Mehr Macht für den Mittelbau – Nicht einmal die Medien-Leader selbst finden, dass sie die besten Ideen für die Zukunft haben

Was hat man nicht schon alles gehört über das mittlere Management in Unternehmen. Dort säßen Erfüllungsgehilfen, Kontrollettis, an Prozessen ebenso klebend wie am eigenen Stuhl. Manager*innen eben, definitiv keine Leader. Wären sie das, regierten sie schließlich in der Top-Etage – so wird es in mancher Business School unterrichtet. Der ehemalige Siemens-Chef Peter Löscher hatte mal von „Lehmschicht“ gesprochen, der Begriff überlebte sogar seine eigene Karriere im Konzern. Ein Wort wie eine Watschn, würde man auf Bayrisch sagen, ein Schlag ins Gesicht all jener emsiger Erlediger*innen und Macher*innen, die nicht nur täglich den Betrieb am Laufen halten, sondern sich auch um ständige Verbesserungen bemühen, ob gerade Krise ist oder nicht.

In der Medienbranche sind sich die Chef*innen in Sachen Lehmschicht offenbar nicht mehr so sicher. Im neuen „Journalism, media and technology trends and predictions“ Report von Nic Newman, den das Reuters Institute in Oxford regelmäßig zu Jahresbeginn veröffentlicht, äußerten sich Top-Manager*innen zumindest erfrischend selbstkritisch über ihre eigenen Kapazitäten, auch Top-Ideen zu generieren. Nur etwa einer von vieren (26 Prozent) der 234 befragten Führungskräfte aus 43 Ländern gab an, dass nach ihrer Überzeugung das Spitzenmanagement die besten Ideen generiere. Das Problem ist klar: „Die besten Ideen kommen nicht unbedingt von oben, aber die Unternehmen werden noch so geführt“, sagt Nic Newman. Der Report ist nicht repräsentativ aber in der Branche gerade deshalb Pflichtlektüre, weil die Antwortenden in der Regel besonders um Fortschritt bemühte Köpfe sind. 

Aber wo werden die Innovationen geboren? Fast drei Viertel verrieten in der Umfrage, dass Daten und Publikumsforschung ihnen am ehesten auf die Sprünge helfen würden, 68 Prozent wetteten auf gemischte Teams aus verschiedenen Bereichen, und immerhin knapp jeder Zweite gestand ein, sich die besten Strategien von anderen Medienunternehmen abzugucken. Okay, dem mittleren Management als solchem trauten die Chefredakteur*innen und Medienmanager*innen laut der Umfrage noch weniger zu (17 Prozent) als sich selbst. Aber wer trifft sich in den gemischten Teams, wer wertet die Publikumsdaten aus und leitet daraus Strategien ab, wer besucht die einschlägigen Branchentreffs, liest sich in fremde Materien ein und berichtet dann an die C-Ebene? Richtig, im allerhäufigsten Fall ist es ist der Mittelbau.

Es sind oft diejenigen, die in keinem Branchendienst als Held*innen gefeiert werden und auf die weder Management-Literatur noch Forschung ein Auge haben, die am nächsten dran an den Schwierigkeiten und deshalb auch an den Lösungen sind. Sie sind es, bei denen sich Sorgen von Mitarbeiter*innen und Kund*innen gleichermaßen zu einem Sandwich an Erwartungen türmen. Von ihnen verlangt man, dass sie sowohl operativ zuverlässig sind als auch strategisch mitdenken und Veränderungen managen. Und wenn etwas schiefgeht, bleibt es ihnen überlassen, die Scherben aufzulesen und daraus noch etwas zu basteln – auf Selbstbewusst nennt man das dann „celebrate failure“.

Diese Schicht aus nimmermüden Arbeits- und Innovationsbienen, von denen viele in einem Alter und Situationen sind, in denen ihnen die Familienarbeit Zusätzliches abverlangt, ist – wen wundert’s – am stärksten gefährdet, ein Burn-out zu erleiden. Lucy Küng, die wie kaum jemand zum Kulturwandel in sich digitalisierenden Medienunternehmen forscht, hat dies in zahllosen Interviews belegt, nachzulesen unter anderem in ihrem neuesten Buch: „Hearts and Minds: Harnessing Leadership, Culture and Talent to Really Go Digital“. Viele Talente gingen der Branche deshalb verloren, betont sie wieder und wieder.

Dennoch halten viele Manager*innen den Mittelbau nur so lange für unterstützenswert, wie sie selbst ein Teil davon sind. Kaum haben sie Karriere gemacht, reklamieren sie die Visionen für sich. Gianpiero Petriglieri, Professor an der INSEAD Business School, nennt das „Leaderism“. Statt zuverlässiges und konstruktives Management zu schätzen, das gerade in der Krise so nötig sei, feiere man Visionäre, deren Ideen nur allzu oft mit ihnen untergingen. Die Verherrlichung von Leadership einerseits und die Abwertung von Management-Qualitäten andererseits sei ein gefährliches Gegensatzpaar, das immer noch gelehrt werde, aber vor allem in Krisen mehr schade als nutze, beschreibt er wortgewaltig in dem Essay: „Why leadership isn’t a miracle cure for the Covid-19 crisis (and what can really help).“ Es sei an der Zeit, weniger Hoffnung in Leadership zu setzen und mehr Menschlichkeit in das Management zu bringen, so Petriglieri. Dem „Trends and Predictions“-Report nach zu urteilen, haben das viele Medien-Manager*innen schon verstanden. Demut ist der erste Schritt zur Innovation.

Dieser Text erschien am 15. Januar 2021 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School.

Beruf mit Risiken und Nebenwirkungen – Journalisten im Burnout

Man kann diese Bilder schwer ertragen, vor allem, wenn man die USA kennt und den großartigen Journalismus amerikanischer Medienhäuser schätzt: Polizisten, die Reporter*innen und Fernsehteams gezielt mit Tränengas und Gummigeschossen attackieren, sogar festnehmen, weil sie von den landesweiten Protesten gegen Polizeigewalt und Rassismus berichten. Etwa 120 solcher Angriffe hatte es allein in der ersten Woche nach dem Tod von George Floyd gegeben, der unter dem Knie eines Polizisten erstickte. Der Journalistenberuf ist selbst im Kernland der Meinungs- und Pressefreiheit gefährlich geworden. Das wird Folgen haben. Noch schweißen die Attacken von außen die Redaktionen zusammen, verleihen ihrer Arbeit Sinn und eine extra Portion Legitimation. Aber irgendwann wird die große Erschöpfung eintreten. Im Journalismus ist Burnout ein erhebliches Berufsrisiko.

Doch während Journalisten gerne emphatisch über psychische Belastungen, Verletzungen und Traumata anderer berichten, werden sie beim Blick in die eigene Branche schmallippig. Natürlich kennt man den einen oder die andere Kollegin, die es „nicht mehr gepackt“ hat, längere Auszeiten nehmen musste oder plötzlich vom riskanten Auslandsposten in die Zentrale zurückversetzt wurde. Aber die längste Zeit über wurden solche Fälle eher unter der Decke chefredaktioneller Fürsorge gehalten. Und das hatte nicht nur mit dem Schutz der Privatsphäre zu tun. Es war – und ist – ein Tabu-Thema in einer Branche, in der Stressresistenz und Zähigkeit zum Berufsbild gehören.

Der Psychiater Anthony Feinstein von der Universität Toronto beschäftigt sich seit 20 Jahren mit psychisch belasteten und traumatisierten Journalist*innen. Begonnen hatte er damit 1999, als sich eine Reporterin an ihn wandte. Zur Vorbereitung des Gesprächs hatte er eine Literatur-Recherche gestartet – und zu seiner Überraschung keine einzige Studie zu dem Thema gefunden. Die Journalistin klärte ihn auf: „Sie verstehen meinen Beruf nicht.“ So erzählte es Feinstein kürzlich in einem Webinar. In einer ersten Untersuchung zum Thema schrieb er 180 Journalist*innen großer Medienhäuser an, 80 Prozent antworteten. Das ist für eine sozialwissenschaftliche Studie eine überwältigende Resonanz. Seitdem hat ihn das Thema nicht mehr losgelassen. Post-traumatische Belastungsstörungen seien gut behandelbar, sagt er, wenn man sie denn identifiziere. Aber viele Journalist*innen fühlten sich damit allein gelassen. 

Kein Wunder, denn gerade in kleineren Redaktionen gilt noch immer, was ein gestandener Ressortleiter in einem Seminar am Reuters Institute in Oxford einmal etwas verlegen mit einer englischen Redensart beschrieb: „If you can’t stand the heat, get out of the kitchen.“ Anders gesagt: Wenn du Journalist wirst, musst du das abkönnen. In der Session ging es um Burnout. Das Thema war ins Programm genommen worden, weil es leitende und Chef-Redakteur*innen in den vertraulichen Runden immer wieder als eine der größten Herausforderungen für ihre Redaktionen genannt hatten – und zwar nicht in erster Linie mit Blick auf riskante Einsätze im In- und Ausland.

Die Belastungen durch die digitale Transformation seien extrem hoch, argumentierten sie. „Wie können wir 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche digitalen Journalismus und Veränderungsprozesse managen, ohne das Team dem Burnout auszuliefern?“ So hatte es die Geschäftsführende Redakteurin einer renommierten britischen Tageszeitung einmal formuliert. In einer 2019 veröffentlichten Umfrage des Reuters-Institutes gaben 62 Prozent der Medien-Führungskräfte an, dass Burnout in ihren Teams für sie ein wichtiges Thema sei.

Einerseits ist das eine gute Nachricht, denn sie zeigt, dass Chefinnen und Chefs das Problem zunehmend sehen und ernst nehmen. Andererseits ist es das: ein ernstes Problem. Im Journalismus musste man schon immer schnell und gleichzeitig akkurat sein, war dem Wettbewerb ausgesetzt, brachte sich zuweilen in Gefahr, musste schlimme Bilder verarbeiten und konnte sich die Arbeit nicht besonders frei einteilen. Wenn es brannte, brannte es halt. Aber heute ist das, was einst guten Journalismus ausmachte, oft nicht mehr gut genug. Gute Schreiber*innen müssen nun auch Videos oder Tonspuren liefern, sich ständig neuen Workflows anpassen und für verschiedene Plattformen produzieren. Außerdem sind etliche dem Dauerfeuer von Hasskommentaren ausgesetzt. Neuerdings erschwert die Bedrohung durch das Corona-Virus die Arbeit und erhöht das Risiko.

Gleichzeitig überfordert das Veränderungsmanagement Führungskräfte, die nie fürs Führen ausgebildet wurden. Lucy Küng, Journalismusforscherin und Beraterin, erlebt bei ihren Recherchen vor allem im mittleren Management eine große Verunsicherung. Führungskräfte, die im Tagesgeschäft agieren, müssen den Wandel vorantreiben, ihre Teams motivieren und gleichzeitig vor Überlastung schützen. Gerade die Leistungsträger, die alles besonders gut machen wollten, seien vom Burnout bedroht, sagt Küng. Viele Talente verließen deshalb die Branche.

Es ist deshalb wichtig, auch in der Medienbranche Führungskräfte entsprechend auszubilden. Sie müssen lernen, die Zeichen von Überlastung zu lesen – bei ihren Mitarbeiter*innen und sich selbst. Professionelle Hilfe muss systematischer angeboten werden. Dazu verdient das Thema mehr Öffentlichkeit. Im Zuge der Me-Too-Debatte hatten sich viele Journalistinnen gewagt, erstmals über sexuelle Belästigung und Gewalt zu sprechen, die sie im Job erlebt hatten. Das war ein wichtiger Schritt. Auch für Kolleg*innen, denen andere Aspekte ihrer Arbeit Albträume machen, muss es akzeptabel werden, dies zu offenbaren. Journalist*innen ziehen viel Energie aus ihrer Mission, sie halten sich für etwas Besonderes. Aber im Angesicht des Hasses sind sie auch nur Menschen.

#Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 5. Juni 2020. 

 

Mit Vielfalt zur Fülle – Die digitale Transformation ist beileibe kein Tech-Problem

Man erlebt sie jetzt schon. Die Manager und Managerinnen, die sich – wenn der Corona-Schock so einigermaßen verarbeitet ist – zufrieden auf die Schulter klopfen und dann ihre Power Points renovieren: Hey, haben wir das nicht ordentlich hingekriegt mit der digitalen Transformation? All die Abläufe aus all diesen Home Offices gemanagt, uns kann keiner mehr was vormachen. Neue Welt, wir sind da!

Aber sind wir das wirklich? Tatsächlich wird der Begriff „digitale Transformation“ mit vielen unterschiedlichen Bedeutungen gefüllt. Die einen meinen damit das gelungene gemeinsame Arbeiten über das Internet. Andere bezeichnen jegliche kluge Software-Entwicklung als digitale Transformation, die Dritten denken zuerst an künstliche Intelligenz. Wieder andere sehen darin das Internet der Dinge, also die digitale Vernetzung von Gegenständen, die sich über Daten selbst steuern. Es eint sie, dass ihnen bei dem Begriff zuallererst Technologie und IT in den Sinn kommen. Dabei sind Tech und Tools nur Mittel zum Zweck. Tatsächlich geht es um einen Kulturwandel.

Digitale Transformation heißt etwas anderes, als Server-Kapazitäten aufzurüsten und eine Zoom-Konferenz einigermaßen unfallfrei durchzubringen. Es bedeutet, Geschäftsmodelle und Prozesse radikal vom Nutzer her zu denken. Besessenheit mit dem Kunden statt Besessenheit mit der Konkurrenz, so hat es Amazon-Gründer Jeff Bezos formuliert und als erste der 14 Führungsprinzipien des Konzerns für alle Mitarbeiter verpflichtend gemacht. Und das kann, ja man sollte es weiterdenken. Nutzer sind vielfältig. Deshalb muss Vielfalt im Zentrum des digitalen Wandels stehen.

Ein Beispiel aus der Medienbranche: Bekanntlich punkten die meisten Redaktionen trotz ihres journalistischen Auftrags nicht unbedingt mit Vielfalt. Chefredakteure und Ressortleiter sind noch immer eher männlich, Reporterinnen und Redakteure meistens Hochschulabsolventen, ethnische Minderheiten selbst dort nicht ausreichend repräsentiert, wo es keine Sprachbarriere gibt. Dies prägt Themen und Recherchen. Viele Teile des Publikums fühlen sich von den Medien deshalb nicht repräsentiert. Der lokale Radiosender WFAE in Charlotte, US-Staat North Carolina, hatte eine Idee. Womöglich ließe sich das Vertrauen der Hörer mit einem Podcast-Wettbewerb zurückgewinnen. Die Resonanz war so gewaltig, dass der Server zusammenbrach. 360 Ideen für Podcasts wurden eingereicht, über 33 000 Bürger stimmten über die Vorschläge ab. Vom Schüler bis zur Rentnerin wollten alle Altergruppen zu Wort kommen, die Themen reichten vom selbstgebrauten Bier bis hin zu Erfahrungen mit dem Gesundheitswesen. Die Aktion hat das Verhältnis des Senders zu seinen „Kunden“ auf den Kopf gestellt. Was gute Themen sind, entscheiden sie. 

Aber müssen für so etwas auch Führungsteams und Belegschaften vielfältig sein? Viele Manager bezweifeln das. Schließlich gebe es dieser Tage ausreichend Daten, aus denen man Kundenwünsche herauslesen könne. Und gerade Tech-Konzerne wie Amazon seien ja nicht für Vielfalt im Management bekannt. Aber hier liegt ein Denkfehler. Denn Daten hat man immer nur von den Kunden, die schon bei einem kaufen. Die Vorlieben derjenigen, die einen ignorieren, die man aber mit etwas Mühe gewinnen könnte, liegen im Dunkeln. Der im Januar verstorbene Harvard-Professor Clayton Christensen, Erfinder des Konzepts der Disruption, hatte schon in seinem Buch „The Innovator’s Dilemma“ (1997) beschrieben, warum erfolgreiche Unternehmen bei der Innovation oft scheitern: Weil sie sich zu sehr darum bemühen, lukrative Bestandskunden zufriedenzustellen und diejenigen nicht im Blick haben, die es werden könnten. Von digitaler Transformation und Diversität war damals noch nicht so sehr die Rede.

Verborgene potenzielle Kunden entdeckt man nicht mit Datenanalyse allein. Hier gilt es, einfach mal auszuprobieren, Ideen zu testen, ein Grundprinzip der Agilität. Und Ideen können nur Menschen haben, keine Algorithmen. Die sind oft erstaunlich wenig lernfähig und schlagen einem – Beispiel Amazon – auch dann noch „Die schönsten Schlaflieder“ vor, wenn die Kinder schon längst fürs Abitur lernen oder sie platzieren Werbung für den Paris-Flug, wenn die Reise lange hinter einem liegt.    

Andere Manager bekräftigen den Zusammenhang zwischen Vielfalt und Geschäftserfolg in der Theorie, handeln aber nicht danach. Irgendeinen Grund gibt es schließlich immer, das Thema Diversität auf bessere Zeiten zu verschieben. Man müsse zunächst die Krise bewältigen, das neue Produkt auf den Markt bringen oder eben – die digitale Transformation managen.

Janina Kugel, bis vor kurzem Vorständin bei Siemens und leidenschaftliche Verfechterin des Vielfalts-Gedankens, kennt diese Denke nur zu gut. „Es gibt leider ganz wenige Manager, die gezielt auf Diversity setzen, weil sie verstanden haben, dass nur so neue Ideen generiert werden. Oft sind Innovationen eher Zufallsergebnisse“, sagt sie.

Und womöglich sind es gerade Krisen, die Manager – in diesem Fall bewusst im Maskulinum – in alte Muster zurückfallen lassen. Sie setzen dann lieber auf Befehl und Kontrolle statt aufs Testen, Lernen, Anpassen. Wie überschlugen sich doch in den ersten Tagen des Ausnahmezustands die Berichte stolzer C-Ebenen-Bewohner von der Home Office „Front“: noch effizienter könne man jetzt führen, das Wort „durchregieren“ hätte auch gepasst. Allerorten waren die Bildschirme so voll mit Männern, dass sich die Vorstandsvorsitzende des Verlagshauses Gruner + Jahr, Julia Jäkel, in einem Gastbeitrag für Die Zeit fragte, wohin denn alle die Chefinnen verschwunden seien – und ob das mit den Fortschritten bei der Gleichstellung nur ein netter Traum gewesen sei. Sechs Wochen hatte sie sich das angeschaut, bevor sie sich mit der Beobachtung an die Öffentlichkeit wagte.

Es fällt auf: Manch eine Organisation möchte das Neue haben, aber dann doch lieber nicht so nah an sich herankommen lassen. Vielfalt in plakative Projekte wie zum Beispiel in einen Hackathon auszulagern ist da sicherer. So hatte die Staatsministerin für Digitales im Bundeskanzleramt, Dorothee Bär, an einem Wochenende im März zum Corona-Hack „WirVsVirus“ geladen. 28 000 Bürger beteiligten sich, 1500 Projekte entstanden. Oft allerdings bleibt es bei solchen Aktionen. Für die Krise ist dann wieder der Krisenstab, für die Strategie das Management zuständig. Diversität spielt keine Rolle.

Führung und Teams gemischt zu besetzen, kann allerdings nur ein erster Schritt sein. Diejenigen, die es in einer hierarchisch geprägten Unternehmenswelt bis nach oben schaffen, sind häufig besonders talentiert darin, die herrschende Kultur zu verstehen und sich ihr anzupassen. „Zu viele Unternehmen betrachten Diversität als die Aufgabe, die gelöst werden muss“, sagt Alison Maitland. Sie hat zusammen mit Rebekah Steele das Buch „Indivisible: Radically Rethinking Inclusion for Sustainable Business Results“ geschrieben (Young and Joseph, 2020). Stimme dann die Statistik, hakten sie die Sache ab. Dabei fange da die Arbeit erst an. Vielfalt müsse im Design von Prozessen und Produkten mitgedacht werden, sagt Maitland: „Diversität ohne inklusive Unternehmenskultur ist unausgeschöpftes Potential.“ Und Inklusivität bedeutet, vielfältige Stimmen einzuholen und deren Ideen zu testen.

Dies gelte insbesondere, wenn künstliche Intelligenz im Spiel sei, sagt Maitland, denn Software-Entwickler bauten bestimmte Annahmen in die Algorithmen ein. Die Autorinnen beschreiben den Fall einer kanadischen Firma. Sie hatte sich auf Produkte spezialisiert, die Körpersprache und Gesten elektronisch analysieren. Die Designer hatten zwar die Software getestet, aber versäumt, dies an Linkshändern und Menschen mit kleineren Händen zu tun, Frauenhände sind tendenziell kleiner. Maitland: „Sie haben auf die harte Tour gelernt, dass man Inklusivität von Anfang an mitdenken und einbauen muss, wenn man auf einen großen Marktanteil aus ist.“

Sarah Kaplan, Professorin und Direktorin des „Institute for Gender and the Economy“ an der Rotman School of Management der Universität Toronto rät sogar, sich von dem Gedanken zu verabschieden, Vielfalt allein trage zum Geschäftserfolg bei. Man solle sie einfach umsetzen, weil es das Richtige sei. „Diversität verursacht Friktionen, weil sie Gruppendenken aufbricht. Nur Organisationen, die darin investieren, ihre Inklusivitäts-Muskeln auszubilden, werden von Diversität profitieren“, schreibt sie für das Magazin Fast Company („Why the ‚business case‘ for diversity isn’t working“). Dazu müsse viel Energie in den Kulturwandel gesteckt werden.

Ana-Cristina Grohnert, Vorstandsvorsitzende der Charta der Vielfalt, sagt, es liege auf der Hand, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Handlungsalternativen entwickeln. „Optionen zu haben ist ökonomisch, womöglich ist es überlebenswichtig.“ Die ehemalige Personalvorständin der Allianz Deutschland unterstützt die Plattform Staffbook. Das Startup der Gründer Axel Hildebrandt und Sven Lorenzen ist eine Art Job-Tinder für die Gastronomie und andere Dienstleistungsbetriebe. Sie soll Bewerber und Arbeitgeber in Branchen matchen, in denen es oft mehr auf persönliche Qualitäten wie Ausstrahlung, Geschick und Drive als auf die formale Ausbildung ankommt. Das ist Vielfalt in Angebot und Nachfrage.

Auch Produktvielfalt kann überlebenswichtig sein. Dann, wenn man zum Beispiel die Sicherheit von Autos nicht mehr nur an Dummys testet, die standardmäßig 1,80 Meter groß und 78 Kilogramm schwer sind. Die US-Firma Humanetics zum Beispiel baut seit einiger Zeit Dutzende Varianten, von der Puppe im Seniorinnen-Format bis hin zu jener mit Übergewicht ist alles dabei. Oder Vielfalt drückt Wertschätzung aus und verhilft Menschen zu mehr Selbstvertrauen. Wenn sie sich zum Beispiel ein Pflaster in ihrer Hautfarbe auf den blutenden Finger kleben können, wie sie die britische Supermarkt-Kette Tesco hat entwickeln lassen – als Reaktion auf den berührenden Tweet eines Kunden hin. „Wir haben die Verantwortung sicherzustellen, dass unsere Produkte die Vielfalt unserer Kunden und Kollegen abbilden“, zitierte die BBC Nicola Robinson, Tescos Leiterin für Gesundheits- und Kosmetikprodukte. Lange hieß es, der Kunde sei König. In der neuen Wirtschaftswelt gibt es unzählige Könige. Und sie dürfen endlich auch Königin, Königin-Mutter oder Königskind sein – und womöglich sogar mit links schreiben.

Die vielen Video-Konferenzen haben übrigens mindestens einen wichtigen Beitrag geleistet: Bücherregale, verzierte Kühlschränke und neugierige Kleinkinder im Hintergrund haben allen buchstäblich die Vielfalt der Lebensumstände vor Augen geführt, aus denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter täglich die Fahrt ins standardisierte Büro antreten. Die amerikanische Management-Vordenkerin Nilofer Merchant hat dafür den Begriff der „Onlyness“ geprägt, die spezielle Erfahrung, die jeden einzelnen Menschen prägt und mit der er oder sie etwas zur Gesellschaft beitragen kann. Würde jeder etwas davon in die Arbeitswelt mitbringen können, wäre das mehr als eine Bereicherung. Man könnte es digitale Transformation nennen.

Dieser Text erschien zuerst in gekürzter Form am 29. Mai 2020 in ada 02/2020