Von wegen Troll-Farmen – „Fake News” sind ein Problem, aber anders, als viele denken

Gefälschte Videos, fingierte Posts, Lügengeschichten und das alles massenhaft verbreitet von Bots über soziale Netzwerke: „Fake News“ werden häufig als ähnlich ansteckend beschrieben wie das Corona-Virus. So hatte die Weltgesundheitsorganisation die „Infodemic“ lange vor der Pandemie ausgerufen. Am 2. Februar war das, weltweit gab es damals noch nicht einmal 15.000 bestätigte Fälle von Covid-19. Allerdings verhält es sich mit dem Begriff „Fake News“ eher wie mit einigen anderen, wenn man sie unter das Vergrößerungsglas der Forschung legt: Die Fakten dazu unterscheiden sich nicht unwesentlich von dem, was gemeinhin darunter verstanden wird.

In der öffentlichen Debatte, wie sie auch von besorgten Politiker*innen geführt wird, insinuiert das Schlagwort in erster Linie die Manipulation von Bild, Ton und Text. Oft spielen darin feindliche politische Kräfte, geldgierige Hacker*innen oder zumindest Spaßvögel eine Rolle, die ihr gefälschtes Material über Facebook und Co. auf nichtsahnende Bürger*innen abwerfen. Eine ganze Fact-Checking-Industrie ist um diese Annahmen herum entstanden.

Nun ist es wichtig, Informationen zu verifizieren – es gehört zum Beispiel zur Job-Beschreibung von Journalist*innen. Allerdings tragen genau diese eine ordentliche Portion Mitschuld am Dilemma. Dies hat jetzt eine großangelegte Studie des Berkman Klein Center for Internet and Society an der Universität Harvard bestätigt, acht Autor*innen waren daran beteiligt. Anders als oft angenommen tragen der Untersuchung zufolge falsche Aussagen von Politiker*innen, die dann von traditionellen Medien wiedergegeben werden, am stärksten zur Verbreitung von Fehlinformation bei. Soziale Netzwerke hingegen spielten eine untergeordnete Rolle.

Das Problem werde von Eliten verursacht und von den Massenmedien getrieben, so die Harvard-Studie. Politiker*innen beuteten dabei gnadenlos drei Standard-Praktiken des klassischen Journalismus aus: den Fokus auf Institutionen und Eliten (wenn es der Präsident sagt, ist es eine Nachricht), die Suche nach der Schlagzeile (je krawalliger, desto besser) und das Streben nach Neutralität (nur nicht so wirken, als würde man sich auf eine Seite schlagen). Zwar haben die Wissenschaftler*innen dies nur für die USA untersucht, aber die Dynamiken sind überall ähnlich.

Neu ist diese Erkenntnis nicht. Auch andere Forscher*innen haben schon belegt, dass die Reichweite traditioneller Medien einen großen Einfluss auf die Verbreitung von Fehlinformationen hat. Und selbst die Bürger*innen wissen es besser. Sie betrachten Falschaussagen von Politiker*innen als mit Abstand wichtigste Quelle von „Fake News“, rund 40 Prozent der Befragten äußerten sich entsprechend im diesjährigen Digital News Report. Nur zwischen 10 und 14 Prozent dagegen schoben die Verantwortung ausländischen Geheimdiensten, gewöhnlichen Bürger*innen, den Medien (13 Prozent) oder Aktivist*innen zu. Auch schon in früheren Ausgaben der Groß-Studie, zum Beispiel 2018, dachten die Befragten bei „Fake News“ nicht zuallererst an Lügengeschichten. Viel eher kam ihnen schlechter, fehlerhafter oder tendenziöser Journalismus in den Sinn.

Was folgt daraus? Zunächst einmal ist das eine gute Nachricht für die Medien. Sie haben es in der Hand. Sie können abwägen, zum Beispiel welchen präsidentiellen Narrativ sie wiedergeben, wie sie eine Aussage einordnen oder ob sie ein Zitat mit Märchenstunden-Charakter womöglich am besten gleich weglassen. Sie können den Verbreiter*innen von Falschinformationen damit die von ihnen so begehrte Bühne verweigern. Um in der Corona-Virus-Begrifflichkeit zu bleiben: Superspreader von „Fake News“ kann man nur mit Quarantäne unschädlich machen. Auch gegen schlechten Journalismus oder politische Schlagseite in der Einordnung können Redaktionen deutlich leichter vorgehen als gegen Troll-Farmen in fernen Ländern oder russische „information operations“. Und dass viele Bürger*innen dies so klarsehen, sollte die ganze Sache erleichtern.

Einfach ist dies dennoch nicht. Denn der Reflex des klassischen Journalismus sitzt tief, Amtsträger*innen damit zu entzaubern, dass man sie beim Wort nimmt. Und die Wähler*innen haben natürlich ein Recht darauf zu erfahren, was für einen Blödsinn manch ein von ihnen gewählter Repräsentant zumindest verbal verzapft. Gefährlich wird es allerdings, wenn der Faktencheck allzu viel Energien absorbiert. Redaktionen, die einen Großteil ihrer Zeit damit verbringen, die Aussagen von Politiker*innen zu überprüfen, werden nicht mehr genügend Ressourcen für eigene Recherchen haben. Statt selbst die Agenda zu setzen und Institutionen in Zugzwang zu setzen, sind sie Gejagte des nie versiegenden Zitate-Betriebs. Selbstbewusstes Weglassen kann also durchaus eine Strategie sein, um sich die Hoheit über die Tagesordnung zurückzuerobern.

Was all das nicht heißt: Facebook und andere soziale Netzwerke aus der Verantwortung zu entlassen. So wie auch die traditionellen Medien haben es die Plattformen in der Hand, schädliche Inhalte nicht oder zumindest nur mit geringer Priorität weiterzuverbreiten. Im Fall von Covid-19 gehören dazu zum Beispiel von Politiker*innen proklamierte Therapien, die womöglich lebensgefährlich sind. Der Fakten-Check sollte bei den Plattform-Konzernen zum Standard-Repertoire gehören. Und mit der Hoheit über Algorithmen haben sie einen kraftvollen Hebel in der Hand, der Redaktionen so nicht zur Verfügung steht.

Bürger*innen sind mehr denn je aufgerufen, nicht alles zu glauben, skurrile Aussagen selbst zu überprüfen. Eine solche generell skeptischere Grundhaltung tut der Gesellschaft nicht immer gut, auch die Medien leiden unter dem gestiegenen Misstrauen Institutionen gegenüber. Aber es gehört zum Erwachsensein, Verantwortung dafür zu übernehmen, welchen Informationen man folgt. In dem Fall hat die junge Generation der älteren übrigens etwas voraus. Junge Leute sitzen Studien zufolge deutlich seltener Falschinformationen auf als ihre Eltern und Großeltern, weil sie im Zweifel eher mal googeln. Auch das sollte in der Debatte Hoffnung machen.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School am 9. Oktober 2020

„Fake News“ und die Corona-Krise: Das Problem sind die „Real News“

Es war am 2. Februar 2020. Weltweit hatten Behörden gerade einmal knapp 15 000 an Covid-19 erkrankte Patienten registriert. Noch schlummerten die Karnevalskostüme in den Schränken, die Skier für die Ferien in Wolkenstein oder Ischgl warteten auf ihren Schliff. Für Reisen empfahl die Weltgesundheitsorganisation keine besonderen Vorkehrungen. Auch von einer Pandemie sprachen die WHO-Experten zu jenem Zeitpunkt nicht, den man jetzt getrost mit „damals“ bezeichnen darf. Allerdings fürchteten sie eine massive “Infodemic“. Eine Flut an Informationen mache es den Menschen schwer, richtig und vertrauenswürdig von falsch und manipuliert zu unterscheiden und sich entsprechend zu verhalten, hieß es in der entsprechenden Präsentation.

Nun regiert die Pandemie, und die Menge an Falschmeldungen dürfte mindestens proportional zu den Fallzahlen gewachsen sein. Aber wie schlimm ist das Problem der „Fake News“ im Zusammenhang mit Covid-19 wirklich? Und muss man es ebenso fürchten wie das Virus? Oder verhält es sich damit wie mit dem gesamten Komplex der „Misinformation“: dass die Berichterstattung darüber oft massiver ist als das Problem selbst?

Forscher des Reuters Institute for the Study of Journalism und des Internet Institute an der Universität Oxford haben die Lage kürzlich in einem Kurzreport beleuchtet. Er basiert auf einer Analyse von 225 Stücken an englischsprachigen Falschinformationen, die zwischen Januar und März publiziert und von der Fact-Checking-Organisation First Draft untersucht wurden. Die Stichprobe hat den Nachteil, dass sie keine Meldungen aus privater Kommunikation wie WhatsApp oder anderen Messenger-Diensten erfasst und sich nur auf den englischen Sprachraum konzentriert. Dennoch untermauert das Ergebnis einige Erkenntnisse, die auch frühere Studien zum Komplex „Fake News“ zutage gefördert haben.

Die wichtigsten: Bei den meisten als falsch klassifizierten Nachrichten handelt es sich nicht um komplett erfundene Inhalte, sondern um Informationen, die verfälscht oder in einem anderen Zusammenhang weiterverbreitet wurden (59 Prozent). Berücksichtigt man die Masse der Interaktionen, hat dieser Typus der Falschinformation sogar einen Anteil von 87 Prozent. „Deep Fakes“, also Inhalte, die mit aufwändigen technischen Mitteln manipuliert wurden, fanden die Forscher überhaupt nicht. Schon frühere Forschung hatte ergeben, dass es beim Problem „Fake News“ überwiegend nicht um jene Troll-Fabriken geht, die eigens gebastelte Inhalte massenhaft um die Welt verbreiten. Viel häufiger handelt es sich um Informations-Schnipsel, die nach dem Prinzip „Stille Post“ bewusst oder unbewusst falsch wiedergegeben werden.

Zudem fanden die Forscher Bestätigung dafür, dass Misinformation häufig „von oben“ kommt, insbesondere, was ihre Verbreitung angeht. Wurden falsche Inhalte wie in einem Fünftel der untersuchten Fälle von Prominenten geteilt, also zum Beispiel von Spitzenpolitikern oder Schauspielern, hatten sie eine weit höhere Durchschlagkraft (69 Prozent) als Posts von Menschen ohne Funktion und Bekanntheit. Als US-Präsident Donald Trump beispielsweise das Malaria-Mittel Hydroxychloroquine im Zusammenhang mit Covid-19 erwähnte, waren die Leidtragenden nicht etwa nur Fox-News-hörige Amerikaner. Nein, Kranke in Nigeria erlitten Vergiftungen. Die Falschmeldung, die das Mittel als vermeintlich wirksam gegen Covid-19 erwähnt hatte, war übrigens zunächst mit dem Absender Stanford University in der Tech-Szene des Silicon Valley zirkuliert und unter anderem von Elon Musk weiterverbreitet worden, wie Joan Donovan für das Wissenschaftsmagazin Nature nachzeichnete. Sie sieht die Verantwortung, gegen Falschinformationen vorzugehen, vor allem bei den Tech-Unternehmen. „Social media companies must flatten the curve of misinformation“, schreibt sie. Falschmeldungen gehörten früh „in Quarantäne“, und dafür sollten die Social Media Unternehmen mit Wissenschaftlern zusammenarbeiten. Seien „Fake News“ erst einmal großflächig verbreitet, könne man sie kaum zurückholen.       

Felix Simon war einer der an dem Oxford-Report beteiligten Forscher des Internet Institute. Er sagt: „Was mich am meisten beeindruckt hat, ist die schiere Vielfalt an Misinformation rund um das Corona-Virus und die Pandemie. Von Verschwörungstheorien bis hin zur Behauptung, die Simpsons hätten die Pandemie vorhergesagt, ist so ziemlich alles dabei.“ Die wichtige Botschaft ist aber: An der Menschheit zweifeln muss man deshalb nicht. „Vorhandensein bedeutet nicht Effekt“, so Simon, „die Mehrheit der Menschen scheint sich vernünftig zu verhalten und diesen Dingen nicht auf den Leim zu gehen“.

Ein weiterer, aktuellerer Report des Reuters Institute legt nahe, dass in der Corona-Krise zwar viele Falschinformationen kursieren und gesehen werden, dies aber vor allem an der Vertrauenswürdigkeit der Plattform-Unternehmen kratzt. Die Krise hat offenbar dazu geführt, dass sich viele Bürger wieder den traditionellen Medien oder Wissenschaftlern und Behörden direkt zuwenden, wenn sie verlässliche Informationen suchen. Das, was Bekannte und Verwandte über Facebook teilen, wird offenbar nicht so ernst genommen.    

Tatsächlich ist das Phänomen „Fake News“ meist weniger dramatisch, als es die Berichterstattung darüber suggeriert, dies hatten auch schon frühere Ausgaben des Digital News Report ergeben. Generell kann man sagen, dass gewöhnlich nur ein kleiner Teil der Bevölkerung damit in Berührung kommt und ein noch kleinerer Teil anfällig dafür ist und sie weiterverbreitet, darunter überdurchschnittlich viele ältere Menschen. Für die Medienbranche heißt das: Es ist zwar wichtig, Lügen zu entlarven. Nur sollten Redaktionen ihre Energien nicht gänzlich darauf verschwenden. Weitaus wichtiger ist es, Fakten zu recherchieren und entsprechende Erkenntnisse zu verbreiten. Und gerade das ist die Herausforderung in der Corona-Krise. Es gibt wenige gesicherte Fakten und Zusammenhänge. Forscher sind in einem ständigen Dialog und versuchen, sich der Wahrheit anzunähern, studieren und verwerfen wieder. So geht Wissenschaft.

Für Journalisten und Politiker ist genau das eine Herausforderung. Politiker müssen jetzt entscheiden, Journalisten müssen jetzt Empfehlungen geben und die Seriosität ihrer Politiker bewerten. Es bleibt keine Zeit, auf die Ergebnisse aller Studien zu warten. So manch eine Infografik erweist sich da als Design-Friedhof, so manch eine Empfehlung als überholt. Galt zum Beispiel vor ein paar Wochen noch die Ansage, Maskenpflicht für Gesunde im öffentlichen Raum sei Unsinn, wird sie in manchen Ländern jetzt umgesetzt.

In einem Artikel für das US-Portal Recode hat sich Peter Kafka mit der Berichterstattung amerikanischer Medien über das Virus beschäftig: „What went wrong with the media’s coronavirus coverage?“, fragt er darin und schlussfolgert, aktueller Journalismus sei sehr schlecht darin, Risiken angemessen zu kommunizieren. Das gilt zumal dann, wenn Risiken so schwer abzuschätzen sind wie im Fall Corona, weil es noch keine Vergangenheit gibt, die man ordentlich ausmessen kann. Eine Münchner Regional-Zeitung, die auf der Titelseite mit dem „großen Corona-Faktencheck“ wirbt, mag man deshalb zwar für ihre erzieherischen Verdienste loben. Doch wer weiß schon, ob morgen noch gilt, was heute als „richtig“ angekreuzt wurde? Den Medien bleibt deshalb nur das, was den besseren Journalismus schon immer ausgezeichnet hat: dranbleiben. Denn selbst die WHO kann sich irren.

Dieser Text entstand für den Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School im April 2020