Klimajournalismus, der wirkt – Was Redaktionen tun können

In vielen Redaktionen gilt der Ausbau des Klimajournalismus als Pflicht, nicht aber als Chance. Dies dürfte ein Grund dafür sein, dass so wenige Medienhäuser eine Klimastrategie haben. Auf dem Constructive Journalism Day 2022 von NDR Info und Hamburg Media School habe ich darüber gesprochen, warum der Klimajournalismus große Potenziale birgt, den Journalismus insgesamt in die Zukunft zu bringen.  

Viele Menschen haben gerade wieder eine große Dosis Klimajournalismus zu sich genommen. Für manch einen fühlte es sich womöglich wie eine Überdosis an. Der Klimagipfel in Sharm-El-Sheik beherrschte tagelang die Schlagzeilen. Und wir lernten aus den Medien: Es war eine Katastrophe. Es sei „weniger als nichts“ erreicht worden, so der Titel eines Kommentars in der Süddeutschen Zeitung. Hinzu kommen die Proteste junger Menschen, die sich in ihrer Wut an Straßen festkleben oder Kunstwerke zerstören. Auch darüber wurde in allen Facetten berichtet. Ist das gut?

Es ist wichtig, ja. Aber die Debatten über die Proteste oder auch der große Aufschlag bei Events wie COP27 verschleiern, dass es viele Gründe gibt, beim Thema Klima auch zuversichtlich zu sein.

  • Forscher sagen, die Energiewende ist kein technisches Problem mehr und auch kein Preis-Problem. Es ist ein politisches Problem – immerhin.

  • Es werden praktisch täglich neue Lösungen erfunden, eine lebendige Start-up-Szene ist rund um grüne Technologien, Produkte und Dienstleistungen entstanden.

  • Die meisten Branchen beschäftigen sich intensiv mit Klima-Innovationen, Fonds schichten ihre Portfolios um, Verschmutzer steigen auf klimaschonende Techniken um, selbst Flugzeugturbinen-Hersteller haben eine Klimastrategie.

Nur der Journalismus nicht. Für den EBU News Report der European Broadcasting Union – der weltweit größten Vereinigung öffentlich-rechtlicher Medienhäuser – recherchieren wir seit Monaten in Redaktionen, interviewen Chefredakteure, Forscher, anderen Experten. Unsere Erkenntnis ist: Gerade mal eine Handvoll Redaktionen hat sich strategisch mit dem Thema beschäftigt.

Wenn man so argumentiert, hört man hier und dort: Was andere Branchen machen, das sei doch oft nur Greenwashing. Das mag in einigen Fällenstimmen. Aber wer böse sein will, könnte sagen: Journalismus bekommt oft nicht einmal Greenwashing hin.

Der Journalismus hinkt beim Thema Klima anderen Branchen hinterher. Warum ist das so?

  • Im Journalismus hat man Angst, als parteiisch, aktivistisch wahrgenommen zu werden. Eine kleine, lautstarke Minderheit der Skeptiker gibt den Ton an. Man unterschätzt sein Publikum. Die Mehrheit ist nämlich längst weiter, wie Umfragen belegen. Die meisten Menschen kennen das Problem – zumindest intuitiv – und wollen, dass etwas passiert.

  • Der Druck ist gering. Viele Verlage sind mittelständisch, Sender sind öffentlich-rechtlich strukturiert. Redaktionen sind nicht an der Börse notiert, Pensionsfonds können keine Gelder abziehen, wenn beim Thema Nachhaltigkeit geschlafen wird. Anderes hat Priorität, der Kostendruck tut ein übriges.

  • Klimajournalismus wird als ein Thema unter vielen missverstanden. Dabei muss der Schutz der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten eine Haltung sein, der sich Journalismus verpflichtet – so wie auch der Demokratie oder den Menschenrechten. Das Klima darf nicht nur Objekt sein, dass man beobachtet und beschreibt. Es muss die Kulisse sein, vor der das Leben spielt. Es sollte jedes Storytelling definieren.

Das Thema Klima ist eine Chance für den Journalismus, denn es deckt seine großen Defizite auf:

 

  • Klima ist ein Zukunftsthema. Der Journalismus klebt am Jetzt. Der Fokus liegt auf der schnellen Nachricht, dem Tagesgeschäft. Umfragen zeigen: Es wird zu viel gemeldet, zu wenig erklärt.

  • Klimaschutz braucht Hoffnung. Der Journalismus von heute legt den Fokus auf Drama, Versäumnisse, Misserfolge. Das drückt sich auch in der Sprache aus. Journalismus warnt, droht, macht Angst.

  • Im Klimaschutz zählt, was getan wird. Der Journalismus von heute fokussiert auf das, was gesagt wird. Die Überproduktion beim „Er hat gesagt, sie hat gesagt“ Journalismus lässt die Menschen oft verwirrt, leer, gelangweilt zurück.

  • Journalismus, der wirkt, nähert sich den Menschen auf Augenhöhe an in einer Sprache, die sie verstehen. Der Journalismus von heute erhebt sich oft besserwisserisch über sie – vor allem, wenn er sich Qualitätsjournalismus nennt.

  • Journalismus, der wirken möchte, respektiert sein Gegenüber und setzt auf Vielfalt, auch in der Ansprache des Publikums. Der Journalismus von heute kommt oft aus dem Zeitalter der Massenmedien, wo ein Format alles erschlagen musste.

  • Journalismus, der wirken möchte, reflektiert eigene Praktiken und macht sich Forschung zunutze. Heute sind viele Redaktionen fast noch stolz darauf, akademisches Wissen zu ignorieren. Dabei gibt es viel Wissen darüber, wie Kommunikation auf Menschen wirkt.

Aber kann Journalismus, der nicht wirkt, starker Journalismus sein?

Um eine Wirkung zu erzielen, muss man sich mit seinem Publikum beschäftigen. Spannend ist: Die Formate, die Journalistenpreise gewinnen, kommen nicht unbedingt beim Publikum an – und umgekehrt. Die wirkungsvollen Formate gewinnen keine Preise.

Was nun ist wirkungsvoller Klimajournalismus, was wissen wir aus der Forschung?

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus konzentriert sich aufs Jetzt und Hier konzentriert statt auf die ferne Zukunft, wenn er das Problem beschreibt. Er verankert das Thema da, wo die Menschen leben.

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus malt auch die Möglichkeiten einer guten Zukunft aus, zeigt: Was wird gewonnen, statt immer nur zu betonen, was verloren wird, was zu opfern ist. Es geht um die Entwicklung eines nachhaltigen Wirtschaftssystems. Der Klimajournalismus-Experte Wolfgang Blau nennt es den größten Umbau seit dem Zweiten Weltkrieg.

  • Klimajournalismus wirkt, wenn er konstruktiv und lösungsorientiert ist, statt immer nur die Apokalypse an die Wand zu malen. Wenn man Menschen ins Gespräch bringen und nicht in die Flucht schlagen will, funktioniert sogar Humor besser als ständiger Alarm. Wissenschaftler beschäftigen sich bereits mit der Wirkung von Comedy in der Klimakommunikation.

  • Klimajournalismus kann wirken, wenn er Menschen Wirkmacht verleiht, statt sie zu Opfern oder zumindest Betroffenen zu machen, wie das fast durchweg in den Nachrichten geschieht. „Agency“ ist das englische Wort dafür.

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus bedient verschiedene Zielgruppen so, dass sie zuhören. Er nimmt zur Kenntnis, dass der Botschafter oft wichtiger ist als die Botschaft selbst. Der Botschafter ist im besten Fall eine Person mit hohen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitswerten. Er berücksichtigt auch, dass Faktenfülle die Empathie nicht ersetzt.

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus ist starker Journalismus. Redaktionen sollten sich dabei nicht zu sehr mit nebensächlichen Details beschäftigen. Ein Sprachkorsett wird nicht gebraucht. Was wichtig ist: Tiefe, Recherche, Faktentreue, starke Bilder – vor allem auch starke Bilder von Lösungen. Was nie wirkt: Bilder von „Männern in Anzügen“, wie eine norwegische Chefredakteurin sagte.

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus braucht eine glaubwürdige Basis. Medienhäuser sollten ihre Hausaufgaben machen, an ihrer CO2 Neutralität arbeiten. Und das ist womöglich die größte Herausforderung. Aber wer flammende Kommentare verfasst aber Klimaschutz nicht erkennbar lebt, wird schnell als Heuchler enttarnt.

Mark Hertsgaard, Mit-Gründer der Plattform „Covering Climate Now“ an der New Yorker Columbia University, sagte: „Wenn wir die Medienbranche nicht transformieren, wird keine andere Branche transformiert werden.“ Man mag da eine gewisse Hybris heraushören. Aber wahr ist, dass nur stetiger öffentlicher Druck alle Beteiligten anspornt, das Thema endlich anzupacken.

Klimajournalismus hat das Zeug dazu, den Journalismus in die Zukunft zu bringen. Es ist allerhöchste Zeit dafür, diese Chance zu nutzen – für das Klima und den Journalismus.

Von wegen „Digital Natives“ – Gerade beim jungen Publikum klafft die Medienkompetenz weit auseinander

Es ist eine bequeme Annahme, dass sich manche Probleme mit dem Generationenwechsel von selbst lösen werden. Leider fällt sie immer wieder durch den Wirklichkeitstest. Dies trifft auch auf die Fähigkeit zu, mit dem Digitalen im Allgemeinen und digitalen Medien im Besonderen kompetent umzugehen. Belegt wird das von einer großen Studie für Deutschland, die in dieser Woche von der Stiftung Neue Verantwortung veröffentlicht wurde und Pflichtlektüre für alle sein sollte, die etwas mit Journalismus zu tun haben. Denn unter den vielen interessanten Einzelergebnissen fällt eins besonders ins Auge: Gebildete junge Menschen erreichen in dem Test im Durchschnitt die besten Werte aller Altersgruppen, während ihre Altersgenossen mit niedriger Schulbildung schlechter abschneiden als ältere Jahrgänge mit ähnlichem Ausbildungsniveau. Kurz gesagt: Der Begriff „Digital Natives“ beschreibt kaum mehr als eine Wunschvorstellung. Vielmehr wird der digitale Graben tiefer.

Es lohnt sich, die Studie genauer zu lesen, denn etliche Aussagen sollten Redaktionen schwer zu denken geben. Nicht nur ist das Niveau der Medienbildung insgesamt mau: Im Durchschnitt erreichten die Befragten nicht einmal die Hälfte der möglichen Punktzahl, nur jede*r Fünfte qualifizierte sich in den Kategorien hohe oder sehr hohe Medienkompetenz. Aber einige Erkenntnisse rufen direkt nach Taten.

Da ist zum einen der Vorwurf einer „von oben“ gesteuerten Presse. Etwa ein Viertel der Befragten nimmt nach eigenem Bekunden an, Politik und Journalist*innen arbeiten Hand in Hand und täuschen die Bevölkerung, „Lügenpresse“ lässt grüßen. Woran die Menschen das festmachen, ergibt sich nicht. Aber eine Unterrichtseinheit in der Schule reicht vermutlich nicht, um das Gegenteil zu beweisen. Hier rächt sich eine Politik-Berichterstattung, die sich nach wie vor zu sehr auf Statements von Funktionsträger*innen und zu wenig auf die Recherche von Themen fokussiert. Wer Politiker*innen und Journalist*innen ständig gemeinsam in Bild und Gespräch wahrnimmt, wird womöglich auch bei kritischen Interviewfragen den Eindruck nicht los, hier werde über die Köpfe der Bürger*innen hinweg verhandelt. Dazu passt, dass der Lokaljournalismus in den meisten Studien auch international die höchsten Vertrauenswerte genießt. Er ist eben näher dran.

Besonders schwer taten sich die Teilnehmer*innen der Untersuchung damit, Journalismus von Werbung zu unterscheiden oder Kommentare von Nachrichten. Wer seine Informationen überwiegend aus den sozialen Netzwerken bezieht, verirrt sich der Studie zufolge besonders häufig im Überangebot und Nebeneinander von unabhängiger, überprüfter auf der einen und interessengeleiteter Information auf der anderen Seite. Nutzer*innen, die sich direkt in Nachrichten-Apps schlau machen, schneiden dagegen deutlich besser ab. Das ist bedenklich, da der weit überwiegende Teil der Medienkonsument*innen über die Plattformen Dritter auf Journalismus zugreift, Tendenz steigend. Bei den jungen Leuten nutzen laut aktuellem Digital News Report 84 Prozent den Seiteneinstieg, nur ein geringer Teil geht also direkt auf Website oder App.

In der Branche wird immer wieder die Notwendigkeit diskutiert, Beiträge nach Kategorien zu kennzeichnen. Aber ein schlichtes „Kommentar“ in der Dachzeile reicht möglicherweise nicht aus. In der Studie konnte zum Beispiel kaum jemand ein Advertorial identifizieren, selbst wenn es als Anzeige gekennzeichnet war. Auch das Label „Kolumne“ wurde als wenig hilfreich empfunden. Die Wirkung von Kennzeichnungen ist offenbar auch bei Falschinformationen begrenzt. Selbst wenn soziale Netzwerke Lügen eindeutig als solche ausweisen, ist das offenbar nicht für alle ein Grund dafür, sie als solche zu behandeln.

Wenn es nur noch gut ausgebildete Menschen schaffen, sich einigermaßen sicher in der digitalen Medienwelt zu bewegen, sind das schlechte Nachrichten für die Demokratie. Die Gefahr steigt, falsch oder gar nicht informiert zu sein und deshalb schlechte Entscheidungen zu treffen. Die Ergebnisse der Studie unterstreichen, was die Forschung schon länger nahelegt: dass das Internet den Zugang zu Information und Wissen nicht etwa egalitärer, sondern ungleicher gemacht hat. Antonis Kalogeropoulos hatte dies 2018 in einer Studie für Großbritannien belegt. Demnach kamen in der alten Welt von Print und linearem Fernsehen Menschen mit niedrigem Bildungsgrad häufiger mit Journalismus in Kontakt als heute, wo jeder zwar ständig an seinem Smartphone herumfingert, darauf aber eher chattet und spielt, statt nach Information zu fahnden. In der Zeit vor Netflix und Spotify griffen auch weniger Bildungsbeflissene schon mal aus Langeweile zur herumliegenden Zeitung oder ließen die Nachrichten an sich vorbeirauschen, schnappten dabei das eine oder andere auf. Exzellent ausgebildete Nutzer*innen sind dagegen heute in der Lage, sich deutlich besser und vielfältiger zu informieren als je zuvor.

Was also tun, damit Journalismus nicht zum Klassen-Privileg wird? Medienbildung erreicht Menschen kaum noch, sobald sie die Schule verlassen haben. Gerade die ältere Generation ist besonders anfällig für „Fake News“, ebenso die Jüngeren, die sich Informationen bewusst oder unbewusst entziehen. Schon jede*r Dritte gilt laut Digital News Report als Nachrichten-Verweiger*in.

Redaktionen stehen in besonderer Verantwortung. Medientrainings in Schulen sollten Standard werden, aber nicht als „wir erklären euch mal was“ von oben herab. Junge Leute können fantastische Reporter*innen sein, man muss sie nur ermutigen. Journalismus und die Aufklärung gehören zudem auf die Plattformen, auf denen sich die Nutzer*innen bewegen. Die Tagesschau mit ihren vielfältigen digitalen Angeboten macht vor, wie so etwas gehen kann – in der Studie der Stiftung Neue Verantwortung schneidet sie vergleichsweise gut ab. Idealerweise begeistern Medien das Publikum so, dass es den direkten Weg auf die Nachrichten-App findet und keine Verwechselungsgefahr besteht. Aber dazu muss auch der Journalismus besser werden: weniger fixiert auf Institutionen, dafür mehr auf Menschen und Themen, stärker im Austausch mit den Nutzer*innen, transparenter, was die eigene Arbeitsweise angeht.

Die Medien können die Aufgabe allerdings nicht alleine stemmen. Öffentliche Institutionen und Privatwirtschaft müssen nicht nur besser aufklären. Aus jedem Plattform-Design muss klar hervorgehen, was die Konsument*innen von Inhalten erwarten können: Ist das nur Werbung oder Bla Bla, oder ist da echter Journalismus drin? Was Zeitungen einigermaßen gelungen ist, muss auch im Digitalen möglich sein.

Diese Kolumne erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 26. März 2021.

Das Publikum, ein unbekanntes Wesen – Warum Leser-Daten niemals alles erklären können

Es gibt immer noch Journalist*innen, die es lieber nicht so genau wissen wollen: Wie viele Menschen lesen die von ihnen mühsam recherchierten und verfassten Texte wirklich, und wie viele davonbleiben bis zum Ende dabei? In der Zeit der stabilen Druckauflagen konnten sich Reporter*innen und Kommentator*innen noch in der Vorstellung sonnen, Zehntausenden, ja sogar Hunderttausenden Er- und Aufklärung zu bieten. Seitdem es Daten über die digitale Nutzung verschiedener Themen und Textgattungen gibt, weiß man, dass diese Annahmen nicht viel mehr als Wunschdenken waren. Dennoch hat die Vorstellung, für ein großes Publikum zu arbeiten, viele Autor*innen beflügelt und den Journalismus damit besser gemacht. Man könnte allerdings auch sagen: Es wurde zu häufig viel Aufwand für wenig Wirkung getrieben.

Moderne Redaktionen ticken anders, sie wollen es ganz genau wissen: Welche Stoffe ziehen die Leute auf die Seite, welche animieren sie zum Durchklicken, und mit welchen Inhalten bewegt man die Kund*innen direkt zum digitalen Abonnement? Analysetools, die ständig mit neuen Daten gefüttert werden, suggerieren: Das große Geheimnis um die Vorlieben und Abneigungen des Publikums lässt sich lüften. Bediene man die Nutzer*innen dann entsprechend, stünden dem Journalismus endlich wieder goldene Zeiten bevor.

Ganz so einfach ist diese Gleichung allerdings nicht. Und man muss vermuten, dass sie sich nicht einmal mit höherer Mathematik wird lösen lassen. Denn wann Menschen welchen Journalismus konsumieren und – noch wichtiger – welche Konsequenzen sie daraus ziehen, lässt sich womöglich eher mit einem Psychologiestudium begreifen als beim Blick auf Analysetools. In seinem neuen Buch „Imagined Audiences – How Journalists Perceive and Pursue the Public” hat sich der Kommunikationswissenschaftler Jacob L. Nelson mit dem Verhältnis zwischen Journalisten und ihrem Publikum beschäftigt und dabei bestätigt: Es ist kompliziert. „Nutzerdaten zeigen Journalisten, wie sich Leute verhalten, aber nicht warum“, schreibt Nelson. Nach intensiver Recherche kommt er zu dem Ergebnis, dass Redaktionen trotz aller Möglichkeiten der Nachverfolgung deutlich weniger Kontrolle über die Wirkung ihrer Arbeit haben, als sie dies wahrhaben möchten. Die Rettung der Branche alleine den Kund*innen zu überlassen, sei deshalb strategisch gefährlich.

Genau dort allerdings ruhen derzeit die gebündelten Hoffnungen der Branche. Das Bedürfnis der Medienhäuser ist groß, aus Lesern, Hörerinnen oder Zuschauern begeisterte Kundinnen zu machen, die so zuverlässig nach dem Digital-Abo greifen wie nach der Brötchentüte am Sonntag. Schließlich hängt in Zeiten sinkender Anzeigenerlöse ihr Überleben daran. Entschlüssele man nun, was die Nutzer*innen wirklich zu Käufer*innen mache, dann werde das schon klappen, so die Denke.

Das ist weder ganz wahr noch ganz falsch. Die Beschäftigung mit den wirklichen Problemen und Bedürfnissen seines speziellen Publikums und dessen Untergruppen – Fachbegriff Audiences – ist entscheidend, wenn man sich unverzichtbar machen will. Aber wie findet man sie heraus? Nutzerdaten auswerten ist eine Möglichkeit. Allerdings können Metriken nur einen Teil der Wahrheit abbilden. Diejenigen, die gar nicht erst zu einem Medium finden, weil sie dort nichts für sich Relevantes erwarten oder dessen überdrüssig sind, bilden sie nicht ab. Wer zum Beispiel überwiegend von Männern gelesen wird, kann daraus zwei Konsequenzen ziehen: Die eine wäre, noch mehr Inhalte anzubieten, die vermeintlich die Interessen von Männern treffen und damit die Kundenbindung stärken – dann würden Daten zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung beitragen. Die andere wäre, bewusst in die Lücke zu stoßen und sich um ein weibliches Publikum zu bemühen. Immerhin kann man anhand von Daten testen, ob das funktioniert.

Umfragen sind eine andere Möglichkeit, dem Publikum näher zu kommen. Datensammlungen wie der Digital News Report, die weltweit größte fortlaufende Studie zum digitalen Medienkonsum, offenbaren, was die Nutzer am Journalismus am meisten nervt: zu negativ, zu viel, zu wenig für sie relevante Themen, zu viel Voreingenommenheit. Das Dumme ist nur, dass die Befragten oft anders handeln als sie reden. Derek Thompson, Autor beim Magazin The Atlantik, beschrieb das einmal treffend: „Frage Audiences, was sie wollen, und sie werden dir sagen: Gemüse. Beobachte sie im Stillen, und sie werden vor allem Süßigkeiten essen.“ Vermutlich würden etliche Studienteilnehmer nur ungern zu Protokoll geben, wie viel Zeit sie in dieser Woche wirklich mit der Nachbearbeitung des Oprah Winfrey Interviews mit dem abtrünnigen Königsfamilien-Paar Meghan und Harry verbracht haben. Ähnliches gilt für Fokusgruppen, wo erwünschtes Verhalten und Gruppendynamik eine Rolle spielen. Allerdings ist ein solchen kleinen Gesprächsrunden mehr Zeit und Raum für Fragen und Antworten jenseits der Schablone.

Viel Hoffnung setzen einige Medienmarken und -Fachleute auf „Audience Engagement“, ein weiterer Begriff, den jeder anders versteht. Würde man das Publikum bei der Themenwahl und Recherche miteinbeziehen, käme man dessen Bedürfnissen näher. Schließlich wachse das Vertrauen mit der Intensität der Beziehung, loyale Nutzer*innen wären die Folge. Dumm nur, dass nicht jede*r mitmachen will. Die meisten Menschen sind so sehr mit anderen Dingen beschäftigt, dass sie sich gar nicht am Erstellen von Journalismus beteiligen wollen. Ihnen reicht das passive Konsumieren. Das heißt aber noch lange nicht, dass ihnen das Ergebnis unwichtig ist. Besteht dies jedoch nur aus Themen, für die sich Nutzer*innen engagiert haben, kann auch das danebengehen.

„Journalisten können ihr Publikum niemals vollständig verstehen oder gar steuern“, schreibt Jacob Nelson, dessen Buch trotz des ernüchternden Fazits hochinteressant für Medienmacher ist. Falls das jemanden tröstet: Den meisten anderen Unternehmen gelingt das mit dem Verstehen auch nicht. Es geht jedoch garantiert schlecht aus, wenn sie es nicht wenigstens versuchen.

Forschung hilft – übrigens auch dem Journalismus

Der Intendant eines großen deutschen Senders ließ die Forscherin nicht einmal ausreden. Sie hatte Zahlen über das sinkende Vertrauen der Bürger in den Journalismus präsentiert, doch der Medienmann, in überschaubarer Runde von gleichrangigen Kollegen umgeben, wiegelte ab. Sein Haus habe seine eigenen Zahlen, sagte er, und denen zufolge stehe man recht gut da. Noch Lust auf eine Debatte? Eben. Die Szene, so beobachtet vor zwei Jahren, steht exemplarisch für eine Branche, die ihren ganzen Stolz aus der täglichen Praxis zieht. Untereinander mögen sich Journalisten und Journalistinnen öffentlich zerfleischen über missratene Kommentare, lückenhafte Recherche, unangebrachte oder fehlende Entschuldigungen, vor allem, wenn die Konkurrenz betroffen ist. Aber gegen Kritik aus der Wissenschaft stehen Praktiker_innen gerne wie eine Wand aus Selbstbewusstsein: Davon, wie es da draußen zugeht, hätten diese Akademiker keine Ahnung.

Dieselben Kolleg_innen, die sich angesichts der Corona-Krise für die wissenschaftliche Methodik stark machen, die nicht auf Wahrheiten baut, sondern auf den stets suchenden Prozess der Wahrheitsfindung, schalten schnell auf Durchzug, wenn Forschung ihnen Erkenntnisse über die eigene Zunft präsentiert. Sagen Wissenschaftler_innen, das Publikum erlebe Journalismus als zu negativ, fühle sich von der Masse der Nachrichten erdrückt, wünsche sich eine Trennung von Meinung und Kommentar oder störe sich am zuweilen überheblichen Ton, kontern Held_innen des Redaktionsalltags ziemlich sicher mit einem „ja, aber …?“ Wie groß da wohl die Stichprobe war, wen man befragt habe, und ob speziell diese Methodik generell irgendeinen Schluss darauf zulasse, was das Publikum wirklich denke. Schließlich habe man ja all diese Software-Analyse-Tools, die einem ziemlich genau zeigten, was gut laufe und was nur so, nun ja, mittelmäßig. Die Botschaft: Bleibt ihr in eurem Elfenbeinturm und lasst uns arbeiten.

Ist das zugespitzt? Vielleicht. Tatsächlich nimmt das Interesse an Publikumsforschung gefühlt in dem Maße zu, in dem das Publikum den Medienmarken abhandenkommt. Digital orientierte Journalist_innen arbeiten sich durchaus schon mal in den Digital News Report des Reuters Institutes aus Oxford ein, die größte fortlaufende Untersuchung über den weltweiten digitalen Medienkonsum. Die neueste Ausgabe wurde übrigens am 16. Juni veröffentlicht, sie deckt 40 Märkte und Länder auf allen Kontinenten ab, 80.000 Menschen wurden befragt. Sie abonnieren Newsletter des Nieman Lab aus Harvard oder des Tow Center for Digital Journalism an der Columbia University. Und die eine oder der andere schaut sich sogar bei deutschen Institutionen um, dem Leibniz Institut für Medienforschung Hans Bredow Institut beispielsweise oder dem IfKW an der LMU München. Aber dass man gemeinsam Ideen spinnt, Formate entwickelt und entsprechend begleiten lässt, ja an der Zukunft des Journalismus bastelt, kommt höchst selten vor.

Das ist schade, denn beide Seiten hätten sich gegenseitig so viel zu sagen. Die akademischen Institute böten den nötigen Abstand zum täglichen „das funktioniert nur so“ und „die Leser mögen das“. Die Praktiker_innen könnten den Forscher_innen haufenweise relevante Themen liefern und beim Studien-Design helfen.

Mit dem Einzug von Datenanalyse und Dashboards in die Redaktionen glauben zwar viele Newsdesk-Teams solche Unterstützung nicht länger zu brauchen. Schließlich sehe man ja nun im Überfluss, welche Stücke bei den Leser_innen und Abonnent_innen „funktionieren“. Dabei vergessen sie aber oft, dass Metriken nur über diejenigen Nutzer Auskunft geben, die man bereits gewonnen hat. Warum man welche Gruppen oder Bevölkerungsschichten gar nicht erreicht, was ihnen fehlt oder sie womöglich abstößt, lässt sich nur mit anderen Mitteln ergründen.

Noch spannender wären regelmäßige Forschungsaufenthalte im Lager des jeweils anderen. Frische Ideen und Impulse schaden weder der Wissenschaft noch den Redaktionen, die Akademiker_innen bekämen eine ordentliche Praxis-Dusche, die Praktiker_innen könnten sich mit Erkenntnissen für ihre Arbeit munitionieren. So etwas ließe sich sogar als Incentive organisieren, das Ermüdung vorbeugt und beim Auftanken hilft.

Okay, solche Vorstellungen klingen einigermaßen naiv für diejenigen, die ein bisschen etwas vom Geschäft verstehen. Wissenschaftler_innen in die Praxis zu schicken würde bedeuten, den zurückbleibenden Kolleg_innen einen Vorsprung im Rennen um die längste akademische Veröffentlichungsliste zu lassen. Denn journalistische Publikationen haben darauf nichts zu suchen. Und Journalist_innen, die das Redaktionsgebäude Richtung Akademie verlassen, werden ziemlich schnell als „Seitenwechsler“ abgeschrieben. Noch stärker als das unterschiedliche Tempo und die Erfolgsmetriken beider Berufe steht einem solchen Austausch die Hybris beider Seiten entgegen.

In Deutschland ist die Trennung dabei besonders scharf. Die eine Partei glorifiziert das Praktische und wertet das Akademische ab – eine Einstellung, die ihre historischen Wurzeln in der Betriebsamkeit des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit haben mag: Zum Forschen blieb damals keine Zeit, es wurde aufgebaut. Die andere Partei blickt leicht verächtlich auf diejenigen herab, die jeden Tag ein neues Fass aufmachen, statt den Dingen anständig auf den Grund zu gehen. Akademischer Stolz ist auch ein Teil Entschädigung für schlechte Bezahlung und mühsame Karrierewege. So lässt man sich lieber gegenseitig in Ruhe und geht seiner Wege.

Für den Journalismus selbst ist das bedauerlich. Aber vielleicht ändert sich das noch. Fast wünscht man sich einen Christian Drosten der Medienforschung herbei, der wie der berühmte Virologe regelmäßig ausführlich und in aller Seelenruhe erklärt, wie publikumsgerechter Journalismus wirklich geht – Irrwege eingeschlossen. Es dürfte übrigens auch eine Christiane sein.

Dieser Beitrag wurde am 26. Juni 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School publiziert.

Beruf mit Risiken und Nebenwirkungen – Journalisten im Burnout

Man kann diese Bilder schwer ertragen, vor allem, wenn man die USA kennt und den großartigen Journalismus amerikanischer Medienhäuser schätzt: Polizisten, die Reporter*innen und Fernsehteams gezielt mit Tränengas und Gummigeschossen attackieren, sogar festnehmen, weil sie von den landesweiten Protesten gegen Polizeigewalt und Rassismus berichten. Etwa 120 solcher Angriffe hatte es allein in der ersten Woche nach dem Tod von George Floyd gegeben, der unter dem Knie eines Polizisten erstickte. Der Journalistenberuf ist selbst im Kernland der Meinungs- und Pressefreiheit gefährlich geworden. Das wird Folgen haben. Noch schweißen die Attacken von außen die Redaktionen zusammen, verleihen ihrer Arbeit Sinn und eine extra Portion Legitimation. Aber irgendwann wird die große Erschöpfung eintreten. Im Journalismus ist Burnout ein erhebliches Berufsrisiko.

Doch während Journalisten gerne emphatisch über psychische Belastungen, Verletzungen und Traumata anderer berichten, werden sie beim Blick in die eigene Branche schmallippig. Natürlich kennt man den einen oder die andere Kollegin, die es „nicht mehr gepackt“ hat, längere Auszeiten nehmen musste oder plötzlich vom riskanten Auslandsposten in die Zentrale zurückversetzt wurde. Aber die längste Zeit über wurden solche Fälle eher unter der Decke chefredaktioneller Fürsorge gehalten. Und das hatte nicht nur mit dem Schutz der Privatsphäre zu tun. Es war – und ist – ein Tabu-Thema in einer Branche, in der Stressresistenz und Zähigkeit zum Berufsbild gehören.

Der Psychiater Anthony Feinstein von der Universität Toronto beschäftigt sich seit 20 Jahren mit psychisch belasteten und traumatisierten Journalist*innen. Begonnen hatte er damit 1999, als sich eine Reporterin an ihn wandte. Zur Vorbereitung des Gesprächs hatte er eine Literatur-Recherche gestartet – und zu seiner Überraschung keine einzige Studie zu dem Thema gefunden. Die Journalistin klärte ihn auf: „Sie verstehen meinen Beruf nicht.“ So erzählte es Feinstein kürzlich in einem Webinar. In einer ersten Untersuchung zum Thema schrieb er 180 Journalist*innen großer Medienhäuser an, 80 Prozent antworteten. Das ist für eine sozialwissenschaftliche Studie eine überwältigende Resonanz. Seitdem hat ihn das Thema nicht mehr losgelassen. Post-traumatische Belastungsstörungen seien gut behandelbar, sagt er, wenn man sie denn identifiziere. Aber viele Journalist*innen fühlten sich damit allein gelassen. 

Kein Wunder, denn gerade in kleineren Redaktionen gilt noch immer, was ein gestandener Ressortleiter in einem Seminar am Reuters Institute in Oxford einmal etwas verlegen mit einer englischen Redensart beschrieb: „If you can’t stand the heat, get out of the kitchen.“ Anders gesagt: Wenn du Journalist wirst, musst du das abkönnen. In der Session ging es um Burnout. Das Thema war ins Programm genommen worden, weil es leitende und Chef-Redakteur*innen in den vertraulichen Runden immer wieder als eine der größten Herausforderungen für ihre Redaktionen genannt hatten – und zwar nicht in erster Linie mit Blick auf riskante Einsätze im In- und Ausland.

Die Belastungen durch die digitale Transformation seien extrem hoch, argumentierten sie. „Wie können wir 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche digitalen Journalismus und Veränderungsprozesse managen, ohne das Team dem Burnout auszuliefern?“ So hatte es die Geschäftsführende Redakteurin einer renommierten britischen Tageszeitung einmal formuliert. In einer 2019 veröffentlichten Umfrage des Reuters-Institutes gaben 62 Prozent der Medien-Führungskräfte an, dass Burnout in ihren Teams für sie ein wichtiges Thema sei.

Einerseits ist das eine gute Nachricht, denn sie zeigt, dass Chefinnen und Chefs das Problem zunehmend sehen und ernst nehmen. Andererseits ist es das: ein ernstes Problem. Im Journalismus musste man schon immer schnell und gleichzeitig akkurat sein, war dem Wettbewerb ausgesetzt, brachte sich zuweilen in Gefahr, musste schlimme Bilder verarbeiten und konnte sich die Arbeit nicht besonders frei einteilen. Wenn es brannte, brannte es halt. Aber heute ist das, was einst guten Journalismus ausmachte, oft nicht mehr gut genug. Gute Schreiber*innen müssen nun auch Videos oder Tonspuren liefern, sich ständig neuen Workflows anpassen und für verschiedene Plattformen produzieren. Außerdem sind etliche dem Dauerfeuer von Hasskommentaren ausgesetzt. Neuerdings erschwert die Bedrohung durch das Corona-Virus die Arbeit und erhöht das Risiko.

Gleichzeitig überfordert das Veränderungsmanagement Führungskräfte, die nie fürs Führen ausgebildet wurden. Lucy Küng, Journalismusforscherin und Beraterin, erlebt bei ihren Recherchen vor allem im mittleren Management eine große Verunsicherung. Führungskräfte, die im Tagesgeschäft agieren, müssen den Wandel vorantreiben, ihre Teams motivieren und gleichzeitig vor Überlastung schützen. Gerade die Leistungsträger, die alles besonders gut machen wollten, seien vom Burnout bedroht, sagt Küng. Viele Talente verließen deshalb die Branche.

Es ist deshalb wichtig, auch in der Medienbranche Führungskräfte entsprechend auszubilden. Sie müssen lernen, die Zeichen von Überlastung zu lesen – bei ihren Mitarbeiter*innen und sich selbst. Professionelle Hilfe muss systematischer angeboten werden. Dazu verdient das Thema mehr Öffentlichkeit. Im Zuge der Me-Too-Debatte hatten sich viele Journalistinnen gewagt, erstmals über sexuelle Belästigung und Gewalt zu sprechen, die sie im Job erlebt hatten. Das war ein wichtiger Schritt. Auch für Kolleg*innen, denen andere Aspekte ihrer Arbeit Albträume machen, muss es akzeptabel werden, dies zu offenbaren. Journalist*innen ziehen viel Energie aus ihrer Mission, sie halten sich für etwas Besonderes. Aber im Angesicht des Hasses sind sie auch nur Menschen.

#Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 5. Juni 2020.