Man könnte sagen, im Nachhinein sind alle schlauer. Im Vorhinein war es nur die Financial Times (FT). Wer die Timeline der Ereignisse rund um den Niedergang des im Dax gelisteten und nun insolventen Finanzdienstleisters Wirecard liest (die FT bietet das Stück ausnahmsweise gratis an), erschrickt schon ein wenig ob der Arglosigkeit vieler Beteiligter, seien es der Wirtschaftsprüfer EY, die deutschen Finanzbehörden – oder heimische Wirtschaftsjournalisten. Statt angesichts der ausdauernden und intensiven Recherchen des britischen Pflicht-Mediums für Wirtschafts- und Finanzakteure hellhörig zu werden, neigte man hier der Sicht der Behörden zuzustimmen, die dem britischen Reporter Dan McCrum unlautere Arbeit vorgeworfen hatten. Sogar die Staatsanwaltschaft München ermittelte gegen den Journalisten. Im Februar zeichnete der Branchendienst Meedia
die Auseinandersetzung um die FT-Berichterstattung nach.
Nun gebührt den FT-Kolleg_innen um McCrum Ehre, ein paar Preise werden wohl drin sein. Großes Lob verdient auch die Chefredaktion, die sich trotz aller Angriffe von außen klar vor das Team stellte. So soll es sein. Als nächstes fragt man sich allerdings: Warum haben Journalist_innen in Deutschland nicht aufgemerkt? Waren sie zu nah dran, oder eher zu weit weg? Denn wenngleich ein Journalist aus London die Story ausgegraben hatte, fand er Unterstützung in Südostasien, wo sich kaum ein deutsches Medienhaus noch Korrespondent_innen leisten kann (die FT hat dort fünf festangestellte Reporter_innen und mehrere Stringer_innen).
Einer der Gründe dürfte sein, dass noch immer zu viel „Er hat gesagt, sie hat gesagt“-Journalismus betrieben wird, vor allem hierzulande. Man betrachtet es schon als Scoop, wenn ein Behördenvertreter oder ein anderer Offizieller einem etwas steckt, das andere nicht wissen. Das hat man dann „exklusiv“. Bernd Ziesemer, ehemals Chefredakteur des Handelsblatts, hat diese Dynamik in einem Gastbeitrag gut beschrieben – der erschien bezeichnenderweise in der FT. Professionelle Kommunikator_innen wissen und nutzen das, indem sie mal dieses, mal jenes Medium bedienen und auf diese Weise gewogen halten.
Da Medienhäuser die Konkurrenz untereinander immer noch als Treiber von Innovation betrachten, geben sich Journalist_innen mit solchem Ruhm auf Zeit zufrieden. Ihrem Publikum dienen sie damit eher nicht. Das hätte im Fall Wirecard von einer schnelleren Aufklärung profitiert – zumindest die wichtigen Fonds hätten dann wohl ihre Posten zeitiger umgeschichtet und Anleger_innen vor herben Verlusten bewahrt. Kein Wunder, dass sich deutsche Mediennutzer_innen in Umfragen einigermaßen skeptisch dazu äußern, ob Journalist_innen mächtige Personen und Unternehmen ausreichend kontrollieren. Nur 37 Prozent gaben das in der deutschen Stichprobe des Digital News Report 2019 zu Protokoll, jüngere Leute waren noch deutlich skeptischer.
Große investigative Recherchen scheitern einerseits oft daran, dass dafür nur die wenigsten Redaktionen Kapazitäten haben. Andererseits fehlen vielen Reporter_innen dafür auch Handwerk und Training. Wie man sich Schritt für Schritt an eine Hypothese heran arbeitet und dann genügend Material und Daten anhäuft, um sie zu belegen oder zu verwerfen, lernt man nicht, wenn man im Volontariat stundenlange Newsdesk-Dienste absolvieren, im Akkord Seiten bauen oder Agenturen plus Google zu sendefähigem Material verquicken muss. Und mit ein, zwei schnellen Interviews zwischendurch ist es auch nicht getan.
Die Journalisten-Ausbildung sollte sich deshalb lieber früher als später darauf werfen, Reporter_innen in investigativen Methoden zu trainieren. Denn die Zukunft des Journalismus liegt genau auf den Feldern, auf denen andere nichts zu bieten haben in einer Welt, in der jeder veröffentlichen kann. Kommentieren kann jede/r Blogger_in, wenngleich nicht immer so, wie man das auf der Journalistenschule lernt. Auf künstliche Intelligenz gestützte Programme werden früher oder später in der Lage sein, Meldungen aller Arten selbst zu schreiben. Selbst einfache Interviews können Bots schon führen, die Homepage bestücken sowieso. Aber in mühevoller Denk- und Such-Arbeit Missständen auf die Spur zu kommen, und dies mit unabhängiger Perspektive zu tun, für diese Aufgaben ist kein anderer Berufszweig gleichermaßen ausgestattet.
Außerdem sollten Medienmarken genau darüber nachdenken, wen sie als Konkurrent_innen und wen als möglichen Kooperationspartner_innen betrachten. Investigativer Journalismus ist häufig teuer und aufwändig, da geht es nicht ohne Zusammenarbeit. Nun muss nicht jede Recherche in Projekte à la Panama Papers ausufern – die Großrecherche wäre ohne das beteiligte internationale Journalisten-Konsortium gar nicht möglich gewesen. Aber im Sinne der Bürger_innen zu denken heißt oft, alte Eitelkeiten über Bord zu werfen. Man kann Stoffe dann immer noch so aufbereiten, dass sie vor allem die eigenen Nutzer_innen begeistern. In der digitalen Informations- und Ablenkungswelt konkurrieren Medienmarken häufig nicht mehr gegen einen anderen Verlag. Ihr größter Gegner ist die Abstinenz des Journalismus.
Forschung hilft – übrigens auch dem Journalismus
Der Intendant eines großen deutschen Senders ließ die Forscherin nicht einmal ausreden. Sie hatte Zahlen über das sinkende Vertrauen der Bürger in den Journalismus präsentiert, doch der Medienmann, in überschaubarer Runde von gleichrangigen Kollegen umgeben, wiegelte ab. Sein Haus habe seine eigenen Zahlen, sagte er, und denen zufolge stehe man recht gut da. Noch Lust auf eine Debatte? Eben. Die Szene, so beobachtet vor zwei Jahren, steht exemplarisch für eine Branche, die ihren ganzen Stolz aus der täglichen Praxis zieht. Untereinander mögen sich Journalisten und Journalistinnen öffentlich zerfleischen über missratene Kommentare, lückenhafte Recherche, unangebrachte oder fehlende Entschuldigungen, vor allem, wenn die Konkurrenz betroffen ist. Aber gegen Kritik aus der Wissenschaft stehen Praktiker_innen gerne wie eine Wand aus Selbstbewusstsein: Davon, wie es da draußen zugeht, hätten diese Akademiker keine Ahnung.
Dieselben Kolleg_innen, die sich angesichts der Corona-Krise für die wissenschaftliche Methodik stark machen, die nicht auf Wahrheiten baut, sondern auf den stets suchenden Prozess der Wahrheitsfindung, schalten schnell auf Durchzug, wenn Forschung ihnen Erkenntnisse über die eigene Zunft präsentiert. Sagen Wissenschaftler_innen, das Publikum erlebe Journalismus als zu negativ, fühle sich von der Masse der Nachrichten erdrückt, wünsche sich eine Trennung von Meinung und Kommentar oder störe sich am zuweilen überheblichen Ton, kontern Held_innen des Redaktionsalltags ziemlich sicher mit einem „ja, aber …?“ Wie groß da wohl die Stichprobe war, wen man befragt habe, und ob speziell diese Methodik generell irgendeinen Schluss darauf zulasse, was das Publikum wirklich denke. Schließlich habe man ja all diese Software-Analyse-Tools, die einem ziemlich genau zeigten, was gut laufe und was nur so, nun ja, mittelmäßig. Die Botschaft: Bleibt ihr in eurem Elfenbeinturm und lasst uns arbeiten.
Ist das zugespitzt? Vielleicht. Tatsächlich nimmt das Interesse an Publikumsforschung gefühlt in dem Maße zu, in dem das Publikum den Medienmarken abhandenkommt. Digital orientierte Journalist_innen arbeiten sich durchaus schon mal in den Digital News Report des Reuters Institutes aus Oxford ein, die größte fortlaufende Untersuchung über den weltweiten digitalen Medienkonsum. Die neueste Ausgabe wurde übrigens am 16. Juni veröffentlicht, sie deckt 40 Märkte und Länder auf allen Kontinenten ab, 80.000 Menschen wurden befragt. Sie abonnieren Newsletter des Nieman Lab aus Harvard oder des Tow Center for Digital Journalism an der Columbia University. Und die eine oder der andere schaut sich sogar bei deutschen Institutionen um, dem Leibniz Institut für Medienforschung Hans Bredow Institut beispielsweise oder dem IfKW an der LMU München. Aber dass man gemeinsam Ideen spinnt, Formate entwickelt und entsprechend begleiten lässt, ja an der Zukunft des Journalismus bastelt, kommt höchst selten vor.
Das ist schade, denn beide Seiten hätten sich gegenseitig so viel zu sagen. Die akademischen Institute böten den nötigen Abstand zum täglichen „das funktioniert nur so“ und „die Leser mögen das“. Die Praktiker_innen könnten den Forscher_innen haufenweise relevante Themen liefern und beim Studien-Design helfen.
Mit dem Einzug von Datenanalyse und Dashboards in die Redaktionen glauben zwar viele Newsdesk-Teams solche Unterstützung nicht länger zu brauchen. Schließlich sehe man ja nun im Überfluss, welche Stücke bei den Leser_innen und Abonnent_innen „funktionieren“. Dabei vergessen sie aber oft, dass Metriken nur über diejenigen Nutzer Auskunft geben, die man bereits gewonnen hat. Warum man welche Gruppen oder Bevölkerungsschichten gar nicht erreicht, was ihnen fehlt oder sie womöglich abstößt, lässt sich nur mit anderen Mitteln ergründen.
Noch spannender wären regelmäßige Forschungsaufenthalte im Lager des jeweils anderen. Frische Ideen und Impulse schaden weder der Wissenschaft noch den Redaktionen, die Akademiker_innen bekämen eine ordentliche Praxis-Dusche, die Praktiker_innen könnten sich mit Erkenntnissen für ihre Arbeit munitionieren. So etwas ließe sich sogar als Incentive organisieren, das Ermüdung vorbeugt und beim Auftanken hilft.
Okay, solche Vorstellungen klingen einigermaßen naiv für diejenigen, die ein bisschen etwas vom Geschäft verstehen. Wissenschaftler_innen in die Praxis zu schicken würde bedeuten, den zurückbleibenden Kolleg_innen einen Vorsprung im Rennen um die längste akademische Veröffentlichungsliste zu lassen. Denn journalistische Publikationen haben darauf nichts zu suchen. Und Journalist_innen, die das Redaktionsgebäude Richtung Akademie verlassen, werden ziemlich schnell als „Seitenwechsler“ abgeschrieben. Noch stärker als das unterschiedliche Tempo und die Erfolgsmetriken beider Berufe steht einem solchen Austausch die Hybris beider Seiten entgegen.
In Deutschland ist die Trennung dabei besonders scharf. Die eine Partei glorifiziert das Praktische und wertet das Akademische ab – eine Einstellung, die ihre historischen Wurzeln in der Betriebsamkeit des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit haben mag: Zum Forschen blieb damals keine Zeit, es wurde aufgebaut. Die andere Partei blickt leicht verächtlich auf diejenigen herab, die jeden Tag ein neues Fass aufmachen, statt den Dingen anständig auf den Grund zu gehen. Akademischer Stolz ist auch ein Teil Entschädigung für schlechte Bezahlung und mühsame Karrierewege. So lässt man sich lieber gegenseitig in Ruhe und geht seiner Wege.
Für den Journalismus selbst ist das bedauerlich. Aber vielleicht ändert sich das noch. Fast wünscht man sich einen Christian Drosten der Medienforschung herbei, der wie der berühmte Virologe regelmäßig ausführlich und in aller Seelenruhe erklärt, wie publikumsgerechter Journalismus wirklich geht – Irrwege eingeschlossen. Es dürfte übrigens auch eine Christiane sein.
Dieser Beitrag wurde am 26. Juni 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School publiziert.
Mehr Mensch oder mehr Journalist? Es ist kompliziert, besonders in den sozialen Netzwerken
Für Evan Smith, Mitgründer des gemeinnützigen News-Portals Texas Tribune, schien die Sache klar zu sein. „Wir nehmen Unparteilichkeit ernst wie einen Herzinfarkt“, sagte er 2018 auf einer Lokaljournalismus-Tagung in Oxford. Die mehrfach preisgekrönte Publikation hat sich auf Politikjournalismus spezialisiert, und ein paar Regeln müssten da sein, fand Smith: Er und sein Team gehörten keinen Parteien an, gingen nicht wählen, stellten keine Wahlplakate in ihre Vorgärten, auch Autoaufkleber seien tabu.
Viele Bürger*innen würden vermutlich laut klatschen bei dieser starken Ansage. Aber gerade in diesen Tagen, in denen Rassismus auch innerhalb der Medienbranche das große Thema ist, zeigt sich: So einfach ist das mit der Unparteilichkeit nicht. In amerikanischen Medienhäusern mussten jüngst mehrere Redaktionsleiter ihre Ämter niederlegen oder ruhen lassen, weil ihre Belegschaften ihnen zu viel Neutralität zum Vorwurf gemacht haben. Die Redakteure, zum Beispiel der Chef des Meinungsressorts der New York Times, hatten Gastbeiträge oder Überschriften durchgehen lassen, von denen sich ihre Mitarbeiter persönlich angegriffen, ja bedroht gefühlt haben: als Menschen, nicht als Journalisten. Und in diesem aufgeheizten Klima machten die Medienhäuser gar nicht erst den Versuch, die kritisierten Beiträge als legitime Ausdrücke von Meinungsfreiheit zu verteidigen. Sie entschieden sich für den Schutz ihrer Belegschaften. Zurecht, denn die Freiheit des einen endet immer dort, wo die des anderen beginnt. Der Punkt, an dem sich beide berühren, ist Aushandlungssache. Und es ist an der Zeit, jahrzehntelang erduldetem Unrecht mehr Gewicht zu geben.
Nur weil man eine Haltung hat, ist man auch als Journalist*in noch keine Aktivist*in. Die brillante Kolumnistin der Washington Post, Margaret Sullivan, hat das kürzlich in einem Beitrag treffend beschrieben: Journalist*innen seien der Suche nach der Wahrheit verpflichtet und dem Streben nach einer besseren Gesellschaft. Die Schritte auf dem Weg dorthin gilt es zu verteidigen. Manche Konflikte zwingen Journalist*innen deshalb dazu, sich auf eine Seite zu stellen: immer dann, wenn es um den Schutz der Demokratie, der Menschenwürde oder anderer existenzieller Güter wie der öffentlichen Gesundheit oder der Sicherheit und Ordnung gilt. Aber welche Güter sind existenziell? Hier wird es kompliziert. Was für die eine Minimum-Standard ist, betrachtet der andere als verhandelbar.
Schon im Redaktionsalltag sind die Grenzen fließend, wenn es um die Vereinbarkeit von Berichterstattung und persönlichen Werten geht. Aber besonders schwierig wird es, wenn sich Journalist*innen in den sozialen Netzwerken bewegen. Dort ist jeder zuerst Individuum, sieht sich aber mit Anforderungen von Redaktionen konfrontiert, die schlicht nicht zu erfüllen sind. Einerseits sollen Reporter*innen und Redakteur*innen mit möglichst hoher Präsenz den Ruhm ihres Hauses mehren, der Schlüssel dazu ist Reichweite. Und wer etwas vom Geschäft versteht weiß: Die bekommt man nicht mit dem pflichtschuldigen Klick auf das Retweet-Symbol. Für Medienhäuser ist es ein Gewinn, wenn sich ihre Stars als Neben-Marken profilieren und auf diese Weise Publikum binden. Aber zu viel Chuzpe ist den meisten Chefredakteur*innen auch nicht recht. Die Kolleg*innen mögen sich doch bitte allzu drastische Meinungsäußerungen oder rüde Sprache verkneifen, heißt es dann. Man trete schließlich doch immer im Namen des Hauses auf, allen „views are my own“-Bemerkungen in der Twitter-Bio zum Trotz. Es haben schon einige Journalist*innen ihren Job verloren, weil ihnen – womöglich zu fortgeschrittener Stunde – ein paar Dutzend Zeichen im Ton verrutscht waren.
Die New York Times hat kürzlich ein internes Dokument des Innenpolitik-Ressorts beim Konkurrenten Washington Post gezogen, das es in sich hat. Auf zwölf eng beschriebenen Seiten, die in vier Empfehlungen münden, hat eine Kommission darin zusammengetragen, was die Belegschaft von den Regeln und Praktiken im Umgang mit sozialen Netzwerken hält. Nicht viel, sei hier zusammengefasst. Beklagt werden die beschriebenen widersprüchlichen Anforderungen, Intransparenz, eine fehlende Strategie aber auch einen Mangel an Fairness beim Durchsetzen von Regeln. „Wer ein Star ist, kann sich alles erlauben“, heißt es in einem Kommentar. Andere Kolleg*innen hingegen würden abgemahnt, wobei sich Redaktionsleiter dabei zu sehr dem Herdentrieb hingäben. Gleichzeitig unternehme die Chefredaktion zu wenig, um Mitarbeiter*innen zu verteidigen oder zu schützen, wenn sie mit Hasskommentaren attackiert werden. Kulturell tue sich ein Graben zwischen den Generationen auf. Vor allem Frauen und Minderheiten würden häufig im Regen stehengelassen. Lehne man aus all diesen Gründen ein Engagement in den sozialen Netzwerken ganz ab, schade das womöglich der eigenen Karriere, beklagten die Reporter*innen. Schließlich sei reges Posten ein Weg, intern und extern auf sich aufmerksam zu machen. Gerade Twitter ist schließlich ein Journalisten-Biotop.
Ein solches oder ähnliches Papier ließe sich vermutlich in fast jeder Redaktion erstellen. Denn Chefredaktionen belassen es häufig bei dem Hinweis, man möge eben gesunden Menschenverstand walten lassen und sich so verhalten wie auch sonst im öffentlichen Raum. Nur sind die Netzwerke eben ein Raum, der nach den Regeln der Plattform-Konzerne bewirtschaftet wird, die Aufmerksamkeit verstärken. Fazit: Die Kolleginnen und Kollegen werden von ihren Häusern als Journalisten gefordert, als Menschen aber allein gelassen.
Was also tun? Um das vorwegzunehmen: Ein Rezept, das alle Seiten zufriedenstellt, gibt es nicht. Wichtig sind aber ein paar Dinge. Dazu gehören eine klare Strategie, was die Marke mit Hilfe sozialer Netzwerke erreichen will. Erwartungen an die Mitarbeiter sollten deutlich formuliert werden, es muss klar sein, was vertretbar ist und was rote Linien überschreitet. So wie jede große Medienmarke einen Style-Guide hat, sollte es auch Anleitungen für das Navigieren von Twitter, Facebook und Co. geben. Das hilft dabei, Regeln transparent und fair durchzusetzen.
Manch einer mag solche Vorgaben als Einschränkung persönlicher Freiheiten betrachten. Aber die sollte akzeptabel sein angesichts der Privilegien, die der Beruf mit sich bringt. Journalismus ist nun einmal eine Dienstleistung am Bürger, ihr Kern ist Glaubwürdigkeit, gezahlt wird mit Vertrauen. Ausbrüche von Häme, Wut und Sarkasmus dienen in der Regel niemandem, sie fachen nur jene Hasstiraden an, vor denen andere dann geschützt werden müssen. Was zum wichtigsten Punkt führt: Wer seine Mitarbeiter*innen dazu ermutigt, sich auf dem Tummelplatz der sozialen Netzwerke zu behaupten, muss ihnen auch beistehen, wenn sie sich dort Blessuren holen.
Dieser Text erschien zuerst am 12. Juni 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School.
Beruf mit Risiken und Nebenwirkungen – Journalisten im Burnout
Man kann diese Bilder schwer ertragen, vor allem, wenn man die USA kennt und den großartigen Journalismus amerikanischer Medienhäuser schätzt: Polizisten, die Reporter*innen und Fernsehteams gezielt mit Tränengas und Gummigeschossen attackieren, sogar festnehmen, weil sie von den landesweiten Protesten gegen Polizeigewalt und Rassismus berichten. Etwa 120 solcher Angriffe hatte es allein in der ersten Woche nach dem Tod von George Floyd gegeben, der unter dem Knie eines Polizisten erstickte. Der Journalistenberuf ist selbst im Kernland der Meinungs- und Pressefreiheit gefährlich geworden. Das wird Folgen haben. Noch schweißen die Attacken von außen die Redaktionen zusammen, verleihen ihrer Arbeit Sinn und eine extra Portion Legitimation. Aber irgendwann wird die große Erschöpfung eintreten. Im Journalismus ist Burnout ein erhebliches Berufsrisiko.
Doch während Journalisten gerne emphatisch über psychische Belastungen, Verletzungen und Traumata anderer berichten, werden sie beim Blick in die eigene Branche schmallippig. Natürlich kennt man den einen oder die andere Kollegin, die es „nicht mehr gepackt“ hat, längere Auszeiten nehmen musste oder plötzlich vom riskanten Auslandsposten in die Zentrale zurückversetzt wurde. Aber die längste Zeit über wurden solche Fälle eher unter der Decke chefredaktioneller Fürsorge gehalten. Und das hatte nicht nur mit dem Schutz der Privatsphäre zu tun. Es war – und ist – ein Tabu-Thema in einer Branche, in der Stressresistenz und Zähigkeit zum Berufsbild gehören.
Der Psychiater Anthony Feinstein von der Universität Toronto beschäftigt sich seit 20 Jahren mit psychisch belasteten und traumatisierten Journalist*innen. Begonnen hatte er damit 1999, als sich eine Reporterin an ihn wandte. Zur Vorbereitung des Gesprächs hatte er eine Literatur-Recherche gestartet – und zu seiner Überraschung keine einzige Studie zu dem Thema gefunden. Die Journalistin klärte ihn auf: „Sie verstehen meinen Beruf nicht.“ So erzählte es Feinstein kürzlich in einem Webinar. In einer ersten Untersuchung zum Thema schrieb er 180 Journalist*innen großer Medienhäuser an, 80 Prozent antworteten. Das ist für eine sozialwissenschaftliche Studie eine überwältigende Resonanz. Seitdem hat ihn das Thema nicht mehr losgelassen. Post-traumatische Belastungsstörungen seien gut behandelbar, sagt er, wenn man sie denn identifiziere. Aber viele Journalist*innen fühlten sich damit allein gelassen.
Kein Wunder, denn gerade in kleineren Redaktionen gilt noch immer, was ein gestandener Ressortleiter in einem Seminar am Reuters Institute in Oxford einmal etwas verlegen mit einer englischen Redensart beschrieb: „If you can’t stand the heat, get out of the kitchen.“ Anders gesagt: Wenn du Journalist wirst, musst du das abkönnen. In der Session ging es um Burnout. Das Thema war ins Programm genommen worden, weil es leitende und Chef-Redakteur*innen in den vertraulichen Runden immer wieder als eine der größten Herausforderungen für ihre Redaktionen genannt hatten – und zwar nicht in erster Linie mit Blick auf riskante Einsätze im In- und Ausland.
Die Belastungen durch die digitale Transformation seien extrem hoch, argumentierten sie. „Wie können wir 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche digitalen Journalismus und Veränderungsprozesse managen, ohne das Team dem Burnout auszuliefern?“ So hatte es die Geschäftsführende Redakteurin einer renommierten britischen Tageszeitung einmal formuliert. In einer 2019 veröffentlichten Umfrage des Reuters-Institutes gaben 62 Prozent der Medien-Führungskräfte an, dass Burnout in ihren Teams für sie ein wichtiges Thema sei.
Einerseits ist das eine gute Nachricht, denn sie zeigt, dass Chefinnen und Chefs das Problem zunehmend sehen und ernst nehmen. Andererseits ist es das: ein ernstes Problem. Im Journalismus musste man schon immer schnell und gleichzeitig akkurat sein, war dem Wettbewerb ausgesetzt, brachte sich zuweilen in Gefahr, musste schlimme Bilder verarbeiten und konnte sich die Arbeit nicht besonders frei einteilen. Wenn es brannte, brannte es halt. Aber heute ist das, was einst guten Journalismus ausmachte, oft nicht mehr gut genug. Gute Schreiber*innen müssen nun auch Videos oder Tonspuren liefern, sich ständig neuen Workflows anpassen und für verschiedene Plattformen produzieren. Außerdem sind etliche dem Dauerfeuer von Hasskommentaren ausgesetzt. Neuerdings erschwert die Bedrohung durch das Corona-Virus die Arbeit und erhöht das Risiko.
Gleichzeitig überfordert das Veränderungsmanagement Führungskräfte, die nie fürs Führen ausgebildet wurden. Lucy Küng, Journalismusforscherin und Beraterin, erlebt bei ihren Recherchen vor allem im mittleren Management eine große Verunsicherung. Führungskräfte, die im Tagesgeschäft agieren, müssen den Wandel vorantreiben, ihre Teams motivieren und gleichzeitig vor Überlastung schützen. Gerade die Leistungsträger, die alles besonders gut machen wollten, seien vom Burnout bedroht, sagt Küng. Viele Talente verließen deshalb die Branche.
Es ist deshalb wichtig, auch in der Medienbranche Führungskräfte entsprechend auszubilden. Sie müssen lernen, die Zeichen von Überlastung zu lesen – bei ihren Mitarbeiter*innen und sich selbst. Professionelle Hilfe muss systematischer angeboten werden. Dazu verdient das Thema mehr Öffentlichkeit. Im Zuge der Me-Too-Debatte hatten sich viele Journalistinnen gewagt, erstmals über sexuelle Belästigung und Gewalt zu sprechen, die sie im Job erlebt hatten. Das war ein wichtiger Schritt. Auch für Kolleg*innen, denen andere Aspekte ihrer Arbeit Albträume machen, muss es akzeptabel werden, dies zu offenbaren. Journalist*innen ziehen viel Energie aus ihrer Mission, sie halten sich für etwas Besonderes. Aber im Angesicht des Hasses sind sie auch nur Menschen.
#Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 5. Juni 2020.
Nicht nur die Lufthansa ist systemrelevant – Wie die Pressefreiheit unter Druck gerät
Nicht alle verwenden die Methode Holzhammer so wie die albanische Regierung. Als es ernst wurde mit Covid-19, verschickte sie an sämtliche Nutzer von Mobiltelefonen landesweit eine Sprachnachricht, die drei Botschaften enthielt: „Waschen Sie sich die Hände! Bleiben Sie zuhause! Misstrauen sie den Medien!“ Bong. So viel Dreistigkeit muss man erst einmal verdauen. Aber ähnlich plump oder subtiler nutzen diverse Regierungen rund um die Welt die Corona-Krise dazu, den Medien das Leben im Allgemeinen und die Recherche im Besonderen zu erschweren. Covid-19 wirke wie ein Brandbeschleuniger auf die verschiedenen Krisen, die dem Journalismus ohnehin schon zu schaffen machten, resümierte die Organisation Reporter ohne Grenzen in ihrem jüngst veröffentlichten World Press Freedom Index.
Man kann solche Sprachbilder leicht überstrapazieren, aber unter all den Pandemie-bedingten Einschränkungen und Verlusten kommt so manch eine Redaktion in Atemnot, wirtschaftlich und operativ. Das Virus testet das Immunsystem des unabhängigen Journalismus und all der Institutionen, die ihn unterstützen.
Es gibt in diesen Tagen vielfältige Methoden, die Arbeit von Reporterinnen und Reportern konkret zu behindern. Reporter ohne Grenzen dokumentiert entsprechende Notstandsgesetze, Verhaftungen und andere drastische Freiheitsbeschränkungen für Medien in ihrem „Tracker 19“, Mitte Mai umfasste der Newsfeed schon mehr als 80 Einträge.
Aber es gibt auch weniger absichtsvolle Zwänge. So werden zu manch einer Pressekonferenz wegen der Hygiene-Vorschriften nur handverlesene Reporter zugelassen, andere finden ausschließlich online statt. Für informelle Gespräche am Rande und Nachfragen bleibt keine Zeit, und bei unangenehmen Themen bricht womöglich die Verbindung ab – zu sehen in einem vielfach geteilten Video, in dem eine Reporterin einen WHO-Offiziellen zu Taiwan befragt, er möchte partout nicht antworten. Manche Regierungen verstecken sich hinter Experten, die sie zu Allwissenden stilisieren. Eine Diskussion verschiedener Argumente ist dann unerwünscht, die Medien werden allein als Lautsprecher gebraucht.
Außerdem bindet die Corona-Krise Aufmerksamkeit, die der Journalisten und die des Publikums. Manch anderer Skandal wird mangels Kapazitäten nicht nachrecherchiert, und wird dann doch etwas publiziert, versinkt es im Covid-19-Getöse. Wer unlautere Absichten hat, kann sich derzeit relativ unbeobachtet fühlen.
Am gefährlichsten ist allerdings die Methode Albanien: wenn Regierungen den Journalismus als Ganzes herabwürdigen und Journalisten lächerlich machen. Denn starker Journalismus baut darauf, dass Bürger die Medien als ihre Verbündeten betrachten. Dazu gehört Vertrauen. Und wenn dies bröckelt, wird dem Journalismus die Daseinsgrundlage entzogen.
Das wussten Potentaten schon immer, aber auch populistisch agierende Demokraten finden immer wieder Gefallen daran, sich der lästigen Nachfragen von Pressevertretern zu entziehen. Schließlich ist es deutlich anstrengender, sich mit einzelnen Fakten zu beschäftigen, als die Glaubwürdigkeit ihrer Verbreiter als solches in Frage zu stellen. Donald Trump hat den Begriff „Fake News Press“ nicht erfunden, ihn aber wie kein anderer zu einer Propaganda-Waffe gemacht. Und was sich der amerikanische Präsident herausnimmt, schauen sich andere ab. Mehr als 50 Regierungschefs auf fünf Kontinenten hätten den Begriff in den vergangenen Jahren entsprechend verwendet, schrieb der Herausgeber der New York Times, A.G. Sulzberger, im September 2019 in einem Editorial nach einer Rede an der Brown University zur bedrohten Pressefreiheit – das war noch vor Corona.
In diesen Tagen kann es lebensgefährlich sein, auf seinen Präsidenten zu hören statt auf Journalisten, die das beste gerade verfügbare Expertenwissen zusammentragen. Zum Glück spüren dies viele. Bürgerinnen und Bürger haben den Wert des unabhängigen Journalismus wieder neu schätzen gelernt. Zumindest in den ersten Krisenwochen ist das Vertrauen in traditionelle Medien gewachsen wie seit langem nicht, sogar junge Menschen schauen wieder vermehrt nach Nachrichten-Marken, denen schon ihre Eltern trauten.
Aber die Freude in den Redaktionen könnte kurzlebig sein. Vor lauter Ungeduld mögen manche Menschen lieber „Experten“ glauben, deren Aussagen ihre eigenen Hoffnungen spiegeln. Und es gibt Anzeichen für einen massiven Überdruss an Nachrichten, zumal allem, was mit Covid-19 zusammenhängt. Eine neue Studie des Reuters Institutes belegt das für Großbritannien.
Es geht deshalb um viel. Redaktionen müssen am Vertrauen zu ihrem Publikum arbeiten: erklären, beobachten, abbilden, versuchen, Fragen zu beantworten, transparent mit Fehlern umgehen. Leserinnen, Zuschauer und Zuhörerinnen schätzen das mehr als das übliche Rattenrennen um den besten Scoop, das interessanteste Zitat. Journalismus nahe an den Menschen zu produzieren – selten war das wichtiger und selten schwerer als dieser Tage, wenn man Nähe physisch versteht.
Regierungen müssen zur Institution der freien Presse stehen, und zwar in Worten und Tat. Nicht nur die Lufthansa, auch Medienvielfalt ist systemrelevant für die Demokratie. Plattform-Konzerne wie Google und Facebook können Qualitätsjournalismus fördern, nicht nur mit den in der Branche willkommenen Millionen, sondern auch, indem sie ihn auf ihren Seiten und in ihren Feeds sichtbar machen. Und Bürgerinnen und Bürger können zeigen, was ihnen unabhängiger Journalismus wert ist, indem sie zum Beispiel ein Abo abschließen. Sie sichern damit mehr als Arbeitsplätze. Es geht um die Qualität der Gesellschaft, in der sie leben. Und manchmal auch ums Überleben.
Diese Kolumne erschien zuerst am 27. Mai 2020 bei Zentrum Liberale Moderne
Die gläsernen Reporter kommen – Auf der Suche nach den richtigen Daten
Früher hatte ein Chefredakteur definitiv die Lacher auf seiner Seite, wenn er öffentlich über „Käi Pi Eis“ witzelte. So ein Zeug wie Key Performance Indicators (KPIs), also Kennzahlen, die Leistung mess- und vergleichbar machen sollen, war definitiv etwas für die von der anderen Seite. Gemeint waren damit die Typen aus dem Verlag oder aus anderen Branchen und Unternehmen, wo man Management lernen musste und nicht einfach nur so managte. Mochten sich Journalisten an manchen Tagen wie Handwerker fühlen, nur dass sie elektronische Flächen mit Zeilen füllten statt Ziegel zu schichten, in dem Punkt waren sie ganz Künstler: Der Wert ihrer Werke lasse sich keinesfalls in Excel-Tabellen abbilden, fanden sie.
Ein paar Lacher würden Redaktionsleiter mit dem KPI-Gag heute vermutlich immer noch kassieren, aber den meisten ist das Witzeln vergangen. Stattdessen überlegen sie, wie sie ihre Journalisten behutsam dafür erwärmen können, die Wirksamkeit ihrer Arbeit mit Daten abzubilden. Denn nur so lassen sich knappe Ressourcen besser steuern. Welche Texte, Podcasts und Videos fesseln Kund*innen für wie lange, wie sieht der typische Leser*innen-Weg in den Wochen vor dem Abschluss eines Abos aus, mit welchen Inhalten hält man Abonnent*innen besonders bei Laune? Besser wär’s, man wüsste es.
Fakt ist, moderne Redaktionen erfreuen sich durchaus daran, Daten aller Arten zu erheben, zu analysieren und zu nutzen – nur dann nicht, wenn es um individuelle Leistungen und gar Ziele geht. Ist es in anderen Branchen selbstverständlich, Mitarbeiter*innen nach Output, Geschwindigkeit oder Verkäufen zu bewerten, haben Journalist*innen – zumindest in Deutschland – eher Schwierigkeiten damit. Journalismus könne man nicht auf diese Weise kategorisieren, argumentieren sie dann, und wissen damit Betriebsrat und Gewerkschaften auf ihrer Seite. Denn den meisten Arbeitnehmervertretern ist jegliche Art individueller Leistungskontrolle suspekt.
Einerseits haben sie zuweilen recht. Denn auch rund um redaktionelle Angebote gibt es eine Menge Daten, die wenig oder das Falsche aussagen, verwirren oder in die Irre leiten. Der Weg zu sinnvollen Kennzahlen ist oft lang und von Versuch und Irrtum geprägt. Andererseits spüren manche, dass sie mit ihrer Opposition falsch liegen, pflegen sie aber trotzdem – aus Eigeninteresse.
Dahinter steckt Angst, und auch die ist berechtigt. Früher konnte man noch die Reichweite des Mediums stolz vor sich hertragen, selbst wenn man ahnte, dass nicht jeder eigene Text ein Kracher war. „Die FAZ lesen vielleicht ein paar Hunderttausend, aber uns liest ganz Deutschland!“, belehrte der ältere dpa-Kollege die junge Kollegin, was damals aufmunternd gemeint war. Das ist ein Vierteljahrhundert her, das Selbstverständnis hat aber überlebt. Heute allerdings zeigen redaktionelle Analytics sehr individuell, ob tatsächlich ganz Deutschland liest, oder ob der scharf durchdachte Essay die Leser*innen komplett kalt lässt oder sie nach durchschnittlich zehn Zeilen rauswirft. Und offene Dashboards machen das im Zweifel auch für die Kolleg*innen transparent. Die Sorge ist groß, dass solche Angaben als Leistungsanalyse missbraucht und bei der nächsten Sparrunde gegen einzelne Reporter*innen und Redakteur*innen genutzt werden.
Wie gehen Führungskräfte mit diesem Dilemma um? Denn natürlich ist es wichtig, solche Daten zu erheben, um Mitarbeiter*innen sanft in die strategisch gewünschte Richtung oder entlang ihrer eigenen Stärken zu steuern. Schließlich kommt es darauf an, mit schrumpfenden Kapazitäten mehr zu erreichen. Und das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Ein Stück, dass kaum jemand sieht, hört, liest, kann nichts bewegen, so gut es auch gemeint sein mag. Journalismus rechtfertigt sich über seine Wirkung, weniger denn je ist er reine Chronistenpflicht.
Gefragt sind also Metriken zum Mögen. Und da kommt es auf ein paar Dinge an. Zunächst einmal sollten es die richtigen sein. Zahlen, die nur die Eitelkeit befriedigen, weil sie in ein Chart gepackt hohes Wachstum suggerieren und sich deshalb bei der Präsentation im Führungskreis gut machen, werden zurecht keine Akzeptanz finden. Klicks und Seitenaufrufe zum Beispiel mögen zwar beeindruckend sein, sagen aber nichts darüber aus, ob Inhalte wirklich Kunden binden und am Ende Einnahmen generieren. Sie fördern höchstens die Art Journalismus, für die sich selbst außerhalb der Branche das Wort Clickbait durchgesetzt hat.
Außerdem müssen die Zahlen die Strategie abbilden. Wer auf digitale Abos abzielt, braucht andere Kennwerte als derjenige, dem Reichweite wichtig ist, wer viele Abo-Abschlüsse aber eine hohe Kündigerquote hat, muss wieder anderes messen. Gewöhnlich dauert es eine Weile, bis Redaktionen ihre „North Star“ Metrik gefunden haben, also ein meist aus mehreren Zahlen kombinierter Wert, der aussagt, ob man sich in die richtige Richtung bewegt. Erst wenn das gelungen ist, lohnt es sich, auch die Mitarbeiter*innen darauf einzuschwören.
Darüber hinaus müssen die Zahlen verständlich und einfach zu kommunizieren sein. Philipp Ostrop, Mitglied der Chefredaktion bei Lensing Media, berichtet von den Erfahrungen bei den Ruhr Nachrichten: „Wir haben am Anfang unserer Digital-Abo-Reise den Fehler gemacht, die Newsrooms auf den schönen neuen Dashboards mit zu vielen und zu wenig relevanten Daten und Metriken zu nerven. Das war zu kompliziert und vor allem nicht handlungsorientiert.“ Die Leitfrage müsse lauten: Wer benötige welche Zahlen, um davon abzuleiten, was nun zu tun sei.
Ideal ist ein einziger Wert, der aussagt, ob ein Text zum gewünschten Ziel beiträgt oder nicht. Das kann die Anzahl der Abonnenten sein, die ein Stück lesen, was ein Hinweis auf Loyalität und Kundenbindung ist. Bei Lensing sind es die Daily Active Subscribers. Andere Redaktionen kombinieren mehrere Metriken zu einem Wert. Wieder andere kommunizieren allein die Zahl der Digital-Abo-Abschlüsse. Allerdings setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass selten nur eine einzige Geschichte zum Griff nach der Kreditkarte motiviert. Einige Redaktionen, zum Beispiel schauen sich deshalb das Leseverhalten in den Wochen vor dem Abo-Abschluss an. Alle Texte, die in dieser Zeitspanne auftauchen, werden als wirksam eingestuft.
Hierzulande zögern die meisten Redaktionen noch, solche Messwerte zu nutzen, um damit Kolleg*innen zu bewerten oder ihnen Ziele zu setzen. Man hofft, dass sie aus eigenem Antrieb gut abschneiden wollen. In amerikanischen Newsrooms wird Leistung mit höherer Selbstverständlichkeit bewertet. Die Seattle Times hat dabei eine interessante Strategie entwickelt: Die Kolleg*innen treten im Wettbewerb gegen sich selbst an. Sie müssen ihren Vorjahreswert an wirksamen Texten – gemessen an der Nähe zu Abo-Abschlüssen – jeweils um 15 Prozent übertreffen. Auf diese Weise stehe Qualität im Zentrum, sagt der geschäftsführende Redakteur Danny Gawlowski. „Wenn ich die Opern-Kritikerin mit dem Kollegen vergleiche, der über Fußball schreibt, ist das Unsinn.“ Allerdings habe es ein paar Jahre und etliche Diskussionen inklusive Verwirrung gekostet, bis man sich auf die gegenwärtige Metrik verständigt habe – und natürlich suche man nach immer noch besseren Messmethoden.
Ganz wichtig dabei sind Transparenz und eine offene Diskussionskultur. So erlebt es zumindest der geschäftsführende Redakteur der schwedischen Zeitung Dagens Nyheter, Caspar Opitz. Die meisten Kolleginnen und Kollegen fänden es gut, dass sie wüssten, wie ihre Geschichten abschnitten, sie wollten ja gelesen werden. Man nutze die Erkenntnisse aber vor allem, um daraus zu lernen, nicht für Sanktionen. „Mitarbeiter sollen sich sicher fühlen“, ist der Leitsatz von Dagens Nyheters Chefredakteur Peter Wolodarski. Er findet es wichtig, Arbeitnehmervertreter frühzeitig in alle Prozesse einzubinden. Der Journalistenberuf sei schon fordernd genug.
Mitarbeitern Sicherheit bieten, das ist Kern guter Führung. Das bedeutet aber nicht, das Team im wohlig-warmen Gefühl zu baden, dass alles so bleiben kann, wie es ist – denn das wird es nicht. In Zeiten rasanten Wandels heißt Sicherheit bieten vor allem, Mitarbeiter*innen auf dem Weg in die Ungewissheit zu begleiten. Zahlen und Ziele helfen dabei, Erwartungen klar zu formulieren, zu kommunizieren und wenn nötig gemeinsam anzupassen. Das ist zumindest ein Gerüst, an dem man sich entlanghangeln kann. Auch wenn es manchmal ins Schwanken gerät.
Dieser Text erschien zuerst am 29. Mai 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School.
Journalismus muss schlechte Laune machen – aber bitte nicht immer!
Manchmal hilft offenbar nur noch abschalten. Menschen, die Nachrichten und anderen journalistischen Produkten bewusst aus dem Weg gehen, nennen dafür in Umfragen durchweg vor allem einen Grund: Journalismus mache ihnen schlechte Laune. Und in der Corona-Krise, wen wundert’s, wandert die Stimmung offenbar besonders häufig in den Keller. Nach einem anfänglichen Run auf Nachrichtenangebote aller Art steige der Anteil derer massiv, die Nachrichten vermeiden, meldete das Reuters Institute der Universität Oxford in einem jüngst veröffentlichten Factsheet aus einem Forschungsprojekt zum Nachrichtenkonsum der Briten in der Covid-19 Lage. Fast 60 Prozent der Befragten gaben in der Erhebung aus der zweiten Maiwoche an, den Nachrichtenfluss zumindest manchmal zu ignorieren. Jeder Fünfte mag gar nicht mehr hinschauen – und dies in fast neun von zehn Fällen wegen der Corona-Berichterstattung.
Zwei Drittel begründeten die Enthaltsamkeit mit dem Effekt auf die Psyche, andere störten das Überangebot, Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit der Medien und ein Gefühl der Ohnmacht, das sich beim Lesen, Schauen oder Hören häufig einstelle. Man könne ja doch nichts ändern.
In anderen Ländern dürften diese Zahlen nicht viel anders ausfallen. Und von der Tendenz her ähneln sie Erhebungen aus weniger angespannten Zeiten. Der Digital News Report, die ebenfalls vom Reuters Institute publizierte größte weltweite Erhebung zum online Medienkonsum, taxiert den Anteil der Journalismus-Vermeider Jahr um Jahr im Schnitt auf ungefähr ein Drittel – Tendenz steigend, hieß es 2019.
Das sollte Redaktionen aus mehreren Gründen zu denken geben. Erstens schöpfen schlecht informierte Bürger ihr Potenzial nicht aus, in der Demokratie Entscheidungen zu beeinflussen. Zweitens, und das gilt insbesondere für Krisenzeiten, bringen sie aus Unwissen womöglich sich selbst und andere in Gefahr. Drittens sind sie anfälliger für Falschinformationen oder gar Verschwörungstheorien, die sie zum Beispiel aus dem Bekanntenkreis erreichen. Viertens, und das ist in Zeiten gefährdeter Geschäftsmodelle für die Medien wichtig, schöpfen auch die Redaktionen ihr Potenzial nicht aus. Wenn sie die Nachrichten-Vermeider verloren geben, ist das eine Entscheidung gegen ein potenzielles Publikum – mit allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen.
Redaktionen beschäftigen sich allerdings eher selten mit denjenigen, die einen Bogen um ihre Produkte machen, man könnte sagen: zu selten. Das liegt in der Natur modernen Audience-Managements. Denn eine noch so ausgeklügelte Datenanalyse wertet nur die Präferenzen und Gewohnheiten derjenigen Leserinnen und Leser aus, die man schon hat. Auch das beste Analytics-Tool kann diejenigen nicht erfassen, die gar nicht erst vorbeischauen. An die kommt man nur heran, wenn man mit neuen Angeboten zum Beispiel auf anderen Plattformen oder eben mit einer anderen inhaltlichen Grundstimmung experimentiert.
Journalistinnen und Journalisten reagieren oft ungehalten, wenn man sie mit dem Schlechte-Laune-Argument konfrontiert. Sie sagen dann, es sei schließlich ihr Job, Missstände aufzudecken, Entscheidern auf die Finger zu schauen oder über Risiken aufzuklären. Man könne die Welt nicht rosarot malen, wenn sie in Wahrheit eher gegen dunkelgrau tendiere.
Einerseits haben sie recht. Journalismus muss schlechte Laune machen, aus all den genannten Gründen. Jeder, der sich schon mal mit Veränderungs-Management beschäftigt hat, weiß, dass ohne einen gewissen Leidensdruck gar nichts funktioniert, weder in der Politik noch sonst irgendwo. Zum Beispiel hat die aktuelle Berichterstattung über Risiken wesentlich dazu beigetragen, dass sich die Menschen in der akuten Bedrohung auch freiwillig vernünftig verhalten haben.
Andererseits liegt dieser fast reflexhaften Abwehr von Kritik am Miesepeter-Journalismus ein großes Missverständnis zugrunde. Den Bürgerinnen und Bürgern geht es gar nicht um ein Feuerwerk an Wohlfühl-Inhalten. Sie vermissen nur zuweilen etwas Perspektive. In der Krise möchten sie wissen, was funktioniert, wie Menschen Probleme kreativ angehen, welche Politik Effekte zeigt. Wenn Nachrichten wie ein kalter Wasserstrahl auf sie niedergehen, sehnen sie sich nicht unbedingt nach einem plötzlichen Switch zu Badewassertemperatur. Sie wollen den Hahn erkennen, mit dem man das Ganze abdrehen oder zumindest regulieren kann. Denn nur das gibt ihnen das Gefühl, dass sich etwas bewegen und gestalten lässt. Der Variante des Journalismus, die sich konstruktiv nennt, kommt es deshalb weniger auf „positiven“ als auf lösungsorientierten Journalismus an.
Hier gibt es übrigens einen Zusammenhang mit Erkenntnissen über die gesellschaftlichen Gruppen, die eher zu den Nachrichten-Vermeidern gehören. Es sind eher Frauen als Männer und eher Menschen im mittleren Alter, also der Rush-Hour des Lebens, in der das Zeitbudget für alles außerhalb der Organisation von Job und Familie knapp bemessen ist. In der Corona-Krise scheint dieser Effekt besonders ausgeprägt zu sein. Die Mehrfach-Belastung insbesondere von Frauen schlägt sich auch in den Daten des Reuters Instituts nieder.
Es geht aber nicht allein um Zeitmangel. Frauen begeistern sich nach allem, was man weiß, generell weniger für einen Journalismus, in dem es nur um Sieger und Verlierer, Helden und Verbrecher und Machtkämpfe im Allgemeinen geht. Sie interessieren sich eher für das alltägliche Auf und Ab des Lebens, und wenn es Vorbilder für ein Auf gibt, dann umso besser. Vor allem aber haben Leserinnen und Leser ein gutes Gespür dafür, wann alles schon mal irgendwo gesagt wurde, nur noch nicht von jedem. Konkurrenz der Medienhäuser oder einzelner Journalisten untereinander, Besserwissertum, Rechthaberei oder Prahlerei („Das haben wir exklusiv“) lassen sie meistens ziemlich kalt.
Das Publikum mag Journalismus mit Nutzwert, selbst wenn der Nutzen nur in Unterhaltung oder Überraschung liegt. Und manchmal tut es den Nachrichten-KonsumentInnen sogar gut, wenn sie sich so richtig über etwas ärgern können. Schlechte-Laune-Journalismus hat seinen Platz. Aber der muss ja nicht immer in der ersten Reihe sein.
Diese Kolumne erschien zuerst im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 22. Mai 2020
Braucht der digitale Journalismus Stars?
Der bislang größte Scoop in der Corona-Krise ist womöglich dem NDR gelungen. Mit dem Charité-Virologen Christian Drosten hatte der Sender recht früh in der Pandemie einen Experten aufgetan, der so kundig, verständlich und sympathisch über Aerosole, Inkubationszeiten und Antikörper-Tests erzählen konnte, dass ihm schon nach kurzer Zeit halb Deutschland lauschte. Am 26. Februar gab es den ersten Podcast Coronavirus-Update, seitdem hält das Format im NDR reichlich Kolleginnen und Kollegen auf Trab. N-Joy Programmdirektor Norbert Grundei, der Drosten „entdeckt“ hatte, erzählt davon in einem – was auch sonst? – Podcast für das Digital Journalism Fellowship. Drosten jedenfalls wurde zum Star mit allen Risiken und Nebenwirkungen, Liebeserklärungen und Hassmails inklusive. Was nicht nur zu der Frage führt: Braucht der Journalismus Stars? Sondern zu einer weiteren: Braucht der digitale Journalismus sie noch nötiger?
Natürlich haben Promis Redaktionen schon immer gutgetan, und das gilt für beide Seiten: die der Protagonisten und die der Journalisten. Nicht ohne Grund gibt es einen von PR-Abteilungen mühsam und zunehmend restriktiv orchestrierten Wettbewerb um Interviews mit besonders bekannten Gesichtern. Klar: ein Gespräch mit Menschen, die zur Marke geworden sind, hebt das Profil der eigenen Medienmarke, selbst wenn der Inhalt zuweilen Wünsche offen lässt. Ähnliches gilt für jene Groß-KommentatorInnen, -ModeratorInnen oder -ReporterInnen, die nicht nur das Ansehen eines Hauses heben, sondern auch manch einen Nutzer dazu bewegen, ein Abo abzuschließen oder einen Sender einzuschalten. Stars bringen Geld. Dies hat sich im digitalen Journalismus nicht geändert.
Was anders geworden ist, sind die Anforderungen an Redaktionen. Früher fanden ganze Generationen von Journalistinnen und Journalisten in den Beruf, weil sie entweder davon träumten, eine Art Hanns Joachim Friedrichs oder Antonia Rados zu werden, oder weil sie hofften, womöglich irgendwann auch mal eine Tina Turner, Angela Merkel oder einen Oliver Kahn interviewen zu dürfen. Auch früher ist das vielen nicht gelungen. Aber immerhin konnten sie vielleicht mit dem örtlichen Bürgermeister, der Landesmeisterin im Biathlon oder dem Regisseur des Stadttheaters interessante Gespräche führen.
Im digitalen Journalismus hingegen gibt es unendlich viele wichtige Rollen und Aufgaben, die wenig Potenzial dazu haben, einen in Star-Nähe zu bringen oder gar selbst zum Star zu machen. Gesucht werden deutlich mehr Funnel-ManagerInnen, Suchmaschinen-OptimiererInnen, Community-ManagerInnen oder ProduktentwicklerInnen. Wer kluge Instagram-Formate entwickeln kann oder sich ein wenig mit Software auskennt und die Automatisierung von Redaktionsaufgaben vorantreiben kann, wird ganz sicher sehnsüchtiger erwartet als noch jemand, der den Nahost-Konflikt zu kommentieren weiß. Die Journalistinnen und Journalisten von morgen müssen sich als erstes als Dienstleister verstehen (was manch einem Journalisten von gestern auch nicht geschadet hätte). Das aber erfordert ein vollkommen anderes BewerberInnen-Profil. Die Ausbildung von JournalistInnen hat sich noch nicht überall darauf eingestellt.
Und was ist mit den Stars? Im digitalen Journalismus können sie Gewinnbringer sein mit ihrer Expertise, ihrem Stil, ihrer Strahlkraft und Persönlichkeit. Um ExpertInnen mit vielen Followern lassen sich wunderbar Produkte bauen: Newsletter, Podcasts, Service-Angebote, Bühnen-Auftritte, in der Zeit vor Corona sogar Leserreisen. Stars binden Nutzer. Solange man ihnen Zeit dafür lässt, ihre Expertise zu entwickeln, kann das gut funktionieren.
Dafür müssen sie allerdings noch nicht einmal Journalisten sein. Dass der Youtuber Rezo in diesem Jahr einen Nannen-Preis gewonnen hat, steht als Sinnbild für diese Entwicklung. Nicht allen in der Branche hat das gefallen, ein Kollege kommentierte die Empörung der Platzhirsche auf Meedia mit den Worten, dies zeige „ein Grundproblem des alten Journalismus“. Im diesem alten Journalismus blieb man gerne unter sich. Aus Konkurrenz, Neid und Missgunst wurde so manch ein Star geboren, manch anderer aus dem Rennen geworfen. Juan Moreno beschreibt diese Welt in seinem Buch „Tausend Zeilen Lüge“ zum Fall Relotius.
Auch im neuen Journalismus ist Platz für Stars. Aber Branchenkrise und Vertrauensdebatte haben die Demut zurückgebracht, die Corona-Krise mit ihrer Unsicherheit den Respekt vor der Aufgabe. Es ist die Zeit der kleinen Erkenntnisse, nicht die der großen Worte. Und vor allem geht es um den Dienst am Publikum. Der Star darf dann ruhig auch mal ein Virologe sein.
Dieser Text erschien zuerst als Beitrag zum Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School am 15. Mai 2020, er erschien auch bei journalist.de.
Quote, sportlich genommen – Was Redaktionen vom 50:50 Projekt der BBC lernen können
Dürfte man sich noch so unbeschwert ins Gesicht fassen wie früher, hätte man sich womöglich die Augen gerieben. Julia Jäkel, Vorstandsvorsitzende von Gruner + Jahr, eröffnete kürzlich einen Gastbeitrag in Die Zeit mit den Worten, dass seit Tagen etwas in ihr arbeite: „Ich möchte etwas dazu schreiben, aber ich traue mich nicht.“ Bitte? Die Chefin eines der größten Verlagshäuser Europas traut sich nicht, etwas zu schreiben?
Nun, viele Journalistinnen dürften sich nicht so arg gewundert haben. Über dem Stück stand schließlich: „Zurück in der Männerwelt“. Und Reporterinnen und Redakteurinnen hierzulande wissen, dass man über so ein Thema nur so offen schreibt, wenn man Hass-Kommentare im Netz und Kollegen (und Kolleginnen) mit genervten Blicken gut aushalten kann. Wollen sie im eigenen Laden, der üblicherweise von Männern geführt wird, noch etwas werden, verkneifen es sich die meisten übrigens auch. Jäkel allerdings ist schon etwas, und deshalb kann sie sich solch ein öffentliches Nachdenken eher leisten als andere. Aber selbst ihr fällt es offenbar schwer.
Jäkel wundert sich in dem Stück lautstark und mit einem Anflug von Resignation, wo denn in der Coronakrise all die Führungsfrauen geblieben seien, auch im eigenen Haus. In Video-Konferenzen begegne sie ihnen jedenfalls nicht. „Homeoffice bedeutet für Tausende Frauen gerade vor allem home und wenig office. Und das ist besonders bitter, weil jetzt Karrieren gemacht werden“, schreibt sie. Und endet mit: „Frauen sind so viel weniger weit, als wir es dachten.“
Kurz zur Erinnerung: Deutschland, das ist das Land, in dem jüngst die erste weibliche Vorstandsvorsitzende eine Dax-Konzerns nach einem halben Jahr abtreten musste, weil man ihr den Job ohnehin nur in einer Doppelspitze zugetraut hatte und in der Krise nun entschlossenes Handeln nötig sei – so die offizielle Begründung des Software-Konzerns SAP bei der Trennung von Jennifer Morgan. Es ist auch das Land, in dem 2019 nur acht von 110 Regionalzeitungen Chefredakteurinnen hatten und die Redaktion keines großen Titels alleine von einer Frau geführt wird, wie zum Beispiel die der Financial Times, des Guardian, des Economist oder der Sunday Times, nur um mal über den Kanal zu schauen.
In einer Studie zu Vielfalt in Redaktionen, die Deutschland, Großbritannien und Schweden verglichen hat, kamen das Reuters Instituts aus Oxford und das Publizistische Seminar der Universität Mainz zu dem Ergebnis: Im Vereinigten Königreich zeigt sich ein Mangel an Vielfalt vor allem beim Thema soziale Herkunft, in Schweden bei der ethnischen Diversität und dem Stadt-Land-Gefüge, in Deutschland geht es – immer noch, muss man sagen – um die Geschlechterfrage. Wobei man nach Führungspersonal aus Einwanderer-Familien noch vergeblicher sucht, wie eine jüngst veröffentlichte Studie der Neuen Deutschen Medienmacher ergeben hat.
Im Journalismus ist das besonders verstörend, denn gemessen an den Zahlen und der Qualifikation der Absolventinnen ist der Beruf ausgesprochen weiblich. In den Redaktionen schaffen es im Verhältnis dazu wenige Frauen nach oben, und selbst wenn schlägt sich das noch nicht zwangsläufig in den Inhalten nieder. Während Medienmarken wie die Financial Times oder die schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter seit längerem Gender Bots einsetzen und damit kontrollieren, wie sich das Verhältnis von männlichen und weiblichen Protagonisten in Bild und Wort darstellt, ist das Thema Geschlechter-Repräsentation in Deutschland offenbar immer noch so heikel, dass man Vorstandschefin oder karrieremüde sein muss, um darüber zu schreiben. Das geschieht in einer Branche, die sich von Berufswegen dazu verpflichtet, die Gesellschaft zu repräsentieren, wie sie ist.
Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist die Lage etwas besser. Und richtig lernen können alle, wirklich alle von der BBC und ihrem 50:50 Projekt. Der Erfolg von 50:50 ist ein Knaller, es handelt sich um „das größte kollektive Vorhaben für gleiche Repräsentation im BBC Programm“, wie es auf der Projektseite heißt. Vor drei Jahren hatte der charismatische Moderator Ros Atkins in seiner Redaktion die Idee entwickelt, in einer Art internem Wettbewerb zu zeigen, dass eine 50:50 Präsenz von Frauen und Männern im Programm leicht zu schaffen ist.
Es gab keine Vorgabe von oben, nur Mund-zu-Mund-Propaganda und ansteckende Begeisterung. Immer mehr Redaktionen wollten zeigen, dass auch sie es hinkriegen. Irgendwann fing Intendant Tony Hall Feuer und feierte die Idee. Schon bei der ersten großen Bestandsaufnahme im Mai 2019 hatte der größte Teil der Beteiligten die Vorgabe erreicht, selbst in „schwierigen“ Ressorts wie Sport oder im arabischen Raum. Mittlerweile machen innerhalb der BBC etwa 600 Teams mit – und nicht nur das. Das Vorhaben hat Nachahmer in 20 Ländern gefunden, weltweit haben 60 Organisationen das Konzept übernommen. Man könnte jetzt erwähnen, dass man auf der Landkarte vergeblich nach deutschen Unternehmen schaut.
Ah, halt, die sind ja derzeit mit der Digitalisierung beschäftigt – und dazu mit dem von Jäkel beobachteten ziemlich männlichen Krisenmanagement. Aber das Ringen um Diversität auf später zu vertagen ist auch mit Blick darauf ein schwerer Fehler. Digitalisierung bedeutet im Journalismus „Audience first“, also von den Bedürfnissen und Nutzergewohnheiten des Publikums her nicht nur denken, sondern auch handeln. Auf diese Weise begeistert man loyale Kunden, sichert sich also die Zukunft. Und das potenzielle Publikum ist jung, alt, audio-, video- oder print-affin, einheimisch und zugewandert und, ja, männlich, weiblich – vielfältig eben. Nur gut gemischte Teams werden es schaffen, in dieser Vielfalt zu denken und entsprechende Produkte zu entwickeln. Die BBC nimmt übrigens für ihre 50:50 Challenge weiterhin Bewerbungen entgegen.
Dieser Beitrag entstand für den Newsletter zum Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School, dort veröffentlicht am 8. Mai 2020.
Der Journalismus und seine Gegner: Mehr Optimismus wagen
Bei der Lektüre des jährlichen World Press Freedom Index der Organisation Reporter Ohne Grenzen (RSF) musste man sich schon immer auf die Portion Optimismus besinnen, die man braucht, um für eine bessere Medienzukunft zu streiten. In diesem Jahr fällt das noch schwerer als sonst. Für die Forscher von RSF entscheidet sich in diesem Jahrzehnt das Schicksal des Journalismus, und als würde das Corona-Virus nicht nur innere Organe sondern auch die der öffentlichen Meinungsbildung befallen, titeln sie: „Entering a decisive decade for Journalism, exacerbated by coronavirus“. Man kann sagen, dass die Pandemie auf einen vorgeschädigten Patienten trifft.
Große Überraschungen birgt das im April 2020 veröffentlichte Dokument der Verfolgung, Unterdrückung und Missachtung journalistischer Arbeit überall auf der Welt nicht. Norwegen, Finnland, Dänemark und Schweden besetzen die Spitzenplätze in Sachen Pressefreiheit, während sich die üblichen Verdächtigen auf den hinteren Rängen anstellen. Regierungswechsel nach demokratischen Wahlen sind von jeher das einzige erprobte Mittel für einen nennenswerten Aufstieg im Ranking – was in diesem Jahr zum Beispiel Malaysia, den Malediven und dem Sudan gelang.
Das Fazit der Organisation ist allerdings drastisch. Der Analyse zufolge sind eine Vielzahl der gegenwärtigen Entwicklungen dazu geeignet, den Journalismus oder wenigstens Teile davon lebendig zu begraben. So identifizieren die RSF-Experten gleich vier Krisen: eine geopolitische, eine technologische, einer demokratische, eine ökonomische und eine Vertrauenskrise.
In der Tat benutzen viele Regierungen von Ungarn bis Irak das Virus dazu, die Pressefreiheit einzuschränken und die Bedingungen zu verschärfen, unter denen Journalisten arbeiten. Und der Einbruch der Weltwirtschaft und damit des Anzeigengeschäfts führt dazu, dass sich in diesem Fall nicht einmal die Klassenbesten sicher fühlen können.
Woher also in diesem Jahr den Optimismus nehmen? Tatsächlich gibt es ein paar Lichtblicke, aus denen Perspektiven werden könnten. Zunächst einmal: Das Vertrauen in vertraute Medienmarken wächst. Öffentlich-rechtliche Sender und Qualitätsmedien verzeichnen Zugriffe wie lange nicht – wenngleich sich abzeichnet, dass das Interesse mit der Dauer des Ausnahmezustands nachlässt. Viele Leser und Leserinnen schließen Digital-Abos ab, selbst wenn die Corona-Berichterstattung frei zugänglich gemacht wurde. Die Zahlungsbereitschaft für Journalismus steigt (auf niedrigem Niveau) auch in Ländern, wo man das nicht für möglich gehalten hätte. Viele Bürger begreifen, dass ihnen Journalismus etwas wert sein muss.
Auch diejenigen mit tieferen und ganz tiefen Taschen haben das erkannt. Namhafte Stiftungen sowie die von den Verlegern überlicherweise in einer Art Hassliebe geschmähten Tech-Konzerne Google und Facebook bekennen sich mit Not- und Projekthilfe in Millionenhöhe zum Qualitätsjournalismus. Das Reuters Institute an der Universität Oxford hat als Chair der Indpendent News Emergency Relief Coordination die Aufgabe übernommen, Förderer zu beraten, wo ihre Hilfe am meisten ausrichtet. Stiftungen wie Luminate und die McArthur Foundation und Organisationen wie Wan-Ifra sind beteiligt.
Jetzt also gilt es: Nun können Journalisten zeigen, was sie draufhaben. Eine publikumsorientierte Redaktion – Stichwort: Audience first – beschäftigt sich mit den verschiedenen Interessenlagen, die sich in dieser Krise ausgebildet haben. Eltern mit kleinen und schulpflichtigen Kindern zum Beispiel, Geschäftsleute und Kleingewerbetreibende, diejenigen, die sich zu Hause langweilen und Inspiration suchen, diejenigen, die sich einsam fühlen und vielleicht von vergangenen Zeiten träumen möchten, diejenigen, die kranke oder pflegebedürftige Angehörige haben und sich insgesamt für Gesundheitsthemen interessieren oder diejenigen, für die es eine Herausforderung ist, täglich Mahlzeiten auf den Tisch zu bringen. Jetzt gilt es, all diese Gruppen zu identifizieren und bestmöglich zu bedienen – zur Not mit Lesestoff aus dem Archiv, wenn die Redaktionskapazität wegen Kurzarbeit zusammengeschrumpft ist.
Die nächste Lektion: Die virtuelle Redaktion ist möglich. Sie sei sogar eine Überlebensstrategie für diejenigen Medienunternehmen, die sich das traditionelle Pressehaus mit seinen Desktop-gespickten Großraumbüros nicht mehr leisten können, schreibt der Journalist und Gründer Tom Trewinnard für das Nieman Lab. Tatsächlich könnte die nun in Tausenden Home Offices geprobte Dezentralisierung Journalisten ermöglichen, wieder viel näher an ihr Publikum heranzurücken.
Neben dem Wissenschaftsjournalismus hat der Lokaljournalismus gerade in der Krise eine herausragende Bedeutung bekommen. Die Vertrauenslücke zwischen Journalisten und ihren Lesern/Hörern/Zuschauern entstand schließlich oft auch, weil die Lebenswelten der Redakteure in den Metropolen sich stark von denen weiter Teile ihres Publikums unterschieden haben, das Unverständnis dafür, was Menschen auf dem Land bewegt, hat schon zu so mancher Überraschung am Wahltag geführt. Wahr ist aber auch, dass in zentralisierten Redaktionen viel Energie in Macht- und Profilierungskämpfe statt in den Journalismus und neue strategische Ideen fließt. Wenn es Medienmarken schaffen, solche virtuellen Verbünde aufzubauen, könnten beide Seiten profitieren: der Journalismus und sein Publikum.
Und eine weitere Tatsache könnte Anstoß für einen Wandel sein: Regierungen nutzen die Krise zunehmend als Vorwand, Journalisten den Zugang zu offiziellen Informationen zu erschweren. Das muss man beklagen. Aber man kann auch darüber nachdenken, ob die Wiedergabe offizieller Verlautbarungen nicht schon längst den Dingen gehört, die man getrost den Verlautbarungsabteilungen überlassen kann. In den USA führen die Journalismus-Professoren Jay Rosen und Jeff Jarvis seit einiger Zeit eine Debatte darüber, wie viel Bühne man einem Präsidenten wie Donald Trump geben darf, dem es nie auf Argumente sondern lediglich darauf ankommt, bei seinen Unterstützern zu punkten. Weniger Nähe zu Funktionären, mehr zu den Bürgern und den Fakten – das bekommt dem Journalismus gut. Dort, wo sich Journalisten mit ihrem Publikum verbünden, haben sie die besten Chancen, die Krise zu überstehen. Den Medienhäusern in ihrer bisherigen Form wird das nicht in jedem Fall gelingen.
Dieser Text entstand für den Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School im April 2020.