragt.     

Faktenwissen zu Klimawandel und Nachhaltigkeit 

Der Klimawandel ist das größte vorhersehbare Risiko für die Menschheit. Redaktionen haben deshalb die Pflicht, ihr Publikum dabei zu unterstützen, zukunftsorientierte Entscheidungen für sich, ihre Kinder und ihr Umfeld zu treffen. Jede Journalistin, jeder Journalist braucht ein Basiswissen in diesem Feld, das sämtliche Ressorts durchzieht und nach Einordnung ruft. Redaktionen wie Radio France haben deshalb damit begonnen, sämtliche Mitarbeitende in Sachen Klimafakten zu schulen. In der Journalistenausbildung sollte die Wissensvermittlung zum Thema Nachhaltigkeit eine Selbstverständlichkeit werden.   

Kenntnisse im Projekt- und Change-Management

Man mag argumentieren, dass das Managen von Veränderungen Chefsache ist, und Journalistenschüler sind noch keine Chefinnen oder Chefs. Aber auch Berufsanfänger werden heute oft schon mit Projekten betraut, auch, weil sie sich Verantwortung wünschen. Bei der zum britischen Konzern Reach gehörenden Marke Birmingham Live war es zum Beispiel eine Volontärin, die den überaus erfolgreichen Newsletter Brummie Muslims entwickelte, der sich an die muslimische Bevölkerung richtet. Es ist deshalb nützlich, wenn schon junge Mitarbeitende wissen, wie man Projekte managt, Koalitionen schmiedet, Befürworter auf seine Seite zieht, Ergebnisse nachhält und mit Fehlern umgeht. All das ist kein Hexenwerk, es gibt Werkzeuge dafür, die sich immer wieder auspacken lassen. Je früher man sie beherrscht, umso selbstverständlicher wendet man sie an.     

Kenntnisse aus Kommunikationswissenschaft, Psychologie und Neurowissenschaften

Es gibt zahlreiche akademische Disziplinen, die dem Journalismus viel zu sagen hätten. Nur halten sich beide Seiten gerne auf Distanz. Man wirft sich gegenseitig Praxisferne beziehungsweise Oberflächlichkeit vor. Dabei könnten Praktiker und Forscher viel voneinander lernen. Für Journalisten ist es wichtig zu wissen, wie Menschen Informationen aufnehmen und verarbeiten, welche Reize wirken und welche überfordern. Schon lange forschen Wissenschaftler zum Beispiel zum Thema Nachrichtenvermeidung, erst seit kurzem wird dies von Redaktionen ernsthaft diskutiert. Journalisten fordern von anderen oft, dass sie sich mit der Wirkung ihres Tuns auseinandersetzen müssen, in Kommentaren verlangen sie dies zum Beispiel regelmäßig von den großen Tech-Konzernen. Es wird Zeit, dass sie diesen Rat auch selbst beherzigen.       

Diese Kolumne erschien am 31. Mai 2023 bei Medieninsider.


Job Titel: Managing Roboter

Automatisierung in der Redaktion, für manch einen mag das nach Arbeitsplatzabbau klingen. Tatsächlich kann sie Medienhäusern beim Überleben helfen und den Journalismus verbessern. Es kommt ganz darauf an, was man damit macht.   

Wenn Unternehmen jetzt für Produkte werben, die Corona im Titel tragen, stellt sich zuweilen Misstrauen ein. Schließlich gilt: Keine Krise ohne Krisengewinnler, und nicht jeder hat das Gewinnen verdient. Brauchen Redaktionen also „Corona Watch“? Der Bot wertet automatisch wichtige Quellen zur Krisenlage aus und alarmiert Redakteure und Reporter über einen Slack Channel. Die Redaktion legt vorher Quellen und Kriterien fest.

Die Redaktion der schwedischen Tageszeitung Aftonbladet findet: ja. Chef vom Dienst Michael Poromaa sagt, das Tool entlaste sein Team nicht nur, es verschaffe ihm auch einen Wettbewerbsvorteil. Man hätte sonst 21 Seiten der lokalen Gesundheitsbehörden ständig selbst aktualisieren müssen, so Poromaa. „Vorher waren wir oft maximal die zweiten, die über neue Fälle berichtet hatten, jetzt sind wir die ersten.“

Entwickelt hat „Corona Watch“ die schwedische Firma United Robots, die diverse automatisierte Lösungen für Redaktionen anbietet. Aftonbladet sei mit der Idee gekommen, innerhalb eines Tages habe man sie umgesetzt, sagt Cecilia Campbell. Campbell berät United Robots, zuvor hat die Journalistin Redaktionen für die World Association of News Publishers (Wan-Ifra) beim Aufbau von Bezahlangeboten unterstützt. In Skandinavien hat man wenig Berührungsängste, was den Roboter-Journalismus angeht, im Gegenteil. „Wer es sich noch leisten kann Journalisten einzustellen, setzt sie lieber auf größere Recherchen an“, sagt Campbell. Viele einfache Aufgaben hingegen könne man gut an Roboter auslagern.

Viele Verlage glauben, dass Automatisierung der Branche beim Überleben helfen kann. Stefan Aberg zum Beispiel leitet ein Team von gerade einmal zwei Dutzend JournalistInnen beim schwedischen Medienhaus VK Media. Es sei unmöglich, damit alle Kundenbedürfnisse zu erfüllen, sagte er 2019 auf einer Konferenz. Die Lösung: „Wir bauen eine Armee von Robotern.“ Man habe Bots für alles Mögliche: Wetter, Verkehr, Grundstücksverkäufe, Sportwettkämpfe. Seitdem die Redaktion sie großflächig verwende, sei die Zahl der Digital-Abonnenten um 70 Prozent gestiegen.

Schon heute setzen Redaktionen überall auf der Welt künstliche Intelligenz ein. Die größte Rolle spielt sie bislang im Marketing. Bots machen Leserinnen und Lesern automatisiert Abo-Angebote oder beliefern sie mit personalisierten Inhalten. Manch einer sagt, sie hören dem Publikum besser zu als Journalisten, weil sie Daten entsprechend schnell auswerten können. Einige Redaktionen trauen künstlicher Intelligenz zu, ihre Homepages besser und vorurteilsfreier zu bestücken, als sie das selbst schaffen würden. Die kanadische Globe and Mail zum Beispiel lässt von Software sicherstellen, dass täglich auch Inhalte „vorne“ spielen, die für Minderheiten interessant sind. Auch bei Projekten des Datenjournalismus und bei der Überprüfung von Fakten kommt Automatisierung häufig zum Einsatz. Manch eine Redaktion lässt von Bots feststellen, ob das Geschlechterverhältnis der zitierten Quellen ausgewogen ist.

Deutlich weniger Medienhäuser delegieren das Texte-Schreiben an Roboter. Diese Möglichkeit setzen vor allem Nachrichtenagenturen ein, denn sie müssen eine Grundversorgung bieten und deshalb viele Routine-Arbeiten erledigen. Die amerikanische AP gehörte zu den ersten Anwendern, die Quartalsberichte von Unternehmen automatisch erstellen ließ. Wo Reporter früher ein paar Hundert Firmen abdeckten, kommen Roboter heute auf ein paar Tausend im Vierteljahr. Die Washington Post hat ihre Wahlberichterstattung mit Hilfe von KI-Tools massiv ausgebaut.

Droht den Redaktionen damit ein Kahlschlag? Es sagt viel über den Zustand der Branche aus, dass nicht einmal die Gewerkschaften den Roboter-Journalismus als Teufelszeug verdammen. Job-Abbau und Sparprogramme gibt es schon seit Jahren, jetzt geht es darum zu retten, was zu retten ist. Und das schaffen Redaktionen am besten, indem sie ihre Kunden flächendeckend bedienen – mit exklusiven, von Reportern recherchierten Geschichten und beliebter Standardware gleichermaßen. Zu letzterer Kategorie gehören die lokal angepassten Wetter- und Stauberichte, um sie zu erstellen, muss niemand jahrelang zur Journalistenschule gehen.

Je früher sich Redaktionen mit den Möglichkeiten von KI und Roboter-Journalismus befassen desto besser. Denn wer sich gut auskennt, lässt sich seltener Lösungen andrehen, die kein Mensch braucht. Es geht schließlich darum, den eigenen Journalismus besser zu machen. Und das wird er nicht, wenn man Leserinnen und Leser nur mit Masse erdrückt. Außerdem hilft ein Blick auf eine Ethik-Checkliste, wie sie der ehemalige AP-Journalist und Berater Tom Kent erarbeitet hat. KI-Journalismus ist immer nur so gut, wie die Daten sind, mit denen er gefüttert wird und die Vorgaben, die ihm gemacht werden.     

United Robots bietet übrigens auch ein Tool für Sportredaktionen an. Nach dem Spiel schickt es Trainern automatisch Interview-Fragen, sie orientieren sich am Spielverlauf. Aus den Antworten bastelt der Bot einen Text. Sportreporter müssten sich also gar nicht groß umstellen, sobald es wieder Wettkämpfe gibt. Sie könnten sich weiterhin auf all die hintergründigen Geschichten konzentrieren, die ihnen gegenwärtig so gut gelingen. Den Nach-dem-Spiel-Bericht schriebe Kollege Roboter. Dem Journalismus täte das gut.

Copyright: Alexandra Borchardt 2020, Beitrag für einen Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School.

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