Antworten gesucht? FAQs zur Zukunft des Journalismus

Wenn man Geld damit verdient, auf Veranstaltungen über Journalismus zu reden, sollte man das Folgende vielleicht nicht veröffentlichen, denn womöglich macht man sich damit sein Geschäft kaputt. Aber Fakt ist, dass Medienmenschen und ihre Freunde immer wieder dieselben Fragen stellen oder Annahmen formulieren. Natürlich findet man Unternehmen verwerflich, die es darauf anlegen, ihre Kunden mit den berühmten „Frequently Asked Questions“ (FAQs) abzuwimmeln, statt ihnen geduldig zuzuhören. Aber dann bastelt man doch an einer persönlichen Hitliste von FAQs, von denen man ahnt, was die fragenden Journalisten wirklich damit sagen wollen.

Stichwort Nutzerbedürfnisse: Wenn man den Kunden nur gibt, was sie lesen oder sehen wollen, darf man dann nur noch Katzenvideos bringen? (Wirklich gemeint ist: Wo bleibt dann unser wichtiger Politikjournalismus?)

Antwort: Zunächst einmal geht es nicht darum, den Kunden mehr davon zu bieten, worauf sie klicken, sondern darüber nachzudenken, was sie brauchen könnten, um ihr Leben und ihren Alltag besser zu bewältigen. Wer sich wirklich mit den Bedürfnissen verschiedener Nutzergruppen beschäftigt, erlebt nämlich immer wieder Überraschungen. Leser lesen ein 250-Zeilen-Stück über den Nahost-Konflikt bis zum Ende, rufen über Wochen regelmäßig einen 45-Minuten-Podcast ab, teilen eine Infografik mit vielen Zahlen. Bei sperrigen Stoffen hilft es, sich besonders viele Gedanken zum Format zu machen und Mühe in die Ausführung zu stecken. Die Chefredakteurin der dänischen Zeitung Politiken, Amalie Kestler, erläutert am Beispiel des Klimajournalismus, man müsse von den Stücken lernen, die beim Publikum punkten, um mit entsprechenden Elementen jene Stoffe zu bereichern, von deren politischer Bedeutung die Redaktion überzeugt ist (zum Beispiel Verhandlungen bei Klimagipfeln). Im Übrigen sind die Beiträge mit den meisten Klicks üblicherweise nicht jene, für die Nutzer Abos abschließen – was ja das eigentliche Ziel vieler Redaktionen ist.

Stichwort Qualitätsjournalismus: Die Leser haben heute eine wahnsinnig kurze Aufmerksamkeitsspanne, vor allem die Jungen wollen nur noch Häppchenware. Was tun? (Wirklich gemeint ist: Früher waren die Leser gebildeter und die Journalismus-Welt war noch in Ordnung.)

Antwort: Die Aufmerksamkeitsspanne im Digitalen ist kürzer, weil die Nutzer verwöhnter sind. Sie müssen sich nicht mehr durch Bleiwüsten quälen, um herauszufinden, was los ist in der Welt. Sie sind trotzdem einigermaßen informiert, weil sich irgendwo immer jemand findet, der einen Stoff anschaulich und packend präsentiert. Auch Schulkinder lernen mit YouTube Videos nicht selten besser als im Unterricht, und das liegt weniger an ihrer Aufmerksamkeitsspanne als an schlechten Lehrern und Schulbüchern. Daten zeigen, dass Nutzer auch auf dem Handy sehr lange Reportagen lesen, wenn sie spannend sind. Junge Leute hören regelmäßig 30-Minuten-Podcasts zu politischen Themen bis zum Ende, weil die Hosts sie begeistern. Dass Leser gedruckter Zeitung früher geduldig die Politikteile von Tageszeitungen in Gänze studiert haben, ist eher Wunschdenken als Realität. Auch da ging die Aufmerksamkeit oft nicht über die Schlagzeile hinaus. Nur hat das niemand messen können. Die Journalismus-Welt war früher nicht wegen der Reichweite von Qualität in Ordnung, sondern weil die Geschäftsmodelle funktioniert haben. Wer auf die investigative Arbeit von Rechercheverbünden und das Angebot an Datenjournalismus, Visualisierungen oder Podcasts schaut, muss zugeben:  Noch nie gab es im Journalismus Qualität in einer solchen Vielfalt wie heute.

Stichwort Objektivität: Warum haben ältere Journalisten solche Probleme mit der Ich-Form? Journalismus ist doch immer subjektiv. (Was wirklich gemeint ist: Ich schreibe am liebsten Ich-Geschichten – da kann ich mir auch Recherche sparen.)

Antwort: Es gibt wunderbare, packende und wichtige Geschichten in der Ich-Form. Es gibt aber auch eine ganze Menge Befindlichkeits-Journalismus, der eher Schulaufsatz-Charakter hat. Das sind dann Geschichten, die Perspektive mit Fakten verwechseln, die eigene Erfahrung als allgemeingültig betrachten und damit ebenso bevormundend herüberkommen wie manch ein Politik-Kommentator der alten Schule. Tatsächlich unterscheidet sich Journalismus vom meinungsstarken Influencer-Post und vom subjektiven Blog dadurch, dass er sich um Perspektiven-Vielfalt und Fakten bemüht, dass er sich auf die Suche nach etwas macht, das manche Wahrheit nennen. Und das gelingt nur mit einer gewissen professionellen Distanz. Die kann man auch einnehmen, wenn man das in der Ich-Form tut. Aber es geht auch gut ohne. Das Publikum wird es schätzen. In der Definition von Journalismus steckt das Konzept der Unabhängigkeit. Ohne diese ist er nicht mehr als Content, Meinung, womöglich sogar Propaganda – und verspielt damit seine Daseinsberechtigung. Wer unabhängig berichten will, tut gut daran, von der Selbstbeschau auf die Beobachterperspektive zu wechseln.  

Stichwort Desinformation: Was kann man nur gegen diese „Fake News Epidemie“ machen? (Was wirklich gemeint ist: Das Problem ist nicht unser Journalismus sondern diese Lügengeschichten, die das Netz verstopfen.)

Antwort: Das Problem Desinformation wird häufig falsch eingeschätzt und überschätzt. Deshalb werden darauf auch unwirksame Antworten gefunden. Ohne Zweifel gibt es staatliche Desinformation als Mittel der hybriden Kriegsführung. Aber Forschung zum Beispiel des Reuters Institutes in Oxford zeigt: Der größte Teil der Falschinformationen wird bewusst von Politikern verbreitet, um Meinung zu machen. Zudem ist der Einfluss von Desinformation auf das Verhalten von Menschen geringer, als dies oft angenommen wird. Das gilt auch für Lügengeschichten, die mit Hilfe Künstlicher Intelligenz erstellt werden. Medien sind gut beraten, sich erst einmal darauf zu konzentrieren, eigene Themen zu recherchieren und damit die Agenda zu setzen, statt Falschmeldungen hinterherzujagen und sie damit womöglich größer zu machen, als sie sind. Faktenchecks können große Organisationen wie Nachrichtenagenturen am besten liefern. Zum Thema Desinformation gibt es viel Forschung, es empfiehlt sich vor dem Lamentieren über das Problem einen Blick hineinzuwerfen. Unglücklicherweise stecken Geldgeber, die ein Interesse an der Eindämmung des Themas haben, viel Geld in Projekte zum Kampf gegen „Fake News“ – deutlich mehr, als sie in den Journalismus als solchen investieren. Der hätte es aber nötiger, vor allem der Lokaljournalismus.

Stichwort konstruktiver Journalismus: So etwas wie konstruktiver Journalismus klingt ja gut, aber verfehle ich damit nicht meine Aufgabe als Journalist? (Was wirklich gemeint ist: Echt jetzt, die wollen MIR Journalismus neu erklären?)

Antwort: Diese Frage kommt praktisch ausschließlich von älteren, gestandenen Kollegen. Junge Journalisten, insbesondere solche, die neue Medienmarken gründen wollen, sehnen sich nach konstruktiven Formaten. Für sie ist der etablierte „er hat gesagt, sie hat gesagt“-Journalismus wie Weißbrot: stopft irgendwie, macht aber nicht satt. Sie wissen: In einer digitalen Informationswelt, die voll ist von Content, suchen sie und ihre Altersgenossen nach jenen Stoffen, von denen sie etwas Neues, Überraschendes mitnehmen können – und vielleicht sogar etwas Zuversicht. Und nein, konstruktiver Journalismus bedeutet nicht, die Welt in rosarot zu malen, sondern Nuancen abzubilden und Perspektiven aufzuzeigen. Er ist ein Versuch, den Bedürfnissen der Nutzer näher zu kommen und sie wieder für Journalismus zu begeistern. Der AFP-Journalist Ivan Couronne formulierte es kürzlich auf einer Tagung so: „Menschen vermeiden keine Nachrichten, sie vermeiden schlechten Journalismus.“ Und sie vermeiden solchen, den sie nicht brauchen.   

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 3. Oktober 2024. Mit einem Medieninsider-Abo kannst du dort aktuelle Kolumnen von mir lesen.

Junge Nutzer, die unbekannten Wesen – und warum Journalismus sie doch erreichen kann

Wenn Verlagsmanager und Senderverantwortliche über junge Menschen sprechen, kommt einem zuweilen der Titel eines Aufklärungsbestsellers aus den sechziger Jahren in den Sinn: Meine Frau, das unbekannte Wesen. Vielen Verantwortlichen in den Medienhäusern scheinen die jungen Nutzer so nah und doch so fern zu sein, wie damals offenbar dem einen oder anderen die Ehefrau. Dabei könnte man so viel lernen, würde man den Objekten der Begierde einfach mal zuhören. 

Das hat nun eine Gruppe von Medienforschern im Auftrag von FT Strategies und dem Knight Lab getan. Der Report Next Gen News: understanding the audiences of 2030 eignet sich durchaus, nun ja, als Aufklärungslektüre.  

Einige Erkenntnisse aus der Studie, die keine Umfrage ist, sondern sich mit tatsächlichem Verhalten beschäftigt, dürften für die Medienbranche schmerzhaft sein. Etliche sind aber nur unangenehm, wenn man sich vor Arbeit drücken möchte. Denn die jungen Nutzer in den drei untersuchten Märkten USA, Nigeria und Indien schätzen Journalismus durchaus. Sie können oft nur nichts mit jenem Journalismus anfangen, der in vielen Redaktionen jahrzehntelang als Goldstandard galt und sich wohl schon damals nicht ausreichend verkauft hätte, wäre er nicht in lukrative Geschäftsmodelle verpackt gewesen.

Junge Menschen wollen kein Geschwurbel

Zunächst also zu den womöglich nicht so willkommenen Wahrheiten. Die erste ist, dass der so genannte Qualitätsjournalismus schon immer eine Sache für Eliten war. Er erreichte eine relativ kleine Schicht gebildeter Menschen, vorrangig Männer. Wer dazugehören wollte, empfand einen gewissen Stolz dabei, sich durch Bleiwüsten quälen zu können oder Nachrichten auszusitzen, von denen vielleicht zehn Prozent mit dem eigenen Leben zu tun hatten – darunter der Wetterbericht. 

Die junge Generation hingegen ist selbstbewusster als ihre Vorgänger. Sie findet sich mit Geschwurbel nicht mehr ab, da sie dank Digitalisierung weiß, dass man alles auch einfacher, anschaulicher, respektvoller oder lustiger erklären kann. Dies gilt insbesondere in Märkten und für Menschen, denen der Zugang zu vielfältigen Informationen früher verschlossen war.

Zu diesem Blick von oben herab gehört auch die recht willkürliche Einteilung in harte und weiche Nachrichten, Stoffe oder Ressorts. Als hart galten Politik und Wirtschaft, als weich, oder zumindest weicher, eben der Rest. Nicht einmal die in den Siebzigerjahren geprägte Aussage, das Private sei politisch, konnte Nachrichtenchefs für die längste Zeit davon überzeugen, dass die Wortblase eines Ministerpräsidenten mehr Nachrichtenwert hat als Debatten um die Aufteilung der Familienarbeit, der ewige Stau auf der Bundesstraße oder der ökologische Fußabdruck des Skiurlaubs. Zwar wunderten sich Redaktionsleiter ab und an, dass überwiegend Männer Zeitung lasen, aber selten dachten sie darüber nach, woran das lag – und noch seltener taten sie etwas dagegen. 

Die jüngere Generation, in der Männer und Frauen zumindest versuchen, sich mit ähnlichem Einsatz ums Familienleben zu kümmern, hält plötzlich Themen für relevant, die Chefredakteure älterer Jahrgänge – überwiegend ehemalige Politikreporter – maximal in Frauenzeitschriften geduldet hätten. Aber für die Jungen ist das Private eben politisch, das Weiche zuweilen ziemlich hart.

Auch unter Jungen gilt: Klasse statt Masse – nur eben anders

Besonders unpopulär dürfte die Einsicht sein, dass die Branche im Digitalen früh falsch abgebogen ist und auf Masse statt Qualität gesetzt hat. Denn das rüttelt am Selbstbild von Digitalchefs, die sich üblicherweise als Chef-Innovatoren betrachten. Aber Hingucker schaffen selten Loyalität, sorgfältiges Kuratieren ist journalistisches Kerngeschäft. Zu spät dämmerte es vielen Verantwortlichen, dass verlässliche, vertrauensvolle Beziehungen zu den Nutzern das Kapital erfolgreicher Medienunternehmen sind – wie schon zur Blütezeit des Zeitungsabos. Junge Menschen empfinden das ganz genauso. Sie schätzen Tiefe, Augenhöhe – auch im Umgang mit Fehlern – , Sorgfalt in der Auswahl und Ansprache. Keinesfalls wollen sie von Meldungen erdrückt werden. Erfolgsgeschichten wie die dänische Online-Marke Zetland, die mit ihrem „slow journalism“ bei einem vergleichsweise jungen Publikum gut ankommt und profitabel ist, belegen das. 

In der Untersuchung von FT Strategies gaben viele zu Protokoll, dass sie Push-Mitteilungen zwar als Informationsquellen nutzten, aber nie öffneten. (Zu Papierzeiten las man schließlich oft auch nur die Schlagzeilen.) „Sifting through the noise“: Aus dem Nachrichtenstrom das herauszufischen, was für sie Nährwert hat, ist für die Jungen zur Kulturtechnik geworden. Und weil Ablenkung und Unterhaltung überall sind, erwarten sie vom Journalismus einen Mehrwert. Zwei Drittel wünschen sich, er solle konstruktiv und lösungsorientiert sein.   

Der vertrauensvolle News-Anchor ist heute Influencer – und Experte auf seinem Gebiet

Vertrauensvolle Beziehungen hängen oft an Persönlichkeiten. Ähnlich wie die Alten Ulrich Wickert, Anne Will oder Peter Kloeppel schätzten, folgen die Jüngeren „ihren“ Influencern, wie Mai Thi Nguyen-Kim oder (international) Sophia Smith Galer. Der Unterschied ist, dass journalistische Influencer auf Kanälen unterwegs sind, auf denen die Linien zwischen Journalismus, Meinung und Marketing verschwimmen, die Studie nennt das „information context collapse“. Aber es wäre pure Arroganz zu behaupten, junge Menschen seien zu dumm, das zu erkennen. Sie betrachten stattdessen alle Veröffentlichungen mit einer ausgeprägten Skepsis. Auch bei den traditionellen Medienmarken wittern sie zuweilen Interessen, die nicht ganz mit dem Pressekodex zu vereinbaren sind – wer mag es ihnen verdenken?  

Was junge Nutzer wirklich von älteren unterscheidet: Sie erwarten mehr Authentizität. Dem Chefredakteur, der in der Konferenz regelmäßig murmelte, man müsse nicht im Krieg gewesen sein, um darüber zu schreiben, würden sie ein fröhliches „doch!“ zurufen. Immerhin gibt es ausreichend Menschen mit allen möglichen Erfahrungen, warum lässt man sie nicht zu Wort kommen? Weniger als frühere Generationen verlassen sie sich auf Seniorität und Hierarchie. Dies stellt Redaktionen vor ein Problem. Denn woher soll man all die jungen Kollegen nehmen, die „authentisch“ mit ihren Alterskohorten auf Augenhöhe kommunizieren – und was tun sie mit den anderen? Schließlich spüren junge Reporter schnell, was sie liefern müssen, um ihre Chefs zu beeindrucken, manch einer schreibt schon mit 30 so, wie er es sich beim 50-jährigen, intern hochgelobten Kollegen abgeschaut hat. Hier sind eine aktive Personalpolitik und eine wertschätzende Redaktionskultur gefragt. Gestandene Redakteure brauchen Offenheit und eine gewisse Demut. Sie sollten ihre alten Glaubenssätze auch mal hinterfragen und in Sachen Angriffslustigkeit und Wörter-Verliebtheit abrüsten, ohne sich den Jungen anzubiedern und journalistische Grundsätze aufzugeben.   

Junge Menschen zu verstehen und mit journalistischen Produkten zu erreichen ist also gar nicht so schwer. Man muss sich aber Mühe geben. Und das scheuen viele, die lieber mit alten Geschäftsmodellen Geld verdienen als Beziehungen aufbauen wollen. Eine wichtige Erkenntnis der Studie sollte ihnen jedoch zu denken geben: Auch ältere Nutzer integrieren moderne Technologie gerne in ihren Lebensstil – nur mit Zeitverzug. Großeltern kommunizieren heute selbstverständlich mit WhatsApp, verschicken digitale Fotos, nutzen Facebook oder gar TikTok. Wer die Jungen gewinnt, sichert sich deshalb womöglich auch die Loyalität der Alten – auch wenn die sich nur ungern duzen lassen. Helje Solberg, Chefredakteurin beim norwegischen Fernsehsender NRK, beobachtet zudem einen positiven Nebeneffekt, den sie in Interviews für den EBU News Report skizziert hat: Formate, die bei jungen Leuten ankommen, erwiesen sich häufig als inklusiver, sie erreichten Menschen verschiedener Bildungsgrade, Herkünfte und Gesellschaftsschichten. Womöglich sollte das die Definition von Qualitätsjournalismus sein.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 28. März 2024. Aktuelle Kolumnen lassen sich mit einem Abo lesen. 


Lachen ist konstruktiv – auch in der Klimakrise

Darf man herzhaft lachen, auch wenn die Lage ernst ist? Ja, denn genau in diesen Situation kann Humor dem Journalismus helfen, Formate auch für Laien interessant zu machen. Ein Plädoyer für mehr Humor – im Alltag und Beruf.

Weltuntergang funktioniert selten. Forschung belegt, dass Journalismus zum Thema Klima Menschen eher beeinflusst, wenn er nicht nur die vielfältigen Themen dazu beleuchtet, sondern auch ein paar Lösungen parat hält . Ohnehin wünschen sich insbesondere diejenigen, die sich von Nachrichten eher fernhalten, mehr Angebote, die Hoffnung machen und erklären, als solche, die wieder und wieder das gleiche Drama beschwören. Dies belegt auch der Digital News Report 2023 des Reuters Institutes in Oxford. Aber wie ist das mit Humor? Darf man herzhaft lachen, auch wenn die Lage ernst ist?

Man könnte sich die Erlaubnis posthum bei großen Humoristen holen. In der 1942 erschienenen Komödie „Sein oder Nichtsein“ ließ der Regisseur Ernst Lubitsch seine Darsteller sogar über Konzentrationslager witzeln, während draußen der Weltkrieg tobte. Aber es geht nicht nur darum, dass man scherzen darf – unter Beachtung von ein paar Regeln natürlich. Es spricht vieles dafür, dass Humor Menschen besonders effektiv zum Handeln anregt. Witze bringen unangenehme Wahrheiten auf leichte Art ans Licht, sie halten Menschen einen Spiegel vor, ohne sie anzuklagen und laden gerade deshalb zum Nachdenken ein.

 

Über sich selbst lachen, statt Schuldgefühle hegen 

Das funktioniert auch beim Thema Klima. Matt Winning ist ein schottischer Umwelt-Ökonom. Nach Feierabend betritt er Londoner Bühnen häufig als Stand-up Comedian; seit ein paar Jahren verbindet er Hobby und Beruf. „Wir müssen Inhalte für Menschen machen, für die wir keine Inhalte machen“, sagte er in einem Interview für den Report „Climate Journalism That Works: Between Knowledge and Impact“.

 

Seine Shows seien weniger für Umwelt-Fachleute, -Aktivisten und -Politiker gedacht als vielmehr für jene Menschen, die sich mit Klimaschutz bislang eher am Rande beschäftigt haben. Es berühre ihn, wenn solche Gäste am Ende der Show noch ein wenig blieben, um ihm dann zu sagen, sie hätten jetzt ihr Auto abgeschafft, auf den Flug in die Sommerferien verzichtet oder sich über Wärmepumpen informiert. In seinem Buch „Hot Mess: What on earth can we do about climate change?” versucht Winning, Menschen das Thema auf spielerische Weise nahezubringen.  

 

Ähnliches probieren Maxwell Boykoff und seine Kollegin Beth Osnes an der University of Colorado in Boulder aus. Sie hatten das Projekt „ Inside the Greenhouse“ als Kooperation der Fakultäten Theater und Umweltpolitik initiiert. Erste Erkenntnisse daraus veröffentlichten sie 2019 in einem wissenschaftlichen Artikel: Ein komödiantischer Angang ans Thema Klima helfe Studierenden dabei, ihre eigenen Gefühle, insbesondere Ängste zu konfrontieren, damit kreativ umzugehen und bessere Klima-Kommunikatoren zu werden.

Warum Humor auch die Arbeitswelt entlasten kann

Die Professorinnen Jennifer Aaker und Naomi Bagdonas unterrichten das Fach Humor im Management an der Stanford Business School. In ihrem Buch „Humour, Seriously – Why Humour is a Secret Weapon in Work and in Life” beschreiben sie, welche Rolle Fröhlichkeit beim Erreichen von (geschäftlichen) Zielen spielen kann. Humor stifte Gemeinschaft, stärke die Fähigkeiten, Probleme zu lösen und die Resilienz. Führungskräfte, die über sich selbst lachen könnten, wirkten nahbar und authentisch.

Im Journalismus schätzen vor allem junge Leute humoristische Formate. Ihnen ist es wichtig, dass Inhalte nützlich sind, sie haben es aber gerne auch spaßig. Eine 2021 veröffentlichte Studie der Annenberg School for Communication an der University of Pennsylvania ergab, dass sich die jungen Konsumenten Nachrichten besser merken konnten, wenn sie humoristisch präsentiert wurden. Beim Lachen würden mehr Gehirnregionen aktiviert. Der Aufstieg von TikTok als Kanal für die Nachrichten-Vermittlung – auch dokumentiert im jüngsten Digital News Report – zeigt, wie schnell sich eine auf leichtere Kost spezialisierte Plattform durchsetzen kann.

Natürlich wird Humor immer nur eine ergänzende Kommunikationsform sein. Dies ist schon allein deshalb der Fall, weil nur wenige das Fach beherrschen. Eine Grundregel ist zum Beispiel: Humor funktioniert, wenn man nach oben oder unter Gleichgestellten austeilt. Wer sich über Schwächere lustig macht, langt höchstwahrscheinlich daneben – weshalb das Witzeln für Chefinnen und Chefs eine Gratwanderung ist. Worüber jemand lacht und welche Witze er oder sie macht, verrät in jedem Fall viel über den Charakter. Wie Aaker und Bagdonas schreiben: „Humor ist eine Art von Intelligenz, die man nicht vortäuschen kann.“

Dieser Text erschien zuerst am 23. Juni 2023 als Gastbeitrag zum Constructive World Award bei Focus online. 

Sieben Wege für konstruktiven Journalismus im Krieg

Am 24. Februar 2022 befahl Russlands Präsident Wladimir Putin seinen Truppen, die Ukraine anzugreifen. Zumindest für diejenigen, die freien Zugang zu Informationen haben, ist dieser Sachverhalt so klar wie ungeheuerlich. Quasi über Nacht hatte sich damit die sonst so verwobene Welt wieder aufgeteilt: in Aggressoren und Verteidiger, Täter und Opfer, Demokraten und ihre Feinde. Und allzu leicht – man ertappt sich selbst dabei – erliegt der Journalismus in so einem Krisenfall der Versuchung, dem zu folgen. Er feiert Helden, verdammt Verbrecher, hält den Scheinwerfer immer genau dorthin, wo es am lautesten knallt. Ähnlich wie die Kriegsführung fallen viele Redaktionen zuverlässig in trainierte Muster des 20. Jahrhunderts zurück. Noch entschiedener geht es in den sozialen Netzwerken zu. Strategen erklären mit breiter Brust die Welt des Krieges und jeder, der den Schnipsel eines Bildes von den Schlachtfeldern erhaschen kann, spielt einem das Grauen zuverlässig über das Smartphone in die Hände. 

Zwischen Ohnmacht und Traumata

Für den konstruktiven Journalismus, der für Nuancen und Perspektiven plädiert und stetig mahnt, die Welt nicht in Schwarz und Weiß abzubilden, scheinen harte Zeiten anzubrechen. Oder gibt es im Angesicht des Krieges noch Platz für eine Berichterstattung, die Menschen in der Fülle ihrer Bedürfnisse begreift, Raum für Zweifel lässt, womöglich sogar Hoffnung macht?

Viele Redaktionen stellen zunehmend fest: Es muss ihn geben. Denn wer nicht gerade einen großen überregionalen Titel herausgibt oder ein nationales Fernsehprogramm steuert, erlebt in diesen Tagen etwas anderes als in den Frühzeiten der Pandemie. Menschen wenden sich ab. Aus allen Ecken hört man: Neue digitale Abos tröpfelten nur noch herein, viele der Ukraine-Stoffe auf der Homepage blieben liegen. Waren die Wege, dem Virus zu begegnen, noch zutiefst lokale Themen, trauen viele Leser offenbar nur noch wenigen Medien zu, in Sachen Ukraine den Kopf über Wasser zu haben. Die anderen schalten komplett ab. Zu groß sind offenbar die Gefühle von Ohnmacht und vergangen geglaubte Traumata. Quer durch die Generationen gilt: Bilder des Krieges machen Angst.

Wie gehen Redaktionen konstruktiv damit um? 

Am besten, indem sie die Bedürfnisse ihres Publikums ergründen. 

► Zunächst einmal gibt es viele Menschen, die einfach helfen wollen, aus Empathie und um nicht in Ohnmacht zu verharren. Ihnen zu zeigen, was man wie tun kann, wie das anderen schon gelingt und was man besser lassen sollte – das machen viele Medienhäuser gut. Noch besser ist es, wenn sie selbst vorangehen, Geld für Opfer spenden oder für den unabhängigen Journalismus, der im Krieg leicht unter die Räder kommt. Wer oft schnell und lautstark fordert, sollte seine eigenen Standards auch mindestens erfüllen. Manch ein Außenstehender wird das als Marketing-Maßnahme kritisieren. Geschenkt.  

► Zweitens können Journalisten Menschen zum Sprechen bringen. Geteilte Ängste schweißen Gemeinschaften in Krisenzeiten zusammen. Man zeigt sich verwundbar und kommt sich dadurch nahe. So erzählen Menschen, die man lange zu kennen glaubte, plötzlich Familiengeschichten von Flucht und Vertreibung. Sonst so souverän wirkende Entscheider geben zu, dass ihnen die Antworten fehlen. Formate zu finden, die Menschen miteinander ins Gespräch bringen, ist eine Kernaufgabe von Journalismus. Was könnte konstruktiver sein? „Journalism is the conversation“, pflegt der Grandseigneur der Medienbeobachtung Jeff Jarvis zu sagen.

► Drittens ist es wichtig, auf Sprache zu achten. Wer „die Russen“ sagt und schreibt, nimmt all die tapferen Staatsbürger in Sippenhaft, die für die Wahrheit und Meinungsfreiheit ihre persönliche Freiheit, womöglich ihr Leben riskieren. Dabei sind insbesondere sie es, die Russland von Putin und seinen Gefolgsleuten befreien müssen. Ukrainern stehen in der EU Grenzen und Herzen offen, wenngleich auch das wohl kaum reichen wird. Geflüchtete Russen erfahren Ablehnung, sie scheitern bereits am Geldautomaten. Im Land selbst leiden Unschuldige unter den Sanktionen. Deshalb ist es wichtig, immer wieder präzise zu betonen: Der Aggressor ist Putin mit seinem Apparat.

► Viertens, und das gilt immer für den Journalismus: Vorsicht bei der Heldenverehrung. Natürlich lieben Nutzer Geschichten von Mut und Widerstand. Solche Storys wecken Emotionen, das schafft Reichweite. Sie machen Hoffnung. Und wer bewundert sie nicht in diesen Tagen, den überlebensgroßen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, die Klitschko-Brüder, die Redaktion des Kyiv Independent und anderer ukrainischer Medien, die mitten aus den Kampfzonen zur Welt sprechen. Natürlich sind Journalisten in diesem Fall Partei, sie stehen auf der Seite der Demokratie. Aber dennoch dürfen sie nicht zu Fans werden. Sie brauchen Distanz, um genau hinzuschauen, zu dokumentieren, was passiert, zu analysieren, was gesagt wir. Auch von denen, die nicht so laute Stimmen haben. Krieg findet nicht nur dort statt, wo es knallt und brennt, auch wenn das die besten Bilder gibt. Er gräbt sich ein in die Menschen, die Gesellschaft, die Wirtschaft. Seine Spuren auch auf lange Sicht zu verfolgen, ist Journalistenpflicht.   

► Fünftens, Menschen leiden am Leid anderer, an ihrer Angst, an Bildern und Nachrichten im Überfluss. Nicht jeder, der informiert bleiben möchte, kann die volle Dröhnung ertragen. Redaktionen können entsprechende Produkte entwickeln. Das können Newsletter sein, die das Wichtigste zusammenfassen oder Angebote ganz ohne Bild und Ton. Ein Faktencheck, der populäre Bilder aus den sozialen Netzwerken einsortiert, ist ein Service, für den viele dankbar sind. Auch diejenigen, die am Live-Ticker hängen, brauchen immer wieder Auswege in andere Geschichten. Und manch einer hätte zum Abschalten womöglich gerne ein gänzlich kriegsfreies Produkt. Wer Journalismus vom Nutzer her denkt, muss über passende Formate reflektieren.

► Sechstens, Menschen brauchen Erklärung. Gerade die Generationen, die nach Ende des Kalten Krieges erwachsen geworden sind, haben sich wenig befasst mit Sicherheitsarchitektur, Atomwaffensperrvertrag und Zweitschlag-Szenarien – andere haben es allzu gerne vergessen. Manch einem mag es peinlich sein zu fragen, was eigentlich die Nato ist. Andere wollen wissen, wie sie für denkbare Notfälle vorsorgen, sich und ihre Familien schützen können. Nicht jede Redaktion kann zu all dem einen Grundkurs liefern, aber fast überall sitzt irgendein Experte, der Auskunft geben kann. Leser einladen, alles zu fragen, auch das ist konstruktiv. Zu all dem gehört, offen zu sagen oder zu schreiben, was man nicht weiß und transparent mit seinen Recherche-Methoden umzugehen, wie das in der Wissenschaft Standard ist. Das Publikum wird hoffentlich mit Vertrauen danken.  

► Siebtens, Krieg traumatisiert und das hat Folgen bis in die Redaktionen hinein. Diejenigen, die aus der Ukraine berichten, riskieren ihr Leben für ihre Mission. Das prägt, selbst wenn sie es körperlich unversehrt überleben. Aber auch andere können leiden, wenn sie tagein tagaus Live-Ticker befüllen, Bilder und Filme sichten, Schreckens-Szenarien lesen und bewerten müssen. Journalisten sind gut darin, unter Druck zu funktionieren. Aber auch sie brauchen Hilfe. Zum Glück haben einige Organisation das Thema psychische Belastung von Recherchen aus der Tabu-Ecke geholt, geben Tipps, wie man sich und seine Mitarbeitenden schützen kann. Wenn der Krieg beendet ist, fängt auf diesem Feld so manche Arbeit erst an.

Dem konstruktiven Journalismus wird oft vorgeworfen, die Welt in Pastellfarben tauchen zu wollen. Darum geht es nicht, und im Krieg ist das ohnehin keine Option. Konstruktiver Journalismus bemüht sich, die Welt so abzubilden, wie sie ist – mit all den Schattierungen und Dimensionen, die in Krisen häufig vergessen werden.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 14. März 2022. Aktuelle Kolumnen gibt es dort bei Abschluss eines Abos. #

Politik-Journalismus: Runter vom Schlachtfeld, rein ins Labor

Der politische Journalismus in Deutschland hat seine Sache im Bundestagswahlkampf gut gemacht. Das heißt auch: Er hätte einiges noch besser machen können. Es ist an der Zeit, rhetorisch ab- und inhaltlich umzurüsten. Denn es geht auch konstruktiv.

Die jüngste Bundestagswahl ist schon eine Weile her, die Medien sind lange weitergezogen. Was die Qualität der Berichterstattung darüber angeht, daran kann sich vermutlich kaum noch jemand erinnern, nur das Wort „Triell“ mag sich nachhaltig im deutschen Sprachgebrauch behaupten. Festhalten sollte man nur, dass der Journalismus insgesamt gut funktioniert hat. Denn trotz einer nach allgemeinem Bekunden wenig überzeugenden Auswahl an Kanzlerkandidaten war die Wahlbeteiligung leicht auf knapp 77 Prozent gestiegen. Man darf vermuten, dass dies ohne eine vielfältige und umfangreiche Medienberichterstattung nicht geschehen wäre.

Wettkampf ist das Salz des politischen Journalismus

Trotzdem kann sich auch der politische Journalismus weiterentwickeln, auch wenn das die Routiniers in den Parlamentsbüros ungerne hören. Denn wieder und wieder werden die alten Rezepte aus dem journalistischen Standard-Kochbuch nachgekocht. Dessen populärstes besagt: Wettkampf ist das Salz des politischen Journalismus. 

Wer liegt in den Umfragen vorn? Vor lauter Begeisterung für diese Frage, die nicht besser wird, je öfter man sie stellt, vergessen Journalistinnen und Journalisten gerne, dass die Antwort morgen schon wieder überholt sein dürfte. Sie unterschätzen auch, dass sie genau damit Ergebnisse beeinflussen. Es ist ein psychologischer Effekt, dass sich viele Menschen gerne auf die Seite der Sieger stellen oder als Unentschlossene eher der gefühlten Mehrheit folgen. Sprich: Ein bisschen weniger Triell hätte es auch getan. 

Der Personen-Themen-Kreisel

Das heißt nicht, jetzt einem anderen Ritual zu folgen: dem Personen-Themen-Kreisel, der sich vor allem in den sozialen Netzwerken oft schwindelerregend dreht. Geht es auf Twitter hart gegen eine Person zur Sache, muss man nur kurz warten, bis die erste fordert: Im Wahlkampf sollte es mal wieder um Themen gehen. Geht es um Themen, werden die natürlich mit Personen verknüpft, was andere wieder nach Themen rufen lässt. Fakt ist, dass Politik in den meisten Demokratien von Koalitionen verabschiedet wird, weshalb viele politische Programme nach der Regierungsbildung nur noch in Umrissen erkennbar sind. Das Wahlvolk hat also recht, wenn es sich im Vorhinein vor allem mit der Glaubwürdigkeit, Integrität und Kompetenz der Personen beschäftigt, denen es die Verantwortung für die Themen in die Hände legt.

Der beste Ausweis für Glaubwürdigkeit sind Taten, weshalb es Kandidatinnen und Kandidaten ohne Regierungserfahrung schwerer haben. Aber selbst dort, wo jemand schon länger gestalten kann oder könnte, schauen Reporterinnen und Reporter viel zu selten hin. Natürlich ist Journalismus der Sorte „der hat gesagt, die hat gesagt“ bequemer und deutlich billiger als Recherche. Großmäuler haben einen Vorteil, und womöglich färbt es sogar auf den Glanz des Korrespondenten ab, wenn er eine Regierungschefin oder einen prominenten Herausforderer vors Mikrofon bekommt.

Großmäuler gibt es schon bei YouTube und Instagram

Hingegen kann es sehr mühselig sein, in Team- und Kleinarbeit Fakten zusammenzutragen, und es fällt schlimmstenfalls noch nicht einmal auf: Trotz starker Recherche-Leistung der beteiligten Kollegen war es vielen Wählenden offenbar zu kompliziert, Olaf Scholz’ Rolle im Cum-Ex-Skandal zu durchdringen. Die durch die Pegasus-Recherche zutage geförderten verdeckten Immobilien-Geschäfte von Tschechiens Premier Andrej Babis waren da wohl leichter zu verstehen. Ihn hat die Arbeit von Journalisten seine Wiederwahl gekostet. Dabei sollte man das politische Personal an seinen Taten messen, was oft leichter ist, als es die Medien in schönster Herdenbewegung glauben machen. Gerade junge Menschen wünschen sich vom Journalismus mehr Perspektiven, Lösungen und Substanz. Großmäuler finden sie bei YouTube und Instagram schon zuhauf. 

Das Constructive Institute in Aarhus* hat kürzlich demonstriert, wie Wahldebatten auch konstruktiv ablaufen könnten. In dem Projekt „guter Kampf“ wurden zunächst 120 Journalisten aus ganz Dänemark darin geschult, wie man Wahlen konstruktiv begleiten könnte. Kandidaten lernten in Bootcamps konstruktive Debatten-Techniken. Der Test kam mit einer Wahlveranstaltung, zu der mit folgendem Text eingeladen wurde: 

„Mögen Sie Politik, aber haben sie das auch so satt, wenn sich Politiker anschreien und die Medien versuchen, immer die Konflikte zu betonen? Sie sind nicht allein. Vielleicht können wir gemeinsam testen, ob das anders gehen kann.“ 

Ulrik Haagerup, Gründer des Instituts und früher Chefredakteur im dänischen Fernsehen, war spürbar überrascht von der Reaktion. Nach nur wenigen Stunden sei die Veranstaltung ausverkauft gewesen. 530 Dänen seien zu einem Abend erschienen, der angefüllt mit Argumenten, Ideen und Heiterkeit gewesen sei. „92 Prozent der Besucher fanden es großartig. Die Kandiaten waren überrascht, dass sie über potenzielle Lösungen reden und Gedanken ihrer Gegner anerkennen konnten, ohne als Verlierer gebrandmarkt zu werden“, sagt Haagerup. Nicht verwunderlich, dass er in solchen Formaten die Zukunft des Journalismus sieht.

Menschen sind mehr als kühle Rechner

Nahe an den Menschen zu sein, das heißt übrigens vor allem, sie ernst zu nehmen und nicht zu unterschätzen. Journalisten versuchen dies oft recht unbeholfen. Die im Wahlkampf ewig wiederholte Frage „Was kostet das den Bürger?“ reduziert die Wählenden auf Gewinn-Maximierer, das wird ihnen nicht gerecht. Menschen sind mehr als kühle Rechner, im Guten wie im Schlechten. Spätestens das Brexit-Referendum hat gezeigt, dass Emotionen auf dem Soll und Haben ebenso viel wiegen können wie Geld auf dem Bankkonto.

Medien könnten nicht nur im sprachlichen Umgang mit Politikern, ähm, abrüsten und dann und wann kontrollieren, wie oft sie in Wahlkämpfen (sic!) Vokabular von Schlachtfeld und Sportplatz borgen statt zum Beispiel welches aus Werkstatt oder Labor. Auch die Kritik an der Konkurrenz fällt oft eine Spur schriller aus als angebracht. Die jeweils anderen hätten Annalena Baerbock ins Amt schreiben wollen, lautete ein häufiger Vorwurf im Bundestagswahlkampf, mit dem sich manch einer als gegen den Strom schwimmend gerieren wollte. 

Nun, spätestens die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten 2016 dürfte gezeigt haben, dass man Politiker nur sehr begrenzt hoch- oder runterschreiben kann. Wenn Menschen beginnen, Journalistinnen und Journalisten als Teil einer Elite zu betrachten, die den Kontakt zum Wahlvolk verloren hat, geht Parteinahme ziemlich sicher nach hinten los. Für jeglichen Journalismus gilt deshalb: Vorher zuhören ist besser als nachher wundern.

*Transparenz-Notiz: Alexandra Borchardt ist Board Mitglied der Constructive Foundation

Diese Kolumne erschien am 12. Oktober bei Medieninsider und wurde hier leicht angepasst. Mit einem Abo lassen sich dort auch aktuelle Kolumnen lesen. 

Warum Menschen Medien meiden – Fünf Gründe für News Avoidance

Medienverdrossenheit hat nicht immer etwas mit dem Glaubwürdigkeitsproblem der Medien zu tun. Es gibt eine Menge anderer Gründe, die beim Publikum zur News Avoidance führen – hier sind fünf davon.

Der Journalismus stecke in einer Vertrauenskrise. Diese Aussage darf in kaum einer Rede zur Lage der Medienbranche fehlen, und doch ist sie mittlerweile mehr Allgemeinplatz als empirisch belegt. Denn gerade während der Pandemie sind die Vertrauenswerte für journalistische Angebote zum Teil deutlich gestiegen, gerade in Deutschland. Etablierte Nachrichten-Marken schlagen dabei insbesondere das um Längen, was sonst auf digitalen Kanälen an Informationen verbreitet wird. Zwar radikalisiert sich eine kleine, medienfeindliche Minderheit erheblich, was das Leben für Reporterinnen und Reporter gefährlicher macht. Aber mit generellem Misstrauen hat das nichts zu tun. 

Was Medienschaffende dagegen wirklich umtreiben sollte, ist die Aufmerksamkeitskrise: Etwa jeder Dritte ignoriert das Nachrichtengeschehen, bei jungen Leuten in Deutschland ist es fast jeder Zweite. Für Redaktionen schlummern hier nicht nur erhebliche Möglichkeiten, zusätzliche Kunden (wieder) zu erreichen, womöglich mit einem veränderten Angebot. Medien müssen sich auch fragen, ob sie ihrer Rolle in der Demokratie noch gerecht werden, wenn sie zu vielen Menschen gar nicht mehr durchdringen.

Geht der Journalismus am Überdruss seines Publikums zugrunde? 

Forscherinnen und Forscher beschäftigen sich seit kurzem verstärkt mit den Gründen der News Avoidance. Auf dem jüngsten Jahrestreffen der International Communication Association, der weltweit wichtigsten Tagung der Kommunikationswissenschaftler, war sie eines der wichtigsten Themen. Aus den Erkenntnissen verschiedener Arbeiten leiten sich wertvolle Hinweise ab, nicht nur für Redaktionen, sondern auch für die Politik. Denn die Ursachen dafür, warum viele Menschen die Beschäftigung mit dem Tagesgeschehen für Zeitverschwendung, ja sogar für kontraproduktiv halten, sind nicht nur inhaltlicher und psychologischer, sondern auch struktureller Art. Hier sind fünf davon:

Erstens: Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Qualität des Mediensystems und dem Phänomen der News Avoidance

In Ländern, in denen der Staat oder einflussreiche Personen stärker in Medien hineinregieren, wenden sich mehr Menschen von Journalismus ab. Dies haben Antonis Kalogeropoulos und Bejamin Toff in ihrem Paper „All the news that’s fit to ignore“ belegt und dafür von der ICA den Preis für den besten Fachartikel des Jahres 2020 bekommen. Dieses Nutzer-Verhalten ist nur rational. Denn wer vermutet, dass der Journalismus nicht unabhängig, sondern irgendwie gesteuert ist, wird sich davon wenig Wert und Aufklärung versprechen.

Pressefreiheit und ein gesundes, pluralistisches Mediensystem sind also die beste Voraussetzung dafür, dass sich Bürgerinnen und Bürger mit dem Geschehen in ihrem Land und der Welt beschäftigen.  

Zweitens: Frauen und die jüngeren Generationen vermeiden die Nachrichten überdurchschnittlich häufig

Das kann daran liegen, dass sie die Inhalte als nicht sonderlich relevant für ihr Leben betrachten oder sich vom vorherrschenden Ton nicht angesprochen fühlen. Beides ist nach wie vor von männlich-traditionell dominierten Redaktionen geprägt. Der Digital News Report 2019 hat diese beiden Mängel als größte inhaltliche Herausforderungen für den Journalismus identifiziert, auch unabhängig von Geschlecht oder Alter. Hinzu kommt noch die Masse an Informationen: Mehr ist nicht immer mehr wert. Gerade bei Frauen dürfte aber auch die höhere Arbeitsbelastung in Haus und Familie eine Rolle spielen. Meera Selva und Simge Andi haben dies für das Reuters Institute thematisiert. Für diese These spricht, dass das Geschlechterverhältnis bei der Podcast-Nutzung sehr ausgewogen ist. Hören kann man schließlich auch, während man kocht oder die Waschmaschine leert. Redaktionen sind deshalb gut beraten, sich mit den Lebensgewohnheiten und -verhältnissen verschiedener Zielgruppen auseinanderzusetzen, bevor sie entsprechende Inhalte und deren Ausspielwege und -zeiten planen.     

Drittens: Vielen Menschen macht Journalismus schlechte Laune.

Das gibt jeder Zweite an, der Nachrichten routinemäßig aus dem Weg geht. Die ständige Beschallung mit negativen Meldungen und Geschichten bedrückt viele dermaßen, dass sie sich ausgeliefert und ohnmächtig fühlen, sie wenden sich ab. Gerade in der Pandemie sollten sich Redaktionen deshalb überlegen, wieviel Raum sie den Details des politischen Streits einräumen. Konstruktiver und lösungsorientierter Journalismus scheinen dazu beizutragen, dass sich Menschen ihrer Möglichkeiten stärker bewusst werden, den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Diese Spielarten des Journalismus sind besonders in der jüngeren Generation beliebt, auch bei den Produzenten. Beim von der EU finanzierten Innovationswettbewerb Stars4Media – die Kolumnistin ist Jury-Mitglied – hatte ein großer Teil der eingereichten Projekte einen solchen Ansatz als Kern. 

Viertens: Bei den Inhalten existiert ein Missverhältnis zwischen Bedürfnissen und Interessen des Publikums und dem journalistischen Output

Journalismus definiert sich in erster Linie über den Politik-Journalismus, er ist die Königsklasse. Dies prägt die klassischen Nachrichtensendungen, die Qualitätsmedien und selbst den Boulevard. Wer im Journalismus Karriere machen will, orientiert sich daran. Politik ist „hard news“. Fragt man Nachrichtenmuffel danach, was sie trotzdem manchmal mögen, stehen andere Themen oben in der Präferenzen-Liste: Gesundheit, Lokales und Wissenschaft zum Beispiel. Stephanie Edgerly von der Northwestern University hat dies in ihrem kürzlich erschienenen Fachartikel „The head and heart of news avoidance” dargelegt. Sie hat außerdem herausgefunden, das Journalismus-Verweigerer oft weniger politisch interessiert aber auch weniger kompetent darin sind, journalistische Angebote zu nutzen. Redaktionen sollten also nicht nur ihre inhaltlichen Schwerpunkte überdenken, sondern auch die Nutzerfreundlichkeit erhöhen. Die Unterscheidung zwischen „hard news“ und „soft news“ sagt womöglich mehr über diejenigen aus, die sie geprägt haben als über journalistische Qualität. Oder möchte jemand ernsthaft behaupten, die x-te Politiker-Aussage im Streit um FFP2-Masken sei wichtiger als die Unwetter-Warnung für das Wochenende? Letztere hat vermutlich nicht nur eine höhere Einschaltquote, sondern auch konkreten Einfluss auf Verhalten und damit die Gefahrenlage.  

Fünftens: Menschen vermeiden Journalismus aus ganz unterschiedlichen Gründen, manche lassen sich beeinflussen, andere nicht

Kiki de Bruin und Kollegen von der Universität Amsterdam haben eine Typologie der Nachrichten-Muffel entwickelt. Sie kamen auf acht Charaktere: die Sensiblen, die unter schlechten Nachrichten leiden; die Misstrauischen, die Medien skeptisch gegenüber stehen; die Uninteressierten, die das Tagesgeschehen kalt lässt; die Spezialisten, die sich außerhalb ihres Hobbys für nichts interessieren; die Achtsamkeits-Anhänger, denen es vor allem um mentale Balance geht; die Eingespannten, die mit Job, Kindern und Haushalt genug anderes zu tun haben; die Hedonisten, die vor allem eigenen Genuss und Wohlbefinden im Sinn haben; und diejenigen, die Mediennutzung weder zuhause noch in der Schule gelernt haben.

Manche dieser Typen lassen sich mit bestimmten Angeboten locken, andere nicht, oder zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Allen darf man unterstellen, gute Gründe für ihre Ablehnung zu haben. Für Redaktionen empfiehlt es sich, erst einmal in ihrem eigenen Angebot nach den Ursachen zu suchen, statt über diejenigen zu urteilen, die dem Journalismus partout nichts abgewinnen können. Davon könnten tatsächlich beide Seiten profitieren. 

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 14. Juni 2021. Ich schreibe dort jeden Monat. Aktuelle Kolumnen und spannende News aus der Branche gibt es für Abonnenten. 


Eine Checkliste für starken Journalismus

Die Frage, wie Qualitätsjournalismus definiert wird, ist keine einfache – schon gar nicht in Zeiten des digitalen Wandels. Genauso schwierig gestaltet sich dann die Kontrolle. Das sollte Redaktionen aber nicht davon abhalten, über Kriterien und Kontrollstandards zu diskutieren. Zehn Impulse, mit denen das gelingen kann.

Sicher, auch über die Substanz von Autos, Mänteln oder Möbelstücken kann man streiten: Ist das nun Qualität, oder doch eher nur gute Verpackung? Wer sich allerdings daran versucht, Qualitätsjournalismus zu definieren, sollte Zeit und Lust auf eine erhitzte Debatte mitbringen. Denn was die einen als große publizistische Leistung empfinden, ist für die anderen nichts als abgehobene Schwurbelei. Werden Inhalte mit einem Qualitätssiegel versehen, sagt so ein Prädikat oft mehr über die Bewertenden aus als über das Produkt. Manche betrachten es gar als Einfallstor für Zensur: Gelobt wird das, was politisch erwünscht ist.

Alternativ kann man den Prozess unter die Lupe zu nehmen, mit dem Journalismus erstellt wird. Werden Fakten überprüft, mehrere Quellen konsultiert, wie wird redigiert, wie wird Unabhängigkeit gewahrt? All das lässt sich leichter beurteilen als Faktoren wie Sprache, Themenwahl oder Ausgestaltung. Aber bei der Herangehensweise haben starke Medienmarken zwangsläufig die Nase vorn. Kurz: Es ist kompliziert.

Die Debatte um Qualität ist dennoch zentral, schon gar in einer Medienwelt, in der Algorithmen Inhalte auf- und abwerten und damit vorselektieren, wie viel Aufmerksamkeit ein Stück bekommt. Redaktionen tun deshalb gut daran, immer wieder Inventur zu machen: Wie stark ist unser Journalismus? Eine Checkliste mit zehn Punkten dürfte helfen:

1. Haben wir genug erklärt?

Wer sich informiert, will nicht nur Bescheid wissen. Er möchte wissen, warum er Bescheid wissen sollte. Journalismus muss immer einordnen, und er muss das immer wieder tun. Laut Digital News Report 2019 findet nur jeder zweite Nutzer, dass die Medien einen guten Job dabei machen, das aktuelle Geschehen zu erklären. Da ist Luft nach oben.

2. Setzen wir die Agenda?

Im täglichen Feuerwerk der Informationen und Zitate ist es allzu leicht, sich von anderen treiben zu lassen. Stimmt das, was dieser Politiker, jene CEO behauptet, oder ist das eine Falschinformation? Verifizieren ist wichtig, aber wer nur noch überprüft, was andere sagen, kann es leicht versäumen, eigene Themen zu setzen. Da gilt das in der Branche gerne genutzte Wort: Journalismus ist, über etwas zu berichten, das andere gerne verbergen würden.

3. Begeistern wir Nutzer mit Produkten, die ihnen helfen?

Die Erfolge von Apple, Amazon, Netflix und Co. sind nicht die Ergebnisse von klugem Marketing. Die Produkte und Plattformen überzeugen, weil sie einen Mehrwert bieten. Sie helfen dabei, alltägliche Probleme zu lösen. Welche Produkte können Medienhäuser entwickeln, die ihren Kundinnen und Kunden im Alltag helfen? Die Denke vom Nutzer her ist zentral, wenn man sich unverzichtbar machen will. 

4. Begeistern wir unsere Nutzer mit Themen, die sie berühren?

In der Welt der Überinformation dringen diejenigen durch, die Emotionen wecken, Menschen in ihrem Alltag abholen, bei ihren Sorgen, Freuden, Hoffnungen. Es ist ein schwerer Fehler, das Feld der Emotionen den Populisten zu überlassen, die bevorzugt in Schwarz oder Weiß malen. Menschen sind komplex und sie begreifen Komplexität – wenn man sie denn lässt.

5. Lassen wir andere zu Wort kommen?

Der Trend geht zum Kommentar, denn er ist billig. Recherche hingegen kostet Geld. Aber Kommentare gibt es überall. Beobachtung, Beschreibung, Einordnung, Gespräch, echte Analyse führen weiter. Zuhören ist der Schlüssel, oder genau hinschauen. Wenig überzeugt so schnell wie eine gute Datenreihe – und wenig macht so viel Mühe.  

6. Suchen wir Vielfalt und lassen sie zu?

Es ist ein Reflex, der nicht nur beim Besetzen von Talk-Shows funktioniert: Journalisten greifen bei der Recherche wieder und wieder auf dieselben Experten zurück. Ein Grund dafür ist, dass es funktioniert. Ein Christian Drosten schafft Vertrauen, die Medienmarke profitiert. Aber die Welt ist weit, die Perspektiven vielfältig. Das 50:50 Projekt der BBC hat gezeigt, wie ein bewussterer Umgang mit Quellen nicht nur Geschlechtergerechtigkeit vorantreiben, sondern auch das Publikum begeistern kann.

7. Bieten wir Perspektiven an?

Etwa ein Drittel aller Bürgeren vermeidet den Kontakt mit Nachrichten mittlerweile bewusst, die Tendenz ist steigend. Der Hauptgrund: Journalismus sei zu negativ, mache schlechte Laune, wecke Ohnmachtsgefühle. Die Alternative ist keine Weichzeichner-PR. Aber Menschen brauchen Perspektiven und Lösungen, das Stückchen Inspiration. Wie sind andere aus einem Dilemma gekommen, was funktioniert? Die Ansätze des Konstruktiven Journalismus können helfen. Wer seine Nutzeren in dunkle Szenarien hineinführt, muss sie auch wieder hinausbegleiten. 

8. Gehen wir transparent mit Wissen, Quellen und Meinung um?

Manchmal weiß man, dass man (noch) nicht viel weiß – die Pandemie erinnert einen täglich daran. Aber weiß unser Publikum auch, wo unsere Erkenntnisse enden und das informierte Raten beginnt? Je mehr wir die Menschen mitnehmen auf die Forschungsreise, umso weniger peinlich wird es, wenn wir uns korrigieren müssen. Ähnliches gilt für den Umgang mit Quellen und deren Interessen. Journalismus wäre unmöglich in kompletter Transparenz, es gelten Fürsorgepflicht und Quellenschutz. Aber unsere Nutzeren haben Klarheit darüber verdient, wie wir arbeiten und warum. 

9. Erheben wir Daten und lernen daraus?

Oft ist es die bequemere Lösung, den Journalismus in die Nähe von Kunst zu rücken, die vor allem im Auge des Betrachters wirkt. Oder man argumentiert mit der Mission, dem öffentlichen Interesse, der Wächterfunktion, wenn man ein Stück verteidigen möchte, das beim Publikum „nicht funktioniert“. Man kann aber auch nach Gründen forschen. Dabei helfen Daten. Daten können niemals alles belegen und schon gar nicht erklären. Aber es wäre fahrlässig, sie nicht zu nutzen, um die Bedürfnisse des Publikums zu ergründen. Der A/B-Test sollte eine geläufige Vokabel in jeder Redaktion sein.

10. Begegnen wir den Menschen auf Augenhöhe?

Noch nicht einmal ein Fünftel aller Nutzer findet, dass die Medien den richtigen Ton treffen. 39 Prozent gaben im Digital News Report 2019 sogar explizit zu Protokoll, dass sie dieser Aussage überhaupt nicht zustimmen. Zu negativ, zu belehrend, zu stark politisch eingefärbt – Beschwerden gibt es viele. Das Verhältnis zwischen Journalisten und ihrem Publikum ist komplex, auch weil das Bild auf beiden Seiten häufig von denjenigen dominiert wird, die sich selbst besonders wichtig nehmen. Mehr Gespräch und mehr Begegnungen bilden Vertrauen und stärken den Journalismus. Zugegeben, in Pandemie-Zeiten ist das noch leichter gesagt als getan. Aber auch ohne physischen Kontakt kann man Fragen stellen – und das in Frage stellen, was man schon immer unter Qualität verstanden hat. Es mögen sich daraus sogar ein paar neue Antworten ergeben.     

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 22. März 2021. Aktuelle Kolumnen und Neues aus der Branche sind mit einem Abo zu lesen. 


News als Männersache? Warum sich viele Medienmarken mit Leserinnen so schwer tun

Der Journalismus hat ein Frauenproblem, und man muss nicht die Financial Times (FT) sein, um das als Chance zu begreifen. Die britische Finanz- und Wirtschaftszeitung hatte vor ein paar Jahren festgestellt, dass ein immenses Leserinnen-Potenzial in der Welt da draußen schlummern dürfte. Von 100 Leser*innen des Zentralorgans der Londoner City waren damals ungefähr 90 männlichen Geschlechts. Jeder auch nur halbwegs mit Marketing-Strategien vertraute Mensch begreift bei so einem Missverhältnis: Hey, da geht noch was! Und so machte sich die FT ans Werk, dachte über Leserinnen-Bedürfnisse nach, stellte mehr Frauen ein, setzte Themen anders, analysierte und veränderte die Bildsprache und entwickelte den Newsletter „Long Story Short“, der von Kolleginnen komponiert, aber auch von vielen Männern abonniert wurde. Und es ging was: Der Anteil der Leserinnen kletterte deutlich.

Viele Redaktionen tagesaktueller Medienmarken rätseln darüber, wie man Frauen stärker begeistern könnte, selbst wenn sie in der Beziehung besser dastehen als die FT oder andere Wirtschaftstitel. Forschung gibt es dazu kaum. Wer sich wenig Mühe gibt, tröstet sich deshalb mit Stereotypen. Frauen mögen halt weichere Themen, heißt es dann, Themen rund um Familie und Partnerschaft, Promi-Storys, Ratgeber- und Lokaljournalismus. Politik und Wirtschaft? Eher nicht. Komplett abwegig sind diese Annahmen nicht. Forscher*innen des Reuters Institutes in Oxford haben im vergangenen Jahr Daten aus dem Digital News Report daraufhin ausgewertet, wie Männer und Frauen in elf Ländern Nachrichten nutzen. Dabei zeigten sich Leser deutlich stärker an aktuellem Journalismus interessiert als Leserinnen, die Lücke lag durchgängig bei etwa zehn Prozentpunkten. Die Frage ist aber: Liegt es an den Themen selbst, oder können sich Frauen nur nicht mit deren Aufbereitung identifizieren?

In Erinnerung dazu bleibt ein Gespräch mit der irakisch-amerikanischen Journalistin und Frauenrechtlerin Zainab Salbi, die ihre Kindheit im Irak verbrachte und heute in den USA lebt. Salbi erzählte damals, sie sei mit Krieg aufgewachsen, habe aber als Mädchen Krieg ganz anders erlebt, als er in den Nachrichten dargestellt wurde. Dort sei es nur um Gewinne und Verluste gegangen, um Sieg und Niederlage, gezeigt worden seien Soldaten, Offiziere, Politiker – mehr Mann ging kaum. Sie aber sei von Frauen umgeben gewesen: Lehrerinnen, Ärztinnen, Verkäuferinnen, Müttern und Großmüttern – klar, die Männer seien ja meist abwesend gewesen. Hier könnte ein Indiz liegen: Politischer Journalismus, so wie er oft erzählt wird, hat mit der Lebenswirklichkeit vieler Frauen zu selten zu tun.

Das Portal Newsmavens, das für ein paar Jahre mit allein von Journalistinnen ausgewählten Inhalten experimentierte, bevor es 2019 eingestellt wurde, war in einer Bilanz zu ähnlichen Erkenntnissen gekommen. Frauen interessieren sich durchaus für Politik und Wirtschaft, aber eher für den Alltagsblick darauf, so die damalige Chefredakteurin Zuzana Ziomecka. Und auch die Reaktionen auf Plan W – das Wirtschaftsmagazin der Süddeutschen Zeitung – das sich vorwiegend an Frauen richtete, zeigten: Konstruktiver Journalismus kommt bei ihnen besser an als das ewige Kräftemessen und die Machtkämpfe, die der traditionelle politische Journalismus ins Zentrum rückt. Helden-Geschichten, wie sie im Wirtschaftsjournalismus oft erzählt werden, begeistern sie dafür weniger – das gilt übrigens auch für Heldinnen-Geschichten. Etwas mehr Forschung dazu wäre jedoch interessant und könnte den Journalismus bereichern.

Was die Studie des Reuters Institutes noch ergibt, führt auf eine weitere Spur. Frauen konsumieren Journalismus deutlich seltener lesend als Männer, sie hören lieber oder lassen den Fernseher laufen. Bei der Podcast-Nutzung ist das Geschlechterverhältnis deshalb sogar einigermaßen ausgewogen, wie Daten des Marktforschers Nielsen ergeben. Das hängt höchstwahrscheinlich damit zusammen, dass sich Frauen seltener als Männer ausschließlich mit der Weltlage beschäftigen, zum Beispiel am Frühstückstisch oder auf dem Weg zur Arbeit. Podcasts oder Radio kann man auch beim Kochen oder Wäschelegen hören oder während man das Kind zum Kindergarten fährt. Auch der Fernseher lässt sich als Nebenbei-Medium nutzen, wenn der Staubsauger nicht zu laut ist. Es sollte eigentlich niemanden wundern: Je mehr Care-Arbeit jemand leistet, desto weniger Zeit bleibt ihr oder ihm für den Journalismus.

Und dann haben die Oxford-Forscher*innen noch etwas belegt: Frauen verhalten sich in den sozialen Netzwerken anders als Männer. Sie kommunizieren viel mit Freund*innen und Familie, schalten sich aber seltener in politische Debatten ein. Ein Grund dürfte die deutlich höhere Wahrscheinlichkeit sein, mit der Frauen im Netz angegriffen, gemobbt und belästigt werden. Das mögen sich viele nicht antun.

Als Medienmacher*in kann man diese Dinge nun hinnehmen, oder man kann etwas tun. Am leichtesten ist es, mehr Frauen in der Berichterstattung sichtbar zu machen, die BBC hat in ihrem 50:50 Projekt gezeigt, wie und vor allem dass das geht. Einige Redaktionen – eher außerhalb Deutschlands – setzen bereits Bots als Mittel der Selbstkontrolle ein: Wie viele Frauen bilden wir ab, wie viele zitieren wir? Seitdem Covid-19 das Expertentum beflügelt, wurden es vielerorts weniger. Gebraucht werden mehr Journalistinnen an entscheidenden Stellen: in den meinungsbildenden und in den Investigativ-Ressorts. Die Zusammensetzung der Redaktion beeinflusst durchaus, ob die investigative Recherche in Steueroasen führt oder in die Nagelstudios um die Ecke, wo es reichlich Ausbeutung gibt (siehe: New York Times, „The Price of Nice Nails“). Nur wäre es naiv anzunehmen, dass allein das mehr Frauen an die Nachrichten bringt. Der Journalismus kann immer nur so gut sein wie die Gesellschaft, in der er wirkt. Diesen Ehrgeiz allerdings sollte er haben.

Diese Kolumne erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 18. Februar 2021.

Optimismus wird unterschätzt – Was von Marty Baron bleibt

Auf dieser Seite des Atlantiks dürfte Marty Baron einigen auch außerhalb des journalistischen Mikrokosmos ein Begriff sein, der Grund dafür ist „Spotlight“. In dem 2015 mit einem Oscar gekrönten Film treibt ein junger, neuer Chefredakteur ein Recherche-Team bei der Tageszeitung Boston Globe zu Höchstleistungen an. Den Reporter*innen gelingt es schließlich, einen riesigen Missbrauchs-Skandal in der Katholischen Kirche aufzudecken. Der Chefredakteur heißt im wirklichen Leben Martin Baron, und der Schauspieler Liev Schreiber, der ihn spielte, sah ihm im Film tatsächlich ziemlich ähnlich. Zu der Zeit war Baron allerdings schon zur Washington Post (WaPo) abgeschwirrt, wo er 2013 Chefredakteur wurde, kurz bevor Amazon-Chef Jeff Bezos die Zeitung kaufte. Dort hat der @PostBaron, wie er sich auf Twitter nennt, nun genug. 66 Jahre alt ist er, in dieser Woche gab er bekannt, er werde Ende Februar seinen Posten aufgeben.

In mancher Redaktion dürften sich Reporter*innen darüber gerangelt haben, wer Baron zum Abschied würdigen darf. Klar, mit einem solchen gestandenen Journalisten, der in seiner Zeit als Chefredakteur die Redaktion von 500 auf 1.000 Leute vergrößerte, mit ihnen zehn Pulitzer-Preise hereinholte und das mit der Digitalisierung trotzdem erstklassig hinbekam, macht sich jeder gerne gemein. „Democracy dies in darkness“ – der Claim der WaPo wird in kaum einem Artikel fehlen. Und wer es lustiger mag, integriert den Ausdruck „swashbuckling“ in seinen Englisch-Wortschatz. Den benutzte Jeff Bezos, um seinem Geschäftspartner zum Abschied zuzurufen: „Du bist verwegen (swashbuckling) und vorsichtig, du bist diszipliniert und empathisch.“ Anstrengend sei es mit ihm allerdings auch oft gewesen, gab Bezos zu.

Man könnte also viel sagen über diesen Marty, der sich seiner Bedeutung durchaus bewusst war. Allerdings nicht so bewusst, dass er nicht auch immer wieder im kleinen Kreis jungen und erfahrenen Journalist*innen von seiner Arbeit erzählt hätte, wie er das regelmäßig am Reuters Institute for the Study of Journalism getan hat, wo er im Beirat sitzt. Er machte das gerne, auch in der Hoffnung, dass ein paar seiner Botschaften den Weg zurück über den Atlantik finden würden. Erst, wenn er etwas öffentlich gesagt habe, nehme seine Redaktion ihm ab, dass ihm die Sache ernst sei, sagte er einmal. Eines war ihm offenbar ernst, denn er wiederholte das, und es ist hängengeblieben: „Ich stelle nur Optimisten ein.“ Ein Gespür für diejenigen Kolleg*innen, die mit Hartnäckigkeit und Erfolgsglauben Dinge vorantreiben, ob investigative Recherchen oder Produktentwicklung, könnte ein Teil seines Erfolgsrezepts für die digitale Transformation gewesen sein (das andere trug den Vornamen Jeff).

Als pragmatisch-zuversichtliche Optimistin kann man dem nur folgen. Wie schön ist es doch auch als Chefin, Alltag und gerne Bürofluchten mit Kolleginnen und Kollegen zu teilen, die bei jeder kleinen und größeren Krise einmal tief durchatmen und einem dann mit verzweifelt-hoffnungsvollem Lächeln versichern: „Das kriegen wir schon hin.“ Wie schätzt man sie, diejenigen, die immer wieder experimentieren, nachhaken, durchrechnen und letztlich mit der Botschaft um die Ecke biegen: „Das klappt.“

In der Medienbranche allgemein ist der Optimismus als Konzept dagegen wenig beliebt. Das liegt einerseits an den Kennzahlen und den bröckelnden Geschäftsmodellen. Andererseits steht dem aber auch das Selbstverständnis eines Berufsstands entgegen, der oft dem Reflex erliegt, jeder Aufgabe das Wort Krise anzuhängen und sie damit noch ein wenig unlösbarer erscheinen zu lassen, man denke an Corona-Krise, Flüchtlings-Krise, Klima-Krise, Impfstoff-Krise und, ja, Medien-Krise. Optimismus wird in dieser Lesart oft als Schönfärberei missverstanden. Journalisten sollen schließlich kritisch sein und Schweinereien aufklären. Die Welt in Zuversicht zu tauchen, das möge bitte die PR übernehmen. Aus diesem Grund hat auch derjenige Journalismus zuweilen kommunikativ einen schweren Stand, der sich konstruktiv oder lösungsorientiert nennt.

Das Publikum allerdings ist davon zunehmend genervt. Mehr als ein Drittel der Nutzer*innen finden Journalismus zu negativ und schalten deshalb immer wieder mal ab, wie im Digital News Report ein ums andere Jahr zu lesen ist. Nicht unbedingt, weil sie keine schlechten Nachrichten mehr hören mögen, sondern weil viele die Welt um sie herum ganz anders wahrnehmen – zumindest, wenn nicht gerade Pandemie herrscht. Sie machen oft ziemlich positive Erfahrungen mit Kolleg*innen, Freund*innen, Nachbar*innen und wildfremden Menschen im Supermarkt oder am Bahnhof, und haben deshalb das Gefühl, selbst etwas erreichen zu können, wenn sie sich zusammentun und die Dinge anpacken. Herausforderungen müssen bewältigt werden, hilft ja nichts.

Und das ist tatsächlich der Kern des Optimismus: nicht etwa ein rosarotes Weltbild, ein Verleugnen der Tatsachen, ein von Euphorie getränktes Aufspringen auf jeden noch so durchsichtigen Trend. Aber die Zuversicht, dass man mit ordentlichem Einsatz von Gehirnzellen, Fleiß und Kooperation schon irgendwie weiterkommt auf dem Weg zu einer besseren Zukunft, so weit das Ziel auch noch entfernt sein mag. Es geht nicht immer für alle gut aus, manch eine Generation trägt Lasten, die kaum zu schultern sind. Aber wer Max Rosers Langzeit-Datenreihen in Ourworldindata.org folgt, weiß, dass Fortschritt Realität und keine Fiktion ist.

Nun wäre es falsch zu behaupten, dass Fortschritt allein von Optimist*innen gebaut wird. In jedem Team muss es Zweifler*innen geben, die Details und Nuancen sehen, auf Risiken und Gefahren hinweisen und sich nicht von Chef*innen zum Schweigen bringen lassen, die die Welt in „Trouble Shooter und Trouble Maker“ einteilen, auf Deutsch wird das Wort Bedenkenträger sehr abfällig verwendet. So manch ein Unglück hätte verhindert, manch eine Gefahr abgewendet werden können, hätte man rechtzeitig Bedenkenträger*innen Gehör geschenkt. Aber die Kraft steckt im Optimismus, dem Glauben, dass etwas Gutes entstehen kann, wenn man die Sorgen und Zweifel nur ernst genug nimmt.

Ganz sicher haben sie auch Martin Baron beschwert, den großen Investigativ-Journalisten, als er sich vor acht Jahren mit Jeff Bezos traf, um über die Zukunft der WaPo zu sprechen. Werde die Redaktion unabhängig bleiben können unter den Augen eines Mannes, für den die WaPo eher Spielzeug als Berufung zu sein schien, und dessen Unternehmens-Imperium in der Abteilung Menschlichkeit deutlich weniger Sterne verdient als in der Kategorie „Customer Obsession“? Der Chefredakteur war jedenfalls zufrieden mit dem Eigentümer, das hat er eins ums andere Mal betont. Womöglich hätte sich Marty Baron sogar selbst eingestellt.

Dieser Beitrag erschien für den Newsletter des Digital Journalism Fellowship am 28. Januar im Blog der Hamburg Media School

Das Ende des journalistischen Bauchgefühls

Warum tun sich Journalisten und ihr Publikum manchmal so schwer miteinander? Auch, weil häufig das Maß nicht stimmt. Das richtige Maß an Tempo, an News, Verständnis, Vorwissen, Vielfalt. Und Teamarbeit.

Da waren sie wieder, die zwei Seelen in meiner Brust, und sie rangen heftig miteinander. Als die amerikanische Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg im September ihren Kampf gegen den Krebs verlor, wollte sich die Leserinnen-Seele in tiefem Respekt vor der Juristin verneigen, die zur Ikone geworden war. Bis zuletzt hatte RBG, wie sie von ihren Fans fast zärtlich genannt wurde, am Supreme Court für die gleiche Behandlung von Frauen und Männern, für die Rechte der Schwachen gefochten. Im Angesicht des Todes dieser großen Persönlichkeit hätten auch die Redaktionen innehalten müssen, fand die Leserin. Wenigstens für ein paar Stunden hätten sie allein Ruth Bader Ginsburg würdigen können.

Die Journalistinnen-Seele in mir hingegen verstand den Reflex nur allzu gut, der durch praktisch alle Schlagzeilen schwappte. Weiterdrehen, heißt der im Branchen-Jargon, zeigen, was man drauf hat an analytischer Schärfe und politischem Verstand, nicht stehenbleiben beim Ereignis, sondern die Folgen ausleuchten. Bader Ginsburg wird geahnt haben, dass Präsident Donald Trump, dem sie noch 87-jährig und schwerkrank die Stirn geboten hatte, selbst die Nachrichten über ihr Lebensende dominieren würde.

Journalismus bedeutet auch Atemlosigkeit. Schneller sein als andere, besser als die Konkurrenz, weiter denken, pointierter kommentieren – manchmal wissen die Redakteurinnen, Reporter und Kommentatorinnen gar nicht mehr so genau, wen sie damit eigentlich beeindrucken wollen: wirklich das Publikum? Oder vielleicht doch eher den Ressortleiter, die Chefredakteurin, die Kollegen in einer von Krisen gezeichneten Branche? Oder gar nur sich selbst? Man hat das schließlich so gelernt. Erster sein ist wichtig, und wenn man Zweiter ist, muss man wenigstens besser sein. „Better right than first“ heißt ein gängiger Lehrsatz in vielen Redaktionen, die natürlich trotzdem alles Erdenkliche daran setzen, „first“ zu sein.

Wissen die Leser*innen das Tempo zu schätzen?

Aber wie sehen das diejenigen, für die dieser ganze Aufwand eigentlich betrieben werden sollte: die Leser, Hörerinnen, Zuschauer und Nutzerinnen? Wissen sie das Tempo zu schätzen? Fragt man sie, fällt das Urteil recht wohlwollend aus. Rund zwei Drittel der Onlinenutzer stimmten laut dem Digital News Report von 2019 der Aussage zu, dass die Medien gut darin seien, sie über das Tagesgeschehen auf dem Laufenden zu halten. All die Push-Meldungen und eilig zusammengezimmerten Nachrichten zahlen sich also aus, könnte man meinen. Das wäre erfreulich, würde die Beurteilung anderer journalistischer Qualitäten im Vergleich dazu nicht einigermaßen steil abfallen. Gerade einmal jeder zweite Onlinenutzer attestierte den Redaktionen nämlich, die Meldungen des Tages auch angemessen zu erklären. Noch weniger Studienteilnehmer waren der Meinung, dass Journalist*innen einen guten Job dabei machen, den Mächtigen auf die Finger zu schauen. In zwei Kategorien schnitten die Medien besonders schlecht ab. Nicht einmal jeder Dritte fand, dass die ausgewählten Themen für sein tägliches Leben relevant sind. Und gerade einmal 16 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, dass die Medien in der Berichterstattung den richtigen Ton wählen. Der häufigste Vorwurf: Sie seien zu negativ.

„Die größte Herausforderung der digitalen Transformation ist nicht die Technik, sondern der Kulturwandel.“

Man kann das jetzt mit der Begründung abtun, dass das ja nur eine Umfrage ist. Man kann gar damit kontern, selbst viel gefälligere Zahlen vorweisen zu können, wie es der Intendant eines deutschen öffentlich-rechtlichen Senders einmal in kleiner Runde getan hat. Man kann aber auch darüber nachdenken. Beim Digital News Report handelt es sich immerhin um die weltweit größte fortlaufende Online-Untersuchung zum Medienkonsum. Das Reuters Institute for the Study of Journalism der University of Oxford publiziert die Studie jährlich im Juni. Im laufenden Jahr hatten sich mehr als 80.000 Nutzer aus 40 Ländern daran beteiligt, im genannten Jahr 2019 waren es nur unwesentlich weniger. Und auch wenn Durchschnittswerte in Umfragen nie die ganze Geschichte erzählen, ist die Tendenz eindeutig: Nach Meinung des Publikums ist Journalismus zwar aktuell, aber zum Teil nicht besonders relevant. Dazu sei er so negativ und in der Menge oft erschlagend, dass etwa ein Drittel der Leser*innen mindestens zeitweise zu Nachrichten-Verweigerern wird.

Ja, aber …

Wer dem Journalismus erst einmal aus dem Weg geht, weil er ihn nervt, überfordert oder ihm keinen Mehrwert bietet, der ist nicht nur als zahlender Kunde verloren. Er oder sie taucht gar nicht erst in den Nutzerdaten auf, die Präferenzen abbilden sollen und aus denen Redaktionen Schlussfolgerungen darüber ziehen, was inhaltlich „läuft“. Noch schwerer wiegt allerdings: Journalismus-Verweigerer sitzen womöglich schneller Falschmeldungen auf und sind generell weniger gut in der Lage, als Bürger*innen informierte Entscheidungen zu treffen. Die Publikumsnähe des journalistischen Angebots steht in direktem Verhältnis zur Qualität der Demokratie.

Journalist*innen reagieren auf derartige Denkanstöße häufig mit einem beherzten „Ja, aber“. Die Leser*innen verschlängen doch aber alles, was Katastrophe, Streit, Drama und Unglück in der Unterzeile habe. Die Nutzerdaten belegten dies. Investigativ-Reporter*innen widersprechen noch vehementer. Es sei schließlich ihr Job, dem Publikum schlechte Laune zu machen. Nur wenn man Missstände aufdecke, ändere sich etwas zum Guten, argumentieren sie. Beides stimmt. Die Frage ist nur: Findet der Journalismus das richtige Maß? Schließlich geht es darum, ein größtmögliches Publikum zu begeistern. Wer die Job-Beschreibung „vierte Gewalt“ ernst nimmt, darf sich nicht damit zufriedengeben, vor allem im politischen Betrieb oder von der Konkurrenz gelesen zu werden. „Warum hatten die das und wir nicht?“, diese Frage wird in den meisten Redaktionskonferenzen vermutlich mit mehr Nachdruck gestellt als: „Warum interessiert die Leute dieser Stoff nicht, und wie können wir das ändern?“

Eine zunehmend wichtige Frage für die demokratische Wirksamkeit von Journalismus ist außerdem, wen er überhaupt (noch) erreicht. Wenn man ehrlich ist, war diese Quote noch nie so grandios. Zumindest dann nicht, wenn man die gesamte Gesellschaft als Grundlage nimmt. Den Qualitätsmedien ist es zum Beispiel immer schon viel schwerer gefallen, Leserinnen – in diesem Fall bewusst in der weiblichen Form – für sich einzunehmen. Insbesondere bei Wirtschaftstiteln war (und ist) die Leserschaft zu rund 80 Prozent männlich. Das liegt nicht daran, dass sich Frauen nicht für Wirtschaft oder Politik interessieren, im Gegenteil. Viele von ihnen fühlen sich nur nicht angesprochen von einem Journalismus, der sich in Ton und Inhalt rauf und runter um Wettbewerb, Sieg und Niederlage, Helden und gefallene Helden dreht. Leserinnen begeistern sich tendenziell mehr für Auswirkungen von Politik auf den Alltag, persönliche Geschichten, die auch Hoffnung machen, weil sie Wege aus Krisen aufzeigen. Über ständigen Schlagabtausch zu lesen, empfinden sie als ermüdend und Verschwendung ihrer ohnehin knapp bemessenen Zeit.

Junge Leute kreiden den Medien den Hang zur schlechten Laune besonders stark an. Auch mit Sarkasmus und Ironie, auf die man in Redaktionen oft so stolz ist, kommen sie schlecht klar. Sie wünschen sich vom Journalismus mehr Nutzwert für ihr Leben, bessere Erklärungen und gerne auch ein bisschen Spaß – aber eben nicht jenen, der mit einer gewissen Überheblichkeit auf Kosten anderer geht. In persönlichen Gesprächen mit Studierenden verschiedener Fachrichtungen scheint dies ein ums andere Mal durch. Die qualitative Studie How Young People Consume News von Nic Newman vom Reuters Institute belegt ein entsprechendes Nutzerverhalten. Redaktionen müssen diese Bedürfnisse ernst nehmen. Schließlich gibt es kaum ein Medienhaus, das nicht die Sorge hat, die nachwachsenden Generationen an Youtube- oder Instagram-Held*innen oder gleich ganz an Netflix zu verlieren.

Aus der Perspektive der Demokratie sollte es Journalist*innen aber ganz besonders sorgen, dass der digitale Graben in der Mediennutzung tiefer wird. Diejenigen, die hochgebildet und versiert im Umgang mit Online-Angeboten sind, finden in der digitalen Informations- und Medienwelt heute sehr viel bessere, das heißt vielfältigere, hochwertigere und faktenreichere Angebote als in der Zeit vor Suchmaschinen und sozialen Netzwerken. Viele derjenigen hingegen, die früher wenigstens dann und wann mal zur Zeitung griffen, die Fernsehnachrichten anschalteten oder das Radio laufen ließen – und sei es aus Langeweile –, haben heute so viele Möglichkeiten zur Ablenkung und zum Zeitvertreib, dass sie immer seltener mit Journalismus in Kontakt kommen. Forschung belegt das.

„Nach Meinung des Publikums ist Journalismus zwar aktuell, aber zum Teil nicht besonders relevant.“

Journalismus hat also eine gewaltige Bringschuld. Es gilt, das Publikum in all seiner Vielfalt dort abzuholen, wo es ist: auf den Plattformen, die es nutzt, zu den Zeiten, an denen es sich dort aufhält, mit Formaten, die ihm gefallen. Voraussetzung ist allerdings, dass Redaktionen diese Vielfalt erst einmal erkennen. Das fällt ihnen umso schwerer, je ähnlicher die Kolleginnen und Kollegen einander sind, ganz gleich ob das die Ausbildungswege, das Geschlecht, das Alter, die soziale oder die ethnische Herkunft betrifft.

Ein großer und verbreiteter Irrtum ist, dass man sich um Diversität immer noch kümmern kann, wenn die digitale Transformation erst einmal bewältigt ist. Nein, Vielfalt steht im Kern des Wandels hin zu einem Angebot, das die Produkte vom Publikum her denkt. Anders formuliert: Die größte Herausforderung der digitalen Transformation ist nicht die Technik, sondern der Kulturwandel. Diversität muss nicht nur geschaffen, sondern auch geschätzt und gelebt werden.

Vor allem für Journalist*innen heißt das umlernen. Dabei geht es nicht nur um neue Fähigkeiten, die man sich in ein paar Kursen draufschaffen kann. Die Digitalisierung hat die Machtverhältnisse zwischen Nutzern und Produzenten wenn nicht umgekehrt, so doch zumindest ins Wanken gebracht. Früher gab es Bücher wie Den Wirtschaftsteil der Zeitung richtig lesen und nutzen. Auch wer gut ausgebildet war, sollte sich ruhig noch ein wenig anstrengen. Die Medien erzogen sich ihr Publikum, wer nicht folgen konnte, war raus. Das Geld kam ja ohnehin woanders her: von den Anzeigenkunden, die vor allem am zahlungskräftigen, gebildeten Publikum interessiert waren.

Heute sind die Verlage auf jede zahlende Nutzerin, jeden Nutzer angewiesen. Gebrauchsanweisungen liest aber niemand mehr. Wer nicht intuitiv versteht, warum etwas wichtig ist, wie man es nutzt und worauf es ankommt, wendet sich ab. Ein anderes Angebot wartet schon. Die neue Aufgabenstellung heißt also: Nachrichten so anschaulich machen, dass sie möglichst viele Menschen erreichen, die sie verstehen, nutzen können und sich dabei nicht langweilen.

Seite an Seite mit Entwicklern

Das Gute ist, dass es dafür mehr Plattformen und Möglichkeiten gibt als je zuvor. Der Instagram-Post, das TikTok-Video, der Podcast, die interaktive Infografik, virtuelle Realität, ein Videospiel, der E-Mail-Newsletter – was sich für welche Stoffe und Zwecke eignet, lässt sich ausprobieren. Anders als früher weiß man heute dank neuer Datenfülle zum Glück ziemlich genau, was funktioniert. Wer es nicht immer genau weiß sind die Redakteure und Reporterinnen, die ihr Berufsleben lang ihr Bauchgefühl trainiert haben. Das führt noch immer zu manchem Scoop. Aber im Zusammenspiel der verschiedenen Funktionen in den Verlagshäusern schwindet die Definitionsmacht der Journalist*innen. Produkte, die das Publikum begeistern, können nur Seite an Seite mit Entwicklern, Daten- und Marketing-Spezialisten erfunden, gebaut und getestet werden.

Das Bauchgefühl kann irren

Und es kommt noch schlimmer, wenn man das so formulieren will. „Die Leitung des Teams muss immer jemand von der Business-Seite haben“, sagt Anna Aberg, Digitalchefin der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter, die sich durch besondere Innovationsfreude auszeichnet und bei den Digital-Abos schnell wächst. Das ist für manch eine Journalist*in schwer zu ertragen. Es kratzt tief am Selbstverständnis eines Berufsstands, in dem in weiten Teilen heute noch so ausgebildet und geführt wird wie vor 20 Jahren. Es ist ein Berufsstand, der alles Recht dazu hat, stolz darauf zu sein, was von Reporterinnen und Redakteuren täglich geleistet, riskiert und durchgefochten wird, dessen Stolz aber viel zu häufig mit einem Überlegenheitsgefühl einherging – dem Publikum gegenüber und auch den eigenen Kollegen. Mit großem Selbstverständnis haben Journalist*innen die Mitstreiter*innen vom Marketing, der Infografik oder der IT-Abteilung lediglich als Zuarbeiter verstanden. Teamarbeit geht anders, Kundenorientierung auch.

Zum Glück wächst in den Verlagen eine neue Generation heran, die Führung ernst nimmt und als ständiges Lernen versteht. Dazu gehören übrigens auch jene älteren Semester, die es nie gemocht haben, dass man jede schlampige, ungerechte oder unsinnige Entscheidung mit dem eigenen „Bauchgefühl“ rechtfertigen kann. Dies könnte den Ton nicht nur in den Redaktionskonferenzen verändern, sondern womöglich ebenso den der Produkte, für die sich die Nutzer*innen begeistern sollen.

Journalist*innen leisten viel für die Demokratie. Manche riskieren dafür ihre Gesundheit, einige sogar ihr Leben. Dennoch legitimiert sich Journalismus nur über sein Publikum, wie Rasmus Kleis Nielsen, Direktor des Reuters Institutes in Oxford, zu sagen pflegt. Journalismus ist manchmal Kunst, aber viel öfter Dienstleistung. Seine Grundhaltung ist Mut. Vor allem aber sollte es auch Demut sein. 

Dieser Text erschien in „Journalist“, gedruckte Ausgabe November 2020, online am 9. November 2020.