Zwischen Energieschub und Datensalat: So klappt das mit den Redaktionsmetriken

Was nicht gemessen wird, wird nicht erledigt. In den Künstlerflügeln von Redaktionen mag diese alte Weisheit aus der Wirtschaftswelt noch immer nach kleinkarierter Controller-Denke klingen. Aber mit dem Generationswechsel in den Verlagshäusern hat sich selbst unter Journalisten die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich mit Hilfe von Kennzahlen nicht nur jenes Wachstum treiben lässt, das die eigenen Arbeitsplätze sichert. Daten übermitteln auch Signale, ob die Verbindung zu den Menschen noch stimmt. Metriken sind selbstverständliche Begleiter des Redaktionsalltags geworden. Allerdings gehen Meinungen und Erfahrungen dazu weit auseinander, was denn nun gemessen werden kann und vor allem, was davon an wen kommuniziert werden sollte.

Martin Baron, ehemaliger Chefredakteur der Washington Post, beschreibt in seinem neuen Buch Collision of Power einerseits, wie er immer ungehaltener wurde angesichts der von ihm bei Kollegen beobachteten „absichtlichen Ignoranz dessen, was nötig ist, um ein gesundes Geschäft zu führen, des selbstgerechten Moralisierens und der reflexhaften Opposition gegen das Durchsetzen von Verhaltensstandards, selbst solcher, denen die Mitarbeiter bei ihrer Einstellung zugestimmt hatten“. 

Andererseits erzählt er auch vom Widerstand gegen Metriken, mit denen WaPo-Eigentümer Jeff Bezos die Redaktion antreiben wollte – zum Beispiel die Vorgabe, dass bestimmte Texte innerhalb von 15 Minuten umgeschlagen werden sollten als wären sie Amazon-Päckchen. Baron schreibt, er habe in seiner Karriere meist gedacht, „dass Verleger und ihre Business-Teams nicht begriffen hatten, welche Mühe und welche Ressourcen notwendig sind, um Qualitätsjournalismus zu produzieren – und dass ihre Metriken mit gelegentlichen Ausnahmen Bullshit waren“.

Unter dem Strich aber, so klingt es durch, hatten die neuen Strategien und Standards, die Bezos einforderte, die Redaktion eher beflügelt. Das wird zum Großteil daran gelegen haben, dass der Multimilliardär kräftig in Personal und Technik investierte. Das wird derzeit zwar teilweise wieder rückabgewickelt, allerdings arbeiten viele wohl jeder lieber in einer Organisation, in der Leistung intern und extern gesehen und in der an Zukunft gebastelt wird, statt die Gegenwart zu verwalten. Wie ein Fitnessarmband können Metriken die Motivation ordentlich treiben, wenn sie richtig gesetzt werden. Damit das klappt, sind einige Grundsätze hilfreich. Hier sind fünf Punkte, wie es mit den Metriken funktioniert.

Erstens: Den eigenen Weg finden 

Verlage suchen gerne anderswo nach Erfolgsgeschichten und hoffen, sie kopieren zu können. Das gelingt allerdings nur bedingt. Kaum ein Haus ist vergleichbar mit der New York Times, deren Führungskräfte auf Branchenkonferenzen umlagert werden. Auch kleinere skandinavische Marken eignen sich nur eingeschränkt als Vorbilder – wenngleich deutsche Verlage allzu gerne in die Nordländer schauen, wo die Zahlungsbereitschaft für Digitalabos am höchsten ist. Jeder Verlag muss zunächst eine Strategie für seinen Journalismus und Geschäftsmodelle entwickeln, die zum eigenen Markt und zur Marke passen. Erst dann folgen die Metriken, die diesen Wachstumspfad flankieren. Ansonsten liefen Redaktionen Gefahr, ihren Journalismus den gesetzten Metriken anzupassen, anstatt sie so zu setzen, dass sie dem Journalismus dienten, schrieb Elisabeth Gamperl in einem 2021 erschienenen Report für das Reuters Institute. Das Papier, für das die SZ-Journalistin datenaffine Redaktionsmanager von Medienhäusern wie The Guardian, The Times, Globe and Mail, and Dagens Nyheter interviewt hatte, enthält einige wertvolle Ratschläge dazu, wie das gehen kann.  

Zweitens: Die Redaktionskultur beachten und entsprechend kommunizieren

Redaktionen sind unterschiedlich. Das betrifft nicht nur den Grad der Digitalisierung und das allgemeine Datenverständnis, sondern auch die Kommunikations- und Fehlerkultur. Während zum Beispiel beim schwedischen Dagens Nyheter jeder Journalist jederzeit am eigenen Bildschirm die Erfolge und Misserfolge aller Kollegen abrufen kann, sind hierzulande viele Verlage sehr darum bemüht, solche Auswertungen nur individuell oder sehr dosiert zu verteilen – vor allem um Redakteure und Betriebsräte nicht gegen sich aufzubringen. Eine leitende Redakteurin einer Regionalzeitung erklärte es in einem Workshop jüngst so:  „In den Konferenzen kommunizieren wir nur die Erfolge, die Fehler werden individuell besprochen.“. Oft gehen die gesammelten Datensätze nur an Führungskräfte. Eine Redaktion, die stolz auf ihren investigativen Journalismus ist, fühlt sich womöglich demotiviert von Hitlisten, in denen stets Service-Texte dominieren. Ebenso verwirrend kann es sein, wenn das leitende Personal ständig über Klickraten jubelt, obwohl Aboabschlüsse das Ziel sind. Solche „Eitelkeitsmetriken“, wie Medienforscher Nic Newman sie nennt, mögen legitime Kosmetik für Präsentationen vor der Geschäftsführung sein, lenken aber vom Ziel ab. Natürlich können sich Redaktionskulturen auch wandeln. Aber solche Veränderungsfreude entfachen nur Führungskräfte, die konstruktiv kommunizieren können und nicht solche, die Metriken als Mittel des Prinzips „teile und herrsche“ einsetzen. Schließlich sollten Daten vor allem dazu eingesetzt werden, aus den verfügbaren Ressourcen mehr zu machen. Kaum ein Journalist produziert gerne allein für das Redaktionsarchiv.      

Drittens: Simpel bleiben 

Die wirkungsvollsten Metriken sind jene, die jeder versteht. Noch besser sind sie, wenn Kollegen daraus ableiten können, was jetzt zu tun ist. Das klingt simpel, wird aber nicht überall so gesehen. Sehr oft werden die Redaktionskennzahlen von Datenanalysten entwickelt, die sich nicht vorstellen können, dass sich vielen Redakteuren die Schönheit einer Excel-Tabelle nicht erschließt. Die Folge sind komplizierte Formeln, die nur Eingeweihte deuten können. Einige Redaktionen beweisen Mut zur Lücke und trimmen ihre Kollegen darauf, zum Beispiel nur auf die täglich eingeloggten Abonnenten zu schauen – ein Zeichen dafür, ob die Nutzerloyalität und damit die Abohaltbarkeit stimmt. Andere wiederum entwickeln aus einer Kombination von Metriken einen Wert, den es im Auge zu behalten gilt. Die  Financial Times zum Beispiel hatte es mit ihrer „R x F x V“-Formel (Recency, Frequency, Volume) geschafft, die Zahl ihrer Digitalabonnenten binnen zehn Jahren auf über eine Million zu verzehnfachen. Aber selbst das mag manch einem zu kompliziert sein. Da hilft nur einfach starten und langsam steigern – und aufpassen, dass man nicht doch irgendwann mit Datensalat endet.  

Viertens: Veränderungen nicht scheuen

Da hat man die Redaktion nun endlich für Daten erwärmt, sind alle gespannt auf die „Conversions“ wie auf das tägliche Päckchen im Adventskalender – und plötzlich soll man verkünden, dass man von nun an auf die zehn Texte vor dem Aboabschluss schauen wird? Kein Redaktionsmanager gibt gerne zu, dass eine Metrik ihr Ziel verfehlt. Doch der Weg zu funktionierenden Kennzahlen ist anstrengend und führt in manche Sackgasse. Die klarsten Metriken nutzen nichts, wenn sie ein Klima erbitterter Konkurrenz oder gar Angst forcieren oder sich als letztlich sinnlos erweisen. Danny Gawlowski von der Seattle Times kann wunderbar vom Ringen der Redaktion um die richtigen Werte erzählen. Dort hat man ein Verfahren etabliert, bei dem Redakteure sich nicht untereinander vergleichen, sondern nur gegen sich selbst antreten: Wer die gleiche Aufgabe hat, muss idealerweise 15 Prozent besser abschneiden als im Jahr zuvor. Jemand, der über Opern schreibt, könne sich unmöglich mit jemandem messen, der das örtliche Football-Team begleitet, so Gawlowski. Aber ein bisschen sportlichen Ehrgeiz sollten auch die Kulturkollegen mitbringen.

Fünftens: Von Ausreißern lernen

Wo Daten ausgewertet werden, geht es oft ums Große. Man schaut auf Häufungen, Volumen, die Top-Performer. Manchmal sind aber gerade die Ausreißer wichtige Signale dafür, was gegen jeden Instinkt funktioniert oder an welchen Schrauben man drehen könnte. Schneidet ein Stück zu einem Thema herausragend ab, das sonst als eher schwer verkäuflich gilt, mag das ein Zufall sein. Wahrscheinlicher aber ist, dass es eine Ursache gibt. Vielleicht war die Sendezeit richtig gewählt, vielleicht hat der politische Kontext gestimmt, möglicherweise klang auch die Überschrift ungewöhnlich emotional oder eine Protagonistin ist ein Star in den sozialen Netzwerken. Es sei gut investierte Zeit, nach positiven Überraschungen zu fahnden, habe Jeff Bezos der Redaktion mitgegeben, so Baron. Sei etwas erfolgreich, ohne dass man es bewusst forciere, liege da womöglich eine Chance.

Ohnehin müssen laut dem Amazon-Gründer auch gute Regeln manchmal gebrochen werden. Bei einer Mitarbeiterversammlung der Washington Post sagte er laut Baron: „Manche Dinge sind so schwer zu messen, dass du […] sie nicht wirklich messen kannst und Bauchgefühl und Intuition nutzen musst. Und dann gibt es andere Dinge, die über den Metriken stehen. Das sind Prinzipien, die dir so wichtig sind, dass du ihnen folgen musst, selbst wenn die Metriken dir das Gegenteil nahelegen.“ Was diese Prinzipien oder – besser – Werte sind, muss jede Redaktion für sich festlegen.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 30. Oktober 2023.

Optimismus wird unterschätzt – Was von Marty Baron bleibt

Auf dieser Seite des Atlantiks dürfte Marty Baron einigen auch außerhalb des journalistischen Mikrokosmos ein Begriff sein, der Grund dafür ist „Spotlight“. In dem 2015 mit einem Oscar gekrönten Film treibt ein junger, neuer Chefredakteur ein Recherche-Team bei der Tageszeitung Boston Globe zu Höchstleistungen an. Den Reporter*innen gelingt es schließlich, einen riesigen Missbrauchs-Skandal in der Katholischen Kirche aufzudecken. Der Chefredakteur heißt im wirklichen Leben Martin Baron, und der Schauspieler Liev Schreiber, der ihn spielte, sah ihm im Film tatsächlich ziemlich ähnlich. Zu der Zeit war Baron allerdings schon zur Washington Post (WaPo) abgeschwirrt, wo er 2013 Chefredakteur wurde, kurz bevor Amazon-Chef Jeff Bezos die Zeitung kaufte. Dort hat der @PostBaron, wie er sich auf Twitter nennt, nun genug. 66 Jahre alt ist er, in dieser Woche gab er bekannt, er werde Ende Februar seinen Posten aufgeben.

In mancher Redaktion dürften sich Reporter*innen darüber gerangelt haben, wer Baron zum Abschied würdigen darf. Klar, mit einem solchen gestandenen Journalisten, der in seiner Zeit als Chefredakteur die Redaktion von 500 auf 1.000 Leute vergrößerte, mit ihnen zehn Pulitzer-Preise hereinholte und das mit der Digitalisierung trotzdem erstklassig hinbekam, macht sich jeder gerne gemein. „Democracy dies in darkness“ – der Claim der WaPo wird in kaum einem Artikel fehlen. Und wer es lustiger mag, integriert den Ausdruck „swashbuckling“ in seinen Englisch-Wortschatz. Den benutzte Jeff Bezos, um seinem Geschäftspartner zum Abschied zuzurufen: „Du bist verwegen (swashbuckling) und vorsichtig, du bist diszipliniert und empathisch.“ Anstrengend sei es mit ihm allerdings auch oft gewesen, gab Bezos zu.

Man könnte also viel sagen über diesen Marty, der sich seiner Bedeutung durchaus bewusst war. Allerdings nicht so bewusst, dass er nicht auch immer wieder im kleinen Kreis jungen und erfahrenen Journalist*innen von seiner Arbeit erzählt hätte, wie er das regelmäßig am Reuters Institute for the Study of Journalism getan hat, wo er im Beirat sitzt. Er machte das gerne, auch in der Hoffnung, dass ein paar seiner Botschaften den Weg zurück über den Atlantik finden würden. Erst, wenn er etwas öffentlich gesagt habe, nehme seine Redaktion ihm ab, dass ihm die Sache ernst sei, sagte er einmal. Eines war ihm offenbar ernst, denn er wiederholte das, und es ist hängengeblieben: „Ich stelle nur Optimisten ein.“ Ein Gespür für diejenigen Kolleg*innen, die mit Hartnäckigkeit und Erfolgsglauben Dinge vorantreiben, ob investigative Recherchen oder Produktentwicklung, könnte ein Teil seines Erfolgsrezepts für die digitale Transformation gewesen sein (das andere trug den Vornamen Jeff).

Als pragmatisch-zuversichtliche Optimistin kann man dem nur folgen. Wie schön ist es doch auch als Chefin, Alltag und gerne Bürofluchten mit Kolleginnen und Kollegen zu teilen, die bei jeder kleinen und größeren Krise einmal tief durchatmen und einem dann mit verzweifelt-hoffnungsvollem Lächeln versichern: „Das kriegen wir schon hin.“ Wie schätzt man sie, diejenigen, die immer wieder experimentieren, nachhaken, durchrechnen und letztlich mit der Botschaft um die Ecke biegen: „Das klappt.“

In der Medienbranche allgemein ist der Optimismus als Konzept dagegen wenig beliebt. Das liegt einerseits an den Kennzahlen und den bröckelnden Geschäftsmodellen. Andererseits steht dem aber auch das Selbstverständnis eines Berufsstands entgegen, der oft dem Reflex erliegt, jeder Aufgabe das Wort Krise anzuhängen und sie damit noch ein wenig unlösbarer erscheinen zu lassen, man denke an Corona-Krise, Flüchtlings-Krise, Klima-Krise, Impfstoff-Krise und, ja, Medien-Krise. Optimismus wird in dieser Lesart oft als Schönfärberei missverstanden. Journalisten sollen schließlich kritisch sein und Schweinereien aufklären. Die Welt in Zuversicht zu tauchen, das möge bitte die PR übernehmen. Aus diesem Grund hat auch derjenige Journalismus zuweilen kommunikativ einen schweren Stand, der sich konstruktiv oder lösungsorientiert nennt.

Das Publikum allerdings ist davon zunehmend genervt. Mehr als ein Drittel der Nutzer*innen finden Journalismus zu negativ und schalten deshalb immer wieder mal ab, wie im Digital News Report ein ums andere Jahr zu lesen ist. Nicht unbedingt, weil sie keine schlechten Nachrichten mehr hören mögen, sondern weil viele die Welt um sie herum ganz anders wahrnehmen – zumindest, wenn nicht gerade Pandemie herrscht. Sie machen oft ziemlich positive Erfahrungen mit Kolleg*innen, Freund*innen, Nachbar*innen und wildfremden Menschen im Supermarkt oder am Bahnhof, und haben deshalb das Gefühl, selbst etwas erreichen zu können, wenn sie sich zusammentun und die Dinge anpacken. Herausforderungen müssen bewältigt werden, hilft ja nichts.

Und das ist tatsächlich der Kern des Optimismus: nicht etwa ein rosarotes Weltbild, ein Verleugnen der Tatsachen, ein von Euphorie getränktes Aufspringen auf jeden noch so durchsichtigen Trend. Aber die Zuversicht, dass man mit ordentlichem Einsatz von Gehirnzellen, Fleiß und Kooperation schon irgendwie weiterkommt auf dem Weg zu einer besseren Zukunft, so weit das Ziel auch noch entfernt sein mag. Es geht nicht immer für alle gut aus, manch eine Generation trägt Lasten, die kaum zu schultern sind. Aber wer Max Rosers Langzeit-Datenreihen in Ourworldindata.org folgt, weiß, dass Fortschritt Realität und keine Fiktion ist.

Nun wäre es falsch zu behaupten, dass Fortschritt allein von Optimist*innen gebaut wird. In jedem Team muss es Zweifler*innen geben, die Details und Nuancen sehen, auf Risiken und Gefahren hinweisen und sich nicht von Chef*innen zum Schweigen bringen lassen, die die Welt in „Trouble Shooter und Trouble Maker“ einteilen, auf Deutsch wird das Wort Bedenkenträger sehr abfällig verwendet. So manch ein Unglück hätte verhindert, manch eine Gefahr abgewendet werden können, hätte man rechtzeitig Bedenkenträger*innen Gehör geschenkt. Aber die Kraft steckt im Optimismus, dem Glauben, dass etwas Gutes entstehen kann, wenn man die Sorgen und Zweifel nur ernst genug nimmt.

Ganz sicher haben sie auch Martin Baron beschwert, den großen Investigativ-Journalisten, als er sich vor acht Jahren mit Jeff Bezos traf, um über die Zukunft der WaPo zu sprechen. Werde die Redaktion unabhängig bleiben können unter den Augen eines Mannes, für den die WaPo eher Spielzeug als Berufung zu sein schien, und dessen Unternehmens-Imperium in der Abteilung Menschlichkeit deutlich weniger Sterne verdient als in der Kategorie „Customer Obsession“? Der Chefredakteur war jedenfalls zufrieden mit dem Eigentümer, das hat er eins ums andere Mal betont. Womöglich hätte sich Marty Baron sogar selbst eingestellt.

Dieser Beitrag erschien für den Newsletter des Digital Journalism Fellowship am 28. Januar im Blog der Hamburg Media School