Wir brauchen digital mündige Bürger!

Das Phä­no­men der Fake News wird sich in Zukunft noch ver­stär­ken. Ändern lässt sich das kaum. Deshalb sind Kam­pa­gnen zur digi­ta­len Mün­dig­keit min­des­tens so not­wen­dig wie einst jene zur Alpha­be­ti­sie­rung.

Für die­je­ni­gen, die mit der rasan­ten Ver­brei­tung von „Fake News“ das Ende der Demo­kra­tie her­an­na­hen sehen, dürfte 2020 ein beun­ru­hi­gen­des Jahr werden. Die Wahlen in den USA und ein Amts­ent­he­bungs­ver­fah­ren gegen den amtie­ren­den Prä­si­den­ten Donald Trump stehen an, beides wird das Land weiter pola­ri­sie­ren und die Bürger eher emp­fäng­li­cher für Lügen und aller­lei Ver­schwö­rungs­theo­rien machen. Erfah­rungs­ge­mäß schwap­pen die Debat­ten darüber unge­bremst über den Atlan­tik. In Groß­bri­tan­nien wurde schon gewählt, und wenn­gleich selbst hart­ge­sot­tene Digital-Pes­si­mis­ten sich schwer damit tun sollten, das klare Votum für Premier Boris Johnson und gegen Labour-Her­aus­for­de­rer Jeremy Corbyn der Akti­vi­tät von Troll­fa­bri­ken oder ähn­li­chem zuzu­schrei­ben, gehör­ten Falsch­in­for­ma­tio­nen und die Debatte darum im Wahl­kampf zum per­ma­nen­ten Grund­rau­schen. Wie sehr müssen wir uns also fürch­ten?

Man könnte sagen: sehr. Und genau darin liegt eine Chance. Die Ver­brei­tung von „Fake News“ und die Debatte darüber müssen ein Anlass dafür sein, Bürger im großen Stil fit für die neue Kom­mu­ni­ka­ti­ons-Welt zu machen. Kam­pa­gnen zur digi­ta­len Mün­dig­keit sind min­des­tens so not­wen­dig wie einst jene zur Alpha­be­ti­sie­rung, die die Men­schen fit für die Welt des gedruck­ten Wortes und die Demo­kra­ti­sie­rung möglich gemacht haben.

Gleich vorweg: Das Phä­no­men der Falsch­in­for­ma­tion als solches wird nicht nur bleiben, es wird sich ver­stär­ken. Künst­li­che Intel­li­genz ermög­licht es schon jetzt selbst Laien, für wenig Geld soge­nannte deep fakes zu kre­ieren, also zum Bei­spiel täu­schend echt wir­kende Videos von Poli­ti­kern mit ent­spre­chen­den Ton­spu­ren zu basteln. Und die tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten dafür ver­bes­sern sich schnel­ler als die Werk­zeuge, um den Ver­ur­sa­chern das Hand­werk zu legen. Hacker und Geheim­dienste in aller Welt werden dies aus ver­schie­dens­ten Motiven heraus zu nutzen wissen. Die Pro­duk­ti­ons­seite lässt sich also kaum in den Griff bekom­men.

Algo­rith­men anpas­sen

Etwas besser stehen die Chancen dafür, das Übel auf Seiten der Ver­tei­ler zu bekämp­fen. Die Platt­form-Kon­zerne haben die Infor­ma­tio­nen bislang weit­ge­hend unge­prüft und nur nach kom­mer­zi­el­len Kri­te­rien gewich­tet in die Welt gebla­sen. Sie könnten eben diese Gewich­tung ändern, sprich, ihre Algo­rith­men anpas­sen und Nach­rich­ten von ver­trau­ens­wür­di­gen Quellen höher bewer­ten als jene von unbe­kann­ten oder gar erwie­se­ner­ma­ßen zwei­fel­haf­ten. Der Müll würde so zwar nicht aus dem Netz ver­schwin­den aber weniger sicht­bar und damit auch sel­te­ner geteilt werden.

Die Jour­na­lism Trust Initia­tive, initi­iert und getra­gen von der Orga­ni­sa­tion Repor­ter ohne Grenzen, der European Broad­cas­ting Union und anderen nam­haf­ten Medien-Insti­tu­tio­nen, hat hier wich­tige Vor­ar­beit geleis­tet. Nun müssen die Kon­zerne das Übel auch anpa­cken wollen, not­falls unter mehr oder weniger sanftem Druck von Regu­lie­rung­be­hör­den. Hier liegt zuge­ge­ben ein Risiko, denn Regu­lie­rer könnten sich auf diese Weise auch dem Ein­fluss kri­ti­scher Stimmen ent­le­di­gen. Man möchte weder einem Donald Trump noch einem Viktor Orban das Pri­vi­leg zubil­li­gen, über die Qua­li­tät von Jour­na­lis­mus zu urtei­len. Dies sollte Gremien über­las­sen bleiben, die sich der Neu­tra­li­tät und Fak­ten­treue ver­schrie­ben haben.

Am wich­tigs­ten ist es aller­dings, bei den Emp­fän­gern anzu­set­zen. Bislang wissen nur die wenigs­ten Bürger, nach welchen Kri­te­rien Inhalte im Netz ver­teilt werden und an ihre Adres­sa­ten gelan­gen, wer Zugang zu diesen Kanälen hat und wie leicht sich erlo­gene aber täu­schend echt wir­kende Infor­ma­tio­nen erstel­len lassen. Auch über die Besitz­ver­hält­nisse der digi­ta­len Infra­struk­tur sind eher nur die Fach­leute infor­miert. Zumin­dest kann nicht vor­aus­ge­setzt werden, dass jedem Nutzer klar ist, dass hinter der Kurz­vi­deo-Platt­form TikTok ein chi­ne­si­scher Konzern steckt. Davon abge­se­hen, dass auch die­je­ni­gen, die es wissen, mit TikTok arbei­ten oder es nutzen – aus Spaß, oder weil man damit eben viele Kunden erreicht.

„Finn­land ist winning the war“

Noch am ehesten kann vor­aus­ge­setzt werden, dass das Publi­kum zumin­dest Grund­kennt­nisse darüber hat, wie Jour­na­lis­mus funk­tio­niert. Dass sich Repor­ter und Redak­teure im Nor­mal­fall an ethi­sche und hand­werk­li­che Regeln gebun­den fühlen – Bei­spiele sind das Vier-Augen-Prinzip und das Ein­ho­len meh­re­rer Quellen – haben viele Bürger schon gehört, auch wenn sie es nicht immer glauben. Und ein Groß­teil der Bevöl­ke­rung ver­lässt sich eher auf eta­blierte Marken wie die „Tages­schau“, Sender wie die BBC oder auf ihre Lokal­zei­tung als auf zwei­fel­hafte „Exper­ten“, die manch ein Face­book-Beitrag nach oben schwemmt. Das lässt sich aus Medi­en­kon­sum-Studien wie dem Digital News Report ablesen.

Aber all das ist keine Selbst­ver­ständ­lich­keit. Auf­klä­rung tut also Not. Bislang funk­tio­niert das am besten in der jungen Genera­tion. Junge Leute betrach­ten „Fake News“ eher als Beläs­ti­gung denn als echte Gefahr. Viele von ihnen haben gelernt, sich durch die Abgründe des Inter­nets zu navi­gie­ren – um den Preis, dass sie allen Infor­ma­tio­nen mit grö­ße­rer Skepsis begeg­nen als die älteren Genera­tio­nen, inklu­sive dem Qua­li­täts­jour­na­lis­mus. Sie bringen sich das gegen­sei­tig bei oder lernen es in der Schule, wo es natür­lich die beste Infra­struk­tur für digi­tale Bildung gibt.

Anders geht es den Älteren. Sie sind einer­seits anfäl­li­ger für Falsch­mel­dun­gen, weil sie weniger über die Online-Welt wissen, ande­rer­seits aber auch ver­letz­li­cher, weil sie gezielt von Algo­rith­men als mut­maß­lich leichte Beute ange­steu­ert werden. Es ist erwie­sen, dass Senio­ren sehr viel häu­fi­ger Falsch­mel­dun­gen bekom­men und teilen als ihre Enkel. Bil­dungs­pro­gramme für die­je­ni­gen, die Schule und Uni­ver­si­tät bereits ver­las­sen haben, sind also exis­ten­ti­ell, wenn einem der auf­ge­klärte Umgang der Bevöl­ke­rung mit der Kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Infor­ma­ti­ons­in­fra­struk­tur am Herzen liegt. Dies sollte und muss in allen Demo­kra­tien der Fall sein. Am Bei­spiel Finn­land lässt sich ablesen, dass das recht ordent­lich funk­tio­nie­ren kann. Eine 2014 begon­nene Auf­klä­rungs­kam­pa­gne über „Fake News“ war so erfolg­reich, dass CNN in einem Feature bereits tri­um­phierte: „Finn­land is winning the war on fake news“. Selbst aus Sin­ga­pur seien Regie­rungs­ver­tre­ter ange­reist, um das Erfolgs­re­zept zu kopie­ren. Aber auch anderswo gibt es gute Initia­ti­ven für genera­tio­nen­über­grei­fende digi­tale Bildung, zum Bei­spiel in Tsche­chien.

Dort, wo diese Auf­klä­rung nicht exis­tiert, ist die Wahr­schein­lich­keit groß, dass Regie­run­gen gar kein Inter­esse an der digi­ta­len Mün­dig­keit ihrer Bürger haben. Eine ver­wirrte Öffent­lich­keit ist anfäl­li­ger für ein­fa­che, popu­lis­ti­sche Inter­pre­ta­tio­nen der Lage, eine kri­ti­sche Presse und unan­ge­nehme Fakten stören so manch einen Amts­trä­ger nur. Digi­tale Bildung darf deshalb nicht nur in der öffent­li­chen Hand liegen. Wer dazu bei­trägt, dient der Demo­kra­tie. Unab­hän­gige Medien zum Bei­spiel können gar nicht genug dafür tun.

Diese Kolumne erschien am 20. Dezember 2020 bei Zentrum Liberale Moderne

Mehr Debatte war nie!

Angeblich schirmen uns die Algorithmen von allen Einflüssen ab, die unser Weltbild stören könnten. Doch so griffig die Metapher der Filterblase auch ist: Sie stimmt nicht.

Wenn es theoretische Konzepte in die Alltagssprache schaffen, freuen sich Akademiker*innen üblicherweise. Hat die Wissenschaft der Welt also doch etwas zu sagen, das jenseits des Hörsaals relevant ist.

In diese Kategorie gehören auch die Wörter Filterblase und Echokammer. Microsoft-Gründer Bill Gates hat davor ebenso gewarnt wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, und zuweilen wirft sie jemand auf einem Elternabend in die Diskussion: „Die Kids leben in ihrer Filterblase.“ Was frei übersetzt in etwa heißen soll: Die lesen nicht mal Zeitung.

Die Theorie klingt zumindest griffig: Angeblich schirmen uns Algorithmen im Internet von jeglichen Einflüssen ab, die unser Weltbild stören könnten. Die sozialen Netzwerke sind demnach schuld daran, dass wir diskurstechnisch in sauber getrennten Teichen nach den immer gleichen Argumenten fischen. Mit Inhalten, die uns überraschen oder Standpunkten, die unseren widersprechen könnten, kommen wir nicht mehr in Kontakt.

Das Konzept hat nur einen Schönheitsfehler: Es stimmt nicht. In Wahrheit weisen mehr Indizien auf das Gegenteil hin. Das Publikum informiert sich heute aus einer größeren Anzahl von Quellen als zu Zeiten, in denen die „Tagesschau“ oder die abonnierte Zeitung die einzige nachrichtliche Grundversorgung lieferten.

Zu diesem Ergebnis kommt etwa der „Digital News Report“. Dessen Autoren Richard Fletcher und Rasmus Kleis Nielsen untersuchen seit Jahren den weltweiten Informationskonsum. Ihr Fazit: „Jene, die Nachrichten über Suchmaschinen konsumieren, nutzen durchschnittlich mehr Quellen. Und die Wahrscheinlichkeit ist größer, dass sie politisch rechts- und linkslastige Quellen finden.“

Echokammern? Filterblasen? Fletcher und Nielsen widersprechen: „Suchmaschinen bringen Menschen mit Quellen in Kontakt, die sie sonst nicht genutzt hätten“, schrieben sie im vergangenen Jahr im Fachjournal „Digital Journalism“.

Zu schön, um falsch zu sein

Die Politikwissenschaftler Jan Philipp Rau und Sebastian Stier haben jüngst ebenfalls die Literatur gesichtet und herausgefunden, dass „die Furcht vor einer gesamtgesellschaftlichen Fragmentierung durch digitale Medien und einer damit verbundenen politischen Polarisierung empirisch nicht unterstützt wird“.

Man könnte also sogar sagen: So viel Debattenstoff war nie! Warum aber schwebt die Filterblase durch jede Diskussion zur digitalen Kommunikation, wenn man sie so leicht zum Platzen bringen kann?

Geprägt hat den Begriff der Internetaktivist Eli Pariser, der 2011 mit einem gleichnamigen Buch Furore machte. Darin wollte er darüber aufklären, „wie wir im Internet entmündigt werden“. Das klang offenbar zu schön, um nicht wahr zu sein.

Angesehene Theoretiker griffen das Konzept auf und entwickelten es weiter, zum Beispiel der Harvard-Jurist Cass Sunstein in „#Republic – Divided Democracy in the Age of Social Media“. In gewisser Weise teilt Pariser das Schicksal des Historikers Francis Fukuyama, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs das Ende der Geschichte prognostizierte: Ständig wird er mit etwas zitiert, was so nie eingetroffen ist. Dennoch gibt es gute Gründe dafür, warum die Filterblasen-Metapher so erfolgreich ist.

„Sie ist intuitiv, eingängig und spricht eine große Angst hinsichtlich des Einflusses von Algorithmen an“, sagt die Rechtswissenschaftlerin Natali Helberger von der Universität Amsterdam, „die Menschen fürchten sich davor, dass sie das Publikum segmentieren und polarisieren.“

Sie will sich über diese Sorge keineswegs lustig machen, im Gegenteil: „Aber angesichts einer vielfältigen Medienlandschaft und eines heterogenen Publikums ist das nicht die drängendste Sorge Europas.“

Richtig ist, dass die Algorithmen der sozialen Netzwerke oder Suchmaschinen bestimmte Inhalte mit höherer Wahrscheinlichkeit anzeigen: was Nutzer*innen vorher schon mal interessiert hat, was Freunde mögen, was besonders aufsehenerregend ist oder viele andere Menschen ebenfalls angeklickt haben. Falsch ist allerdings, dass die Technologie gar nichts anderes serviert und uns deshalb in der Sicherheit wiegt, alle anderen dächten so wie wir.

Verrohung der Gesellschaft

Trotzdem werden die sozialen Netzwerke und ihre vermeintlichen Filterblasen und Echokammern für die Verrohung der Gesellschaft, die Verdummung der Bürger*innen oder die Expansion des Populismus verantwortlich gemacht. Dahinter steckt die ebenso überhebliche wie realitätsferne Annahme, dass Menschen, die krudes Gedankengut verbreiten, zur Besinnung kommen, wenn sie die richtigen Argumente kennen.
Tatsache ist aber: Fakten beeinflussen uns weniger, als wir hoffen. Menschen, die sich mit ‧populistischem Gedankengut identifizieren, glauben ohnehin selten an Objektivität. Sie malen die Gesellschaft bewusst als ein „Wir gegen die“-Gemälde. Dazu suchen sie sich allerlei „Beweise“ zusammen, gerne aus verschiedenen Quellen.

Zum Beispiel hören sie „Staatsfunk“, wie sie öffentlich-rechtliche Sender gerne nennen – um ihn sodann zu verdammen. Menschen, nicht Suchmaschinen, treiben die Polarisierung voran. Es ist sogar erwiesen, dass sich Mediennutzer*innen noch weiter in extremen Positionen vergraben, wenn sie gegensätzlichen Meinungen ausgesetzt sind. Versucht man, die vermeintliche Filterblase aufzubrechen, reagieren sie darauf mit Abwehr.

Im Twitter-Zeitalter werden Fakten zur digitalen Kommunikation gerne ignoriert. Zunächst einmal hat es die vermeintlichen Filterblasen schon immer gegeben. Die abonnierte Tageszeitung oder der voreingestellte Radiosender sind und waren diesbezüglich effektiv. Man las die Beiträge seiner Lieblingsautoren und fühlte sich rundum gut informiert. Wozu woanders suchen?

Auch politische Polarisierung, Rassismus und Sexismus existierten, lange bevor sich die Bürger*innen über soziale Netzwerke gegenseitig darin bestärken konnten – zumal ältere Generationen gespaltener sind als jüngere. Das Brexit-Referendum in Großbritannien wurde in erster Linie von der Boulevardpresse angeheizt.

Wie eine Inhaltsanalyse der Berichterstattung von neun überregionalen britischen Tageszeitungen vor der Abstimmung ergab, sprachen sich von fast 2400 Artikeln 41 Prozent für einen Brexit aus. Demgegenüber waren 27 Prozent dafür, in der EU zu bleiben. Über Facebook schoben sich die Brexiteers allenfalls entsprechende Meldungen traditioneller Medien zu.

Bloß keine Panik

Der australische Kommunikationswissenschaftler Axel Bruns warnt deshalb vor „moralischer Panik“. Die permanente Diskussion um Filterblasen und Echokammern lenke von den wahren Ursachen politischer Polarisierung ab, sagte er vor einigen Monaten auf einer Konferenz: „Der Aufstieg von hyperparteiischen, populistischen und illiberalen ideologischen Agitatoren und Propagandisten an den Rändern des politischen Spektrums und die Ablehnung von demokratischen Prinzipien und Prozessen sind nicht in erster Linie ein Phänomen der Kommunikationstechnologien – sondern ein gesellschaftliches Problem.“

Zudem wird der Einfluss sozialer Netzwerke massiv überschätzt. Das liegt auch daran, dass die Journalist*innen selbst dort kräftig unterwegs sind – und sie geben nach wie vor den Ton an. Selbst wenn der amerikanische Präsident häufig über Twitter krakeelt, erreicht er dort bei Weitem nicht alle seine Anhänger*innen.

Tatsächlich ist die Reichweite gerade von Twitter vergleichsweise gering. Populist*innen beziehen ihre Neuigkeiten zudem überproportional aus dem Fernsehen, in den USA zum Beispiel über den Sender Fox News, in Deutschland über Privatsender wie RTL.

Auf Twitter hingegen tummeln sich vor allem Politiker*innen und Medienschaffende. Der unbeabsichtigte Effekt: Journalist*innen verschaffen so manchem Tweet erst Reichweite, weil sie ihn zur Story hochjazzen. Die Forschung hat ein ums andere Mal ergeben: In den sozialen Netzwerken beherrschen die traditionellen Medien die Debatte.

Was lässt sich nun gegen die Polarisierung tun? Zunächst einmal müssen alle Institutionen die Sorgen und Gefühle der Bürger*innen ernst nehmen: Ungleichheit und Ungerechtigkeit, der digitale Umbruch, der Klimawandel, Einwanderung – in all diesen Feldern warten Aufgaben. Es wird aber mehr daran gearbeitet, als es das große Blabla in den sozialen Netzwerken zuweilen vermuten lässt.

Im Koalitionstracker der „Süddeutschen Zeitung“ kann man zum Beispiel verfolgen, wie viele von 140 Versprechen aus dem Koalitionsvertrag schon umgesetzt wurden oder zumindest in Arbeit sind – tatsächlich eine ganze Menge. Auch ein Blick auf die Website ourworldindata.org lohnt sich für die Erkenntnis: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft lösen tatsächlich echte Probleme der Menschheit, sie schaffen sie nicht nur.

Tatsächlich tragen die Medien viel zur gesellschaftlichen Grundstimmung bei. Der diesjährige „Digital News Report“ stellte dem Journalismus in dieser Hinsicht ein schlechtes Zeugnis aus. Nur 16 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, dass die Medien „den richtigen Ton“ treffen, weniger als ein Drittel fand die Themen relevant, über die berichtet wurde. Gerade mal jeder Zweite bescheinigte der Presse, die Nachrichten des Tages ausreichend zu erklären.

Allein bei der Vermittlung purer Informationen schnitten die Medien gut ab. Da geht also noch was. Vor allem gilt es, Formate zu entwickeln, die mehr Bürger*innen erreichen. Daran appelliert auch Natali Helberger. Sie sorge sich „um die digital Verletzlichen“ – jene Nutzer*innen, die wegen ihres Medienkonsums, ihrer Bildung, ihres sozialen Status und des Mangels an politischem Interesse von vielfältiger Information ausgeschlossen werden.

Die Medien haben schon immer Filterblasen produziert, und sie werden es auch weiter tun. In Wahrheit ist es heute bloß viel leichter, ihnen zu entkommen.

Dieser Text erschien in ada und Handelsblatt.com am 23. November 2019

Keine Angst vor Trollen: Fünf Gründe, warum das Internet noch zu retten ist

Manchmal sieht es so aus, als sei das Internet vom Werkzeug der Unterdrückten zum Instrument der Unterdrücker geworden. Aber es gibt Fakten, die Hoffnung machen. Trotz Trump, Fake-News und Troll-Fabriken bleibt das Internet ein Zukunftsversprechen. 

Für Inter­net-Opti­mis­ten hält ein neuer Report aus Oxford ver­stö­ren­den Lese­stoff parat: Schon mehr als ein Drittel aller Staats­re­gie­run­gen nutzt das Netz dazu, die eigene Bevöl­ke­rung mit Hilfe sozia­ler Netz­werke zu mani­pu­lie­ren, wie Saman­tha Brad­shaw und Philip Howard vom Oxford Inter­net Insti­tute in ihrer Studie „The Global Dis­in­for­ma­tion Order“ her­aus­ge­fun­den haben. Eine wach­sende Anzahl ver­breite online zudem nicht nur Pro­pa­ganda, sondern schüch­tere Kri­ti­ker ein, bringe Oppo­si­tio­nelle zum Schwei­gen und ver­letze gar Men­schen­rechte. Und die Freude an der digi­ta­len Kon­trolle nehme zu: Iden­ti­fi­zierte die Studie 2017 noch 28 solche Länder, waren es ein Jahr später schon 48, in diesem Jahr nun 70. Einige Staaten misch­ten sich zudem mit geziel­ten Kam­pa­gnen in Ange­le­gen­hei­ten anderer Länder ein, nament­lich China, Russ­land, Iran, Saudi Arabien, Vene­zuela, Paki­stan und Indien – immer­hin die größte Demo­kra­tie der Welt. Bevor­zugt griffen die Täter über Face­book an, so die For­scher. Man kann diese Infor­ma­tion Ope­ra­ti­ons – so das Fach­wort – auch Kriegs­füh­rung mit vir­tu­el­len Waffen nennen.

Lassen sich die Errun­gen­schaf­ten des demo­kra­ti­schen Zeit­al­ters bewah­ren?

Nun gibt es ja schon im Kleinen aus­rei­chend Pöbe­leien, Hass­rede und Lügen im Netz – neu­er­dings sogar mit rich­ter­li­cher Bil­li­gung. Die Grünen-Poli­ti­ke­rin Renate Künast musste sich im Sep­tem­ber vom Ber­li­ner Land­ge­richt erklä­ren lassen, dass sie es hin­zu­neh­men habe, „Schlampe“, „Drecks Fotze“ oder „Geis­tes­kranke“ genannt zu werden. Hinzu kommt gezielte Falsch­in­for­ma­tion, gemein­hin unter dem Begriff Fake News zusam­men­ge­fasst. Wenn all das auch noch staat­lich gelenkt und geför­dert mit immer bes­se­ren tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten geschieht, fällt Zuver­sicht schwer. Ist das Netz vom Werk­zeug der Unter­drück­ten zum Instru­ment der Unter­drü­cker gewor­den? Gepflegte Debatte, zuver­läs­sige Infor­ma­tion, Wahl­ent­schei­dun­gen ohne Mei­nungs­ma­ni­pu­la­tion – es scheint gar nicht so sicher zu sein, dass sich die Errun­gen­schaf­ten des demo­kra­ti­schen Zeit­al­ters bewah­ren lassen.

 

Und doch muss nun nicht jeder den Habeck machen und sich bei Face­book und Twitter abmel­den wie der Grünen-Chef, oder gar ein Ere­mi­ten-Leben planen wie der Inter­net-Aus­stei­ger in Dave Eggers‘ Inter­net-Dys­to­pie „The Circle“. Es gibt durch­aus einige Fakten, die Hoff­nung machen können:

Fake-News sel­te­ner als man denkt

Erstens, die Angst vor fal­scher Infor­ma­tion ist weitaus größer als die tat­säch­li­che Ver­brei­tung von Lügen und ver­dreh­ten Fakten. Das gilt zumin­dest für die hiesige poli­ti­sche Welt. Dies belegen Studien, unter anderem der Digital News Report des Reuters Insti­tute for the Study of Jour­na­lism. Zwar macht sich ein großer Teil des Publi­kums wegen des Themas Sorgen. Iro­ni­scher­weise tragen die Medien-Berichte über Troll-Fabri­ken und Infor­ma­ti­ons­ma­ni­pu­la­tion nicht unwe­sent­lich dazu bei. Aber nur ein kleiner Teil der Online-Nutzer bekommt tat­säch­lich erfun­dene Inhalte zu Gesicht, und ein noch klei­ne­rer ver­brei­tet sie weiter.

Junge Nutzer denken kri­tisch

Zwei­tens, die junge Genera­tion geht ver­ant­wor­tungs­be­wuss­ter mit dem Netz um als die ältere. Auch das belegen Studien. Während viele in der ana­lo­gen Welt sozia­li­sierte Online-Nutzer krude Dinge nicht hin­ter­fra­gen, weil diese schwarz auf weiß daher­kom­men, navi­gie­ren die Jungen mit gesun­der Skepsis durchs Netz. Die Pro­gramme zur Medi­en­bil­dung an den Schulen schei­nen zu wirken – dumm nur, dass es zu wenig sys­te­ma­ti­sche Auf­klä­rung für ältere Genera­tio­nen gibt.

Bürger sind lernfähig

Drit­tens, es emp­fiehlt sich, die Bürger nicht zu unter­schät­zen. Das Publi­kum ist lern­fä­hig. Viele online Nutzer haben sich bereits von Face­book abge­wandt, weil ihnen Kako­pho­nie, Unglaub­wür­dig­keit und Ver­wick­lung in Skan­dale wie Cam­bridge Ana­ly­tica zu viel gewor­den sind. Das gilt sowohl für Jugend­li­che im glo­ba­len Norden als auch für viele Nutzer in Ländern Afrikas und Süd­ost­asi­ens, bei denen Face­book als „Fake News Kanal“ gilt. Das heißt natür­lich nicht, dass der Face­book-Konzern an Macht ver­liert. Immer­hin gehören auch Insta­gram und Whats­app zum Impe­rium von Mark Zucker­berg.

Print-Zei­tun­gen machen Twitter groß

Vier­tens, Donald Trump regiert nicht über Twitter. Ent­ge­gen all­ge­mei­ner Annah­men infor­mie­ren sich die Anhän­ger von Popu­lis­ten deut­lich stärker über das Fern­se­hen als über soziale Medien, auch das belegt der Digital News Report. Im Netz hin­ge­gen suchen eher die­je­ni­gen nach Aus­kunft, die sich dif­fe­ren­zier­ter mit der Welt aus­ein­an­der­set­zen. Dennoch besitzt Twitter Durch­schlags­kraft. Vor allem, weil tra­di­tio­nelle Medien oder Sender wie Fox News die Reich­weite dras­ti­scher Tweets und Posts massiv erhöhen. Jour­na­lis­ten können also sehr viel für eine kon­struk­tive Debatte tun, wenn sie die Empö­rungs-Maschi­ne­rie nicht anhei­zen.

Ein bes­se­res Inter­net ist möglich

Fünf­tens, die digi­tale Welt ist nicht wie das Wetter, das man hin­neh­men muss. Sie lässt sich gestal­ten. Zum Glück wird dieser Tage in vielen natio­na­len und inter­na­tio­na­len Gremien bis hin zur UNESCO darüber debat­tiert, wie man mit den Ver­stär­ker-Effek­ten des Inter­nets umgehen soll. Dass die Algo­rith­men der Platt­for­men von mäch­ti­gen kom­mer­zi­el­len und staat­li­chen Inter­es­sen getrie­ben werden, macht es nicht leich­ter. Aber die Zusam­men­hänge sind vielen Akteu­ren klarer als vor zehn Jahren, und unter Demo­kra­ten ist der Wunsch groß, das Netz zu nutzen, um Mit­spra­che und Teil­habe zu ver­bes­sern. Die EU ist eine Bastion gewor­den, wenn es darum geht, die Bürger der Mit­glied­staa­ten gegen den Miss­brauch ihrer digi­ta­len Spuren zu ver­tei­di­gen. Und selbst Face­book inves­tiert in die unab­hän­gige Erfor­schung ethi­scher Fragen von künst­li­cher Intel­li­genz, auch wenn manch einer das kri­tisch sehen mag. Der Konzern aus dem Silicon Valley steckt 6,5 Mil­lio­nen Euro in ein ent­spre­chen­des Insti­tut an der TU München.

Natür­lich bleibt die Lage ernst. Vor allem dort, wo Popu­lis­ten sich des Netzes bedie­nen, brau­chen Kon­troll­in­stan­zen wie Gerichte und unab­hän­gige Medien Stär­kung, die Opfer von Atta­cken Schutz. Das ist dort ungleich schwie­ri­ger, wo Popu­lis­ten regie­ren. Aber eine starke Demo­kra­tie ist immer noch die beste Ver­si­che­rung gegen Miss­brauch im Netz. Und man sollte sich nicht beirren lassen: Die Anstän­di­gen, die fried­lich mit ihren Nach­barn zusam­men­le­ben wollen, sind bei genaue­rem Hin­se­hen meist in der Mehr­heit. Auch wenn sie von den Krach­ma­chern über­tönt werden.

Diese Kolumne erschien bei Zentrum Liberale Moderne am 29. Oktober 2019