Antworten gesucht? FAQs zur Zukunft des Journalismus

Wenn man Geld damit verdient, auf Veranstaltungen über Journalismus zu reden, sollte man das Folgende vielleicht nicht veröffentlichen, denn womöglich macht man sich damit sein Geschäft kaputt. Aber Fakt ist, dass Medienmenschen und ihre Freunde immer wieder dieselben Fragen stellen oder Annahmen formulieren. Natürlich findet man Unternehmen verwerflich, die es darauf anlegen, ihre Kunden mit den berühmten „Frequently Asked Questions“ (FAQs) abzuwimmeln, statt ihnen geduldig zuzuhören. Aber dann bastelt man doch an einer persönlichen Hitliste von FAQs, von denen man ahnt, was die fragenden Journalisten wirklich damit sagen wollen.

Stichwort Nutzerbedürfnisse: Wenn man den Kunden nur gibt, was sie lesen oder sehen wollen, darf man dann nur noch Katzenvideos bringen? (Wirklich gemeint ist: Wo bleibt dann unser wichtiger Politikjournalismus?)

Antwort: Zunächst einmal geht es nicht darum, den Kunden mehr davon zu bieten, worauf sie klicken, sondern darüber nachzudenken, was sie brauchen könnten, um ihr Leben und ihren Alltag besser zu bewältigen. Wer sich wirklich mit den Bedürfnissen verschiedener Nutzergruppen beschäftigt, erlebt nämlich immer wieder Überraschungen. Leser lesen ein 250-Zeilen-Stück über den Nahost-Konflikt bis zum Ende, rufen über Wochen regelmäßig einen 45-Minuten-Podcast ab, teilen eine Infografik mit vielen Zahlen. Bei sperrigen Stoffen hilft es, sich besonders viele Gedanken zum Format zu machen und Mühe in die Ausführung zu stecken. Die Chefredakteurin der dänischen Zeitung Politiken, Amalie Kestler, erläutert am Beispiel des Klimajournalismus, man müsse von den Stücken lernen, die beim Publikum punkten, um mit entsprechenden Elementen jene Stoffe zu bereichern, von deren politischer Bedeutung die Redaktion überzeugt ist (zum Beispiel Verhandlungen bei Klimagipfeln). Im Übrigen sind die Beiträge mit den meisten Klicks üblicherweise nicht jene, für die Nutzer Abos abschließen – was ja das eigentliche Ziel vieler Redaktionen ist.

Stichwort Qualitätsjournalismus: Die Leser haben heute eine wahnsinnig kurze Aufmerksamkeitsspanne, vor allem die Jungen wollen nur noch Häppchenware. Was tun? (Wirklich gemeint ist: Früher waren die Leser gebildeter und die Journalismus-Welt war noch in Ordnung.)

Antwort: Die Aufmerksamkeitsspanne im Digitalen ist kürzer, weil die Nutzer verwöhnter sind. Sie müssen sich nicht mehr durch Bleiwüsten quälen, um herauszufinden, was los ist in der Welt. Sie sind trotzdem einigermaßen informiert, weil sich irgendwo immer jemand findet, der einen Stoff anschaulich und packend präsentiert. Auch Schulkinder lernen mit YouTube Videos nicht selten besser als im Unterricht, und das liegt weniger an ihrer Aufmerksamkeitsspanne als an schlechten Lehrern und Schulbüchern. Daten zeigen, dass Nutzer auch auf dem Handy sehr lange Reportagen lesen, wenn sie spannend sind. Junge Leute hören regelmäßig 30-Minuten-Podcasts zu politischen Themen bis zum Ende, weil die Hosts sie begeistern. Dass Leser gedruckter Zeitung früher geduldig die Politikteile von Tageszeitungen in Gänze studiert haben, ist eher Wunschdenken als Realität. Auch da ging die Aufmerksamkeit oft nicht über die Schlagzeile hinaus. Nur hat das niemand messen können. Die Journalismus-Welt war früher nicht wegen der Reichweite von Qualität in Ordnung, sondern weil die Geschäftsmodelle funktioniert haben. Wer auf die investigative Arbeit von Rechercheverbünden und das Angebot an Datenjournalismus, Visualisierungen oder Podcasts schaut, muss zugeben:  Noch nie gab es im Journalismus Qualität in einer solchen Vielfalt wie heute.

Stichwort Objektivität: Warum haben ältere Journalisten solche Probleme mit der Ich-Form? Journalismus ist doch immer subjektiv. (Was wirklich gemeint ist: Ich schreibe am liebsten Ich-Geschichten – da kann ich mir auch Recherche sparen.)

Antwort: Es gibt wunderbare, packende und wichtige Geschichten in der Ich-Form. Es gibt aber auch eine ganze Menge Befindlichkeits-Journalismus, der eher Schulaufsatz-Charakter hat. Das sind dann Geschichten, die Perspektive mit Fakten verwechseln, die eigene Erfahrung als allgemeingültig betrachten und damit ebenso bevormundend herüberkommen wie manch ein Politik-Kommentator der alten Schule. Tatsächlich unterscheidet sich Journalismus vom meinungsstarken Influencer-Post und vom subjektiven Blog dadurch, dass er sich um Perspektiven-Vielfalt und Fakten bemüht, dass er sich auf die Suche nach etwas macht, das manche Wahrheit nennen. Und das gelingt nur mit einer gewissen professionellen Distanz. Die kann man auch einnehmen, wenn man das in der Ich-Form tut. Aber es geht auch gut ohne. Das Publikum wird es schätzen. In der Definition von Journalismus steckt das Konzept der Unabhängigkeit. Ohne diese ist er nicht mehr als Content, Meinung, womöglich sogar Propaganda – und verspielt damit seine Daseinsberechtigung. Wer unabhängig berichten will, tut gut daran, von der Selbstbeschau auf die Beobachterperspektive zu wechseln.  

Stichwort Desinformation: Was kann man nur gegen diese „Fake News Epidemie“ machen? (Was wirklich gemeint ist: Das Problem ist nicht unser Journalismus sondern diese Lügengeschichten, die das Netz verstopfen.)

Antwort: Das Problem Desinformation wird häufig falsch eingeschätzt und überschätzt. Deshalb werden darauf auch unwirksame Antworten gefunden. Ohne Zweifel gibt es staatliche Desinformation als Mittel der hybriden Kriegsführung. Aber Forschung zum Beispiel des Reuters Institutes in Oxford zeigt: Der größte Teil der Falschinformationen wird bewusst von Politikern verbreitet, um Meinung zu machen. Zudem ist der Einfluss von Desinformation auf das Verhalten von Menschen geringer, als dies oft angenommen wird. Das gilt auch für Lügengeschichten, die mit Hilfe Künstlicher Intelligenz erstellt werden. Medien sind gut beraten, sich erst einmal darauf zu konzentrieren, eigene Themen zu recherchieren und damit die Agenda zu setzen, statt Falschmeldungen hinterherzujagen und sie damit womöglich größer zu machen, als sie sind. Faktenchecks können große Organisationen wie Nachrichtenagenturen am besten liefern. Zum Thema Desinformation gibt es viel Forschung, es empfiehlt sich vor dem Lamentieren über das Problem einen Blick hineinzuwerfen. Unglücklicherweise stecken Geldgeber, die ein Interesse an der Eindämmung des Themas haben, viel Geld in Projekte zum Kampf gegen „Fake News“ – deutlich mehr, als sie in den Journalismus als solchen investieren. Der hätte es aber nötiger, vor allem der Lokaljournalismus.

Stichwort konstruktiver Journalismus: So etwas wie konstruktiver Journalismus klingt ja gut, aber verfehle ich damit nicht meine Aufgabe als Journalist? (Was wirklich gemeint ist: Echt jetzt, die wollen MIR Journalismus neu erklären?)

Antwort: Diese Frage kommt praktisch ausschließlich von älteren, gestandenen Kollegen. Junge Journalisten, insbesondere solche, die neue Medienmarken gründen wollen, sehnen sich nach konstruktiven Formaten. Für sie ist der etablierte „er hat gesagt, sie hat gesagt“-Journalismus wie Weißbrot: stopft irgendwie, macht aber nicht satt. Sie wissen: In einer digitalen Informationswelt, die voll ist von Content, suchen sie und ihre Altersgenossen nach jenen Stoffen, von denen sie etwas Neues, Überraschendes mitnehmen können – und vielleicht sogar etwas Zuversicht. Und nein, konstruktiver Journalismus bedeutet nicht, die Welt in rosarot zu malen, sondern Nuancen abzubilden und Perspektiven aufzuzeigen. Er ist ein Versuch, den Bedürfnissen der Nutzer näher zu kommen und sie wieder für Journalismus zu begeistern. Der AFP-Journalist Ivan Couronne formulierte es kürzlich auf einer Tagung so: „Menschen vermeiden keine Nachrichten, sie vermeiden schlechten Journalismus.“ Und sie vermeiden solchen, den sie nicht brauchen.   

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 3. Oktober 2024. Mit einem Medieninsider-Abo kannst du dort aktuelle Kolumnen von mir lesen.

Die Besserwisser-Spirale: Warum Journalisten mehr über die Wirkung ihrer Arbeit nachdenken sollten

Nur wenige Journalisten konnten nach dem Mordanschlag auf Donald Trump am 13. Juli der Versuchung widerstehen, in Interviews diese eine Frage zu stellen: „Ist die US-Wahl jetzt gelaufen?“ Jeder Experte, der von Demokratie etwas hält, hätte nun eigentlich die Pflicht gehabt, das Ganze mit einem beherzten „Nein“ zu beantworten. Ganz einfach, weil die Wahl erst im November gelaufen sein wird. Aber natürlich inspirierte das die meisten Befragten dazu, den Kenner heraushängen zu lassen. Und so folgten längliche Erläuterungen, warum dieses „ikonographische Foto“ des blutverschmierten, faustreckenden Trump diesen nun praktisch bis kurz vor den Wahlsieg katapultiert habe.

Die Angst, im Welterklärer-Wettbewerb von Kollegen abgehängt zu werden, ist bei vielen erkennbar größer als der Respekt vor dem demokratischen Prozess. Dabei verhallen Aussagen wie „Wahl gelaufen“ nicht nur im Raum. Sie wirken auf Menschen. Und wenn diese Menschen Wähler sind, entscheiden sie sich womöglich dafür, nicht zu einer Wahl zu gehen, bei der ihre Stimme vermeintlich ohnehin nichts mehr drehen kann. Was dem einen oder anderen Kollegen in der Nachschau das befriedigende Gefühl geben dürfte, Recht gehabt zu haben.

Zum Glück funktionieren viele Menschen nicht so und stimmen im November trotzdem ab. Historisch ist sogar belegt, dass Attentate selten Wahlen beeinflusst haben, wie der  The Atlantic-Redakteur Derek Thompson unter dem Titel „Stop Pretending You Know How This Will End“ darlegte. Aber Medien funktionieren so. Nicht nur wählten unzählige Bildredakteure unter Dutzenden Trump-Fotos zielsicher das mit der Faust aus, aus ähnlichen Motiven, aus denen weltweit Konzertgänger nach Taylor-Swift-Karten Schlange stehen: Man will einfach dabei sein. Im Journalisten-Sprech wurde es dann noch zu einem „ikonografischen Bild“ erklärt, an dem Kollegen in Interviews folglich kaum mehr vorbeikamen.   

Mit dieser Art Besserwisser-Spirale, dem Effekt der selbsterfüllenden Prophezeiung, setzen sich die wenigsten Journalisten gerne auseinander. „Ich recherchiere nur die Fakten“, sagen sie dann, die Wirkung ihrer Worte müsse ihnen von Berufswegen egal sein. Aber die Wahrheit ist, dass es ohne den Herdentrieb der Medien, die journalistische Zuspitzung und die Lust an der Rechthaberei manche gesellschaftlichen Phänomene gar nicht in der Ausprägung gäbe, wie sie nun zu beobachten sind.

Beim Thema Desinformation zum Beispiel haben Forscher wie Andreas Jungherr von der Universität Bamberg, Ralph Schröder und Felix Simon von der Universität Oxford wiederholt nachgewiesen, dass das Phänomen in der Realität deutlich weniger ausgeprägt ist, als dies die mediale Debatte darüber vermuten lassen könnte. Der Journalismus, nicht die Fakten lösten eine „moralische Panik“ aus. Doch solche Erkenntnisse ändern nichts daran, dass rund um das Thema im Zusammenspiel zwischen Regulierern und Geldgebern eine Art „Fake-News“-Bekämpfungs-Komplex entstanden ist, der zum Teil mehr Schaden anrichtet, als dass er nutzt – in dem Regierungen dies zum Beispiel zum Anlass nehmen, Pressefreiheit einzuschränken.

Ein anderes Beispiel ist Künstliche Intelligenz. Ob die Bevölkerung die Technologie als potenziell hilfreich oder als bedrohlich wahrnimmt, richtet sich sehr stark danach, wie Medien das Thema angehen, ob sie Möglichkeiten erläutern oder Risiken dämonisieren. Sind Ängste erst einmal gesät, helfen Fakten kaum noch dabei die Wahrnehmung zu verändern.

Im vergangenen Jahr konnte man diese Dynamik in Deutschland rund um das Thema Wärmepumpe nachverfolgen. Die „Heiz-Hammer-Debatte“ ließ viele Menschen in Öl-Heizungen investieren, was etliche Immobilien perspektivisch unverkäuflich machen dürfte. Viele Redaktionen werden trotzdem auf ihre Pflicht zur kritischen Berichterstattung verweisen. Es ist leichter, Menschen kurzfristige Folgen nahezubringen (es wird teuer), als langfristige (Wertverfall, Klimafolgen) korrekt zu prognostizieren. Berichterstattung beeinflusst aber nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Wahrnehmung von Führungskräften in Politik und Wirtschaft. Deshalb wirkt sie sich auf Unternehmensstrategien, Investitionen, Regulierung und alltägliche Praxis aus.

Letztlich bezwecken Journalisten genau das: Sie wollen beeinflussen. Dennoch reflektieren Redaktionen viel zu selten über die potenziellen Folgen von geballter Nachrichten-Aufmerksamkeit (oder deren Entzug) – manchmal auch aus Angst, die Öffentlichkeit könnte dies als Zensur verstehen. Eine interessante Debatte gab es darüber nach der Finanzkrise von 2008: Wann ist es die Pflicht von Finanzjournalisten, Berichterstattung zurückzuhalten, um zum Beispiel zu vermeiden, dass Menschen die Banken stürmen und das System damit weiter destabilisieren?

Ähnliche Überlegungen gibt es in Redaktionen, wenn Nachahmer-Effekte zu befürchten sind, zum Beispiel bei Suiziden. Gängige Praxis ist es mittlerweile, dann auf Hilfsangebote hinzuweisen, wenn die Berichterstattung über spezielle Fälle im öffentlichen Interesse ist. Auch bei Erkenntnissen über individuelles Verhalten, das gegen Normen verstößt, wägen Journalisten ab (heute eher weniger als früher): Beeinflusst es zum Beispiel die Amtsführung eines Politikers oder einer Wirtschaftsführerin, wenn er oder sie eine Beziehung neben der Ehe pflegt oder sich regelmäßig betrinkt? Oder, um wieder nach Amerika zu schauen: Wann wurden Jo Bidens Aussetzer so gravierend, dass die Bevölkerung Aufklärung verdient hatte? Nicht über alles, was man erfährt, muss zwingend und sofort berichtet werden. Journalisten stünde es gut an, auch in anderen Feldern mehr Verantwortung für die Folgen ihrer Arbeit zu übernehmen.  

Wer nun erklärt, der Journalismus habe die Kraft des Agenda-Setzens ohnehin längst eingebüßt, in den sozialen Netzwerken verbreiteten sich massentaugliche Bilder wie jenes vom angeschossenen Trump schließlich viel schneller, stützt damit einen Abgesang auf das Metier, der eindeutig zu früh kommt. Denn tatsächlich ist die Macht der traditionellen Medien immer noch enorm. Dazu verstärken sie die auf Social Media geteilten Inhalte massiv. Studien des Berkman Klein Centers for Internet and Society an der Universität Harvard hatten dies für die US-Wahlen von 2016 und 2020 überzeugend belegt. Politiker, die Propaganda verbreiten wollen, profitieren von dieser Art Doppel-Effekt: Sie posten in den sozialen Netzwerken, setzen aber darauf, dass Politikjournalisten diese Beiträge aufspüren und zum Inhalt ihrer Berichterstattung machen.

Polarisierung war für Medien schon immer ein lukratives Geschäftsmodell, auch wenn die Vertreter traditioneller Marken dies gerne allein den Plattform-Konzernen ankreiden. Der Unterschied zu diesen ist jedoch, dass sich Facebook, Insta, YouTube und TikTok nicht den strengen ethischen Grundsätzen unterwerfen, wie Presseorgane dies tun. Journalisten haben deshalb die besondere Verpflichtung, auch nach dem zu suchen, was Menschen verbindet und Gesellschaften zusammenhält. Dazu gehört, immer wieder nach dem Gegenargument zu suchen, Nuancen und die andere Seite auszuleuchten, nicht nur den Konflikt sondern auch die Lösung hervorzuheben und eben über die Folgen von Veröffentlichungen nachzudenken. Manchmal kann das sogar bedeuten, dann und wann auf Inhalte zu verzichten, selbst wenn man noch so überzeugt von einer guten Schlagzeile oder einer reißerischen Interpretation ist.

Diese Kolumne erschien am 22. Juli 2024 bei Medieninsider. Aktuelle Kolumnen kann man dort mit einem Abo lesen. 

Gesellschaft des Misstrauens

Was ist zu tun gegen Miss- und Desinformation, für Medienvielfalt und Zusammenhalt? Eine Antwort. 

Man kann sich dem Thema Falsch­information von zwei Seiten annähern. Auf der einen, der schaurig-alarmschlagenden, mangelt es nicht an drastischer Sprache und düsteren Szenarien. Dort warnen Experten vor einer Welt der künstlich verfälschten oder gänzlich fabrizierten Ton-, Bild- und Textdokumente, die täuschend echt daherkommen, skalieren und deshalb das Ende des Konzepts Vertrauenn oder gleich der Wahrheit einläuten.

Auf der anderen, der nüchtern-akademischen, bemühen sich Forscher, das prognostizierte Drama im Lichte des Jetzt zu spiegeln. Mit Blick auf die Datenlage argumentieren sie: Abgesehen von seit jeher üblicher politischer Propaganda, die sich vom Wahlplakat über den Tweet bis zum Politikerinterview zieht, seien verhältnismäßig wenige Menschen überhaupt solchen Desinformationsattacken ausgesetzt. Es handele sich um ein „Heavy User“-Phänomen, das sich womöglich weniger auf alltägliches Verhalten auswirke, als die Alarmschlagenden dies vermuteten. „Desinformation ist ein begrenztes Problem mit begrenzter Reichweite in der Öffentlichkeit“, schrieben Andreas Jungherr und Ralph Schroeder 2021. Die Prominenz des Themas in der öffentlichen Debatte lasse sich am besten mit dem Begriff „moralische Panik“ erklären.   

Welcher dieser Seiten man sich zugetan fühlt, hängt stark vom Menschenbild ab. Wer bevorzugt denjenigen folgt, die Schlimmes befürchten, traut seinen Mitmenschen – und womöglich sich selbst – wenig zu. Er hält sie in der Mehrzahl für unaufmerksam, gutgläubig, leicht beeinfluss- und verführbar. Sowohl die historische Erfahrung mit Diktaturen als auch Forschung zur Manipulierbarkeit des Gehirns unterstützen diese Einschätzung. Von einem solchen skeptischen Standpunkt her muss es das strategische Ziel sein, Formen der Desinformation – manche sprechen von Fake News – so weit es geht zu unterbinden. Als Schuldige werden häufig die digitalen Plattformen mit ihren auf Reichweite optimierten Geschäftsmodellen identifiziert, die es zu regulieren gelte.

Eine Frage des Menschenbilds 

Wer eher an die Urteilskraft, Lernfähigkeit und Kapazität von Menschen glaubt, sich frei zu entscheiden, betrachtet die Lage gemeinhin entspannter. Die Nutzer von digitalen und anderen Angeboten würden künftig schlicht mehr Skepsis walten lassen, statt alles blind zu glauben, was sich in Text, Bild und Ton über sie ergießt. Diejenigen, denen ein solches Menschenbild stärker zusagt, fühlen sich womöglich Erik Roose zugetan, dem Intendanten des öffentlich-rechtlichen Senders von Estland. Der sagte kürzlich in einem Interview: „Damals zu Sowjetzeiten wusste man: Was in der Zeitung steht, ist zu 100 Prozent Desinformation. Man musste zwischen den Zeilen lesen.“ 

Diese Fähigkeit beherrschen nicht alle Menschen, aber offensichtlich dennoch ein großer Teil der Bevölkerung. Das zeigte sich zum Beispiel in der Covid-19-Pandemie. Die Weltgesundheitsorganisation hatte schon vor einer „infodemic“ gewarnt, bevor sie das Virus im März 2020 zu einer weltweiten Gefahr erklärt hatte. Tatsächlich aber verhielten sich viele Menschen mustergültig und informierten sich bei traditionellen Medienmarken; das Vertrauen in Medien war 2020 sprunghaft gestiegen. 

Allerdings sorgen sich auch eher optimistische Beobachter, dass exponentiell wachsende Desinformation das generelle Vertrauen in Informationen zerstören könnte. Frei nach Hannah Arendt heißt dies: Wenn man annimmt, alles könnte manipuliert sein, glaubt man gar nichts mehr. Ohne eine gesunde Skepsis mündiger Bürgerinnen und Bürger würde Demokratie nicht funktionieren, aber der Übergang kritischer Beobachtung zur Misstrauensgesellschaft ist potenziell fließend. Schon jetzt zeigt sich, dass junge Menschen, die in einer unübersichtlichen Medienwelt aufgewachsen sind, dem, was sie sehen, hören und lesen, weniger vertrauen als frühere Generationen.

Macht der Multiplikatoren

Traditionelle Medien prägen diese Debatte stärker, als sie dies womöglich einräumen würden. Je ausführlicher und drastischer sie über all die Möglichkeiten berichten, mit denen sich Informationen, Dokumente und Medienprodukte verfälschen lassen, umso misstrauischer werden die Nachrichtenkonsumenten. 

Insbesondere Multiplikatoren – zum Beispiel politische Entscheidungsträger und Regulierungsbehörden –, die ihr Profil schärfen wollen, greifen solche Debatten gerne auf. In den vergangenen Jahren ließ kaum eine Grundsatzrede zum Zustand der Demokratie das Thema Fake News unerwähnt. Auf diese Weise beeinflusst das Narrativ der Desinformation das Maß, in dem sich Bürger davon bedroht fühlen. Politiker mit entsprechenden Instinkten erspüren dies. Der Weg von der Sonntagsrede zum Gesetz kann deshalb kurz sein.  

Gleichzeitig wurden Begriffe wie Fake News und Desinformation von politischen Kräften instrumentalisiert, um die Arbeit von seriösen Journalisten und Medien zu diskreditieren. Dahinter steckt Eigennutz: Manches, was recherchiert und publiziert wird, passt ihnen nicht. Vor allem autoritäre und zu autoritärem Gebaren neigende Politiker verwenden Fake News seit ­Jahren als Kampfbegriff gegen die Presse, allen voran der ehemalige US-Präsident Donald Trump. 2019 beklagte der Herausgeber der New York Times, A.G. Sulzberger, dass binnen weniger Jahre mehr als 50 Regierungschefs und Staatspräsidenten auf fünf Kontinenten den Begriff Fake News genutzt hätten, um gegen Medien vorzugehen. 

Der Begriff der Desinformation wurde von politischen Kräften instrumentalisiert, um seriösen Journalismus zu diskreditieren 

Das Thema Falschmeldungen hat in den vergangenen Jahren eine solche Wucht bekommen, dass sich daraus eine Art Desinformations-Bekämpfungs-Komplex entwickelt hat: ein Zusammenspiel von Medien, Geldgebern und Regulierungsorganen, das sich nicht nur positiv auswirkt. So missbrauchen Regierungen die entsprechende Regulierung zuweilen dazu, Presse- und Meinungsfreiheit oder gar Grundrechte einzuschränken.

Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Center for News, Technology and Innovation aus Anlass der weltweit 50 Wahlen in diesem Jahr. Bei der Förderung von Medienangeboten fixieren sich große Geldgeber häufig dermaßen auf den Kampf gegen Desinformation, dass Redaktionen Ressourcen für jene Recherchen fehlen, die etwas noch Wichtigeres vollbringen müssen: erst einmal Fakten und Informationen heranzuschaffen, bevor es an das Verifizieren und Entkräften von Falsch­meldungen geht. Bei einem Round-Table zu Desinformation im Ukraine-Krieg 2022 waren sich Teilnehmende sowohl aus der Ukraine als auch aus Russland einig, dass eine unklare Informationslage eine weitaus größere Herausforderung in der Kriegsberichterstattung sei als Falsch­meldungen.

Fake News haben politische Wurzeln

Der Kampf gegen Desinformation setzt zudem häufig an der falschen Stelle an, weil die Kritiker oft Ursache mit Wirkung verwechseln. Das Phänomen Fake News hat politische Wurzeln, die weit in die Zeit vor Social Media zurückreichen. Die sozialen Netzwerke und Tech-Plattformen sind demzufolge keine alleinigen Verursacher gesellschaftlicher Spaltung, sondern vor allem nützliche und wirkmächtige Instrumente, um sie zu verstärken.

Das Ringen um eine vielfältige, von Wissens- und Erkenntnisdurst bestimmte Informationslandschaft muss deshalb auch und insbesondere bei den Ursachen ansetzen, nicht erst bei der Symptombekämpfung. Nur – dem stehen mächtige Interessen entgegen.

Dass Desinformation in der gegenwärtigen Welt zumindest ausreichend Abnehmer findet, hat in erster Linie fünf Ursachen: 

Erstens, politische Polarisierung. Diese ist nicht erst durch die sozialen Netzwerke entstanden, sondern hat ihre Wurzeln in den Protestbewegungen der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. In dem Maße, in dem Frauen, ethnische Minderheiten und andere benachteiligte Gruppen nach Positionen von Einfluss und Macht griffen, die ihnen vorenthalten wurden, verstärkte sich in den gesellschaftlich dominierenden Schichten die Angst vor dem Bedeutungs- und Kontrollverlust.

Gegenüber denjenigen, die mit neuem Selbstbewusstsein nach Teilhabe riefen, versammelten sich diejenigen, die um ihre Privilegien fürchteten und fortan versuchten, diese zu zementieren. Religiöse Konflikte und Wirtschaftslobbys mit Interesse am Zurückdrängen von Klimapolitik reicherten dieses Gebräu an. Soziale Netzwerke, angetrieben von Geschäftsmodellen der Aufmerksamkeits­ökonomie, erleichterten es den jeweiligen Gruppen, Gleichgesinnte zu finden und Ideologie-Cluster zu bilden.

Verursacht aber hat „Big Tech“ die Spaltung nicht. Eine Arbeit des Berkman Klein Center for Internet & Society an der Har­vard University zeigt, dass zum Beispiel bei der US-Wahl 2016 in erster Linie polarisierende Politiker und traditionelle Medien Desinformation betrieben haben, nicht etwa soziale Netzwerke oder sogenannte Troll-Fabriken, in denen Auftragsarbeiter bewusst Falschmeldungen fabrizieren.

Soziale Netzwerke und Tech-Plattformen sind ­keine alleinigen Verursacher 
gesellschaftlicher Spaltung, sondern wirkmächtige
In­strumente der Verstärkung

Für Osteuropa kommen Vaclav Stetka und Sabina Mihelj in ihrem Buch „The Illiberal Public Sphere. Media in Polarized Societies“ zu einem ähnlichen Schluss: Traditionelle Medien, oft von politischen Interessen korrumpiert, seien die primären Kanäle der Desinformation.         

Zweiter Grund, eine komplexer werdende, sich rasant wandelnde Welt. Diese sogenannte VUCA-Umgebung – kurz für volatile, uncertain, complex, ­ambiguous (flüchtig, unsicher, komplex, mehrdeutig) – gibt Populisten Auftrieb, die mit knackigen Botschaften einfache Lösungen versprechen. Die Kriege in der Ukraine und in Gaza, politische Repression, Fluchtbewegungen, wirtschaftliche Unsicherheit und Klimawandel verängstigen Menschen. Manche sprechen von Polykrisen, ein Konzept, das von dem britischen Historiker Adam Tooze popularisiert wurde. Die neuen Möglichkeiten durch generative KI dürften viele Branchen, Job-Profile und das Bildungssystem verändern und damit noch mehr Menschen verstören. Als Konsequenz sucht manch einer Halt bei charismatischen Führungspersönlichkeiten, Ideologien oder Institutionen, die Stabilität und klare Strukturen versprechen.

Drittens, hybride Kriegsführung mit „information operations“. Dass moderne Kriege nicht nur mit Waffen an der Front, sondern auch über digitale Informationskampagnen mit dem Ziel ausgefochten werden, Gesellschaften zu destabilisieren, ist fast schon Allgemeingut. Insbesondere der Angriff Russlands auf die Ukraine und das weitere Erstarken Chinas haben die geopolitische Polarisierung vorangetrieben.

Das Ausmaß der digitalen Beeinflussung von Wahlen in einem Jahr, in dem fast die halbe Weltbevölkerung in verschiedenen Formen an die Urnen geht, ist derzeit nicht abzuschätzen. Es wäre allerdings verfehlt, die Verantwortung für politische Machtverschiebungen oder das Erstarken bestimmter Kräfte in erster Linie externen Einflüssen zuzuschreiben. Innenpolitische Machtstrukturen oder deren Auflösung dürften Wahlen in weitaus größerem Maße beeinflussen. 

Viertens, die unübersichtliche Nachrichtenvermittlung. Das Erstarken der Online-Plattformen hat das Medien­system aus den Angeln gehoben und die Möglichkeiten des Nachrichtenkonsums von Orten, Zeiten und festen Formaten gelöst. Die Angebote sind deshalb heute zwar vielfältiger als zu Zeiten des linearen Fernsehens und Radios und der Zeitung auf Papier – vom stundenlangen Podcast bis TikTok ist alles dabei. Dafür fühlen sich die Nutzenden aber zunehmend ­verwirrt.

Studien wie „Use the News“ oder „Next Gen News“ belegen dies gerade für die junge Generation. Die informiert sich vor allem in den sozialen Netzwerken, und dort lässt sich im ständigen Fluss von Meldungen zuweilen schwer zuordnen, ob die Nachricht aus einer seriösen Quelle stammt, eine Meinungsbekundung oder womöglich eine Werbebotschaft ist.

Es gibt zwar bislang keine Belege dafür, dass dies junge Menschen anfälliger für Desinformation macht. Im Gegenteil, ältere Generationen, die nicht so versiert im Umgang mit digitalen Angeboten sind, scheinen sich leichter täuschen zu lassen. Aber für Ungeübte ist im Informationsstrom schwer zu erkennen, was glaubwürdiger Journalismus ist. Manche bezweifeln auch, dass man ihn überhaupt braucht. Zudem können Satire oder andere humoristische Formate leicht als Desinformation wahrgenommen werden, wenn sie nicht klar gekennzeichnet sind.

Die Angebote sind im Vergleich zur linearen Zeit so vielfältig, dass die Nutzer zunehmend verwirrt sind 

Fünftens, die technischen Möglichkeiten durch Künstliche Intelligenz. Für diejenigen, die bewusst Desinformationen fabrizieren, sind die derzeit sich wie durch Zellteilung vermehrenden Tools der generativen KI nützliche Werkzeuge. In Sekunden und Minuten lassen sich Videos lippensynchron mit anderen Tonspuren hinterlegen, Pornos mit Gesichtern von Prominenten ausstaffieren, geklonte Stimmen für politische Botschaften einsetzen, bewegte und statische Bilder zu jedem erdachten Inhalt fabrizieren. Der Sicherheitsexperte Jean-Marc Rickli vom Geneva Centre for Security Policy spricht von „Weapons of Mass Disinformation“, analog zu „Weapons of Mass Destruction“. 

Ob Menschen solche Desinformation strategisch im Auftrag anderer oder aus Spaß und Langeweile fabrizieren, ist natürlich politisch relevant. In beiden Fällen ist aber die genaue Wirkung kaum absehbar. Zu den gefürchteten „Deep Fakes“ kommen auch noch die „Cheap Fakes“: nachlässig veränderte Inhalte, die man bei genauerem Hinsehen als solche enttarnen könnte, es aber nicht tut, weil man das, was man sieht, glauben will.

Forschung zufolge nutzen Menschen in sozialen Netzwerken sogar mehr Informationsquellen als ihre Zeitgenossen, die sich traditionell informieren. Nur filtert das Gehirn die Informationen oft so, dass sie zum Weltbild passen. Das Grundproblem liegt also nicht in der KI, sondern im Kopf.

KI braucht Regeln

Dem Problem der Desinformation wird man nur begegnen können, wenn man an allen fünf Punkten ansetzt. Von hinten aufgerollt heißt das: Natürlich brauchen KI-Anwendungen Regeln. Der European AI Act, der im Mai 2024 vom European Council verabschiedet wurde, ist ein sinnvoller erster Schritt. Er teilt KI-Tools in Risikoklassen ein, reguliert dementsprechend ihren Einsatz, und verlangt Transparenz. KI hilft auch denen, die Gutes im Sinn haben: Die Verifizierung von Inhalten wird einfacher – wenngleich Sicherheitsexperten vor einer asymmetrischen Entwicklung warnen. Medienforscher um Felix Simon hingegen argumentierten in einer Analyse 2023, dass Ängste übertrieben ­seien, generative KI würde die Desinformation auf eine neue Stufe heben. Nach wie vor konsumiere nur ein kleiner Anteil der Bevölkerung in großem Maße Falschmeldungen. Vielerorts gebe es demgegenüber ein funktionierendes Mediensystem, das Menschen ermögliche, sich zuverlässig und hochwertig zu informieren. 

Polarisierung und Konflikt statt Konsens war für Medien lange ein lukratives Geschäftsmodell. Statt aber den Zusammenhalt zu stärken, trugen sie zur Spaltung bei

Allerdings ist dieses System angeschlagen. Die früher lukrativen, anzeigenbasierten Geschäftsmodelle funktionieren in der digitalen Welt nur noch bedingt, und die Nachrichtennutzer sind in der Mehrzahl nicht bereit, diesen finanziellen Einbruch aus eigener Tasche auszugleichen. KI-basierte Suchmaschinen lassen zudem befürchten, dass Quellen ­unsichtbar ­werden. Gleichzeitig fühlen sich viele Menschen von einem immer schnelleren und schrilleren Informationsangebot überfordert oder schlicht nicht angesprochen. Besonders Medienhäuser überschätzen oft, wie viel Interesse an Nachrichten in der breiten Öffentlichkeit besteht. Die Nachrichtenmüdigkeit und -abstinenz nimmt zu (s. dazu auch die Grafik auf S. 43).

Stärkung der Medienvielfalt

Gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Akteure müssen deshalb dazu beitragen, den Journalismus, die Medienvielfalt und die Pressefreiheit auf verschiedenen Wegen zu stärken. Menschen brauchen verlässliche, unabhängige Informationen, um gute Entscheidungen treffen zu können. Viele Medienhäuser müssen dazu allerdings umdenken. Für sie war Polarisierung lange ein lukratives Geschäftsmodell. Konflikte verkauften sich besser als Konsens, steile Thesen besser als Nuancen. Statt den Zusammenhalt zu stärken, trugen sie zur Spaltung bei. Im Ringen um eine vertrauenswürdige Informationslandschaft dürfte ein Journalismus, der Menschen zuhört und sich an ihren Bedürfnissen orientiert, wichtiger sein als die besten Fact-Checking-Tools. 

Den anderen hier skizzierten Ursachen für Desinformation – Krieg, Polarisierung, allgemeine Überforderung – lässt sich nur politisch begegnen. Es gilt, Aggressoren zurückzudrängen und politische Konflikte, wo es möglich ist, diplomatisch zu lösen. Die Institutionen von Demokratie und Gesellschaft müssen daran arbeiten, Menschen mit Fakten kompetent zu machen, ihnen nahezubringen, was sie verbindet und so den Zusammenhalt und ihre Resilienz zu stärken. Nur so lässt sich Desinformation der Nährboden ­entziehen.     

Dieser Essay erschien am 24. Juni 2024 als Aufmacher-Stück eines Schwerpunkts in der Zeitschrift Internationale Politik

Keine Angst vor Fake News! – Warum Desinformation real ist aber Information trotzdem gewinnen wird

Zum Glück ist das Publikum nicht so dumm, wie manch ein Politiker denkt. Mehr als 50 Regierungschefs und Staatspräsidenten hätten innerhalb von fünf Jahren den Begriff „Fake News“ genutzt, um Pressefreiheit einzuschränken, hatte der Herausgeber der New York Times, A.G. Sulzberger, 2019 in einer Rede vor Studierenden gewettert. Die Medien lügen, behaupten jene Regierenden, nur: Die Bürgerinnen und Bürger glauben ihnen nicht. 40 Prozent der Befragten im Digital News Report von 2020, der weltweit größten fortlaufenden Studie zum Medienkonsum, gaben stattdessen ihre Einschätzung zu Protokoll, dass Politiker den meisten Unsinn erzählen. Nur etwa jeder zehnte denkt das über Journalisten. Zu einem ähnlichen Schluss kommt eine Studie der Misinformation Review der Harvard Kennedy School. In Europa befragte Teilnehmer nennen darin Politiker und Wirtschaftsgrößen als wichtigste Urheber von falschen Behauptungen, nicht etwa Troll-Farmen, Privatleute oder eben Medien. In Deutschland bescheinigte die Universität Mainz den Medien für das erste Corona-Jahr sogar den höchsten Vertrauenswert seit langem.

All dies offenbart: Seitdem Ex-US-Präsident Donald Trump und Konsorten „Fake News“ zum Kampfbegriff gemacht haben, enthält die Debatte darüber zuweilen mehr Sprengkraft als das Phänomen an sich. Einige Forscher warnen sogar vor „moralischer Panikmache“. Die Verbreitung falscher Behauptungen sei kein Massenphänomen. Wenige Akteure streuten viel davon, die Lügen hätten begrenzte Reichweite. Misinformation sei real, aber nicht so gefährlich für Demokratien, wie dies oft suggeriert werde, so Andreas Jungherr und Ralph Schroeder in einem Artikel für die Fachzeitschrift „Social Media + Society“.

Ein Grund zur Entwarnung ist dies nicht. Immerhin bieten die sozialen Netzwerke gewaltige Möglichkeiten, Lügen, verzerrte oder aus dem Zusammenhang gerissene Inhalte, falsche Behauptungen oder gefälschte Bild- und Ton-Dokumente zu skalieren. Außerdem reicht es, wenn sich eine kleine Minderheit um falsche Behauptungen herum radikalisiert oder ihnen folgt, wie beim Sturm auf das US-Parlament im Januar 2021 oder allerlei Anweisungen zum Umgang mit Covid 19. „Fake News“ können sehr reale und gefährliche Folgen haben. Die Angriffe auf Journalisten nehmen trotz guter Vertrauenswerte auch in Deutschland zu.

Traditionelle Medien sind allerdings nicht nur Opfer dieser Entwicklung, sie beteiligen sich auch daran. Gerne greifen sie besonders skurrile Inhalte auf und geben ihnen so Auftrieb, selbst wenn sie sie kritisieren oder richtigstellen. Eine Studie des Berkman Klein Centers für Internet und Gesellschaft in Harvard hat diesen Effekt eindrucksvoll belegt. Dabei haben Qualitätsmedien besondere Macht, denn die Algorithmen der Plattform-Konzerne priorisieren ihre Beiträge. Die richtige Balance zwischen Berichten und Weglassen zu finden, verlangt Redaktionen einiges ab.

Journalistinnen und Journalisten waren schon immer Fact Checker. Zu recherchieren, ob das, was Menschen und Institutionen mit Macht und Einfluss von sich geben, auch den Realitätstest besteht, gehört zu ihrem Handwerk wie die Suche nach der zweiten Quelle oder der Anruf bei beiden Parteien in einem Konflikt. Wittern Reporter PR oder Propaganda, machten sie sich vor Ort ein Bild, oft sprichwörtlich an der Front. Die Kamera kann ein gnadenloser Fakten-Kontrolleur sein.

Dank neuer Technik und Künstlicher Intelligenz haben viele Redaktionen beim Überprüfen ordentlich zugelegt. Nicht nur die Manipulatoren rüsten auf, auch die Kontrolleure. Medien tun das nicht nur für die eigenen Kunden. Selbst Konzerne wie Facebook oder Google sind angewiesen auf ihre Arbeit. Es gilt, Lügen so schnell wie möglich zu entlarven, um sie per Algorithmus zu dimmen, zu kennzeichnen oder bei Gefahr für Leib und Leben ganz zu sperren.       

Wissenschaftler debattiere allerdings darüber, ob Menschen ihre Annahmen ändern, wenn Lügen als solche ausgewiesen werden. Studien beobachten sogar einen „backfire effect“, bei dem Teilnehmer sich erst recht hinter ihren Positionen verschanzen, konfrontiert man sie mit gegenteiligen Aussagen. Forscher wie Brendan Nyhan widersprechen dem. Faktenchecks beeinflussten Menschen durchaus, aber der Effekt halte nicht lange, argumentiert er in einem Artikel für die US Akademie der Wissenschaften. Eine wirkungsvolle Strategie müsse deshalb bei den Eliten ansetzen, die Falschinformationen verbreiten.

Fakten zu checken war und ist eine zentrale Aufgabe des Journalismus, und die Vielzahl der Quellen und Verbreitungswege macht die Arbeit anspruchsvoller denn je. Aber es wäre ein Fehler, würden Redaktionen, ihre gesamte Energie in das Überprüfen von Inhalten anderer stecken. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, mit guten Recherchen zu relevanten Themen selbst die Agenda zu setzen, statt sich von Lügnern in abseitige Debatten treiben zu lassen. Sie machen diese damit nur größer, als es ihnen gebührt.

Dieser Text erschien in leicht verkürzter Form als Editorial eines Whitepapers der Deutschen Presse-Agentur dpa am 6. Juli 2021.