Oldies nicht nur fürs Weiße Haus – Redaktionen brauchen den Generationen-Mix

Okay, die Autorin dieses Textes ist voreingenommen. Geburtsjahr 1966 – von da an qualifiziert man sich bei DER SPIEGEL für ein Abfindungsangebot. Die Botschaft ist klar: Das Karriereende naht. Jetzt allerdings hat ein 78-jähriger Präsident das Weiße Haus bezogen, und seine Vize, Kamala Harris, ist auch schon 56. Letzteres gilt für Männer noch als bestes Alter, für Frauen eher als eine Zeit, in der sie sich nach Ansicht mancher von der Bildfläche verziehen sollten, es sei denn, sie benutzen Botox. Aber nun, da sich Biden/Harris als dynamisches Aufräumkommando nach der Ära Trump ans Werk machen, ändert sich das hoffentlich. Man könnte sagen: Oldies sind wieder wer.

Das ist gut. Denn spricht man mit jungen und älteren Medien-Manager*innen über Veränderungsprojekte, wird einem ziemlich einhellig bestätigt, was man schon selbst erlebt hat: Affinität zum digitalen Wandel, Neugier, Lernbereitschaft und Begeisterung dafür, was die Zukunft bereithalten könnte, sind keine Eigenschaften, die am Alter hängen. So manch eine gestandene Oldie-Reporterin bespielt lässig die sozialen Netzwerke, während der junge Journalistenschüler sich nichts anderes vorstellen kann, als lange Texte zu schreiben – für Print natürlich. Nicht jeder, der zu Beginn der Smartphone-Ära auf die Grundschule gekommen ist, qualifiziert sich allein deshalb als Digital Native mit Tech-Verständnis (auch wenn er oder sie vermutlich mühelos coole Videos schneiden kann). Und nicht jeder des Jahrgangs 1966 oder älter rechnet schon an seinem Budget für den Ruhestand herum.

Die Stipendiat*innen im Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School zum Beispiel sind zwischen 28 und 59 Jahre alt. Das funktioniert super, und warum auch nicht? Jetzt, wo Gründen einfacher ist als je zuvor, könnte 60 das neue 30 sein. Wer Glück hat, nutzt das Geld aus der Abfindung als Startkapital.

In den Redaktionen wird diese Botschaft allerdings nicht gelebt, im Gegenteil. Sie müssen sparen. Und wen wird man da am liebsten los? Klar, diejenigen, die viel kosten, und denen man qua Geburtsjahr irgendwie nicht mehr so richtig zutraut, den Schritt in die digitale Welt mitzugehen. Umstrukturierungen beim Stern, wo man einfach mal das Wirtschafts- und Politik-Ressort von Hamburg nach Berlin verlagert und unter neuer Leitung fusioniert, ein Abfindungsprogramm bei der SZ, das zum Leidwesen mancher Leitender auch echte Leistungsträger*innen angenommen haben und Kürzungen in vielen anderen Häusern nehmen eine Sparwelle vorweg, die früher oder später alle erfassen und vor allem viele ältere Talente aus dem Job drängen wird.

Das wird den Journalismus ärmer machen. Denn wer die Grenze beim Jahrgang zieht, drückt damit automatisch einen Haufen kluge und wissbegierige Kolleg*innen raus, die dem Unternehmen Erfahrung, Einblicke und historisches Verständnis entziehen, manchmal beneidenswerte Energie, die notwendige Portion Gelassenheit und Coolness bei Attacken von außen, oder die Fähigkeit, Hype von Trend und Trend von Innovation zu unterscheiden. Ein guter Altersmix ist auch für den Geschäftserfolg wichtig. Gerade jetzt, wo es gilt, digitale Abos zu verkaufen, geht es wieder verstärkt um Qualität. Originelle Themenwahl und intensive Recherchen, gute Einordnung und Erklärung, darauf kommt es an. Das bestätigt einem jedes Zeitungshaus, das den digitalen Wandel erfolgreich stemmt. Schließlich möchte kaum ein*e Nutzer*in für etwas zahlen, das er anderswo umsonst bekommt. Eine ganze Generation von Online-Journalist*innen ist allerdings auf Schnelligkeit und Optimierung trainiert. Sie hat ihre Zeit allein vor Bildschirmen verbracht, zum Rausgehen und Quellen pflegen war gar keine Zeit. Verbünden sie sich mit gestandenen Reporter*innen, können beide Seiten voneinander lernen. Meistens macht es allen Beteiligten Freude.

Ironisch ist, dass Redaktionen das alles wissen. In Leitartikeln und Kommentaren fordern sie Konzepte für lebenslanges Lernen. In Wirtschaftsressorts werden Firmen verurteilt, die sich ihrer Alten entledigen, Menschen porträtiert, die mit 50 noch eine Ausbildung beginnen, volkswirtschaftliche Modellrechnungen vorgelegt, nach denen alle viel länger arbeiten müssten. Nur in den eigenen Verlagshäusern lässt man sie nicht. Alt = unbeweglich und hoffnungslos analog – interessanterweise machen oft gerade jene Manager diese Gleichung auf, die sich selbst schon für digital halten, weil sie mit ihren Tennis-Kumpels in der WhatsApp-Gruppe kommunizieren.

Schwer werden es insbesondere viele von denjenigen haben, die gut über 40 aber noch deutlich zu jung für allerlei Ausstiegsprogramme sind. Mit ihnen planen die wenigsten Verleger die Zukunft, es sei denn, sie sind schon Chef*in. Das gilt ganz besonders für Frauen. Generationen von Kolleg*innen, die sich für mehr Frauen in Führung eingesetzt haben, können sich nun über Erfolge freuen – allerdings profitieren sie nicht selbst davon. So manch ein Chef mit wenig Trittsicherheit auf digitalem Terrain schätzt es nämlich, wenn eine junge Co-Chefin ihren Glanz mit ihm teilt und ihm so dabei hilft, seinen Status zu bewahren. Junge, digitalaffine Frauen sind die Gewinnerinnen der Redaktions-Rochaden – junge Männer sowieso (anders, als sie das selbst oft behaupten).

Aber natürlich ist es Unsinn, vom Alter auf die Innovationsfreude zu schließen. Die hängt viel stärker von der Persönlichkeit, von guten und schlechten Erfahrungen, von allgemeiner Intelligenz, Lebensvorstellungen, Vorlieben und natürlich von dem Status ab, den man im bisherigen Gefüge hat und womöglich zu verlieren fürchtet. So manch ein Oldie hat sich schon begeistert auf Neues gestürzt, weil endlich mal jemand bemerkt hat, was er oder sie auf dem Kasten hat. So manch eine Mutter strotzt vor Energie, wenn die Kinder durch die Schule sind und ihr nun all die Familien-Zeit für eigene Projekte bleibt.

Kein Zweifel, jede Redaktion, jede Verlagsabteilung braucht junge Leute, auch solche, die Verantwortung übernehmen. Und manch ein Platzhirsch sollte endlich Platz machen. Aber nachhaltige Innovation kann erst im richtigen Generationenmix entstehen. Bei allem Bestreben, mehr Vielfalt in den Journalismus zu bringen, gehören die Oldies auf jeden Fall dazu.

Dieser Text für den Newsletter des Digital Journalism Fellowship erschien am 21. Januar 2021 im Blog der Hamburg Media School

Echt jetzt? In einer Welt, die aus Daten gebaut wird, ist die Realität angezählt

In der digitalen Welt sind „Fake News“ nur ein Symptom für ein Phänomen: Was Realität ist und was nicht, wird zunehmend verschwimmen. Das kann Gutes bewirken. Aber es gibt auch einige Risiken.

Erinnert sich noch jemand an „Second Life“? Als das kalifornische Linden Lab das Online-Spiel 2003 auf den Markt brachte, sah das irgendwie nach Zukunft aus. Wer seinem eigentlichen Leben nicht viel abgewinnen konnte, baute sich eben virtuell ein zweites auf, in dem er klüger, schöner und definitiv erfolgreicher war. Um Second Life ist es still geworden, denn heute braucht niemand mehr einen Avatar, um der Wirklichkeit ein wenig Glanz abzutrotzen. Für den Hausgebrauch reichen ein paar Social Media Profile. Das erste und das zweite Leben verschmelzen zu einem.

Die Realität ist angezählt, und das in vielen Lebensbereichen. Schließlich versprechen ihre virtuelle oder erweiterte Variante – oft als XR oder extended reality zusammengefasst – effektiveres Arbeiten, intensivere Erlebnisse, bessere Information und ohnehin mehr Spaß als die dröge Wirklichkeit. Virtuelle Realität macht das Lernen anschaulicher. Intelligente, mit Daten gespickte Brillen werden der Chirurgin und dem Mechaniker gleichermaßen dabei helfen, alle Handgriffe perfekt zu platzieren. Die Unternehmensberatung Accenture prognostiziert in einem zukunftsweisenden wie kritischen Report, dass in vielen Berufsfeldern bis zu einem Drittel der Arbeitszeit von XR-Anwendungen ergänzt werden wird.  

Aber damit entstehen neue Fragen. Was in dieser Welt ist echt, authentisch und real, und was ist manipuliert, inszeniert, geschönt oder schlichtweg erlogen? Die vielzitierten „Fake News“ – von Journalismus-Verächtern gerne als Kampfbegriff missbraucht –, sind nur eine Facette dieses Phänomens. Von aufwändigen XR-Anwendungen bis hin zu Filtern, Photoshop oder Apps, die einen zum Spaß wie eine Greisin oder eine Witzfigur aussehen lassen, bedient allerlei Software ein tiefes menschliches Bedürfnis: sich die Welt schöner oder zumindest anders zu machen, als sie sich darstellt. Und die Möglichkeiten, mit der Realität zu spielen, nehmen zu. Ist das verwerflich, oder kann das ein Segen sein?

Wahr ist: Die Realität steht nicht bei allen und nicht zu jeder Zeit hoch im Kurs. Schließlich hat die Erde ihren Bewohnern schon immer einiges abverlangt. Die Natur ist unberechenbar, der Mensch voller Makel, und die Wirklichkeit kann grau, düster oder sogar grausam sein. Religionen und Kulte haben es deshalb schon immer verstanden, Menschen in andere Welten zu entführen, wenn es im irdischen Leben allzu anstrengend wurde. Laut biblischer Erzählung ist das Paradies die Benchmark für eine erstrebenswerte Realität. Rauschmittel wurden von jeher dazu genutzt, dem komplizierten Hier und Jetzt zu entfliehen. Von den Römern stammt der Slogan: „Brot und Spiele“. Letztere dienten wie heute einerseits der Ablenkung, andererseits als Trainingscamp für die herrschenden Machtverhältnisse. Jedes neue Medium lieferte gleich ein ganzes Portfolio an virtuellen Fluchtwegen aus dem Alltag mit. Jeder, der seine Kindheit bevorzugt im Schein einer funzeligen Leselampe auf dem Bett verbracht hat, weiß, mit welchem Sog Literatur einen in Parallelwelten transportieren kann. Gleiches vermochten der Film, das Radio, Fernsehen sowieso.

Nicht immer diente all das dem Fortschritt. Denn der entsteht nicht aus dem Bedürfnis, der Realität zu entfliehen. Er verlangt, dass man sie verändern will. Dies beginnt zwar oft mit Träumen. Aber für das, was der überstrapazierte Begriff Innovation beschreibt, ist es zwingend, irgendwann daraus aufzuwachen und zur Tat zu schreiten. Mit der Aufklärung kam deshalb ein neues Mantra in die Welt. „Du musst den Tatsachen ins Auge sehen!“, sagt man, oder auf Englisch: „Face it“ und get real!“. Realitätssinn gilt als Qualität in einer aufgeklärten Gesellschaft.

Ganze Berufsstände wie Wissenschaftler und Journalisten tragen tagein tagaus Fakten wie kleine Puzzleteile zusammen, um ein möglichst realitätsgetreues Bild davon zu erschaffen, wie die Welt aussieht und funktioniert. Die Logik dahinter ist klar: Nur, wer die Welt versteht, kann sie verbessern oder zumindest Gefahren aus dem Weg gehen. Und auch die Psychologie folgt diesem Diktum: Allein wer sich selbst kennt, Abgründe inklusive, kann sich weiterentwickeln und fällt nicht immer wieder auf die gleichen Muster herein. Der Weg zur Zufriedenheit führt demnach durch die Mühen der Ebene.

Jegliche menschliche Kulturleistung ließe sich als einen Versuch betrachten, die Realität zu überwinden und zu gestalten, sie Hoffnungen und Wünschen anzupassen. Ob man Paläste oder Kirchen in die Landschaft setzt, Maschinenparks baut oder Landstriche mit Straßen durchpflügt, ob man sich in festliche Trachten wirft oder hinter Schichten von Makeup verbirgt: alles entspringt dem Versuch, der Realität ein anderes, gerne auch freundlicheres Gesicht zu geben.

Haben Kreationen oder Kosmetik eine andere Qualität, wenn sie aus Daten und Software bestehen anstatt aus Steinen, Metall, Stoff und Farbe? Das Ziel ist schließlich das gleiche. Es geht darum, die Welt zu gestalten, idealerweise besser zu machen. Aber ein paar Dinge funktionieren anders, wenn Veränderungen statt in der „realen“ Welt im Datenraum stattfinden.

Zunächst einmal ist da die Geschwindigkeit und Wucht, mit der virtuelle Realitäten die Konsumenten in ihren Bann ziehen. In der physischen Welt wachsen Veränderungen langsam. Menschen haben gewöhnlich Zeit, sich darauf vorzubereiten und sich daran zu gewöhnen. Haben sie das nicht, zum Beispiel bei Unglücken, Naturkatastrophen oder einer schlimmen medizinischen Diagnose, kann das traumatisieren. Mit der virtuellen Welt verhält sich das ähnlich. Wer sich per VR-Brille binnen Sekunden in eine gänzlich andere Welt transportieren lässt, dessen Gehirn kommt nur mit Mühe hinterher. Denn unsere Sinnesorgane sind nicht trainiert darauf, mit solchen rasanten Wechseln der Szenerie umzugehen. Sie sind in der physischen Welt ausgebildet worden, in jahrelanger Erfahrung haben wir gelernt, Geschwindigkeiten einzuschätzen, Gesichter zu interpretieren und uns wegzuducken, wenn Gefahr droht. Das andere Tempo virtueller Applikationen bei dem gleichzeitigen Gefühl, dies sei ja „nicht real“ stiftet Verwirrung, die bis in Alltagssituationen reichen kann.

Es gibt bislang keine Beweise dafür, dass zum Beispiel Killer-Spiele die Gewaltschwelle in der physischen Welt herabsetzen. Manch einer argumentiert sogar, virtuelle Realität könne eingesetzt werden, um Empathie zu üben. Die Fotografin und Filmemacherin Julia Leeb glaubt deshalb an die Kraft von 360 Grad Journalismus. Könnten sich Zuschauer zum Beispiel per VR-Brille in das Leben in einem Kriegsgebiet einfühlen, werde das ihre Haltung beeinflussen, sagt sie. Klar ist aber: Man kann in virtuellen Welten gezielt trainieren, Hemmschwellen herabzusetzen oder Ängste zu bewältigen. Piloten üben zum Beispiel im Flugsimulator regelmäßig, wie sie mit gefährlichen Situationen umgehen sollen, damit sie im Ernstfall weniger schockiert als besonnen reagieren. Was in diesem Fall Gutes bewirkt, nämlich eine gewisse Abstumpfung, kann in anderen Situationen das Mitgefühl herabsetzen.   

Das bedeutet nicht, dass das so bleiben muss. Schneller Wechsel ist Übungssache. Menschen haben schließlich auch gelernt, ans andere Ende der Welt zu fliegen und damit einigermaßen gelassen umzugehen. Vor 100 Jahren wäre dieses Tempo für die meisten eine verstörende Erfahrung gewesen – so wie das auch einst Telefon, Radio oder Kino waren. Aber es ist noch nicht klar, ob unser Steuerungsapparat auf die nächste Stufe aufgerüstet werden kann, ob also das entsprechende Update für unsere Gefühlswelt und Sensorik vorhanden ist.

In einer datengetriebenen Welt mit ständig wachsenden Rechnerkapazitäten und einem entsprechenden Feuerwerk an Neuem fehlt dem Gehirn die Zeit, ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen zu entwickeln. Beides bildet sich durch gute Erfahrungen. Wenn wir etwas oft getan haben, einen Menschen besser kennen und eine Situation einschätzen können, glauben wir, die Lage im Griff zu haben. Bei Unbekanntem wittern wir Gefahr. Das hat sich seit Jahrtausenden kaum verändert.

Entscheidend ist die Balance. Allzu viel Sicherheit kann unaufmerksam und behäbig machen, zu viel Fremdes hingegen löst Angst aus. Der Reiz von Thrillern oder Horrorfilmen liegt genau darin, uns ab und an einigermaßen kontrolliert aus dieser Komfortzone zu holen und womöglich neue Energien freizusetzen. Aber wir sitzen dennoch im vertrauten Wohnzimmer oder zu Popcorn-Geruch im Kinosessel, und danach begeben wir uns wieder in die Sicherheit unseres Alltags. Der Einsatz von virtueller Realität muss also wohlüberlegt sein, die Anwendung kontrolliert. Und es muss auf jeden Fall intensiv erforscht werden, wie sich die Konfrontation mit künstlichen, digital konstruierten Erlebniswelten auf Wahrnehmung und Gesundheit auswirkt.

Vom Schulunterricht bis hin zur Psychotherapie gibt es reichlich Anwendungsfelder, in denen virtuelle Realität Nutzen stiften kann. Patienten können zum Beispiel in angstbehaftete Situationen hineinversetzt werden und dabei lernen, sie souverän zu meistern. Geschichtsunterricht wird lebendiger. Aber die Folgen sollten einigermaßen überschaubar sein, bevor man zum Beispiel Schüler per VR in den Ersten Weltkrieg transportiert.

Eine der wichtigsten Fragen im Zusammenhang mit virtueller Realität betrifft die Definitionsmacht und die Besitzverhältnisse: Wer kontrolliert die Daten und Fakten und damit die Inhalte, also das, was als „Realität“ wahrgenommen wird? In der analogen Welt sind und waren das bei der Wissensvermittlung überwiegend staatliche Institutionen. Behörden definieren, was in Schulbüchern und auf dem Lehrplan steht. Realität ist auch da ein dehnbarer Begriff, denn natürlich spiegeln sich Ideologie, Stereotype und Rollenbilder ganz offensichtlich in Lehrmaterialien. Ein Deutsch-Buch desselben Jahrgangs aus der Bundesrepublik und der DDR hat zwei sehr unterschiedliche Versionen der Wirklichkeit präsentiert. Aber immerhin werden solche Inhalte idealerweise in einem demokratischen Prozess verhandelt. 

Virtuelle Welten dagegen werden von Unternehmen aus der Privatwirtschaft erstellt, die damit Profit erzielen wollen. Sie bestehen aus Daten, die vorher von Konzernen gesammelt wurden, die Öffentlichkeit hat keinen Zugang dazu und noch weniger Einfluss darauf. Kommerzielle Interessen definieren also die Realität. Sie haben weder an Mitsprache noch an Teilhabe Interesse, sofern das über das bereitwillige Liefern von Daten hinausgeht. Und diese Daten liegen in den Händen von sehr wenigen mächtigen Konzernen.             

Ein weiteres großes Risiko ist der Datenmissbrauch. Während wir uns in virtuellen Welten bewegen, in denen uns vermeintlich nichts passieren kann, ziehen die Applikationen massenhaft Daten über sehr reale Verhaltensweisen und Gefühle ab. Dadurch lassen sich Gesundheits- und Verhaltensprofile erstellen. Zum Beispiel gibt es bestimmte Bewegungsmuster, die auf eine spätere Demenz hindeuten. Für Versicherungen könnte dies eine interessante Information sein. Das World Economic Forum mahnt deshalb einen strengen Datenschutz an.

Entscheidend ist jedoch: Wie wird VR unser Verhalten prägen? Stillen virtuelle Reisen das Bedürfnis, die entlegensten Winkel der Welt zu erforschen, und dienen damit womöglich sogar dem Klimaschutz? Oder wecken sie erst recht die Sehnsucht, all das Gesehene auch zu riechen, zu fühlen, zu spüren und zu schmecken? Wird die analoge Realität ein lästiger Rest oder ein kostbares Gut? Und werden wir in all dem schönen Schein noch die Kraft finden, sie zu verändern? Fortschritt entsteht immerhin aus Unzufriedenheit. Und Träume sollten ein Anfang, kein Ende sein.      

Dieser Text erschien in gekürzter Form in ada – Heute das Morgen verstehen, Ausgabe 01/2020 vom 28. Februar 2020.