Klimajournalismus, der wirkt – Was Redaktionen tun können

In vielen Redaktionen gilt der Ausbau des Klimajournalismus als Pflicht, nicht aber als Chance. Dies dürfte ein Grund dafür sein, dass so wenige Medienhäuser eine Klimastrategie haben. Auf dem Constructive Journalism Day 2022 von NDR Info und Hamburg Media School habe ich darüber gesprochen, warum der Klimajournalismus große Potenziale birgt, den Journalismus insgesamt in die Zukunft zu bringen.  

Viele Menschen haben gerade wieder eine große Dosis Klimajournalismus zu sich genommen. Für manch einen fühlte es sich womöglich wie eine Überdosis an. Der Klimagipfel in Sharm-El-Sheik beherrschte tagelang die Schlagzeilen. Und wir lernten aus den Medien: Es war eine Katastrophe. Es sei „weniger als nichts“ erreicht worden, so der Titel eines Kommentars in der Süddeutschen Zeitung. Hinzu kommen die Proteste junger Menschen, die sich in ihrer Wut an Straßen festkleben oder Kunstwerke zerstören. Auch darüber wurde in allen Facetten berichtet. Ist das gut?

Es ist wichtig, ja. Aber die Debatten über die Proteste oder auch der große Aufschlag bei Events wie COP27 verschleiern, dass es viele Gründe gibt, beim Thema Klima auch zuversichtlich zu sein.

  • Forscher sagen, die Energiewende ist kein technisches Problem mehr und auch kein Preis-Problem. Es ist ein politisches Problem – immerhin.

  • Es werden praktisch täglich neue Lösungen erfunden, eine lebendige Start-up-Szene ist rund um grüne Technologien, Produkte und Dienstleistungen entstanden.

  • Die meisten Branchen beschäftigen sich intensiv mit Klima-Innovationen, Fonds schichten ihre Portfolios um, Verschmutzer steigen auf klimaschonende Techniken um, selbst Flugzeugturbinen-Hersteller haben eine Klimastrategie.

Nur der Journalismus nicht. Für den EBU News Report der European Broadcasting Union – der weltweit größten Vereinigung öffentlich-rechtlicher Medienhäuser – recherchieren wir seit Monaten in Redaktionen, interviewen Chefredakteure, Forscher, anderen Experten. Unsere Erkenntnis ist: Gerade mal eine Handvoll Redaktionen hat sich strategisch mit dem Thema beschäftigt.

Wenn man so argumentiert, hört man hier und dort: Was andere Branchen machen, das sei doch oft nur Greenwashing. Das mag in einigen Fällenstimmen. Aber wer böse sein will, könnte sagen: Journalismus bekommt oft nicht einmal Greenwashing hin.

Der Journalismus hinkt beim Thema Klima anderen Branchen hinterher. Warum ist das so?

  • Im Journalismus hat man Angst, als parteiisch, aktivistisch wahrgenommen zu werden. Eine kleine, lautstarke Minderheit der Skeptiker gibt den Ton an. Man unterschätzt sein Publikum. Die Mehrheit ist nämlich längst weiter, wie Umfragen belegen. Die meisten Menschen kennen das Problem – zumindest intuitiv – und wollen, dass etwas passiert.

  • Der Druck ist gering. Viele Verlage sind mittelständisch, Sender sind öffentlich-rechtlich strukturiert. Redaktionen sind nicht an der Börse notiert, Pensionsfonds können keine Gelder abziehen, wenn beim Thema Nachhaltigkeit geschlafen wird. Anderes hat Priorität, der Kostendruck tut ein übriges.

  • Klimajournalismus wird als ein Thema unter vielen missverstanden. Dabei muss der Schutz der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten eine Haltung sein, der sich Journalismus verpflichtet – so wie auch der Demokratie oder den Menschenrechten. Das Klima darf nicht nur Objekt sein, dass man beobachtet und beschreibt. Es muss die Kulisse sein, vor der das Leben spielt. Es sollte jedes Storytelling definieren.

Das Thema Klima ist eine Chance für den Journalismus, denn es deckt seine großen Defizite auf:

 

  • Klima ist ein Zukunftsthema. Der Journalismus klebt am Jetzt. Der Fokus liegt auf der schnellen Nachricht, dem Tagesgeschäft. Umfragen zeigen: Es wird zu viel gemeldet, zu wenig erklärt.

  • Klimaschutz braucht Hoffnung. Der Journalismus von heute legt den Fokus auf Drama, Versäumnisse, Misserfolge. Das drückt sich auch in der Sprache aus. Journalismus warnt, droht, macht Angst.

  • Im Klimaschutz zählt, was getan wird. Der Journalismus von heute fokussiert auf das, was gesagt wird. Die Überproduktion beim „Er hat gesagt, sie hat gesagt“ Journalismus lässt die Menschen oft verwirrt, leer, gelangweilt zurück.

  • Journalismus, der wirkt, nähert sich den Menschen auf Augenhöhe an in einer Sprache, die sie verstehen. Der Journalismus von heute erhebt sich oft besserwisserisch über sie – vor allem, wenn er sich Qualitätsjournalismus nennt.

  • Journalismus, der wirken möchte, respektiert sein Gegenüber und setzt auf Vielfalt, auch in der Ansprache des Publikums. Der Journalismus von heute kommt oft aus dem Zeitalter der Massenmedien, wo ein Format alles erschlagen musste.

  • Journalismus, der wirken möchte, reflektiert eigene Praktiken und macht sich Forschung zunutze. Heute sind viele Redaktionen fast noch stolz darauf, akademisches Wissen zu ignorieren. Dabei gibt es viel Wissen darüber, wie Kommunikation auf Menschen wirkt.

Aber kann Journalismus, der nicht wirkt, starker Journalismus sein?

Um eine Wirkung zu erzielen, muss man sich mit seinem Publikum beschäftigen. Spannend ist: Die Formate, die Journalistenpreise gewinnen, kommen nicht unbedingt beim Publikum an – und umgekehrt. Die wirkungsvollen Formate gewinnen keine Preise.

Was nun ist wirkungsvoller Klimajournalismus, was wissen wir aus der Forschung?

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus konzentriert sich aufs Jetzt und Hier konzentriert statt auf die ferne Zukunft, wenn er das Problem beschreibt. Er verankert das Thema da, wo die Menschen leben.

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus malt auch die Möglichkeiten einer guten Zukunft aus, zeigt: Was wird gewonnen, statt immer nur zu betonen, was verloren wird, was zu opfern ist. Es geht um die Entwicklung eines nachhaltigen Wirtschaftssystems. Der Klimajournalismus-Experte Wolfgang Blau nennt es den größten Umbau seit dem Zweiten Weltkrieg.

  • Klimajournalismus wirkt, wenn er konstruktiv und lösungsorientiert ist, statt immer nur die Apokalypse an die Wand zu malen. Wenn man Menschen ins Gespräch bringen und nicht in die Flucht schlagen will, funktioniert sogar Humor besser als ständiger Alarm. Wissenschaftler beschäftigen sich bereits mit der Wirkung von Comedy in der Klimakommunikation.

  • Klimajournalismus kann wirken, wenn er Menschen Wirkmacht verleiht, statt sie zu Opfern oder zumindest Betroffenen zu machen, wie das fast durchweg in den Nachrichten geschieht. „Agency“ ist das englische Wort dafür.

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus bedient verschiedene Zielgruppen so, dass sie zuhören. Er nimmt zur Kenntnis, dass der Botschafter oft wichtiger ist als die Botschaft selbst. Der Botschafter ist im besten Fall eine Person mit hohen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitswerten. Er berücksichtigt auch, dass Faktenfülle die Empathie nicht ersetzt.

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus ist starker Journalismus. Redaktionen sollten sich dabei nicht zu sehr mit nebensächlichen Details beschäftigen. Ein Sprachkorsett wird nicht gebraucht. Was wichtig ist: Tiefe, Recherche, Faktentreue, starke Bilder – vor allem auch starke Bilder von Lösungen. Was nie wirkt: Bilder von „Männern in Anzügen“, wie eine norwegische Chefredakteurin sagte.

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus braucht eine glaubwürdige Basis. Medienhäuser sollten ihre Hausaufgaben machen, an ihrer CO2 Neutralität arbeiten. Und das ist womöglich die größte Herausforderung. Aber wer flammende Kommentare verfasst aber Klimaschutz nicht erkennbar lebt, wird schnell als Heuchler enttarnt.

Mark Hertsgaard, Mit-Gründer der Plattform „Covering Climate Now“ an der New Yorker Columbia University, sagte: „Wenn wir die Medienbranche nicht transformieren, wird keine andere Branche transformiert werden.“ Man mag da eine gewisse Hybris heraushören. Aber wahr ist, dass nur stetiger öffentlicher Druck alle Beteiligten anspornt, das Thema endlich anzupacken.

Klimajournalismus hat das Zeug dazu, den Journalismus in die Zukunft zu bringen. Es ist allerhöchste Zeit dafür, diese Chance zu nutzen – für das Klima und den Journalismus.

Wir brauchen digital mündige Bürger!

Das Phä­no­men der Fake News wird sich in Zukunft noch ver­stär­ken. Ändern lässt sich das kaum. Deshalb sind Kam­pa­gnen zur digi­ta­len Mün­dig­keit min­des­tens so not­wen­dig wie einst jene zur Alpha­be­ti­sie­rung.

Für die­je­ni­gen, die mit der rasan­ten Ver­brei­tung von „Fake News“ das Ende der Demo­kra­tie her­an­na­hen sehen, dürfte 2020 ein beun­ru­hi­gen­des Jahr werden. Die Wahlen in den USA und ein Amts­ent­he­bungs­ver­fah­ren gegen den amtie­ren­den Prä­si­den­ten Donald Trump stehen an, beides wird das Land weiter pola­ri­sie­ren und die Bürger eher emp­fäng­li­cher für Lügen und aller­lei Ver­schwö­rungs­theo­rien machen. Erfah­rungs­ge­mäß schwap­pen die Debat­ten darüber unge­bremst über den Atlan­tik. In Groß­bri­tan­nien wurde schon gewählt, und wenn­gleich selbst hart­ge­sot­tene Digital-Pes­si­mis­ten sich schwer damit tun sollten, das klare Votum für Premier Boris Johnson und gegen Labour-Her­aus­for­de­rer Jeremy Corbyn der Akti­vi­tät von Troll­fa­bri­ken oder ähn­li­chem zuzu­schrei­ben, gehör­ten Falsch­in­for­ma­tio­nen und die Debatte darum im Wahl­kampf zum per­ma­nen­ten Grund­rau­schen. Wie sehr müssen wir uns also fürch­ten?

Man könnte sagen: sehr. Und genau darin liegt eine Chance. Die Ver­brei­tung von „Fake News“ und die Debatte darüber müssen ein Anlass dafür sein, Bürger im großen Stil fit für die neue Kom­mu­ni­ka­ti­ons-Welt zu machen. Kam­pa­gnen zur digi­ta­len Mün­dig­keit sind min­des­tens so not­wen­dig wie einst jene zur Alpha­be­ti­sie­rung, die die Men­schen fit für die Welt des gedruck­ten Wortes und die Demo­kra­ti­sie­rung möglich gemacht haben.

Gleich vorweg: Das Phä­no­men der Falsch­in­for­ma­tion als solches wird nicht nur bleiben, es wird sich ver­stär­ken. Künst­li­che Intel­li­genz ermög­licht es schon jetzt selbst Laien, für wenig Geld soge­nannte deep fakes zu kre­ieren, also zum Bei­spiel täu­schend echt wir­kende Videos von Poli­ti­kern mit ent­spre­chen­den Ton­spu­ren zu basteln. Und die tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten dafür ver­bes­sern sich schnel­ler als die Werk­zeuge, um den Ver­ur­sa­chern das Hand­werk zu legen. Hacker und Geheim­dienste in aller Welt werden dies aus ver­schie­dens­ten Motiven heraus zu nutzen wissen. Die Pro­duk­ti­ons­seite lässt sich also kaum in den Griff bekom­men.

Algo­rith­men anpas­sen

Etwas besser stehen die Chancen dafür, das Übel auf Seiten der Ver­tei­ler zu bekämp­fen. Die Platt­form-Kon­zerne haben die Infor­ma­tio­nen bislang weit­ge­hend unge­prüft und nur nach kom­mer­zi­el­len Kri­te­rien gewich­tet in die Welt gebla­sen. Sie könnten eben diese Gewich­tung ändern, sprich, ihre Algo­rith­men anpas­sen und Nach­rich­ten von ver­trau­ens­wür­di­gen Quellen höher bewer­ten als jene von unbe­kann­ten oder gar erwie­se­ner­ma­ßen zwei­fel­haf­ten. Der Müll würde so zwar nicht aus dem Netz ver­schwin­den aber weniger sicht­bar und damit auch sel­te­ner geteilt werden.

Die Jour­na­lism Trust Initia­tive, initi­iert und getra­gen von der Orga­ni­sa­tion Repor­ter ohne Grenzen, der European Broad­cas­ting Union und anderen nam­haf­ten Medien-Insti­tu­tio­nen, hat hier wich­tige Vor­ar­beit geleis­tet. Nun müssen die Kon­zerne das Übel auch anpa­cken wollen, not­falls unter mehr oder weniger sanftem Druck von Regu­lie­rung­be­hör­den. Hier liegt zuge­ge­ben ein Risiko, denn Regu­lie­rer könnten sich auf diese Weise auch dem Ein­fluss kri­ti­scher Stimmen ent­le­di­gen. Man möchte weder einem Donald Trump noch einem Viktor Orban das Pri­vi­leg zubil­li­gen, über die Qua­li­tät von Jour­na­lis­mus zu urtei­len. Dies sollte Gremien über­las­sen bleiben, die sich der Neu­tra­li­tät und Fak­ten­treue ver­schrie­ben haben.

Am wich­tigs­ten ist es aller­dings, bei den Emp­fän­gern anzu­set­zen. Bislang wissen nur die wenigs­ten Bürger, nach welchen Kri­te­rien Inhalte im Netz ver­teilt werden und an ihre Adres­sa­ten gelan­gen, wer Zugang zu diesen Kanälen hat und wie leicht sich erlo­gene aber täu­schend echt wir­kende Infor­ma­tio­nen erstel­len lassen. Auch über die Besitz­ver­hält­nisse der digi­ta­len Infra­struk­tur sind eher nur die Fach­leute infor­miert. Zumin­dest kann nicht vor­aus­ge­setzt werden, dass jedem Nutzer klar ist, dass hinter der Kurz­vi­deo-Platt­form TikTok ein chi­ne­si­scher Konzern steckt. Davon abge­se­hen, dass auch die­je­ni­gen, die es wissen, mit TikTok arbei­ten oder es nutzen – aus Spaß, oder weil man damit eben viele Kunden erreicht.

„Finn­land ist winning the war“

Noch am ehesten kann vor­aus­ge­setzt werden, dass das Publi­kum zumin­dest Grund­kennt­nisse darüber hat, wie Jour­na­lis­mus funk­tio­niert. Dass sich Repor­ter und Redak­teure im Nor­mal­fall an ethi­sche und hand­werk­li­che Regeln gebun­den fühlen – Bei­spiele sind das Vier-Augen-Prinzip und das Ein­ho­len meh­re­rer Quellen – haben viele Bürger schon gehört, auch wenn sie es nicht immer glauben. Und ein Groß­teil der Bevöl­ke­rung ver­lässt sich eher auf eta­blierte Marken wie die „Tages­schau“, Sender wie die BBC oder auf ihre Lokal­zei­tung als auf zwei­fel­hafte „Exper­ten“, die manch ein Face­book-Beitrag nach oben schwemmt. Das lässt sich aus Medi­en­kon­sum-Studien wie dem Digital News Report ablesen.

Aber all das ist keine Selbst­ver­ständ­lich­keit. Auf­klä­rung tut also Not. Bislang funk­tio­niert das am besten in der jungen Genera­tion. Junge Leute betrach­ten „Fake News“ eher als Beläs­ti­gung denn als echte Gefahr. Viele von ihnen haben gelernt, sich durch die Abgründe des Inter­nets zu navi­gie­ren – um den Preis, dass sie allen Infor­ma­tio­nen mit grö­ße­rer Skepsis begeg­nen als die älteren Genera­tio­nen, inklu­sive dem Qua­li­täts­jour­na­lis­mus. Sie bringen sich das gegen­sei­tig bei oder lernen es in der Schule, wo es natür­lich die beste Infra­struk­tur für digi­tale Bildung gibt.

Anders geht es den Älteren. Sie sind einer­seits anfäl­li­ger für Falsch­mel­dun­gen, weil sie weniger über die Online-Welt wissen, ande­rer­seits aber auch ver­letz­li­cher, weil sie gezielt von Algo­rith­men als mut­maß­lich leichte Beute ange­steu­ert werden. Es ist erwie­sen, dass Senio­ren sehr viel häu­fi­ger Falsch­mel­dun­gen bekom­men und teilen als ihre Enkel. Bil­dungs­pro­gramme für die­je­ni­gen, die Schule und Uni­ver­si­tät bereits ver­las­sen haben, sind also exis­ten­ti­ell, wenn einem der auf­ge­klärte Umgang der Bevöl­ke­rung mit der Kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Infor­ma­ti­ons­in­fra­struk­tur am Herzen liegt. Dies sollte und muss in allen Demo­kra­tien der Fall sein. Am Bei­spiel Finn­land lässt sich ablesen, dass das recht ordent­lich funk­tio­nie­ren kann. Eine 2014 begon­nene Auf­klä­rungs­kam­pa­gne über „Fake News“ war so erfolg­reich, dass CNN in einem Feature bereits tri­um­phierte: „Finn­land is winning the war on fake news“. Selbst aus Sin­ga­pur seien Regie­rungs­ver­tre­ter ange­reist, um das Erfolgs­re­zept zu kopie­ren. Aber auch anderswo gibt es gute Initia­ti­ven für genera­tio­nen­über­grei­fende digi­tale Bildung, zum Bei­spiel in Tsche­chien.

Dort, wo diese Auf­klä­rung nicht exis­tiert, ist die Wahr­schein­lich­keit groß, dass Regie­run­gen gar kein Inter­esse an der digi­ta­len Mün­dig­keit ihrer Bürger haben. Eine ver­wirrte Öffent­lich­keit ist anfäl­li­ger für ein­fa­che, popu­lis­ti­sche Inter­pre­ta­tio­nen der Lage, eine kri­ti­sche Presse und unan­ge­nehme Fakten stören so manch einen Amts­trä­ger nur. Digi­tale Bildung darf deshalb nicht nur in der öffent­li­chen Hand liegen. Wer dazu bei­trägt, dient der Demo­kra­tie. Unab­hän­gige Medien zum Bei­spiel können gar nicht genug dafür tun.

Diese Kolumne erschien am 20. Dezember 2020 bei Zentrum Liberale Moderne

Mehr Debatte war nie!

Angeblich schirmen uns die Algorithmen von allen Einflüssen ab, die unser Weltbild stören könnten. Doch so griffig die Metapher der Filterblase auch ist: Sie stimmt nicht.

Wenn es theoretische Konzepte in die Alltagssprache schaffen, freuen sich Akademiker*innen üblicherweise. Hat die Wissenschaft der Welt also doch etwas zu sagen, das jenseits des Hörsaals relevant ist.

In diese Kategorie gehören auch die Wörter Filterblase und Echokammer. Microsoft-Gründer Bill Gates hat davor ebenso gewarnt wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, und zuweilen wirft sie jemand auf einem Elternabend in die Diskussion: „Die Kids leben in ihrer Filterblase.“ Was frei übersetzt in etwa heißen soll: Die lesen nicht mal Zeitung.

Die Theorie klingt zumindest griffig: Angeblich schirmen uns Algorithmen im Internet von jeglichen Einflüssen ab, die unser Weltbild stören könnten. Die sozialen Netzwerke sind demnach schuld daran, dass wir diskurstechnisch in sauber getrennten Teichen nach den immer gleichen Argumenten fischen. Mit Inhalten, die uns überraschen oder Standpunkten, die unseren widersprechen könnten, kommen wir nicht mehr in Kontakt.

Das Konzept hat nur einen Schönheitsfehler: Es stimmt nicht. In Wahrheit weisen mehr Indizien auf das Gegenteil hin. Das Publikum informiert sich heute aus einer größeren Anzahl von Quellen als zu Zeiten, in denen die „Tagesschau“ oder die abonnierte Zeitung die einzige nachrichtliche Grundversorgung lieferten.

Zu diesem Ergebnis kommt etwa der „Digital News Report“. Dessen Autoren Richard Fletcher und Rasmus Kleis Nielsen untersuchen seit Jahren den weltweiten Informationskonsum. Ihr Fazit: „Jene, die Nachrichten über Suchmaschinen konsumieren, nutzen durchschnittlich mehr Quellen. Und die Wahrscheinlichkeit ist größer, dass sie politisch rechts- und linkslastige Quellen finden.“

Echokammern? Filterblasen? Fletcher und Nielsen widersprechen: „Suchmaschinen bringen Menschen mit Quellen in Kontakt, die sie sonst nicht genutzt hätten“, schrieben sie im vergangenen Jahr im Fachjournal „Digital Journalism“.

Zu schön, um falsch zu sein

Die Politikwissenschaftler Jan Philipp Rau und Sebastian Stier haben jüngst ebenfalls die Literatur gesichtet und herausgefunden, dass „die Furcht vor einer gesamtgesellschaftlichen Fragmentierung durch digitale Medien und einer damit verbundenen politischen Polarisierung empirisch nicht unterstützt wird“.

Man könnte also sogar sagen: So viel Debattenstoff war nie! Warum aber schwebt die Filterblase durch jede Diskussion zur digitalen Kommunikation, wenn man sie so leicht zum Platzen bringen kann?

Geprägt hat den Begriff der Internetaktivist Eli Pariser, der 2011 mit einem gleichnamigen Buch Furore machte. Darin wollte er darüber aufklären, „wie wir im Internet entmündigt werden“. Das klang offenbar zu schön, um nicht wahr zu sein.

Angesehene Theoretiker griffen das Konzept auf und entwickelten es weiter, zum Beispiel der Harvard-Jurist Cass Sunstein in „#Republic – Divided Democracy in the Age of Social Media“. In gewisser Weise teilt Pariser das Schicksal des Historikers Francis Fukuyama, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs das Ende der Geschichte prognostizierte: Ständig wird er mit etwas zitiert, was so nie eingetroffen ist. Dennoch gibt es gute Gründe dafür, warum die Filterblasen-Metapher so erfolgreich ist.

„Sie ist intuitiv, eingängig und spricht eine große Angst hinsichtlich des Einflusses von Algorithmen an“, sagt die Rechtswissenschaftlerin Natali Helberger von der Universität Amsterdam, „die Menschen fürchten sich davor, dass sie das Publikum segmentieren und polarisieren.“

Sie will sich über diese Sorge keineswegs lustig machen, im Gegenteil: „Aber angesichts einer vielfältigen Medienlandschaft und eines heterogenen Publikums ist das nicht die drängendste Sorge Europas.“

Richtig ist, dass die Algorithmen der sozialen Netzwerke oder Suchmaschinen bestimmte Inhalte mit höherer Wahrscheinlichkeit anzeigen: was Nutzer*innen vorher schon mal interessiert hat, was Freunde mögen, was besonders aufsehenerregend ist oder viele andere Menschen ebenfalls angeklickt haben. Falsch ist allerdings, dass die Technologie gar nichts anderes serviert und uns deshalb in der Sicherheit wiegt, alle anderen dächten so wie wir.

Verrohung der Gesellschaft

Trotzdem werden die sozialen Netzwerke und ihre vermeintlichen Filterblasen und Echokammern für die Verrohung der Gesellschaft, die Verdummung der Bürger*innen oder die Expansion des Populismus verantwortlich gemacht. Dahinter steckt die ebenso überhebliche wie realitätsferne Annahme, dass Menschen, die krudes Gedankengut verbreiten, zur Besinnung kommen, wenn sie die richtigen Argumente kennen.
Tatsache ist aber: Fakten beeinflussen uns weniger, als wir hoffen. Menschen, die sich mit ‧populistischem Gedankengut identifizieren, glauben ohnehin selten an Objektivität. Sie malen die Gesellschaft bewusst als ein „Wir gegen die“-Gemälde. Dazu suchen sie sich allerlei „Beweise“ zusammen, gerne aus verschiedenen Quellen.

Zum Beispiel hören sie „Staatsfunk“, wie sie öffentlich-rechtliche Sender gerne nennen – um ihn sodann zu verdammen. Menschen, nicht Suchmaschinen, treiben die Polarisierung voran. Es ist sogar erwiesen, dass sich Mediennutzer*innen noch weiter in extremen Positionen vergraben, wenn sie gegensätzlichen Meinungen ausgesetzt sind. Versucht man, die vermeintliche Filterblase aufzubrechen, reagieren sie darauf mit Abwehr.

Im Twitter-Zeitalter werden Fakten zur digitalen Kommunikation gerne ignoriert. Zunächst einmal hat es die vermeintlichen Filterblasen schon immer gegeben. Die abonnierte Tageszeitung oder der voreingestellte Radiosender sind und waren diesbezüglich effektiv. Man las die Beiträge seiner Lieblingsautoren und fühlte sich rundum gut informiert. Wozu woanders suchen?

Auch politische Polarisierung, Rassismus und Sexismus existierten, lange bevor sich die Bürger*innen über soziale Netzwerke gegenseitig darin bestärken konnten – zumal ältere Generationen gespaltener sind als jüngere. Das Brexit-Referendum in Großbritannien wurde in erster Linie von der Boulevardpresse angeheizt.

Wie eine Inhaltsanalyse der Berichterstattung von neun überregionalen britischen Tageszeitungen vor der Abstimmung ergab, sprachen sich von fast 2400 Artikeln 41 Prozent für einen Brexit aus. Demgegenüber waren 27 Prozent dafür, in der EU zu bleiben. Über Facebook schoben sich die Brexiteers allenfalls entsprechende Meldungen traditioneller Medien zu.

Bloß keine Panik

Der australische Kommunikationswissenschaftler Axel Bruns warnt deshalb vor „moralischer Panik“. Die permanente Diskussion um Filterblasen und Echokammern lenke von den wahren Ursachen politischer Polarisierung ab, sagte er vor einigen Monaten auf einer Konferenz: „Der Aufstieg von hyperparteiischen, populistischen und illiberalen ideologischen Agitatoren und Propagandisten an den Rändern des politischen Spektrums und die Ablehnung von demokratischen Prinzipien und Prozessen sind nicht in erster Linie ein Phänomen der Kommunikationstechnologien – sondern ein gesellschaftliches Problem.“

Zudem wird der Einfluss sozialer Netzwerke massiv überschätzt. Das liegt auch daran, dass die Journalist*innen selbst dort kräftig unterwegs sind – und sie geben nach wie vor den Ton an. Selbst wenn der amerikanische Präsident häufig über Twitter krakeelt, erreicht er dort bei Weitem nicht alle seine Anhänger*innen.

Tatsächlich ist die Reichweite gerade von Twitter vergleichsweise gering. Populist*innen beziehen ihre Neuigkeiten zudem überproportional aus dem Fernsehen, in den USA zum Beispiel über den Sender Fox News, in Deutschland über Privatsender wie RTL.

Auf Twitter hingegen tummeln sich vor allem Politiker*innen und Medienschaffende. Der unbeabsichtigte Effekt: Journalist*innen verschaffen so manchem Tweet erst Reichweite, weil sie ihn zur Story hochjazzen. Die Forschung hat ein ums andere Mal ergeben: In den sozialen Netzwerken beherrschen die traditionellen Medien die Debatte.

Was lässt sich nun gegen die Polarisierung tun? Zunächst einmal müssen alle Institutionen die Sorgen und Gefühle der Bürger*innen ernst nehmen: Ungleichheit und Ungerechtigkeit, der digitale Umbruch, der Klimawandel, Einwanderung – in all diesen Feldern warten Aufgaben. Es wird aber mehr daran gearbeitet, als es das große Blabla in den sozialen Netzwerken zuweilen vermuten lässt.

Im Koalitionstracker der „Süddeutschen Zeitung“ kann man zum Beispiel verfolgen, wie viele von 140 Versprechen aus dem Koalitionsvertrag schon umgesetzt wurden oder zumindest in Arbeit sind – tatsächlich eine ganze Menge. Auch ein Blick auf die Website ourworldindata.org lohnt sich für die Erkenntnis: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft lösen tatsächlich echte Probleme der Menschheit, sie schaffen sie nicht nur.

Tatsächlich tragen die Medien viel zur gesellschaftlichen Grundstimmung bei. Der diesjährige „Digital News Report“ stellte dem Journalismus in dieser Hinsicht ein schlechtes Zeugnis aus. Nur 16 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, dass die Medien „den richtigen Ton“ treffen, weniger als ein Drittel fand die Themen relevant, über die berichtet wurde. Gerade mal jeder Zweite bescheinigte der Presse, die Nachrichten des Tages ausreichend zu erklären.

Allein bei der Vermittlung purer Informationen schnitten die Medien gut ab. Da geht also noch was. Vor allem gilt es, Formate zu entwickeln, die mehr Bürger*innen erreichen. Daran appelliert auch Natali Helberger. Sie sorge sich „um die digital Verletzlichen“ – jene Nutzer*innen, die wegen ihres Medienkonsums, ihrer Bildung, ihres sozialen Status und des Mangels an politischem Interesse von vielfältiger Information ausgeschlossen werden.

Die Medien haben schon immer Filterblasen produziert, und sie werden es auch weiter tun. In Wahrheit ist es heute bloß viel leichter, ihnen zu entkommen.

Dieser Text erschien in ada und Handelsblatt.com am 23. November 2019