Das Ende des journalistischen Bauchgefühls

Warum tun sich Journalisten und ihr Publikum manchmal so schwer miteinander? Auch, weil häufig das Maß nicht stimmt. Das richtige Maß an Tempo, an News, Verständnis, Vorwissen, Vielfalt. Und Teamarbeit.

Da waren sie wieder, die zwei Seelen in meiner Brust, und sie rangen heftig miteinander. Als die amerikanische Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg im September ihren Kampf gegen den Krebs verlor, wollte sich die Leserinnen-Seele in tiefem Respekt vor der Juristin verneigen, die zur Ikone geworden war. Bis zuletzt hatte RBG, wie sie von ihren Fans fast zärtlich genannt wurde, am Supreme Court für die gleiche Behandlung von Frauen und Männern, für die Rechte der Schwachen gefochten. Im Angesicht des Todes dieser großen Persönlichkeit hätten auch die Redaktionen innehalten müssen, fand die Leserin. Wenigstens für ein paar Stunden hätten sie allein Ruth Bader Ginsburg würdigen können.

Die Journalistinnen-Seele in mir hingegen verstand den Reflex nur allzu gut, der durch praktisch alle Schlagzeilen schwappte. Weiterdrehen, heißt der im Branchen-Jargon, zeigen, was man drauf hat an analytischer Schärfe und politischem Verstand, nicht stehenbleiben beim Ereignis, sondern die Folgen ausleuchten. Bader Ginsburg wird geahnt haben, dass Präsident Donald Trump, dem sie noch 87-jährig und schwerkrank die Stirn geboten hatte, selbst die Nachrichten über ihr Lebensende dominieren würde.

Journalismus bedeutet auch Atemlosigkeit. Schneller sein als andere, besser als die Konkurrenz, weiter denken, pointierter kommentieren – manchmal wissen die Redakteurinnen, Reporter und Kommentatorinnen gar nicht mehr so genau, wen sie damit eigentlich beeindrucken wollen: wirklich das Publikum? Oder vielleicht doch eher den Ressortleiter, die Chefredakteurin, die Kollegen in einer von Krisen gezeichneten Branche? Oder gar nur sich selbst? Man hat das schließlich so gelernt. Erster sein ist wichtig, und wenn man Zweiter ist, muss man wenigstens besser sein. „Better right than first“ heißt ein gängiger Lehrsatz in vielen Redaktionen, die natürlich trotzdem alles Erdenkliche daran setzen, „first“ zu sein.

Wissen die Leser*innen das Tempo zu schätzen?

Aber wie sehen das diejenigen, für die dieser ganze Aufwand eigentlich betrieben werden sollte: die Leser, Hörerinnen, Zuschauer und Nutzerinnen? Wissen sie das Tempo zu schätzen? Fragt man sie, fällt das Urteil recht wohlwollend aus. Rund zwei Drittel der Onlinenutzer stimmten laut dem Digital News Report von 2019 der Aussage zu, dass die Medien gut darin seien, sie über das Tagesgeschehen auf dem Laufenden zu halten. All die Push-Meldungen und eilig zusammengezimmerten Nachrichten zahlen sich also aus, könnte man meinen. Das wäre erfreulich, würde die Beurteilung anderer journalistischer Qualitäten im Vergleich dazu nicht einigermaßen steil abfallen. Gerade einmal jeder zweite Onlinenutzer attestierte den Redaktionen nämlich, die Meldungen des Tages auch angemessen zu erklären. Noch weniger Studienteilnehmer waren der Meinung, dass Journalist*innen einen guten Job dabei machen, den Mächtigen auf die Finger zu schauen. In zwei Kategorien schnitten die Medien besonders schlecht ab. Nicht einmal jeder Dritte fand, dass die ausgewählten Themen für sein tägliches Leben relevant sind. Und gerade einmal 16 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, dass die Medien in der Berichterstattung den richtigen Ton wählen. Der häufigste Vorwurf: Sie seien zu negativ.

„Die größte Herausforderung der digitalen Transformation ist nicht die Technik, sondern der Kulturwandel.“

Man kann das jetzt mit der Begründung abtun, dass das ja nur eine Umfrage ist. Man kann gar damit kontern, selbst viel gefälligere Zahlen vorweisen zu können, wie es der Intendant eines deutschen öffentlich-rechtlichen Senders einmal in kleiner Runde getan hat. Man kann aber auch darüber nachdenken. Beim Digital News Report handelt es sich immerhin um die weltweit größte fortlaufende Online-Untersuchung zum Medienkonsum. Das Reuters Institute for the Study of Journalism der University of Oxford publiziert die Studie jährlich im Juni. Im laufenden Jahr hatten sich mehr als 80.000 Nutzer aus 40 Ländern daran beteiligt, im genannten Jahr 2019 waren es nur unwesentlich weniger. Und auch wenn Durchschnittswerte in Umfragen nie die ganze Geschichte erzählen, ist die Tendenz eindeutig: Nach Meinung des Publikums ist Journalismus zwar aktuell, aber zum Teil nicht besonders relevant. Dazu sei er so negativ und in der Menge oft erschlagend, dass etwa ein Drittel der Leser*innen mindestens zeitweise zu Nachrichten-Verweigerern wird.

Ja, aber …

Wer dem Journalismus erst einmal aus dem Weg geht, weil er ihn nervt, überfordert oder ihm keinen Mehrwert bietet, der ist nicht nur als zahlender Kunde verloren. Er oder sie taucht gar nicht erst in den Nutzerdaten auf, die Präferenzen abbilden sollen und aus denen Redaktionen Schlussfolgerungen darüber ziehen, was inhaltlich „läuft“. Noch schwerer wiegt allerdings: Journalismus-Verweigerer sitzen womöglich schneller Falschmeldungen auf und sind generell weniger gut in der Lage, als Bürger*innen informierte Entscheidungen zu treffen. Die Publikumsnähe des journalistischen Angebots steht in direktem Verhältnis zur Qualität der Demokratie.

Journalist*innen reagieren auf derartige Denkanstöße häufig mit einem beherzten „Ja, aber“. Die Leser*innen verschlängen doch aber alles, was Katastrophe, Streit, Drama und Unglück in der Unterzeile habe. Die Nutzerdaten belegten dies. Investigativ-Reporter*innen widersprechen noch vehementer. Es sei schließlich ihr Job, dem Publikum schlechte Laune zu machen. Nur wenn man Missstände aufdecke, ändere sich etwas zum Guten, argumentieren sie. Beides stimmt. Die Frage ist nur: Findet der Journalismus das richtige Maß? Schließlich geht es darum, ein größtmögliches Publikum zu begeistern. Wer die Job-Beschreibung „vierte Gewalt“ ernst nimmt, darf sich nicht damit zufriedengeben, vor allem im politischen Betrieb oder von der Konkurrenz gelesen zu werden. „Warum hatten die das und wir nicht?“, diese Frage wird in den meisten Redaktionskonferenzen vermutlich mit mehr Nachdruck gestellt als: „Warum interessiert die Leute dieser Stoff nicht, und wie können wir das ändern?“

Eine zunehmend wichtige Frage für die demokratische Wirksamkeit von Journalismus ist außerdem, wen er überhaupt (noch) erreicht. Wenn man ehrlich ist, war diese Quote noch nie so grandios. Zumindest dann nicht, wenn man die gesamte Gesellschaft als Grundlage nimmt. Den Qualitätsmedien ist es zum Beispiel immer schon viel schwerer gefallen, Leserinnen – in diesem Fall bewusst in der weiblichen Form – für sich einzunehmen. Insbesondere bei Wirtschaftstiteln war (und ist) die Leserschaft zu rund 80 Prozent männlich. Das liegt nicht daran, dass sich Frauen nicht für Wirtschaft oder Politik interessieren, im Gegenteil. Viele von ihnen fühlen sich nur nicht angesprochen von einem Journalismus, der sich in Ton und Inhalt rauf und runter um Wettbewerb, Sieg und Niederlage, Helden und gefallene Helden dreht. Leserinnen begeistern sich tendenziell mehr für Auswirkungen von Politik auf den Alltag, persönliche Geschichten, die auch Hoffnung machen, weil sie Wege aus Krisen aufzeigen. Über ständigen Schlagabtausch zu lesen, empfinden sie als ermüdend und Verschwendung ihrer ohnehin knapp bemessenen Zeit.

Junge Leute kreiden den Medien den Hang zur schlechten Laune besonders stark an. Auch mit Sarkasmus und Ironie, auf die man in Redaktionen oft so stolz ist, kommen sie schlecht klar. Sie wünschen sich vom Journalismus mehr Nutzwert für ihr Leben, bessere Erklärungen und gerne auch ein bisschen Spaß – aber eben nicht jenen, der mit einer gewissen Überheblichkeit auf Kosten anderer geht. In persönlichen Gesprächen mit Studierenden verschiedener Fachrichtungen scheint dies ein ums andere Mal durch. Die qualitative Studie How Young People Consume News von Nic Newman vom Reuters Institute belegt ein entsprechendes Nutzerverhalten. Redaktionen müssen diese Bedürfnisse ernst nehmen. Schließlich gibt es kaum ein Medienhaus, das nicht die Sorge hat, die nachwachsenden Generationen an Youtube- oder Instagram-Held*innen oder gleich ganz an Netflix zu verlieren.

Aus der Perspektive der Demokratie sollte es Journalist*innen aber ganz besonders sorgen, dass der digitale Graben in der Mediennutzung tiefer wird. Diejenigen, die hochgebildet und versiert im Umgang mit Online-Angeboten sind, finden in der digitalen Informations- und Medienwelt heute sehr viel bessere, das heißt vielfältigere, hochwertigere und faktenreichere Angebote als in der Zeit vor Suchmaschinen und sozialen Netzwerken. Viele derjenigen hingegen, die früher wenigstens dann und wann mal zur Zeitung griffen, die Fernsehnachrichten anschalteten oder das Radio laufen ließen – und sei es aus Langeweile –, haben heute so viele Möglichkeiten zur Ablenkung und zum Zeitvertreib, dass sie immer seltener mit Journalismus in Kontakt kommen. Forschung belegt das.

„Nach Meinung des Publikums ist Journalismus zwar aktuell, aber zum Teil nicht besonders relevant.“

Journalismus hat also eine gewaltige Bringschuld. Es gilt, das Publikum in all seiner Vielfalt dort abzuholen, wo es ist: auf den Plattformen, die es nutzt, zu den Zeiten, an denen es sich dort aufhält, mit Formaten, die ihm gefallen. Voraussetzung ist allerdings, dass Redaktionen diese Vielfalt erst einmal erkennen. Das fällt ihnen umso schwerer, je ähnlicher die Kolleginnen und Kollegen einander sind, ganz gleich ob das die Ausbildungswege, das Geschlecht, das Alter, die soziale oder die ethnische Herkunft betrifft.

Ein großer und verbreiteter Irrtum ist, dass man sich um Diversität immer noch kümmern kann, wenn die digitale Transformation erst einmal bewältigt ist. Nein, Vielfalt steht im Kern des Wandels hin zu einem Angebot, das die Produkte vom Publikum her denkt. Anders formuliert: Die größte Herausforderung der digitalen Transformation ist nicht die Technik, sondern der Kulturwandel. Diversität muss nicht nur geschaffen, sondern auch geschätzt und gelebt werden.

Vor allem für Journalist*innen heißt das umlernen. Dabei geht es nicht nur um neue Fähigkeiten, die man sich in ein paar Kursen draufschaffen kann. Die Digitalisierung hat die Machtverhältnisse zwischen Nutzern und Produzenten wenn nicht umgekehrt, so doch zumindest ins Wanken gebracht. Früher gab es Bücher wie Den Wirtschaftsteil der Zeitung richtig lesen und nutzen. Auch wer gut ausgebildet war, sollte sich ruhig noch ein wenig anstrengen. Die Medien erzogen sich ihr Publikum, wer nicht folgen konnte, war raus. Das Geld kam ja ohnehin woanders her: von den Anzeigenkunden, die vor allem am zahlungskräftigen, gebildeten Publikum interessiert waren.

Heute sind die Verlage auf jede zahlende Nutzerin, jeden Nutzer angewiesen. Gebrauchsanweisungen liest aber niemand mehr. Wer nicht intuitiv versteht, warum etwas wichtig ist, wie man es nutzt und worauf es ankommt, wendet sich ab. Ein anderes Angebot wartet schon. Die neue Aufgabenstellung heißt also: Nachrichten so anschaulich machen, dass sie möglichst viele Menschen erreichen, die sie verstehen, nutzen können und sich dabei nicht langweilen.

Seite an Seite mit Entwicklern

Das Gute ist, dass es dafür mehr Plattformen und Möglichkeiten gibt als je zuvor. Der Instagram-Post, das TikTok-Video, der Podcast, die interaktive Infografik, virtuelle Realität, ein Videospiel, der E-Mail-Newsletter – was sich für welche Stoffe und Zwecke eignet, lässt sich ausprobieren. Anders als früher weiß man heute dank neuer Datenfülle zum Glück ziemlich genau, was funktioniert. Wer es nicht immer genau weiß sind die Redakteure und Reporterinnen, die ihr Berufsleben lang ihr Bauchgefühl trainiert haben. Das führt noch immer zu manchem Scoop. Aber im Zusammenspiel der verschiedenen Funktionen in den Verlagshäusern schwindet die Definitionsmacht der Journalist*innen. Produkte, die das Publikum begeistern, können nur Seite an Seite mit Entwicklern, Daten- und Marketing-Spezialisten erfunden, gebaut und getestet werden.

Das Bauchgefühl kann irren

Und es kommt noch schlimmer, wenn man das so formulieren will. „Die Leitung des Teams muss immer jemand von der Business-Seite haben“, sagt Anna Aberg, Digitalchefin der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter, die sich durch besondere Innovationsfreude auszeichnet und bei den Digital-Abos schnell wächst. Das ist für manch eine Journalist*in schwer zu ertragen. Es kratzt tief am Selbstverständnis eines Berufsstands, in dem in weiten Teilen heute noch so ausgebildet und geführt wird wie vor 20 Jahren. Es ist ein Berufsstand, der alles Recht dazu hat, stolz darauf zu sein, was von Reporterinnen und Redakteuren täglich geleistet, riskiert und durchgefochten wird, dessen Stolz aber viel zu häufig mit einem Überlegenheitsgefühl einherging – dem Publikum gegenüber und auch den eigenen Kollegen. Mit großem Selbstverständnis haben Journalist*innen die Mitstreiter*innen vom Marketing, der Infografik oder der IT-Abteilung lediglich als Zuarbeiter verstanden. Teamarbeit geht anders, Kundenorientierung auch.

Zum Glück wächst in den Verlagen eine neue Generation heran, die Führung ernst nimmt und als ständiges Lernen versteht. Dazu gehören übrigens auch jene älteren Semester, die es nie gemocht haben, dass man jede schlampige, ungerechte oder unsinnige Entscheidung mit dem eigenen „Bauchgefühl“ rechtfertigen kann. Dies könnte den Ton nicht nur in den Redaktionskonferenzen verändern, sondern womöglich ebenso den der Produkte, für die sich die Nutzer*innen begeistern sollen.

Journalist*innen leisten viel für die Demokratie. Manche riskieren dafür ihre Gesundheit, einige sogar ihr Leben. Dennoch legitimiert sich Journalismus nur über sein Publikum, wie Rasmus Kleis Nielsen, Direktor des Reuters Institutes in Oxford, zu sagen pflegt. Journalismus ist manchmal Kunst, aber viel öfter Dienstleistung. Seine Grundhaltung ist Mut. Vor allem aber sollte es auch Demut sein. 

Dieser Text erschien in „Journalist“, gedruckte Ausgabe November 2020, online am 9. November 2020.

Vielfalt ist Kern der digitalen Transformation – Zu wenige Redaktionen verstehen das

Natürlich, ohne ein paar Nerds geht bei der digitalen Transformation nichts voran. Sie werden dringend gebraucht, die Kolleginnen und Kollegen, die gerne mit Software und Daten arbeiten, neue Tools und Plattformen lieben und sofort „hier!“ rufen, wenn Tech-Konzerne wieder mal ein Produkt gelauncht haben. Taugt das etwas, um den Journalismus besser zu machen, oder ist es nur eine nette Spielerei, ein Versprechen, das allein fremde Kassen füllt? So Nerd, so gut. Das Problem beginnt, wenn Technik der einzige Fokus der Veränderung bleibt. Führungskräfte delegieren dann die Verantwortung an entsprechende Teams, der Rest der Belegschaft fühlt sich nicht angesprochen oder traut sich vor lauter Respekt gar nicht mehr heran. Dabei ist Digitalisierung viel mehr. In ihrem Kern steht ein Kulturwandel hin zu einer vernetzten Welt. Die ist idealerweise inklusiver und bietet mehr Teilhabe als die analoge Gesellschaft, in der Kommunikation und Lernen oft nur als Einbahnstraßen funktionierten. Und ein Grundprinzip dieser neuen Welt ist Vielfalt.

Doch genau damit tun sich Medienhäuser in aller Welt schwer. In der Hautfarbe zu weiß, jedenfalls in den entsprechenden Regionen, in der Führung zu männlich, vor allem bei den prestigeträchtigen Marken zu akademisiert – Redaktionen bilden mitnichten die Gesellschaften ab, denen sie eigentlich dienen sollen. Chefredakteur_innen wissen das. Die Süddeutsche Zeitung hat in ihrer Reihe digitale Projekte jüngst sogar eine ganze Reihe von Gastbeiträgen zum Thema aufgelegt, Titel: „Was sich ändern muss“, gemeint ist der Journalismus. Aber bislang haben die Medienhäuser in der Regel wenig dafür getan, wie eine Studie des Reuters Instituts und der Universität Mainz vom Sommer 2019 belegt, die Deutschland, Großbritannien und Schweden analysiert hatte. Die Neuen Deutschen Medienmacher*innen stellten Ähnliches in diesem Jahr in ihrer Untersuchung zu leitenden Journalist_innen mit Migrationshintergrund fest. „Viel Wille, kein Weg“, lautete der Titel.

In den USA, wo man das Thema Diversität etwas beherzter angeht, hat sich nun der Medienkonzern Gannett zum Wandel verpflichtet. Die Muttergesellschaft der Tageszeitung USA Today und von mehr als 260 Lokalzeitungen hat sich zum Ziel gesetzt, die Belegschaft bis 2025 genauso vielfältig zu machen, wie das Land aussieht. „Gannett verpflichtet sich, eine Kultur zu schaffen, in der sich jeder Mitarbeiter sicher, akzeptiert und in seiner gesamten Identität geschätzt fühlt“, sagte Konzern-Chefin Maribel Perez Wadsworth. Es geht auch um eine andere Berichterstattung: über Themen, die Hautfarbe, ethnische Herkunft und soziale Gerechtigkeit berühren. Noch in diesem Jahr sollen dafür konzernweit 60 Stellen geschaffen werden, wie das Nieman Lab der Harvard University berichtete. Mit der Bekanntgabe des Ziels veröffentlichten die Gannett-Publikationen jeweils Statistiken darüber, wie ihre Redaktionen zusammengesetzt sind – ein wichtiger Schritt.

Es ist nicht nur die Black-Lives-Matter-Bewegung, die in Sachen Diversität einiges ins Rollen gebracht hat. Natürlich ist Vielfalt „the right thing“, das moralisch Gebotene, aber die Medienkrise verschärft sich, und da entdeckt so manch einer auch die ökonomische Logik. Auf der Suche nach Einnahmen schauen Redaktionen auf ihr Publikum und es dämmert ihnen: Da ginge noch mehr. Beim Umbau auf einen digitalen Journalismus nach dem Konzept „Audience first!“ wird vielen Häusern bewusst, dass ihr Journalismus ganze Gruppen ignoriert hat, auch solche, die durchaus bereit wären, dafür zu zahlen. Nur hat man sich um sie bislang nicht gekümmert. Nun nähert man sich an. Und dabei lernen viele: „Audience first“ ist undenkbar, ohne dass Vertreter_innen dieser Gruppen auch in irgendeiner Weise in den Redaktionen repräsentiert sind, idealerweise auch in der Führung. Es gilt, den richtigen Ton zu treffen, relevante Inhalte zu finden, die passenden Plattformen zu bespielen. Im Zentrum des Ganzen stehen nicht länger Journalistinnen und Journalisten mit ihrem Bauchgefühl und dem, was sie sich von ihren Vorgängerinnen und Vorgängern abgeguckt haben, sondern das Publikum mit seinen Bedürfnissen und das, was man anhand von Daten über das Publikum weiß. Digitale Transformation im Journalismus bedeutet eben nicht ein Weiter wie bisher, nur mit neuen Tools. Es geht darum, Journalismus neu zu denken, nämlich vom Nutzer her.

Ein Hexenwerk ist das Ganze nicht, es macht aber Arbeit. Zahlen erheben, Ziele setzen und nachhalten, Einstellungsverfahren professionalisieren, Diskussionskultur verändern – manches rüttelt an den Grundfesten, dem Selbstverständnis und muss geübt werden. Die Empfehlungen der Autorin sind nachzulesen in: „Getting real about diversity and talent: ten recommendations“, einem im Januar 2020 veröffentlichten Report für die European Federation of Journalists. Wenn in Redaktionen die Erkenntnis einsickert, dass digitale Transformation und Vielfalt zusammengehören wie Bericht und Kommentar, dürfte beides etwas schneller vorangehen. „Das Richtige“ ist es noch dazu.

Dieser Text erschien am 28. August im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School. 

Mit Vielfalt zur Fülle – Die digitale Transformation ist beileibe kein Tech-Problem

Man erlebt sie jetzt schon. Die Manager und Managerinnen, die sich – wenn der Corona-Schock so einigermaßen verarbeitet ist – zufrieden auf die Schulter klopfen und dann ihre Power Points renovieren: Hey, haben wir das nicht ordentlich hingekriegt mit der digitalen Transformation? All die Abläufe aus all diesen Home Offices gemanagt, uns kann keiner mehr was vormachen. Neue Welt, wir sind da!

Aber sind wir das wirklich? Tatsächlich wird der Begriff „digitale Transformation“ mit vielen unterschiedlichen Bedeutungen gefüllt. Die einen meinen damit das gelungene gemeinsame Arbeiten über das Internet. Andere bezeichnen jegliche kluge Software-Entwicklung als digitale Transformation, die Dritten denken zuerst an künstliche Intelligenz. Wieder andere sehen darin das Internet der Dinge, also die digitale Vernetzung von Gegenständen, die sich über Daten selbst steuern. Es eint sie, dass ihnen bei dem Begriff zuallererst Technologie und IT in den Sinn kommen. Dabei sind Tech und Tools nur Mittel zum Zweck. Tatsächlich geht es um einen Kulturwandel.

Digitale Transformation heißt etwas anderes, als Server-Kapazitäten aufzurüsten und eine Zoom-Konferenz einigermaßen unfallfrei durchzubringen. Es bedeutet, Geschäftsmodelle und Prozesse radikal vom Nutzer her zu denken. Besessenheit mit dem Kunden statt Besessenheit mit der Konkurrenz, so hat es Amazon-Gründer Jeff Bezos formuliert und als erste der 14 Führungsprinzipien des Konzerns für alle Mitarbeiter verpflichtend gemacht. Und das kann, ja man sollte es weiterdenken. Nutzer sind vielfältig. Deshalb muss Vielfalt im Zentrum des digitalen Wandels stehen.

Ein Beispiel aus der Medienbranche: Bekanntlich punkten die meisten Redaktionen trotz ihres journalistischen Auftrags nicht unbedingt mit Vielfalt. Chefredakteure und Ressortleiter sind noch immer eher männlich, Reporterinnen und Redakteure meistens Hochschulabsolventen, ethnische Minderheiten selbst dort nicht ausreichend repräsentiert, wo es keine Sprachbarriere gibt. Dies prägt Themen und Recherchen. Viele Teile des Publikums fühlen sich von den Medien deshalb nicht repräsentiert. Der lokale Radiosender WFAE in Charlotte, US-Staat North Carolina, hatte eine Idee. Womöglich ließe sich das Vertrauen der Hörer mit einem Podcast-Wettbewerb zurückgewinnen. Die Resonanz war so gewaltig, dass der Server zusammenbrach. 360 Ideen für Podcasts wurden eingereicht, über 33 000 Bürger stimmten über die Vorschläge ab. Vom Schüler bis zur Rentnerin wollten alle Altergruppen zu Wort kommen, die Themen reichten vom selbstgebrauten Bier bis hin zu Erfahrungen mit dem Gesundheitswesen. Die Aktion hat das Verhältnis des Senders zu seinen „Kunden“ auf den Kopf gestellt. Was gute Themen sind, entscheiden sie. 

Aber müssen für so etwas auch Führungsteams und Belegschaften vielfältig sein? Viele Manager bezweifeln das. Schließlich gebe es dieser Tage ausreichend Daten, aus denen man Kundenwünsche herauslesen könne. Und gerade Tech-Konzerne wie Amazon seien ja nicht für Vielfalt im Management bekannt. Aber hier liegt ein Denkfehler. Denn Daten hat man immer nur von den Kunden, die schon bei einem kaufen. Die Vorlieben derjenigen, die einen ignorieren, die man aber mit etwas Mühe gewinnen könnte, liegen im Dunkeln. Der im Januar verstorbene Harvard-Professor Clayton Christensen, Erfinder des Konzepts der Disruption, hatte schon in seinem Buch „The Innovator’s Dilemma“ (1997) beschrieben, warum erfolgreiche Unternehmen bei der Innovation oft scheitern: Weil sie sich zu sehr darum bemühen, lukrative Bestandskunden zufriedenzustellen und diejenigen nicht im Blick haben, die es werden könnten. Von digitaler Transformation und Diversität war damals noch nicht so sehr die Rede.

Verborgene potenzielle Kunden entdeckt man nicht mit Datenanalyse allein. Hier gilt es, einfach mal auszuprobieren, Ideen zu testen, ein Grundprinzip der Agilität. Und Ideen können nur Menschen haben, keine Algorithmen. Die sind oft erstaunlich wenig lernfähig und schlagen einem – Beispiel Amazon – auch dann noch „Die schönsten Schlaflieder“ vor, wenn die Kinder schon längst fürs Abitur lernen oder sie platzieren Werbung für den Paris-Flug, wenn die Reise lange hinter einem liegt.    

Andere Manager bekräftigen den Zusammenhang zwischen Vielfalt und Geschäftserfolg in der Theorie, handeln aber nicht danach. Irgendeinen Grund gibt es schließlich immer, das Thema Diversität auf bessere Zeiten zu verschieben. Man müsse zunächst die Krise bewältigen, das neue Produkt auf den Markt bringen oder eben – die digitale Transformation managen.

Janina Kugel, bis vor kurzem Vorständin bei Siemens und leidenschaftliche Verfechterin des Vielfalts-Gedankens, kennt diese Denke nur zu gut. „Es gibt leider ganz wenige Manager, die gezielt auf Diversity setzen, weil sie verstanden haben, dass nur so neue Ideen generiert werden. Oft sind Innovationen eher Zufallsergebnisse“, sagt sie.

Und womöglich sind es gerade Krisen, die Manager – in diesem Fall bewusst im Maskulinum – in alte Muster zurückfallen lassen. Sie setzen dann lieber auf Befehl und Kontrolle statt aufs Testen, Lernen, Anpassen. Wie überschlugen sich doch in den ersten Tagen des Ausnahmezustands die Berichte stolzer C-Ebenen-Bewohner von der Home Office „Front“: noch effizienter könne man jetzt führen, das Wort „durchregieren“ hätte auch gepasst. Allerorten waren die Bildschirme so voll mit Männern, dass sich die Vorstandsvorsitzende des Verlagshauses Gruner + Jahr, Julia Jäkel, in einem Gastbeitrag für Die Zeit fragte, wohin denn alle die Chefinnen verschwunden seien – und ob das mit den Fortschritten bei der Gleichstellung nur ein netter Traum gewesen sei. Sechs Wochen hatte sie sich das angeschaut, bevor sie sich mit der Beobachtung an die Öffentlichkeit wagte.

Es fällt auf: Manch eine Organisation möchte das Neue haben, aber dann doch lieber nicht so nah an sich herankommen lassen. Vielfalt in plakative Projekte wie zum Beispiel in einen Hackathon auszulagern ist da sicherer. So hatte die Staatsministerin für Digitales im Bundeskanzleramt, Dorothee Bär, an einem Wochenende im März zum Corona-Hack „WirVsVirus“ geladen. 28 000 Bürger beteiligten sich, 1500 Projekte entstanden. Oft allerdings bleibt es bei solchen Aktionen. Für die Krise ist dann wieder der Krisenstab, für die Strategie das Management zuständig. Diversität spielt keine Rolle.

Führung und Teams gemischt zu besetzen, kann allerdings nur ein erster Schritt sein. Diejenigen, die es in einer hierarchisch geprägten Unternehmenswelt bis nach oben schaffen, sind häufig besonders talentiert darin, die herrschende Kultur zu verstehen und sich ihr anzupassen. „Zu viele Unternehmen betrachten Diversität als die Aufgabe, die gelöst werden muss“, sagt Alison Maitland. Sie hat zusammen mit Rebekah Steele das Buch „Indivisible: Radically Rethinking Inclusion for Sustainable Business Results“ geschrieben (Young and Joseph, 2020). Stimme dann die Statistik, hakten sie die Sache ab. Dabei fange da die Arbeit erst an. Vielfalt müsse im Design von Prozessen und Produkten mitgedacht werden, sagt Maitland: „Diversität ohne inklusive Unternehmenskultur ist unausgeschöpftes Potential.“ Und Inklusivität bedeutet, vielfältige Stimmen einzuholen und deren Ideen zu testen.

Dies gelte insbesondere, wenn künstliche Intelligenz im Spiel sei, sagt Maitland, denn Software-Entwickler bauten bestimmte Annahmen in die Algorithmen ein. Die Autorinnen beschreiben den Fall einer kanadischen Firma. Sie hatte sich auf Produkte spezialisiert, die Körpersprache und Gesten elektronisch analysieren. Die Designer hatten zwar die Software getestet, aber versäumt, dies an Linkshändern und Menschen mit kleineren Händen zu tun, Frauenhände sind tendenziell kleiner. Maitland: „Sie haben auf die harte Tour gelernt, dass man Inklusivität von Anfang an mitdenken und einbauen muss, wenn man auf einen großen Marktanteil aus ist.“

Sarah Kaplan, Professorin und Direktorin des „Institute for Gender and the Economy“ an der Rotman School of Management der Universität Toronto rät sogar, sich von dem Gedanken zu verabschieden, Vielfalt allein trage zum Geschäftserfolg bei. Man solle sie einfach umsetzen, weil es das Richtige sei. „Diversität verursacht Friktionen, weil sie Gruppendenken aufbricht. Nur Organisationen, die darin investieren, ihre Inklusivitäts-Muskeln auszubilden, werden von Diversität profitieren“, schreibt sie für das Magazin Fast Company („Why the ‚business case‘ for diversity isn’t working“). Dazu müsse viel Energie in den Kulturwandel gesteckt werden.

Ana-Cristina Grohnert, Vorstandsvorsitzende der Charta der Vielfalt, sagt, es liege auf der Hand, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Handlungsalternativen entwickeln. „Optionen zu haben ist ökonomisch, womöglich ist es überlebenswichtig.“ Die ehemalige Personalvorständin der Allianz Deutschland unterstützt die Plattform Staffbook. Das Startup der Gründer Axel Hildebrandt und Sven Lorenzen ist eine Art Job-Tinder für die Gastronomie und andere Dienstleistungsbetriebe. Sie soll Bewerber und Arbeitgeber in Branchen matchen, in denen es oft mehr auf persönliche Qualitäten wie Ausstrahlung, Geschick und Drive als auf die formale Ausbildung ankommt. Das ist Vielfalt in Angebot und Nachfrage.

Auch Produktvielfalt kann überlebenswichtig sein. Dann, wenn man zum Beispiel die Sicherheit von Autos nicht mehr nur an Dummys testet, die standardmäßig 1,80 Meter groß und 78 Kilogramm schwer sind. Die US-Firma Humanetics zum Beispiel baut seit einiger Zeit Dutzende Varianten, von der Puppe im Seniorinnen-Format bis hin zu jener mit Übergewicht ist alles dabei. Oder Vielfalt drückt Wertschätzung aus und verhilft Menschen zu mehr Selbstvertrauen. Wenn sie sich zum Beispiel ein Pflaster in ihrer Hautfarbe auf den blutenden Finger kleben können, wie sie die britische Supermarkt-Kette Tesco hat entwickeln lassen – als Reaktion auf den berührenden Tweet eines Kunden hin. „Wir haben die Verantwortung sicherzustellen, dass unsere Produkte die Vielfalt unserer Kunden und Kollegen abbilden“, zitierte die BBC Nicola Robinson, Tescos Leiterin für Gesundheits- und Kosmetikprodukte. Lange hieß es, der Kunde sei König. In der neuen Wirtschaftswelt gibt es unzählige Könige. Und sie dürfen endlich auch Königin, Königin-Mutter oder Königskind sein – und womöglich sogar mit links schreiben.

Die vielen Video-Konferenzen haben übrigens mindestens einen wichtigen Beitrag geleistet: Bücherregale, verzierte Kühlschränke und neugierige Kleinkinder im Hintergrund haben allen buchstäblich die Vielfalt der Lebensumstände vor Augen geführt, aus denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter täglich die Fahrt ins standardisierte Büro antreten. Die amerikanische Management-Vordenkerin Nilofer Merchant hat dafür den Begriff der „Onlyness“ geprägt, die spezielle Erfahrung, die jeden einzelnen Menschen prägt und mit der er oder sie etwas zur Gesellschaft beitragen kann. Würde jeder etwas davon in die Arbeitswelt mitbringen können, wäre das mehr als eine Bereicherung. Man könnte es digitale Transformation nennen.

Dieser Text erschien zuerst in gekürzter Form am 29. Mai 2020 in ada 02/2020