LSE-Professor Charlie Beckett über KI: „Ich habe Medien Führungskräfte nie zuvor so besorgt gesehen“

Jeder in der Branche spricht über Künstliche Intelligenz und noch niemand weiß, wohin sie den Journalismus letzten Endes bringen wird. Das gilt auch für Charlie Beckett, wie er im Interview mit Medieninsider verrät. Und trotzdem ist der Leiter des internationalen JournalismAI Project und Journalismusprofessor an der London School of Economics der richtige Ansprechpartner, um über die Stimmung der internationalen Medienbranche gegenüber künstlicher Intelligenz, ihren Aufstieg und die Bedeutung zu sprechen. Ein Interview darüber,… :

► … wie die KI die Branche verändern könnte wie zuletzt das Internet

► … was von redaktionellen Regelwerken im Umgang mit KI zu halten ist

► … wie KI bisherige Machtverteilung der Tech-Konzerne aufwirbelt

► … was KI im Umgang mit Urheberrechten bedeutet und welche Fragen nun gestellt werden müssen


Medieninsider: Seit dem Launch von ChatGPT werden praktisch täglich neue KI-Anwendungen bekannt, die für den Journalismus relevant sind. Welche fasziniert Sie besonders?

Charlie Beckett: Eine kleine Redaktion in Malawi, die an unserem KI-Lehrgang für kleine Redaktionen teilnimmt. Sie hat ein auf generativer KI basierendes Tool gebaut, das praktisch ein ganzer Werkzeugkasten ist. Mit ihm lassen sich die Workflows in Redaktionen vereinfachen. Dabei geht es darum, Informationen schnell zu verarbeiten und in Formate zu gießen, eine Art super effizienter Redaktionsmanager. Es ist keine dieser sensationellen Anwendungen, die dabei helfen, Deep Fakes zu entdecken oder als investigatives Tool das nächste Watergate zutage zu fördern. Aber ich finde das großartig: eine afrikanische Redaktion, die schnell etwas entwickelt, das den Kollegen das Tagesgeschäft erleichtert. Ich glaube, in diesen eher mechanischen Anwendungen liegt die unmittelbare Zukunft. Das geht im Medienhype oft unter. Da diskutiert man lieber über Themen wie Killer-Roboter. 

„Definitiv wird KI die Branche mindestens so prägen, wie der Online-Journalismus und der Aufstieg der sozialen Netzwerke dies getan haben.“

Glauben Sie, dass kleine Redaktionen überproportional von KI profitieren werden, oder sind wieder einmal die großen Spieler die Gewinner? 

Die Antwort ist: keine Ahnung! Bislang war es bei Innovationen so, dass die großen Redaktionen am stärksten profitiert haben, weil sie mehr investieren können. Aber wenn kleine Redaktionen ein paar Tools finden, die ihnen zum Beispiel dabei helfen, Newsletter zu automatisieren oder Daten für ein Investigativ-Projekt auszuwerten, kann das ihnen enorm helfen. Ein Effizienz-Gewinn von zehn Prozent kann Existenzen sichern. Für Lokalredaktionen könnte sich KI als Brückentechnologie erweisen. Das zumindest höre ich in Gesprächen heraus.

Weil sie mit weniger Leuten mehr schaffen können? Es gibt das schwedische Beispiel, dass automatisierte Auswertungen von Immobilienpreisen sogar Abos generieren, weil das Thema die Leser brennend interessiert – so wie auch Wetter- und Verkehrsmeldungen.

Das hoffen die Redakteure von kleinen Redaktionen zumindest. Sie sagen, sie könnten mit Hilfe von KI zumindest ausreichend Inhalte produzieren, um die Existenz ihrer Marke zu rechtfertigen. Die Reporter könnten sich dann darauf konzentrieren, echte lokale Geschichten zu recherchieren. Wir werden sehen, ob das wirklich passiert. Aber definitiv wird KI die Branche mindestens so prägen, wie der Online-Journalismus und der Aufstieg der sozialen Netzwerke dies getan haben.

KI scheint in der Branche Begeisterung und Experimentierfreude freizusetzen, anders als damals zu Beginn des Online-Journalismus, dem viele skeptisch gegenüberstanden. 

Man gerät schon etwas außer Atem angesichts der Entwicklung. Am Anfang schauten wir uns künstlich generierte Bilder an und dachten: Naja, das sieht etwas wackelig aus. Drei Monate später gab es schon beeindruckend realistische Bilder. Wir bewegen uns gerade durch diesen Hype-Zyklus. Egal, mit welcher Redaktion auf der Welt ich spreche: Alle spielen mindestens mit KI herum, spätestens am Jahresende werden viele etwas implementiert haben. 

Sie sagen aber, es ist zu früh für Vorhersagen? 

Wir sehen gerade eine extrem fluide Entwicklung. Anzeigenkunden wissen noch nicht, was sie tun sollen, im Verhältnis zwischen Plattform-Konzernen und Verlagen ist erneut vieles offen. Tatsächlich habe ich so etwas noch nie erlebt. Dabei sind alle wirklich hoch aufmerksam, und auch das habe ich so noch nicht erlebt. Allen ist klar, dass wir vor einer großen Veränderung stehen. 

„Regelwerke sind eine gute Sache, aber dort sollte gleich am Anfang stehen: All dies könnte sich ändern.“

Aber ist es nicht riskant, einfach abzuwarten? 

Die Automatisierung ist noch sehr instabil. Auf dem jetzigen Stand neue Prozesse aufzusetzen wäre, als würde man ein Haus auf einem Vulkan bauen. Der richtige Prozess ist: Lasse die Mitarbeitenden experimentieren, lernen und auf jeden Fall über potenzielle Wirkungen nachdenken. Wenn Sie mich jetzt fragen, was sind die zehn Tools, die ich kennen muss, dann ist das die falsche Frage. 

Genau das wollte ich natürlich fragen. Das wollen derzeit doch viele wissen. Und jeder Berater will der Erste sein, der das ultimative KI-Handbuch für Redaktionen herausgibt. Muss man also misstrauisch sein, wenn jemand mit breiter Brust behauptet, Lösungen zu haben? 

Wir sammeln derzeit, wer welche Tools nutzt und welche Erfahrungen damit gemacht werden. Wir geben aber keine Empfehlung für das vermeintlich beste Tool ab. Ich habe gerade mit dem CEO eines großen Senders gesprochen. Neben regelmäßigen Gesprächs- und Informationsrunden nehmen sie sich dort eine halbe Stunde pro Tag Zeit, um einfach mit neuen Tools herumzuspielen. Wenn man CEO ist, muss man natürlich einen Etat für KI einplanen. Aber der sollte flexibel einsetzbar sein. 

Viele Redaktionen geben sich gerade Regeln für den verantwortungsvollen Einsatz von KI. Der Bayerische Rundfunk ist ein Beispiel, die Kollegin, die das angeschoben hat, war Teilnehmerin einer der ersten Kohorten Ihres LSE Journalism and AI Projects. 

Solche Regelwerke sind eine gute Sache, aber dort sollte gleich am Anfang stehen: All dies könnte sich ändern. Wichtig ist auch, so eine Handreichung mit einer Botschaft der Ermutigung zu beginnen. Jeder CEO, der sofort sagt, wir tun dies nicht und das nicht, macht einen großen Fehler. Die besten Guidelines sind diejenigen, die sagen: Das sind unsere Grenzen, und das sind die wichtigen Fragen, die wir uns bei allen Anwendungen stellen sollten. Transparenz ist ein wichtiges Thema: Wem sage ich, was ich gerade ausprobiere? Meinen Vorgesetzten, meinen Kollegen, den Nutzenden? Und natürlich ist eine generelle Vorsicht angesagt. Im Moment sind Schwärme von Firmenvertretern unterwegs, die einem Wunder-Tools verkaufen wollen. 90 Prozent davon sind Unsinn. 

Wie transparent sollte man dem Publikum gegenüber sein?

Bloomberg zum Beispiel schreibt unter Texte: Das ist zu 100 Prozent KI-generiert. Das ist nicht als Warnsignal gedacht, sondern als Zeichen von Stolz. Es soll sagen: Wir können mit dieser Technologie umgehen, Sie können uns vertrauen. Ich glaube, Redaktionen sind ein bisschen zu besorgt, was das angeht. Unter Texten steht ja heute auch nicht „ein Teil der Informationen stammt von Nachrichtenagenturen“ oder „Der Praktikant hat bei der Recherche geholfen“. Man sollte Transparenz-Hinweise selbstbewusst nutzen, um den Konsumenten zu zeigen, dass man ihnen mehr bieten möchte. Einige Häuser werden weiterhin Clickbait-Seiten haben und sie nun mit einer Menge KI-Müll füllen, ohne das auszuweisen. Aber die haben vermutlich schon immer viel Müll produziert. 

Wie muss sich die Journalisten-Ausbildung ändern? Sollte man denjenigen, die den Beruf ergreifen, weil sie gerne schreiben, nun davon abraten, weil KI darin bald extrem gut sein wird?

Als erstes würde ich sagen: Es ändert sich nicht viel. Die Eigenschaften und Fertigkeiten, die wir in der Ausbildung fördern, sind zutiefst menschlich: Neugier, Kreativität, Kompetenzen. In den vergangenen 15 Jahren sind natürlich die technischen Fertigkeiten dazugekommen. Aber es haben sich auch grundlegende Dinge geändert. Es geht heute mehr denn je um den Aufbau einer Beziehung zu den Nutzenden, nicht nur um Produktentwicklung. Journalismus ist ein datenbasierter, strukturierter Prozess der Informationsvermittlung. Mit der generativen KI rückt die Technologie dabei stark in den Hintergrund. Man muss nicht mehr programmieren lernen. Aber eine Schlüsselqualifikation wird es sein, exzellente Prompts zu schreiben. Das Schreiben von Prompts wird wie Programmieren sein, nur ohne Mathe. 

Journalisten mögen sich von diesen KI-Schreib-Tools in ihren Kernkompetenzen herausgefordert fühlen, aber könnten diese Werkzeuge nicht eine großartige Chance sein, alles zu demokratisieren, das Sprachkompetenz erfordert? Meine Studierenden, von denen viele keine Muttersprachler sind, nutzen ChatGPT zum Beispiel dazu, ihre Lebensläufe zu redigieren. 

Vielleicht sollte man nicht dieses große Wort Demokratisierung benutzen, aber KI könnte durchaus Barrieren senken und Hindernisse aus dem Weg räumen. Andererseits bin ich skeptisch. Wir unterschätzen oft, auf welche Weise Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten online fortbestehen. 

„Es wird aber mehr Produkte geben, die wie guter Journalismus aussehen werden.“

Wir haben viel über die Chancen von KI für den Journalismus gesprochen. Welches sind die größten Risiken?

Da ist natürlich die große Abhängigkeit von Tech-Konzernen, die Gefahr von Diskriminierung. Journalismus muss faktenbasiert und genau sein, generative KI kann das nicht in dem geforderten Maße liefern. Das größte Risiko ist aber wohl, dass die Rolle der Medien als Vermittler weiter schwindet. Schon das Internet hat diese Rolle geschwächt, die Nutzenden können direkt zu denjenigen gehen, die Informationen anbieten. Aber die auf Sprachmodellen basierende KI wird alle Fragen beantworten, ohne dass die Menschen jemals mit der Quelle der Information in Berührung kommen. Das ist ein massives Problem für Geschäftsmodelle. Welche Art von Regulierung wird notwendig, welche kommerziellen Vereinbarungen, wie ist das mit dem Copyright? Ehrlich gesagt habe ich Medien-Führungskräfte noch nie zuvor so besorgt gesehen. 

Das ist in der Tat bedrohlich. 

Es ist existentiell. Zuerst haben sie gesagt: Oh mein Gott, das Internet hat unsere Anzeigeneinnahmen gestohlen. Dann haben sie gesagt: Oh mein Gott, Twitter hat die Aufmerksamkeit von uns abgezogen. Und nun starren sie auf dieses Ding und denken: Warum in aller Welt sollte jemals wieder jemand auf meine Website kommen? Und darauf müssen sie eine Antwort finden.

„Google ist vielleicht nicht mehr diese Großmacht, für die wir es gehalten haben.“

Müssen Journalisten Angst um ihre Jobs haben?

Medienhäuser werden nicht über Nacht verschwinden. Es wird aber mehr Produkte geben, die wie guter Journalismus aussehen werden. Wir haben hier einen toxischen Cocktail, der faszinierend, aber auch beängstigend ist. Dieser Cocktail besteht aus Unsicherheit, das finden Journalisten immer toll. Außerdem besteht er aus Komplexität, das ist spannend für alle intelligenten Menschen. Der dritte Bestandteil ist die Geschwindigkeit, und da gilt die alte Regel: Wir überschätzen meist die kurzfristigen Folgen und unterschätzen die langfristigen Auswirkungen. Im Laufe der 15 Jahre, in denen ich das hier mache, gab es immer wieder Leute, die so etwas gesagt haben wie: 80 Prozent der Medienmarken werden verschwinden oder 60 Prozent der Journalisten werden nicht mehr gebraucht werden oder solche Sachen. Aber heute haben wir mehr Journalismus als je zuvor.

Aber die Abhängigkeit von den großen Tech-Konzernen wird eher wachsen als schrumpfen.  

Einerseits ja. Man braucht definitiv Freunde aus dieser Tech-Welt, die einem dabei helfen, diese Dinge zu verstehen. Andererseits gibt es plötzlich neuen Wettbewerb. Google ist vielleicht nicht mehr diese Großmacht, für die wir es gehalten haben. Neuer Wettbewerb eröffnet auch immer Chancen, die eigene Position neu zu verhandeln. Diese Chancen muss die Medienbranche nutzen. Ich bin hier auf wackeligem Boden, denn die JournalismAI Initiative wird von Google finanziert. Aber ich denke, weder Google noch die Politik kümmert es wirklich, wie es den Medien geht. Vermutlich wären etliche Politiker froh, Journalismus würde verschwinden. Wir müssen deshalb als Branche neu definieren und vermitteln, was der Mehrwert von Journalismus für die Menschen und die Gesellschaft ist – unabhängig von früheren Vorstellungen über Journalismus als Institution.

Etliche Kollegen aus der Branche sagen hinter vorgehaltener Hand: „Zum Glück nähere ich mich dem Ende meiner Laufbahn, die besten Jahre des Journalismus liegen hinter uns.“ Würden Sie unter den gegenwärtigen Bedingungen und Perspektiven noch einmal Journalist werden wollen?

Auf jeden Fall. Es ist ein empirischer Fakt, dass man mit all den Möglichkeiten heute besseren Journalismus produzieren kann als jemals zuvor.  


Charlie Beckett ist Professor für Journalismus an der London School of Economics und der Gründungsdirektor von Polis, einem dort beheimateten Think Tank für Medien und Journalismus. Er leitet das JournalismAI Project, das Journalisten aus aller Welt seit 2018 die Möglichkeit bietet, sich zu vernetzen und intensiv mit KI im Journalismus zu beschäftigen. Vor seiner Zeit an der LSE war Beckett Fernsehjournalist und Lokaljournalist in London.  

Dieses Interview erschien zuerst bei Medieninsider am 6. September 2023.

Ein Werte-Algorithmus für Schwedens Radio – Wo bleibt die Innovation im deutschen Journalismus?

Der schwedische öffentlich-rechtliche Rundfunk nimmt seinen Aufklärungs- und Bildungs- Auftrag äußerst ernst. Dazu gehört zum Beispiel, dass Redakteurinnen und Redakteure dort keine Kommentare verfassen dürfen. „Wir sind für die Fakten da“, betont Radio-Intendantin Cilla Benkö regelmäßig bei öffentlichen Auftritten. Dies entspreche den Werten von Public Service Medien. Künftig möchte Sveriges Radio (SR) das Ringen um diese Werte nicht mehr nur allein den Kolleg*innen überlassen. Ein eigens für den Sender entwickelter Algorithmus soll dafür sorgen, dass es in den digitalen Angeboten mehr Vielfalt und Personalisierung gibt. Dies soll den Journalismus für ein breiteres Publikum interessant machen.

„Wir sind davon überzeugt, dass das neue Modell die Qualität unseres Journalismus verbessert“, schreibt der Chefredakteur für Digitales, Olle Zachrison, in einem Blog Post der London School of Economics, wo er am Forschungsprojekt Journalismus und Künstliche Intelligenz beteiligt ist. Dies gelte nicht nur für die Verpackung und Verteilung, sondern auch für die Inhalte der einzelnen Geschichten.

Man kann dies getrost eine starke journalistische Innovation nennen – oder auch einen Angriff aufs journalistische Bauchgefühl. Denn wenn man ehrlich ist, trifft die Intuition, auf die Redakteur*innen jahrzehntelang so stolz waren, nicht immer die beste Entscheidung im Sinne der Allgemeinheit. Weil Redaktionen gemeinhin nicht sehr divers sind, ist es auch ihr Output oft nicht. Und statt die algorithmische Auswahl von Inhalten den Plattform-Konzernen zu überlassen, die nach ihren eigenen Bedürfnissen optimieren, geht SR nun in die Offensive und baut das: einen Algorithmus mit Werten.

Nach welchen Kriterien die schwedischen Kolleg*innen ihn füttern, lässt sich am besten in Zachrisons Text nachlesen. Aber dass so etwas passiert, ist fast noch interessanter als das „Wie“. Immerhin befindet man sich in einer Branche, die zwar in allerlei an „die Politik“ gerichteten Kommentaren lautstark Innovationsfreude einfordert, sich aber selbst an vielen Orten eher durch das Gegenteil auszeichnet – zum Beispiel in Deutschland.

Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls ein jüngst veröffentlichtes Gutachten im Auftrag der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen. „Die Innovationslandschaft des Journalismus in Deutschland“, heißt es nüchtern, aber die Botschaft ist eindringlich: An neuen Ansätzen und Projekten, die die von Krisen geprägte Branche wirklich weiterbringen, fehle es allerorten. Die Autoren Christopher Buschow und Christian-Mathias Wellbrock nennen eine lange Liste von Gründen dafür. Ein Mangel an Gründergeist und Talenten, Defizite in der Ausbildung, eine fehlende Verzahnung von Forschung und Praxis, träge etablierte Verlage, rechtliche Hürden sowie eine dem journalistischen Berufsstand eigene skeptische Grundhaltung gehörten dazu. Außerdem fehlten Kapitalgeber*innen mit längerem Atem. Allerdings seien Netzwerke der Innovation am Entstehen, beobachten die Autoren, die ihren Job schlecht gemacht hätten, würden sie nicht eine ebenso lange Liste an Verbesserungsvorschlägen liefern.

Nun wäre es ungerecht, die Medienszene in Deutschland in einer Art Dämmerschlaf zu vermuten. In vielen großen Häusern gibt es hoch innovative Abteilungen mit dem Potential, andere anzustecken, und hier und da gedeihen spannende Start-ups. Aber die Dringlichkeit, etwas für die Zukunft des Journalismus als solches zu tun, wird noch nicht überall gesehen. Die großen Marken sind weitgehend mit sich selbst und ihren Interessen beschäftigt, statt sich zu verbünden. Anders als in anderen europäischen Ländern, zum Beispiel Österreich, hat man die Förderung von journalistischen Innovationen viel zu lange allein Google und Facebook überlassen – um sich dann gerne über die Abhängigkeit von den amerikanischen Konzernen zu beschweren. Und anders als zum Beispiel in den USA spielen Stiftungen bei der Unterstützung von Journalismus, Journalisten-Ausbildung und Journalismus-Forschung nur eine untergeordnete Rolle.

Selbst wenn es dann Geld gibt, weiß niemand so recht, wie man es verteilen soll. Es ist bezeichnend, dass die Bundesregierung den Verlagen im Nachtragshaushalt zum Corona-Paket im Juli für die kommenden Jahre 220 Millionen Euro für die digitale Transformation zugesagt hat, ohne dass dafür bislang das Geringste eines Konzepts bekannt geworden ist. Man kann von kräftiger Lobbyarbeit im Hintergrund ausgehen. Wie genau definiert man schließlich digitale Transformation?

Anfangen kann man bei so einer Aufgabe immer mit dem erwünschten Ergebnis. Es muss um einen Journalismus gehen, der mehr Menschen aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen mit inhaltlicher Qualität erreicht, als dies der gegenwärtige tut. Es geht um Inhalte, Ausbildung, Technologie und Werte. Sich die Hoheit über die Algorithmen zurückzuerobern, wie dies Sveriges Radio macht, ist dabei ein wichtiger Schritt. Starker Journalismus für alle – in der digitalen Medienwelt steht das Projekt noch am Anfang.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 2. Oktober 2020.