Bye-bye, blue Link: Medienmarken brauchen Fans

Der jährliche World News Media Congress der Wan-Ifra ist ein Ort für zwei Gruppen. Da gibt es diejenigen, die sich bei ihren Buddys aus anderen Verlagen vergewissern wollen, dass sie ruhig noch ein paar Gewinne aus dem Printgeschäft mitnehmen und Social Media ihren „jungen Digitalen“ überlassen können. Und dann sind da die anderen, die von – überwiegend angelsächsischen – Top-Marken der Branche lernen wollen, damit sie im Innovationsrennen irgendwo im guten Mittelfeld mithalten können. Jeder hört vor allem das, was er hören will. Aber selbst Experten der kognitiven Dissonanz muss es schwergefallen sein, von der diesjährigen Veranstaltung in Krakau ohne diese eine Botschaft abzureisen: „Holt die Nutzer direkt auf eure Plattformen, und zwar schnell.“

Spätestens in drei Jahren sei es so weit, prognostizierten selbst Fachleute, die sich auf Suchmaschinen-Optimierung spezialisiert haben: Der ganze Traffic, den Google und Co. Medienmarken in den vergangenen Jahrzehnten im Digitalen zugespült haben, werde versiegen. „Bye-bye, blue Link“, formulierte es Lisa MacLeod von FT Strategies in einer viel beachteten Keynote. „Bereiten Sie sich auf den großen Plattform-Reset vor.“ Zwar hat das Wachstum von KI-Suchen über ChatGPT derzeit den Effekt, dass die Zahl der Google-Suchanfragen steigt – womöglich, weil Nutzer Ergebnisse verifizieren wollten, vermuten Fachleute. Aber es werde immer weniger zur Original-Quelle durchgeklickt. Schon jetzt sei „Stagnation das neue Wachstum“, sagte Carly Steven, SEO-Leiterin bei der britischen Daily Mail. Das ist vor allem für kleinere Verlage ein Problem, denn ein Großteil der Besucher ihrer Webseiten werden über Google dorthin gelotst. Aber auch für sie ist es höchste Zeit, direkte Verbindungen zu ihren Nutzern aufzubauen.

Spätestens jetzt kommt der Moment, in dem die „jungen Digitalen“ und die Veteranen des Verlags- und Journalismus-Geschäfts voneinander lernen können

Nur, wie geht das? Wie begeistert man Menschen für seine Marke und etabliert damit jene loyalen Beziehungen, die im Print-Zeitalter selbstverständlich gewesen sind? Spätestens jetzt kommt der Moment, in dem die „jungen Digitalen“ (von denen einige mittlerweile in die Jahre gekommen sind) und die Veteranen des Verlags- und Journalismus-Geschäfts voneinander lernen können. Die einen können sich ein paar Tipps zur Beziehungspflege abholen, die anderen können sich anschauen, wie man diese digital unterstützt – auch mit Hilfe von KI-Werkzeugen. Hier folgen ein paar Erkenntnisse vom World News Congress, die in einer von KI geprägten Informations- und Medienwelt zentral für Erfolg sein werden:

Erstens, es geht um Strategie. Ganz gleich welche Technologie oder Plattform Medienhäuser verwenden, ob sie KI-getrieben sind oder nicht, sie werden nur den Unternehmen etwas nützen, die ihre Mission definiert haben, ihr Publikum und dessen Bedürfnisse kennen und Erfolge messbar machen. Und wer eine Strategie hat, sollte sie verfolgen und sich den Alltag nicht mit all den Dingen zuschütten, die man schon immer gemacht hat. Gezieltes „Stop doing“ ist ebenso wichtig wie etwas Neues anzuschieben. Das gilt auch für den Journalismus. FT Strategies hat ermittelt, dass im Schnitt nur 20 Prozent aller Artikel auf Nachfrage stoßen, „der Rest ist Geräuschkulisse“, so MacLeod. Die New York Times misst deshalb „engaged clicks“, also diejenigen Stücke, auf denen die Nutzer 30 Sekunden oder länger verharren.

Zweitens, es geht um direkte, loyale und langlebige Beziehungen. Medienhäuser müssen alles daransetzen, ihren Konsumenten mehr Gründe zu geben, direkt auf ihre Website zu gehen, die App herunterzuladen, ihre Produkte zu abonnieren oder Ihre Veranstaltungen zu besuchen – und dort zu verweilen. Nutzer zu haben, reicht nicht mehr, Medienmarken brauchen Fans. Wie einst beim Zeitungskonsum oder heute beim Bingen auf Netflix muss das Vorbeischauen zur Gewohnheit werden. Schon Zeitungen wurden dabei aus einer Reihe von Gründen gekauft, nicht nur für die Nachrichten. Es hat erstaunlich lange gedauert, bis digitale Marken vom Kreuzworträtsel gelernt haben und nun auch Spiele anbieten – selbst Der Spiegel macht das heute mit recht großem Erfolg.

Drittens, es geht um die Marke – denn da liegt das Vertrauen. In der Branche wird oft angenommen, Transparenz schaffe Vertrauen. Das gilt allerdings nur bedingt. Leser wollen sich im Alltag nicht stundenlang über die Glaubwürdigkeit einer Institution und deren Praktiken informieren. Sie wollen davon ausgehen können, dass eine Redaktion kompetente Mitarbeiter einstellt, Informationen überprüft und ethische Maßstäbe an die Nutzung von KI anlegt, sie wollen es nicht in jedem einzelnen Schritt nachvollziehen müssen. Vertrauen ist eine Abkürzung, mit der Menschen Zeit und Mühe sparen. Medienhäuser sollten sich deshalb klar herausstellen, welchen Wert ihre Marke verspricht. Das gilt übrigens auch für Personenmarken. Creator, die ihren Job gut machen, vermitteln ihrem Publikum genau, was es bekommt und was nicht. Vom Ton der Ansprache bis hin zur Fachkompetenz und Persönlichkeit enthält eine Marke ein Paket. Junge Menschen zu begeistern, ist dabei besonders anspruchsvoll, denn sie sind Marken gegenüber weniger loyal. Wer die nachwachsenden Generationen binden möchte, muss sich deshalb besonders genau mit deren Bedürfnissen beschäftigen.

Ein Großteil der politischen Polarisierung wird durch die Kluft zwischen Stadt und Land angeheizt

Viertens, es geht um Emotionen. Die Herausforderungen der digitalen Welt liegen eher in einem Zuviel als einem Zuwenig. Es gibt zu viele Angebote, Ablenkungen und zu viel Personalisierung und damit Vereinzelung, zu wenig Gelegenheiten für Fokus, Orientierung und Zusammenhalt. Liesbeth Nizet, Head of Future Audiences Monetisation des belgischen Konzerns Mediahus formulierte es mit Blick auf junge Leute so: “Wie bleiben wir relevant im Leben einer Generation, die von Wahlmöglichkeiten überfordert ist?” In einem solchen Meer der Möglichkeiten sind Signale wichtig, die emotionale Reaktionen auslösen. Sich verbunden zu fühlen ist ein menschliches Bedürfnis, deshalb steht Authentizität so hoch im Kurs (auch wenn sie zuweilen vorgetäuscht sein mag). Auch deshalb seien Video-Formate so nachgefragt, sagte Upasna Gautam, bis vor kurzem bei CNN. Das Erfolgsrezept für Videos sei „Emotion plus Klarheit plus Vertrauen“.  

Viertens, es geht um Orte. In einer globalisierten, manchmal verwirrenden Welt suchen viele Menschen nach Sinn und menschlichen Verbindungen dort, wo sie leben. Ein Großteil der politischen Polarisierung wird durch die Kluft zwischen Stadt und Land angeheizt: Menschen, die außerhalb der politischen Zentren wohnen, fühlen sich in öffentlichen Debatten und politischen Entscheidungen oft nicht vertreten. Es gibt deshalb ein Potenzial für exzellente Geschichten abseits der Schaltstellen der Macht. Der klassische Lokaljournalismus lässt sich dabei weiterentwickeln. Fabrice Bakhouche, CEO von Sipa-Ouest-France, sieht zum Beispiel Potenzial in lokalen oder hyperlokalen Geschichten im regionalen Fernseh-Markt – zumal der digitale Streaming-Markt weniger abhängig von Google sei als kürzere Formate. “Viele Menschen in unserer Region haben das Gefühl: Fernsehen wird in Paris gemacht von Menschen, die in Paris wohnen.” Paris lässt sich in diesem Fall beliebig ersetzen.  

Fünftens, es geht um Journalismus. Das große Thema der Zukunft wird nicht KI sein. Es wird der Journalismus sein. Was liefert die Medienbranche, das KI allein nicht anbieten kann? Wie lässt sich KI nutzen, um Journalismus zu produzieren, der mehr ist als Content, der Grundbedürfnisse der Menschen erfüllt? Im KI-Zeitalter gilt es umso mehr, eine Journalismus-Strategie zu entwickeln und in diese zu investieren. Das ist eine Kernbotschaft aus dem neuen EBU News Report „Leading Newsrooms in the Age of Generative AI“ (ich bin dessen Autorin). Die Intendantin des Schwedischen Fernsehens, Anne Lagercrantz, brachte es in einem Interview dafür auf den Punkt: „Wir müssen den Journalismus in der Wertschöpfungskette nach oben bringen hin zu mehr investigativer Recherche, Verifizierung und Premium-Inhalten.“ Absehbar ist, dass die KI-gestützte Suche einige Angebote ablösen wird, die den Medien in der Vergangenheit loyale Nutzer gebracht haben – das gilt zum Beispiel für Service-Themen. Was KI hingegen noch nicht (gut) könne, seien Live-Berichterstattung, Lokales, Meinung und Kolumnen – so die Einschätzung verschiedener Experten auf dem World News Congress. Für eine Kolumnistin ist das erst einmal eine gute Nachricht. 

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 15. Mai 2025. Um dort neue und ältere Kolumnen zu lesen, braucht man ein Abo. 

 

Chefs, redet über eure Ängste!

Angeblich sind die Zeiten vorbei, in denen Redaktionen Macho-Buden waren, Kriegsreporter coole Typen mit Seelen-Panzern und Journalisten den Burnout eines Kollegen nur an der Länge einer Krankschreibung erahnen konnten. Zumindest sieht das Phil Chetwynd so, Global News Director bei der Nachrichtenagentur AFP. Während vor zehn, 15 Jahren noch eine Kultur des „frage nicht nach und rede nicht darüber“ herrschte, habe seitdem nicht nur die Diskussion um arbeitsbedingte psychische Belastungen ein anderes Niveau erreicht; es seien auch entsprechende Strukturen eingezogen worden, so Chetwynd im April 2025 auf einem Podium beim International Journalism Festival in Perugia. Das sei auch nötig, denn Journalisten stünden dieser Tage unter nie gekanntem Druck – und zwar weltweit.

Tatsächlich liefert allein das Scrollen durch das Festivalprogramm einen guten Überblick über all die Schmerzpunkte: Angezählte Geschäftsmodelle drücken auf die Etats und KI beschleunigt das Innovationstempo, während autoritäre Politiker und ihre Vasallen Journalismus diskreditieren, Journalisten bedrohen und in der Bevölkerung Misstrauen oder gar Feindseligkeit gegenüber dem Berufsstand säen, die sich on- und offline ausdrückt. Trotzdem ist es keine allzu verwegene Annahme, dass dies einige Medien-Führungskräfte noch nicht mit allen Konsequenzen verstanden haben.

Auch in Startups schadet es nichts, sich schon früh Gedanken über das Thema mentale Gesundheit zu machen

Dabei lassen sich Geschäftsmodelle nur resilient machen, wenn man sich um diejenigen sorgt, die das tun sollen. Denn die Medienbranche hat aus all den genannten Gründen Anziehungskraft verloren. Viele Journalisten und Medienmanager stellen ihre Berufswahl infrage oder verabschieden sich in ruhigere Fahrwasser, wenn sie das können. Und die nachfolgenden Generationen winken gleich ab. In Redaktionen, die nach dem alten Prinzip operieren, „wer die Hitze nicht abkann, sollte die Küche meiden“, könnte es deshalb bald luftig zugehen. Selbst gründen ist zwar eine Alternative. Sie eignet sich allerdings eher für Workaholics und Selbstausbeuter, wie auf dem einen oder anderen Panel deutlich wurde. Auch in Startups schadet es also nichts, sich schon früh ein paar Gedanken über das Thema mentale Gesundheit zu machen.

Die Journalistin und Beraterin Hannah Storm – mit Chetwynd auf der Bühne – hat dazu 2024 ein Buch veröffentlicht. „Mental Health and Wellbeing for Journalists“ basiert auf Interviews mit 45 Gesprächspartnern aus aller Welt, darunter nicht nur Medienleute sondern auch Trauma-Experten. Es gehe darum, zunächst einmal Räume für Gespräche über das Thema zu schaffen, sagte Storm. Und wer bei posttraumatischer Belastungsstörung vor allem an Kriegs-Korrespondenten denkt, unterschätzt das Ausmaß des Themas. Diejenigen zum Beispiel, die tagein tagaus verstörendes Bildmaterial sichten, seien unter Umständen stärker betroffen als diejenigen, die mitten im Geschehen arbeiten, so Storm. Vicarious trauma, ist der englische Fachbegriff dafür, die Psychologin Sian Williams hat dazu Handlungs-Empfehlungen für Redaktionenerarbeitet.

Solche Leitlinien dürften auch für Lokalredaktionen interessant sein, denn Kollegen, die häufig von Unfallorten berichten oder bei Gerichtsverhandlungen mit grausigen Details von Verbrechen konfrontiert werden, bekommen in der Regel weniger Aufmerksamkeit als solche, die in Krisengebiete geschickt werden. Und Fakten-Checker werden online besonders heftig bedroht – so stark, wie Chetwynd berichtet, dass sie bei AFP ihre Texte nicht mehr mit Namen zeichnen. Das gemeinnützige Unternehmen The Self Investigation hat speziell für diese Gruppe ein Toolkit zum Thema Mental Health zusammengestellt.

Manchmal verursacht zudem nicht das Nachrichtengeschehen einen Burnout sondern die beschleunigte Taktzahl in Redaktionen gepaart mit wirtschaftlichem Druck und der Sorge, KI könnte den Job überflüssig machen – all das neben dem normalen Wahnsinn des Familien-Managements, der viele Kollegen in wichtigen Berufsjahren beschäftigt. Und das gilt nicht nur in Kulturen, in denen Selbstverwirklichung und Freizeit eine große Rolle spielen. Bei einem Change-Management Workshop für ein Medienunternehmen in Malaysia – ich war Seminarleiterin – nannten Teilnehmende Work-Life Balance und mentale Gesundheit als Top-Herausforderungen für die Branche.  

Emma Thomasson, heute Beraterin und zuvor Büroleiterin und Senior Korrespondent bei Reuters, hat das Thema in der Nachrichtenagentur offensiv angesprochen und war damit auf so viel Resonanz gestoßen, dass sie ein entsprechendes internes Angebot aufbaute. Heute arbeitet sie unter anderem bei der Journalisten-Helpline des Netzwerks Recherche mit, bei der sich all diejenigen Hilfe holen können, denen die Belastungen des Jobs über den Kopf zu wachsen drohen.

„Die einzige Barrieren zu einer potenziell unbegrenzten Menge an Arbeit sind die Manager.“

Aber Führungskräfte machen ihren Job nicht, wenn sie solche Angebote allein externen Stellen und der Eigeninitiative von potenziell Betroffenen überlassen. Es sei wichtig, eine Kultur zu schaffen, in der die Mitarbeitenden ohne Angst über solche Erfahrungen reden können, sagte Chetwynd. Dazu gehöre, dass die Chefs auch sich selbst als verletzlich zeigten. Diese Herausforderung müssten alle annehmen, die in Führungsverantwortung stehen. Bei AFP mit ihren 150 Büros in aller Welt seien das eine ganze Menge Leute, aber nur so funktioniere es. Chetwynd: „Die einzigen Barrieren zu einer potenziell unbegrenzten Menge an Arbeit sind die Manager.“

Fachleute halten vor allem zwei Dinge für wichtig, um Belastungen abzumildern: gute Vorbereitung und regelmäßige Pausen. Nicht jeder Journalist eignet sich zum Beispiel allein von seinem Charakter und der persönlichen Geschichte her für jeden Einsatz, und Führungskräfte sollten die potenziellen Risiken ansprechen, bevor jemand eine Aufgabe übernimmt – sei es ein Katastrophen-Einsatz oder das Moderieren von Online-Kommentaren. Auch wenn das nach Kita klingt: Eingewöhnungsphasen helfen. AFP lässt Reporter zum Beispiel in Krisengebieten erst an die Front, wenn sie das Umfeld und die Kultur in weniger exponierten Funktionen kennengelernt haben. Und nach ein paar Wochen müssen sie sich Zeit zum Durchatmen nehmen. Das klingt simpel, doch sowohl in vielen traditionellen Redaktionen als auch in Startups gehört es zur Kultur, Workaholics stillschweigend machen zu lassen, wenn sie ungeliebte Arbeit aus dem Weg schaffen oder den Ruhm der Marke mehren. Kurzfristig mag das funktionieren, langfristig kann solch eine Nachlässigkeit teuer werden – von den menschlichen Kosten ganz abgesehen.  

Überhaupt sind Medienhäuser gut beraten, sich offensiv Gedanken über die gegenwärtige und erwünschte Unternehmens- oder Redaktionskultur zu machen, sie in Worte zu fassen und Mitarbeitenden präzise zu vermitteln. Lea Korsgaard, Chefredakteurin der dänischen Erfolgsmarke Zetland, zeigte auf einem anderen Podium klare Grundsätze, mit denen sie jedem Neueinsteiger die Unternehmenskultur erklärt. Wenn man ein an den Bedürfnissen von Menschen orientiertes Produkt erstelle, brauche man eine an Menschen orientierte Unternehmenskultur, so Korsgaard. Wer im Ringen um Talente künftig noch eine Rolle spielen will, mag sich diesen Rat zu Herzen nehmen.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 15. April 2025. Um dort neue und ältere Kolumnen zu lesen, braucht man ein Abo. 

KI-Washing: Wer jetzt keine Moral hat, entwickelt keine mehr

Auf den ersten Blick sind viele Medienhäuser das Thema KI nahezu vorbildlich angegangen. Man kam schnell in den Tritt, experimentierte, bildete interdisziplinäre Teams, ernannte KI-Direktoren und, man hat schließlich Verantwortung, entwickelte Ethik-Regeln. Natürlich konnte sich die Branche auch über ein paar moralische Ausreißer empören – „Sports Illustrated!“, „Michael Schumacher Interview!“, „Burda-Kochzeitschrift!“ –, aber vielerorts sollten längliche Listen zu „Dos and Don’ts“ das Gröbste verhindern. Schade nur, dass sich die meisten dieser Regelwerke schon bald als eine Form von KI-Washing erweisen dürften. Denn sie gaukeln eine Kontrolle vor, die den Medienhäusern schon lange aus den Händen geglitten ist. Kurz gesagt: Wer jetzt keine Moral hat, entwickelt keine mehr.

Die Langversion ist: Der rasante technische Fortschritt und die Macht der Tech-Konzerne gepaart mit wirtschaftlichem und mancherorts politischem Druck haben Tatsachen geschaffen, denen selbst vorbildliches Management nur schwer beikommen kann. Dies legt die Recherche zu dem Report „Leading Newsrooms in the Age of Generative AI“ nahe, den ich für die European Broadcasting Union recherchiert und geschrieben habe.

Da ist zunächst einmal das Thema „Shadow AI“. Die größten Veränderungen würden derzeit nicht von Medienhäusern angestoßen, sondern entstünden dadurch, dass Journalisten KI-Tools einfach nutzten, beobachtet Ezra Eeman, KI-Direktor des niederländischen Broadcasters NPO. Anders als vor 25 Jahren, als man Redakteure und Reporter noch mühevoll vom Sinn digitaler Tools und Plattformen überzeugen musste, sind KI-Werkzeuge so intuitiv zu bedienen, dass Menschen sie im Privatleben noch häufiger anwenden als bei der Arbeit, wie eine jüngst veröffentlichte Studiezumindest mit Blick auf die USA ergab. Ein Report der Thomson Reuters Foundation stützt die These für Journalisten im Globalen Süden: 80 Prozent der Befragten nutzten KI bei der Arbeit, aber noch nicht einmal 20 Prozent von deren Redaktionen hatte eine entsprechende Strategie oder Politik. Dabei können in Organisationen beide Gruppen zum Problem werden: die Techies, die beim Experimentieren Grenzen überschreiten, und die Unbedarften, die aus Unkenntnis Fehler machen, zum Beispiel sensible Daten preisgeben.

Von Journalisten, die so unter Zeitdruck stehen, dass sich manche noch nicht einmal aufs Klo trauen, kann man nicht erwarten, dass sie alle KI-Regeln verinnerlicht haben. 

Hinzu kommt, dass viele Ethik-Richtlinien nicht alltagstauglich sind. Die BBC ist sicher stolz darauf, dass sie ihre aktuelle Guidance zu KI in nur neun Punkten untergebracht hat – zuzüglich Unterpunkten. Aber von Redakteuren, die in ihren Schichten so unter Zeitdruck stehen, dass sich manche noch nicht einmal aufs Klo trauen, kann man nicht erwarten, dass sie alle Vorschriften verinnerlicht haben. Die Arbeitsbelastung drängt Journalisten vermutlich eher stärker in die Anwendung von KI. So, wie bislang streckenweise Text aus der dpa-Meldung herhalten musste, wird künftig ein LLM zurate gezogen, wenn sich damit Zeit sparen lässt.

Besonders schwer durchzuhalten ist die derzeit beliebteste Regel: „Human in the loop“ – ein Mensch sollte den letzten Blick auf KI-generierte Inhalte haben, bevor sie publiziert werden. Schon im regulären Betrieb übersehen Redakteure Fehler. Wenn KI-Tools die Output-Geschwindigkeit vervielfachen, kommen Menschen kognitiv an ihre Grenzen. Und sollten sie dennoch sorgfältig arbeiten, verhindern sie zwangsläufig die von der Geschäftsführung erhofften Effizienzgewinne. Das „Human in the Loop“-Prinzip sabotiere die Skalierbarkeit, die man sich von KI erhoffe, schreibt Felix Simon in einem Kommentar für das Reuters Institute.

Im Zweifel winden sich Redaktionen mit Disclaimern aus der Vorgabe heraus. Man kennzeichne Inhalte, die mit KI übersetzt oder produziert seien, heißt es dann, auf Deutsch: Man übernehme keine Verantwortung für Fehler. Das kann gut gehen und wird in einigen Fällen vom Publikum akzeptiert, zum Beispiel beim Untertiteln von TV-Beiträgen. Da überwiegt der Wunsch nach Verständlichkeit, zum Beispiel bei Hörgeschädigten. Es kann aber auch Mist herauskommen, wie bei Texten der Washington Post, die in Publikationen der Ippen-Gruppe von einer KI übersetzt und verbreitet werden. Außerdem gibt es auch im hochwertigen Journalismus Anwendungsfälle, in denen starre Regeln nicht helfen. Verbiete man zum Beispiel generell geklonte Stimmen, verbaue man sich erzählerische Möglichkeiten. Auch öffentlich-rechtliche Sender haben schon Stimmklone von historischen Protagonisten genutzt, um Zeitgeschichte anschaulicher zu machen.    

In all diesen Fällen helfen keine im Intranet geparkten Richtlinien. Wirkungsvoller ist eine Mischung aus technischen Lösungen, Schulungen und Debatten: Gewünschte Anwendungen müssen im CMS automatisiert werden. Bei Experimenten und in Trainings können die Nutzenden KI-Wissen und den Umgang damit erwerben. Und wer regelmäßig über Werte redet, auch in durchaus strittigen Fällen, denkt womöglich öfter darüber nach und handelt entsprechend. Mitarbeitern bei jedem Recherche- und Produktionsschritt auf die Tastatur zu schauen, hat im Journalismus noch nie funktioniert. Jeder Einzelne muss seinen Werte-Kompass selbst kalibrieren und ihm folgen.

Kein KI-Tool wird fehlendes Vertrauen ersetzen können. Aber ein gedankenloser Einsatz von KI kann mühsam aufgebautes Vertrauen zerstören

Das nutzt allerdings wenig, wenn die Führungsetage keinen hat. Der Besitzer der Los Angeles Times zum Beispiel hatte kürzlich verfügt, die Redaktion müsse Kommentare mit einem Werkzeug namens Bias Meterversehen. Die KI weist Leser automatisch auf Gegenpositionen hin. Offensichtlich wird der Output nicht von Menschen gegengelesen. Sonst wäre womöglich doch jemandem aufgefallen, dass die Maschine den Ku Klux Klan in etwas zu sanftes Licht getaucht hatte. Aber das sind Details. Kein KI-Tool wird fehlendes Vertrauen ersetzen können. Aber ein gedankenloser Einsatz von KI kann mühsam aufgebautes Vertrauen zerstören – in der Belegschaft und beim Publikum.

Was Ethik-Regeln in Medienhäusern allerdings gänzlich obsolet machen könnte, ist die Übermacht der Tech-Konzerne. Je mehr KI in allen Tools steckt, die jeder im Alltag nutzt, umso weniger werden Anwender die dahinterliegenden Werte hinterfragen. Dass die Smartphone-Kamera den Himmel immer etwas blauer macht als jenen, den man vor sich sieht – geschenkt. Dass Suchmaschinen die Antworten dank KI immer leichter verdaulich machen – angenehm. Dass Textverarbeitungsprogramme zunehmend zu Redakteuren werden, bevor ein Redakteur das Stück gesehen hat – warum nicht? Nur die großen Häuser werden es sich leisten können, die eigenen Standards in ihren Systemen zu hinterlegen, und womöglich sind auch die mit KI infiltriert. Der Rest arbeitet mit Office und Co..

Das alles muss nicht schlecht sein. Autopiloten haben den Luftverkehr um ein Vielfaches sicherer gemacht, autonomes Fahren wird das Gleiche auf den Straßen erreichen. Womöglich schafft es auch der KI-unterstützte Journalismus, das Niveau des Gesamt-Outputs ordentlich anzuheben. Nach den Verwüstungen des Reichweiten-Zeitalters ist das bei manchen Publikationen gar nicht so schwer. KI-Tools können irgendwann womöglich sogar dabei helfen, Ethik-Regeln zu implementieren. Entscheidend ist, wessen Regeln das sein werden.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 17. März 2025. Neue und ältere Kolumnen kann man dort mit einem Abo lesen. 

Zeitenwende: Wie Journalismus nun reagieren muss

Glaubte man an Verschwörungserzählungen, käme einem das vor, wie von langer Hand geplant: Von der einen Seite her diskreditieren Politiker im Dauerfeuer etablierte Medien und damit den unabhängigen Journalismus; von der anderen pushen Tech-Konzerne über entsprechende Plattformen und großzügige Förderung die „Creator Economy“. Das Prinzip „Teile und herrsche!“ lässt grüßen. Und plötzlich stehen beide Seiten einträchtig auf dem Balkon und grinsen hinab zu denjenigen, die den einen gewählt und den anderen ihre Daten überlassen haben. Mehr Symbolik als das Foto von den Tech-Jungs mit Trump bei dessen Amtseinführung im Januar 2025 geht kaum.

Ach, wenn es doch nur Symbolik wäre! Aber die neue amerikanische Regierung zeigt an allen Ecken und Enden, dass sie von Pressefreiheit (und demokratischer Gewaltenteilung generell) nichts hält. Journalisten der weltweit größten Nachrichtenagentur AP wird der Zugang zum Präsidenten verwehrt, weil sie den Golf von Mexiko nicht wie von ihm vorgeschrieben Golf von Amerika nennen. Sender und Regionalzeitungen werden für faktentreue Berichterstattung verklagt. Und gleichzeitig regeln die Plattform-Konzerne Facebook und X den Anteil der seriösen Nachrichten in den Newsfeeds ihrer Kunden herunter, Job erledigt.

Wer jetzt sagt, wir werden auch nach der Bundestagswahl nicht von Trump regiert, hat zwar faktisch Recht. Dennoch ist es allerhöchste Zeit, sich in den etablierten Redaktionen ein paar Gedanken mehr darüber zu machen, wie man die Loyalität seiner Nutzer in Zeiten des politischen Gegenwindes erhält und pflegt – und womöglich neue gewinnt. Denn die Anti-Medien-Erzählung und die Mechanismen der Plattform-Ökonomie mit ihren Aufmerksamkeits-Spiralen wirken auch hierzulande. Spätestens seit klar ist, dass kritisch-aufklärende Berichterstattung allein Menschen nicht davon abhält, Zersetzer der Demokratie zu unterstützen, muss sich vor allem der Politikjournalismus hier und dort ein paar unangenehme Fragen stellen, darunter jene: Hat man womöglich manch einen Kandidaten durch permanentes Scheinwerferlicht erst wählbar gemacht?

Auch der Journalismus in der Demokratie erlebt eine Zeitenwende. Und lange erprobte Praktiken eignen sich womöglich nicht mehr zur Bewältigung der Zukunft. Was also ließe sich tun? Zunächst könnten drei Strategien helfen:

Erstens, von Journalisten aus unfreien Regimen lernen. Was bringt es zum Beispiel, das präsidentielle Pressebriefing zu besuchen, wenn es den Veranstaltern nur um das Verbreiten ihrer Propaganda geht und kritische Journalisten-Fragen umgehend zu Waffen gemacht werden, die sich gegen die Fragesteller richten? Womöglich würde es wirken, blieben alle Kolleginnen und Kollegen, die etwas von Pressefreiheit halten, solchen Briefings und auch der Präsidentenmaschine fern, bis beispielsweise die AP-Kollegen wieder zugelassen werden. So wie es journalistische Arbeit manchmal verlangt, sich Menschen mit Einfluss von außen anzunähern und lediglich ihr Umfeld zu befragen, wenn sie partout nicht mit einem sprechen wollen, gibt es für Reporter auch und gerade jenseits offizieller Termine und Verlautbarungen ausreichend viel zu recherchieren.

Vor allem in Politikredaktionen herrscht eine bemerkenswerte Resistenz gegen den Wandel

Zu Beginn der ersten Amtszeit Donald Trumps vor exakt acht Jahren hatte das Reuters Institute dazu eine Umfrage unter Journalisten mit dem Titel „How to cover powerful people who lie“ gestartet. Mehr als 100 Kollegen aus aller Welt hatten mit Tipps beigetragen, die in einer immer noch brandaktuellen Liste der Do’s and Don’ts zusammengefasst sind. Dazu gehören, sich nicht vom endlosen Strom der Social-Media-Zitate ablenken lassen, den Geldströmen hinterherrecherchieren („Follow the money“)  – und zusammenhalten. Und für alle außerhalb der Medien gilt: Jeder kann sich für Pressefreiheit stark machen, vor allem Menschen mit Macht, Einfluss und öffentlicher Präsenz sind hier gefragt. 

Zweitens, das journalistische Angebot auf die Bedürfnisse der Nutzer ausrichten. In den etablierten Medien, vor allem deren Politikredaktionen, herrscht eine bemerkenswerte Resistenz gegen den Wandel. Obwohl man Nutzer langfristig binden will, feilt man am Clickbait-Journalismus, für den niemand ein Abo abschließt. Obwohl man um Nachrichtenmüdigkeit und -verweigerung weiß, springt man über jedes Stöckchen und setzt auf immer mehr News und diese möglichst schneller. Obwohl man vom tiefgründigen Journalismus, exzellentem Storytelling und investigativen Recherchen schwärmt, verlangt man seinen Leuten die schnelle Geschichte ab und bringt sie dazu, die Erstversion ChatGPT zu überlassen – wird schon keiner merken. Obwohl man Social Media in Sonntagsreden verachtet, zwingt man Politiker in TV-Duelle, die genau die gleichen Mechanismen bedienen wie knackige Posts. Und obwohl Lokaljournalismus fast überall und bei allen Altersgruppen zu den Top-Interessen gehört – ein Blick in den Digital News Report 2024 bietet sich an –, dünnt man Lokalredaktionen aus und setzt auf überregionale Inhalte, die schon heute jede KI-Suche zutage fördern kann. Ein Angebot, das den durchaus verschiedenen Bedürfnissen der Kunden entspricht, sieht sehr häufig sehr anders aus: es ist selektiver, konstruktiver und begegnet den Menschen, statt sie zu belehren. Medienhäuser täten gut daran, sich mehr mit Psychologie,  Verhaltensforschung und den Bedürfnissen ihrer Zielgruppen zu beschäftigen und ihre Produkte entsprechend zu gestalten. Der politische Journalismus muss sich als Dienstleistung für sein Publikum neu erfinden.                    

Manchmal fällt es einem schwer, die eigene Branche zu lieben

Drittens, unabhängige Medienmarken stärken – auch wenn es manchmal schwerfällt. Wer im Journalismus einen großen Namen und Unternehmergeist hat, für den mag es verlockend sein, vom Influencer-Trend zu profitieren. Das Vertrauen vor allem junger Menschen wandert eindeutig weg von Institutionen hin zu Individuen, die nahbarer, authentischer und irgendwie ehrlicher rüberkommen, als dies der traditionelle Journalismus tut. Dieser wiederum hat einiges dazu beigetragen. Erwartbare Inhalte, formelhafte Sprache, Clickbait, „Copy and Paste“-Nachrichten, „der hat gesagt, die hat gesagt“-Verlautbarungen – manchmal fällt es einem schwer, die eigene Branche zu lieben.

Viele Nutzer, die die Welt da draußen nur durch TikTok und YouTube erleben, wissen zudem nicht einmal mehr, was journalistische Prinzipien sind und was Pressefreiheit bedeutet. KI-Portale werden die Präsenz von zur Unabhängigkeit verpflichteten Quellen weiter zurückdrängen. Und diverse digitale Plattformen ermöglichen es Einzelkämpfern, sich dort ein loyales Publikum heranzuziehen. Einerseits erfrischt und beeindruckt das. Anderseits haben und hatten die Tech-Konzerne offenbar genau das im Sinn: Individuen lassen sich leichter korrumpieren oder einschüchtern als große Medienmarken mit der Macht vieler Reporter und ihren Rechtsabteilungen, die den Mächtigen recht lästig werden können. Die Konsequenz: Etablierte Marken können sich von Influencern abschauen, was sie so attraktiv macht und ihre eigenen Personenmarken aufbauen und binden, ohne journalistische Prinzipien aufzuweichen. Und reichweitenstarke Solo-Unternehmer mögen sich überlegen, ob sie nicht doch mit Marken kooperieren wollen, die für Pressefreiheit stehen. Die Demokratie wird es ihnen danken.  

Diese Kolumne erschien am 18. Februar bei Medieninsider. Um neue und frühere Kolumnen zu lesen, empfiehlt sich ein Abo dort. 

 

Trends 2025: Journalismus braucht chemische Verbindungen

Es ist nicht leichter geworden für den Journalismus im Jahr 2025. Politiker und Tech-Oligarchen diskreditieren Medien, das Publikum ist nachrichtenmüde oder folgt Influencern, die (nach)lässig mit Fakten umgehen, und der digitale Wandel klappt zwar leidlich, kann aber weder die Verluste aus dem Niedergang von Print kompensieren noch jene wettmachen, die ihnen die Herren Musk und Zuckerberg einbrocken, weil sie nichts von Journalismus halten und ihre Social Media Plattformen entsprechend gestalten. Wenn man den neuen Report „Journalism and Technology Trends and Predictions 2025“ des Reuters Institutes studiert, schaut man selbst als Optimistin eher in ein halbleeres Glas.

Vielen in der Branche gilt der stets im Januar erscheinende Trend-Report aus Oxford als Pflichtlektüre. Er basiert auf einer Befragung von handverlesenen Medien-Führungskräften aus aller Welt. Dieses Mal haben 326 geantwortet, und nur 41 Prozent von diesen zeigten sich optimistisch für die Zukunft des Journalismus – vor zwei Jahren waren es bei sehr ähnlicher Zusammensetzung noch 60 Prozent. Die Realität dürfte eher noch trüber aussehen, denn wer sich weder international vernetzt noch für die Zukunft des Journalismus oder wenigstens seines Hauses einsetzt, wird gar nicht erst erfasst. Zusätzlich startet das Reuters Institute das Jahr traditionell mit seinem „News Innovation Forum“, bei dem ein kleiner Kreis von überwiegend europäischen Medienmachern Erfahrungen austauscht und Stimmungen abgleicht. Die folgenden Erkenntnisse beruhen sowohl auf dem Report als auch auf den Diskussionen in Oxford und sind so subjektiv, wie sich das für eine Kolumne gehört.   

Die erste Einsicht ist keine Überraschung: Für Medienhäuser sind direkte Verbindungen zu ihren Nutzern der Schlüssel zum Erfolg. Was haben Redaktionen in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht alles dafür getan, um über soziale Netzwerke in die Feeds ihrer Nutzer zu gelangen. Nun stellen sie fest, dass X unbrauchbar und Facebook zum weitgehend nachrichtenfreien Raum geworden ist. Die Reichweite, die Medienmarken über die beiden Plattformen erzielen, ist in den vergangenen beiden Jahren massiv eingebrochen. Die meisten setzen deshalb auf Einnahmen über Digital-Abos oder Mitgliedschaften sowie die üblichen Geschäftsmodelle inklusive neuer Produkte, aber auch da geht es sehr häufig um direkten Kundenkontakt, der gepflegt werden will. Um es mit einer nunmehr vier Jahre alten Medieninsider-Kolumne zu sagen: „Print hat gewonnen“ – zumindest dessen Prinzip der festen, auf Gewohnheit und Zuneigung beruhenden Beziehung.

Das Vordringen von generativer KI als Such-Werkzeug macht den Ausbau dieser Verbindungen noch dringlicher. Denn abgesehen von den großen Verlagen erwartet kaum ein Medienhaus, von Deals mit den großen KI-Konzernen zu profitieren. Zwar wünschen sich viele Manager – in der Umfrage fast drei Viertel –, dass die Branche solche Verträge im Schulterschluss aushandelt, in der Realität kämpft aber jeder für sich allein, was ein klassisches Collective Action Dilemma abbildet.

Auf der Suche nach Rezepten für die beschriebene Beziehungspflege drängt sich eine weitere Erkenntnis auf: Journalismus ist eine Frage der Chemie. Erfolgreiche Medienhäuser und Einzelkämpfer begreifen, dass es in einer Welt der Über-Information zunehmend auf die emotionalen Verbindungen ankommt, die zwischen Sendern und Empfängern entstehen. Da geht es stärker um Nähe, Authentizität und Identifikation als um Faktenfülle, Geschwindigkeit und Chronistenpflicht, wie sie etablierte Medienhäuser in den Mittelpunkt stellen. Tony Pastor, Mitgründer der größten unabhängigen britischen Podcast-Firma Goalhanger, beschreibt das Casting der jeweils zwei Hosts als wichtigsten Erfolgsfaktor seiner Produkte: „Die Chemie zwischen den beiden muss stimmen.“ Ähnliches gilt für slow journalism Marken wie das dänische Zetland, das in dieser Woche eine neue Marke in Finnland launcht, oder eben jene polarisierenden Politik-Kommentatoren der so genannten alternativen Medien: Allen geht es in erster Linie um einen bestimmten Ton der Ansprache, der beim jeweiligen Publikum verfängt. Wer den trifft, der kann auch mit überlangen Stücken und auch bei jungen Nutzern punkten. Der traditionelle Journalismus muss sich diesem Trend stellen.

Die neuen Vorlieben dürften auch etwas mit dem Zeitgeist zu tun haben, zum Beispiel in Deutschland. War der Hunger nach Nüchternheit, Fakten und Neutralität nach dem Propaganda-Gebrüll der Nazi-Zeit groß, erleben Generationen, die nicht mehr mit den Kriegsgeschichten ihrer Großeltern aufgewachsen sind, die gleiche Art der Ansprache als bürokratisch, kalt und lebensfern. Wer Vereinzelung und Flüchtigkeit von Beziehungen als bedrückendste Probleme der Zeit wahrnimmt, sucht eher nach Identifikation, Emotionalität und Menschlichkeit. Journalismus muss also etwas wie ein guter Freund werden, ohne seine Grundwerte zu verraten. Das gilt auch für faktenreiche, nüchtern erklärende Stücke, die oft dann gut funktionieren, wenn sie das Informationsbedürfnis der Nutzer ernst nehmen, sie also weder über- noch unterschätzen, mit passenden, attraktiven Formaten arbeiten und auch mal klarstellen, etwas (noch) nicht zu wissen.

Noch keine befriedigenden Antworten gibt es auf die Frage, ob KI mehr Nähe zum Publikum schaffen kann – oder gar das Gegenteil bewirkt. Viele Häuser arbeiten derzeit daran, ihre Angebote mit Hilfe von KI zu personalisieren und erhoffen sich davon mehr Nähe. Aber im direkten Kundenkontakt könnte dann doch der Mensch wörtlich genommen die Nase vorn haben. Roboterstimmen zum Beispiel klängen zu perfekt, hatte Zetland-CEO Tav Klitgaard kürzlich in einem Interview mit Medieninsider gesagt, die Nutzer wollten aber Menschlichkeit: „Wir mögen keine Perfektion, weil Perfektion nicht vertrauenswürdig ist.“

Auch das ist eine Erkenntnis aus Report und Innovation Forum: KI sucht in vielen Redaktionen noch ihren Platz. Zwar gibt es kaum ein Haus, das noch nicht an und mit entsprechenden Werkzeugen arbeitet, mehr als 80 Prozent der Befragten berichten von laufenden KI-Projekten. Man habe es aber noch zu häufig mit „Lösungen zu tun, die nach Problemen suchen“, wie es ein Teilnehmer der Diskussionsrunde formulierte. Sprich, es wird viel experimentiert, aber es ist unklar, was man mit Hilfe Künstlicher Intelligenz wirklich erreichen will und kann. Noch ist KI in Redaktionen mehr Handwerkszeug als Heilsbringer, sie transkribiert, übersetzt, fasst zusammen und schlägt Text-Bausteine vor. Auch Effizienz-Versprechen werden noch nicht eingelöst – jedenfalls dort, wo man Journalismus ernst nimmt und das Vertrauen seines Publikums nicht durch übermäßige Fehler riskieren will. Stattdessen sind Investitionen nötig, auch in neue Talente. Fazit: Für Medienhäuser wird das KI-Rennen zum Marathon, auf der Strecke steht manch quälender Abschnitt noch bevor.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 14. Januar 2025. Aktuelle Kolumnen von Alexandra lesen Sie dort mit einem Abo. 

KI-Siegel im Journalismus? Wenn, dann richtig

Im Fall Sports Illustrated war die Sache eindeutig. Als durchsickerte, dass nicht hinter jedem Kolumnisten und Reporter des traditionsreichen amerikanischen Sportmagazins ein kluger Kopf sondern zuweilen nur ein Sprachmodell steckte, kostete das etliche Abos und am Ende auch CEO Ross Levinsohn seinen Job. Redaktionen, die Journalisten-Imitate aus künstlicher Intelligenz einsetzen, machen das also besser selbstbewusst mit eindeutigem Transparenz-Hinweis, wie dies zum Beispiel der Kölner Express mit seiner Avatar-Reporterin Klara Indernach (abgekürzt KI!) tut. Und selbst dann kann die Sache schief gehen. Der Radio-Sender Off Radio aus Krakau, der zunächst stolz verkündet hatte, seinen Hörern ein allein von KI gesteuertes Programm vorzusetzen, musste das Experiment nach kurzer Zeit abbrechen. Eine Avatar-Moderatorin hatte ein fiktives Interview mit der Literatur-Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska geführt und sie zu aktuellen Themen befragt – nur lebt die Autorin schon seit 2012 nicht mehr. Das Publikum war entsetzt.

Derzeit gilt Transparenz und eine offene Debatte darüber, ob, wann und in welchem Maße Redaktionen beim Erstellen von Inhalten KI einsetzen, in der Branche dennoch als eine Art Königsweg. In den meisten Ethik-Leitlinien zum redaktionellen Umgang mit KI dürfte sich dazu der eine oder andere Absatz finden. Die Furcht ist groß, durch unbedachten KI-Gebrauch die eigene Marke zu beschädigen und das vielerorts angeknackste Medienvertrauen weiter auszuhöhlen. Da schreibt man dann lieber mal dazu, dass diese oder jene Zusammenfassung oder Übersetzung von Sprachmodellen generiert wurde. Wie das bei den Lesern und Nutzern ankommt, ist allerdings noch kaum erforscht – und auch unter Branchen-Experten umstritten. Während die einen sich für Kennzeichnungen aussprechen, wie man sie von Nahrungsmitteln kennt, verweisen die anderen darauf, dass Label das Publikum erst recht misstrauisch stimmen könnten. Immerhin könnte der Hinweis „KI-unterstützt“ auch so interpretiert werden, dass sich die Redaktion aus der Verantwortung stehlen möchte.

Aus anderen Bereichen weiß man zudem: zu viel Transparenz kann Vertrauen ebenso schmälern wie zu wenig. Eine vollständige Liste aller Pannen und Kunstfehler, im Foyer eines Krankenhauses ausgehängt, würde Patienten vermutlich eher abschrecken als zuversichtlich stimmen. Gleiches gilt für Defekte an Flugzeugen oder Missgeschicke in Restaurantküchen. Wer überall einen Warnhinweis liest, ergreift entweder die Flucht oder schaut nicht mehr hin. Rachel Botsman, eine führende Expertin zum Thema, definiert Vertrauen als „eine selbstbewusste Beziehung zum Unbekannten“. Transparenz und Kontrolle stärkten Vertrauen nicht, sondern machten es weniger notwendig, weil sie das Unbekannte reduzierten, argumentiert sie.

Viel wichtiger für die Vertrauensbildung sind gute Erfahrungen mit der Marke oder Individuen, die sie repräsentieren. Dazu sollte eine Organisation offen darüber kommunizieren, welche Schritte sie unternimmt und welche Prozesse sie installiert hat, um Pannen zu verhindern. In Flugzeugen gehören dazu Redundanz von Technik, die doppelte Besetzung des Cockpits und feste Abläufe, in Redaktionen das Vier-Augen- und das Zwei-Quellen-Prinzip. Wenn Menschen einer Medienmarke vertrauen, gehen sie schlicht davon aus, dass dieses Haus alle Abläufe nach bestem Wissen und Gewissen strukturiert und regelmäßig überprüft. Wird KI als Sonderfall herausgestellt, könnte sich der Eindruck einschleichen, dass die Redaktion der Sache selbst nicht so richtig traut.

Felix Simon, Wissenschaftler am Reuters Institute in Oxford, hält deshalb allgemeine Transparenz-Regeln für ebenso wenig praxistauglich wie auch den Grundsatz, es müsse immer ein Mensch die Endkontrolle übernehmen. Es sei eine Fehlannahme, dass man allein mit diesen Maßnahmen das Vertrauen des Publikums zurückgewinnen könne, schreibt er in einem Essay.

Viele Journalisten machen sich zudem nicht bewusst, wie stark ihre eigene redaktionelle Berichterstattung über Künstliche Intelligenz das Verhältnis ihres Publikums dazu prägt. Wer in Interviews, Essays und Podcasts ständig liest und hört, was für einem Teufelszeug sich die Menschheit da ausliefert, wird der Technologie kaum aufgeschlossen gegenüberstehen, wenn die sonst so geschätzte Redaktion plötzlich überall KI-Hinweise anbringt. In Umfragen äußern sich Befragte deshalb erwartungsgemäß eher skeptisch, wenn sie zum Einsatz von KI im Journalismus um Auskunft gebeten werden.

Es gilt deshalb, die Kompetenz der eigenen Reporter zu stärken, damit sie das Thema KI vielschichtig angehen und konstruktiv begleiten, statt zwischen Hype und Weltuntergang zu mäandrieren. Auch die Vermenschlichung von KI – sei es über Avatar-Reporter oder nur in der Sprache (streng genommen ist schon Intelligenz ein unpassendes Wort) – trägt nicht gerade dazu bei, dem Publikum ein realistisches Bild davon zu vermitteln, was Sprach- und Rechenmodelle können und was eben nicht.   

 

Der Eindruck, den Menschen von KI haben, wird zudem stark davon geprägt werden, welche Erfahrungen sie selbst damit machen. Unter Studierenden gibt es wohl schon gegenwärtig kaum jemanden mehr, der nicht dann und wann Hilfsmittel wie ChatGPT nutzt. Auch wer von Berufs wegen programmiert, greift auf die blitzschnellen Rechenmodelle zurück, und für Büroarbeiter wird KI in zunehmendem Maße zum alltäglichen Werkzeug, ganz so wie Rechtschreibkontrolle, Excel Kalkulationen oder Spracheingabe. Allerdings wird es immer weniger offensichtlich werden, hinter welchen Tools welche KI steckt, da die Tech-Anbieter sie ins Leistungspaket stecken wie den Autofokus beim Fotografieren mit dem Smartphone. KI-Labels könnten deshalb schon bald wirken wie ein Relikt aus vergangener Zeit. 

Bei einer Konferenz, zu der das in Washington ansässige Center for News, Technology & Innovation jüngst nach Brüssel eingeladen hatte, schlug ein Teilnehmer vor, man sollte womöglich über eine Kennzeichnung von menschengemachtem Journalismus nachdenken. Was im ersten Moment nach einem Scherz klingt, hat tatsächlich einen ernsthaften Hintergrund. Die Branche muss sich zügig darüber klar werden, wie sich Journalismus in einer Welt der rasant skalierenden automatisierten Inhalte-Produktion seine Einzigartigkeit und Relevanz bewahrt. Sonst hat sie bald größere Probleme als die Frage, wie man KI-unterstützten Journalismus im Einzelfall kennzeichnen soll.               

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 28. November 2024. Aktuelle Kolumnen von Alexandra dort lesen Sie mit einem Abo. 

Wie der Lokaljournalismus einen Weg in die Zukunft finden kann

Man muss nicht mit dem Finger auf die Washington Post zeigen, um festzustellen, dass im Journalismus nicht alles, was der Demokratie dient, gut fürs Geschäft ist – und umgekehrt. Jenseits des Atlantiks hat Amazon Gründer und WaPo-Besitzer Jeff Bezos jüngst die Redaktion daran gehindert, eine Wahlempfehlung für Kamala Harris abzugeben – er sah offenbar lukrative Staatsaufträge für Amazon in Gefahr, sollte Donald Trump die Wahl gewinnen. Dieser hatte Bezos, wie vom ehemaligen Chefredakteur Marty Baron beschrieben, schon in seiner ersten Amtszeit böse zugesetzt.

Aber auch diesseits des Ozeans ist die Spannung zwischen medialen Geschäftsinteressen und demokratischer Verantwortung beträchtlich. Zum einen verkämpfen sich die Verleger in einem Konflikt mit den öffentlich-rechtlichen Sendern, der dazu führen könnte, dass den erfolgreichsten deutschen Nachrichtenangeboten auf Social Media – jenen der Tagesschau – die Reichweite abgedreht wird. Die Verleger argumentieren, die Konkurrenz der Öffentlich-Rechtlichen koste sie Abos. (Man wartet nun darauf, welche packenden Angebote die Regionalzeitungsverleger für TikTok und Insta in den Schubladen haben, um den politischen Rechtsaußen-Bewegungen etwas entgegenzusetzen, die sich dort fröhlich tummeln.) Außerdem schließt die Süddeutsche Zeitung ihre Regionalbüros samt den dazugehörigen Ausgaben, was man durchaus als Schlag gegen die wichtige Verankerung der Demokratie im Lokalen werten kann.

Die SZ-Strategen werden das durchgerechnet haben. Fakt ist, dass man Lokaljournalismus nur sehr begrenzt skalieren kann, im Gegensatz zu etwas wie „15 Erkenntnisse zu Erkältungskrankheiten, die jeder kennen sollte“, (wobei so etwas künftig jede KI sekundenschnell zusammentragen kann). Hinzu kommt, dass die begehrten, besser gebildeten nachwachsenden Zielgruppen eine deutlich geringere Bindung an Orte haben als noch frühere Generationen. Lokaljournalismus hat es also bei den Jungen schwerer – wenngleich er auch dort immer noch die Interessen toppt (siehe Grafik). Auf der Soll-Seite hinzu kommt, dass genau jener intensiv recherchierte, investigative Lokaljournalismus, der wirklich gebraucht wird, teuer zu produzieren ist.  

Fakt ist aber auch, dass lokale Medien in Studien zum Thema Vertrauen in den Journalismusregelmäßig Spitzenwerte erzielen. Nur noch die öffentlich-rechtlichen Anbieter schneiden oft besser ab. Und dass Lokaljournalismus einen wichtigen Beitrag zu einer funktionierenden Demokratie leistet, ist kaum umstritten: Mehr Menschen gehen zur Wahl und kandidieren für politische Ämter, wenn eben dieses politische Leben auch irgendwo öffentlich verhandelt wird. Menschen engagieren sich mehr, wenn sie wissen, wo sie das tun können. Gemeindefinanzen werden besser gemanagt, wenn die Verantwortlichen fürchten müssen, dass ihnen die Presse auf die Schliche kommt. All dies ist von Studien belegt.

Es ist kaum bestritten, dass es dem demokratischen Dialog nicht guttut, wenn Journalismus nur noch aus den urbanen Zentren gemacht wird und die Belange der Menschen in ländlichen Regionen keine Rolle mehr spielen. Auch große öffentlich-rechtliche Anbieter wie die BBC und das Schwedische Fernsehen SVT haben das erkannt und ihre Aktivitäten in den Regionen fernab von London und Stockholm in den vergangenen Jahren wieder intensiviert. Wenn es um das Überleben des Journalismus als solchen geht, steht die Sorge um den Lokaljournalismus aus all diesen Gründen häufig im Fokus potenzieller Geldgeber, weshalb es international eine ganze Reihe von entsprechenden Förderprogrammen gibt – vor allem in den USA.

Die amerikanische Medienlandschaft unterscheidet sich zwar deutlich von der hiesigen. Dennoch lohnt ein Blick über den Atlantik, wenn man sehen möchte, welchen Weg der Lokaljournalismus nehmen kann. Innerhalb der vergangenen 20 Jahre ist dort laut dem jüngst veröffentlichten Bericht des State of Local News Projects ein Drittel aller Zeitungen verschwunden – in Summe mehr als 3200. Übrig geblieben seien 5600, von denen 80 Prozent nur noch wöchentlich erschienen. Der Report weist 208 Landkreise als Nachrichtenwüsten aus, in denen keinen Zugang zu lokalem Journalismus mehr gibt. Rund 55 Millionen Amerikaner hätten somit gar keine oder nur eine lokale Quelle, aus der sie sich mit unabhängigen Informationen versorgen könnten. Übrigens ist laut dem amerikanischen Büro of Labor Statistics die Zahl der Arbeitsplätze in absoluten Zahlen in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten in keiner Branche so drastisch geschrumpft wie im Journalismus.

All dies heißt aber nicht, dass die Lage für den Lokaljournalismus hoffnungslos ist. Es demonstriert vor allem den nicht aufzuhaltenden Niedergang von Print-Produkten, an denen viele Verlage aus (verständlichen) kommerziellen Gründen viel zu lange festgehalten haben. Dies hatte nur den unschönen Nebeneffekt, dass digitale Innovationen im Lokalen gar nicht oder nur halbherzig vorangetrieben wurden – etwas, das sich nun rächt. Denn auch im Digitalen gilt es, Nutzende zu loyalen, möglichst zahlenden Kunden zu machen. Und Kunden zahlen bekanntermaßen nicht für die schnell zusammengezimmerte Ein-Quellen-Geschichte, die zur Not die Aufschlagseite im Print-Lokalteil füllt. Sie erwarten innovative, digitale Produkte.

Und auch da lohnt sich der Blick in die USA. Ganz nach Lehrbuch ist es dort bislang nicht etwa den Platzhirschen sondern vor allem Newcomern gelungen, solche neuen Angebote zu machen. Das US-Portal Axios ist seit 2021 im Lokaljournalismus aktiv und bedient mittlerweile 30 lokale Märkte mit Newslettern. Die Gründer Jim VandeHei und Mike Allen und werden im November für ihre Verdienste um den Journalismus mit dem renommierten Fourth Estate Award des National Press Clubs geehrt. Der State of Local News Report listet etliche „Local News Bright Spots“, also innovative lokale Medien vom WhatsApp-Angebot Conecta Arizona, das sich an die spanischsprachige Community richtet, bis hin zur Traditionszeitung Salt Lake Tribune, die sich als gemeinnütziges digital first Medium neu erfunden hat. Allerdings konzentrieren sich fast alle diese Angebote auf urbane Regionen, in denen zumindest eine gewisse Skalierung möglich ist, in ausgedünnten Landkreisen bleibt die Lage weiterhin ernst.

Aber auch in Europa und Deutschland zeigt sich, dass diejenigen, die sich reinhängen, auch mit digitalen Produkten Erfolg haben können. In Wan-Ifras  Table Stakes Europe Projekt haben Dutzende Teams unter Beweis gestellt, dass man im traditionellen Lokaljournalismus wachsen kann, wenn man sich intensiv mit den Zielgruppen in der Region und deren Bedürfnissen beschäftigt.[1) In den verschiedenen Reports finden sich etliche Fallstudien erfolgreicher digitaler Transformation. Wichtigste Erkenntnis: jede Region bietet andere Chancen. In manch einem Umfeld wollen die Leser alles über einen großen Arbeitgeber wissen, wie zum Beispiel über Volkswagen bei der Freien Presse Chemnitz. Die Nutzer des Hamburger Abendblatts hingegen verschlingen alles zu Kulturangeboten, was bei anderen Regionalanbietern gar nicht funktioniert. Was fast immer läuft: gut recherchierte Angebote zu erfolgreichen Fußball-Bundesligisten und zum Thema Essen und Trinken in der Region. 

Aber es geht nicht nur um Zielgruppen und Themen. Wichtig ist es auch, auf der ganzen Klaviatur der Angebote zu spielen, von der Push Mitteilung über den Newsletter und den Live-Stream von lokalen Events bis hin zur eigenen öffentlichen Veranstaltung, der bei der die Leser direkt in den Kontakt zu den Journalisten kommen können – eine wahrhaft vertrauensbildende Maßnahme. Viele Verlage, vor allem jene in Skandinavien, setzen zunehmend auf die Möglichkeiten von KI, Lokalseiten automatisiert zu erstellen und mit hyperlokalen Informationen zu personalisieren, zum Beispiel zu den nachgefragten Lokalthemen Wetter, Verkehrslage, Lokalsport und Immobilienpreise. Auf diesem Gebiet wird sich in den kommenden Jahren viel tun. 

Idealerweise baut man seine digitalen Angebote übrigens auf, bevor man Lokalausgaben dicht macht. Denn eins weiß jeder Marketing-Manager: Einen neuen Kunden zu gewinnen ist um ein Vielfaches teurer, als einen bestehenden zu halten und an ein neues Produkt zu gewöhnen.  

[1] Alexandra Borchardt hat im Table Stakes Europe Project in den vergangenen fünf Jahren 26 Verlage gecoacht.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 30. Oktober 2024. Aktuelle Kolumnen von Alexandra lesen Sie dort mit einem Abo. 

Antworten gesucht? FAQs zur Zukunft des Journalismus

Wenn man Geld damit verdient, auf Veranstaltungen über Journalismus zu reden, sollte man das Folgende vielleicht nicht veröffentlichen, denn womöglich macht man sich damit sein Geschäft kaputt. Aber Fakt ist, dass Medienmenschen und ihre Freunde immer wieder dieselben Fragen stellen oder Annahmen formulieren. Natürlich findet man Unternehmen verwerflich, die es darauf anlegen, ihre Kunden mit den berühmten „Frequently Asked Questions“ (FAQs) abzuwimmeln, statt ihnen geduldig zuzuhören. Aber dann bastelt man doch an einer persönlichen Hitliste von FAQs, von denen man ahnt, was die fragenden Journalisten wirklich damit sagen wollen.

Stichwort Nutzerbedürfnisse: Wenn man den Kunden nur gibt, was sie lesen oder sehen wollen, darf man dann nur noch Katzenvideos bringen? (Wirklich gemeint ist: Wo bleibt dann unser wichtiger Politikjournalismus?)

Antwort: Zunächst einmal geht es nicht darum, den Kunden mehr davon zu bieten, worauf sie klicken, sondern darüber nachzudenken, was sie brauchen könnten, um ihr Leben und ihren Alltag besser zu bewältigen. Wer sich wirklich mit den Bedürfnissen verschiedener Nutzergruppen beschäftigt, erlebt nämlich immer wieder Überraschungen. Leser lesen ein 250-Zeilen-Stück über den Nahost-Konflikt bis zum Ende, rufen über Wochen regelmäßig einen 45-Minuten-Podcast ab, teilen eine Infografik mit vielen Zahlen. Bei sperrigen Stoffen hilft es, sich besonders viele Gedanken zum Format zu machen und Mühe in die Ausführung zu stecken. Die Chefredakteurin der dänischen Zeitung Politiken, Amalie Kestler, erläutert am Beispiel des Klimajournalismus, man müsse von den Stücken lernen, die beim Publikum punkten, um mit entsprechenden Elementen jene Stoffe zu bereichern, von deren politischer Bedeutung die Redaktion überzeugt ist (zum Beispiel Verhandlungen bei Klimagipfeln). Im Übrigen sind die Beiträge mit den meisten Klicks üblicherweise nicht jene, für die Nutzer Abos abschließen – was ja das eigentliche Ziel vieler Redaktionen ist.

Stichwort Qualitätsjournalismus: Die Leser haben heute eine wahnsinnig kurze Aufmerksamkeitsspanne, vor allem die Jungen wollen nur noch Häppchenware. Was tun? (Wirklich gemeint ist: Früher waren die Leser gebildeter und die Journalismus-Welt war noch in Ordnung.)

Antwort: Die Aufmerksamkeitsspanne im Digitalen ist kürzer, weil die Nutzer verwöhnter sind. Sie müssen sich nicht mehr durch Bleiwüsten quälen, um herauszufinden, was los ist in der Welt. Sie sind trotzdem einigermaßen informiert, weil sich irgendwo immer jemand findet, der einen Stoff anschaulich und packend präsentiert. Auch Schulkinder lernen mit YouTube Videos nicht selten besser als im Unterricht, und das liegt weniger an ihrer Aufmerksamkeitsspanne als an schlechten Lehrern und Schulbüchern. Daten zeigen, dass Nutzer auch auf dem Handy sehr lange Reportagen lesen, wenn sie spannend sind. Junge Leute hören regelmäßig 30-Minuten-Podcasts zu politischen Themen bis zum Ende, weil die Hosts sie begeistern. Dass Leser gedruckter Zeitung früher geduldig die Politikteile von Tageszeitungen in Gänze studiert haben, ist eher Wunschdenken als Realität. Auch da ging die Aufmerksamkeit oft nicht über die Schlagzeile hinaus. Nur hat das niemand messen können. Die Journalismus-Welt war früher nicht wegen der Reichweite von Qualität in Ordnung, sondern weil die Geschäftsmodelle funktioniert haben. Wer auf die investigative Arbeit von Rechercheverbünden und das Angebot an Datenjournalismus, Visualisierungen oder Podcasts schaut, muss zugeben:  Noch nie gab es im Journalismus Qualität in einer solchen Vielfalt wie heute.

Stichwort Objektivität: Warum haben ältere Journalisten solche Probleme mit der Ich-Form? Journalismus ist doch immer subjektiv. (Was wirklich gemeint ist: Ich schreibe am liebsten Ich-Geschichten – da kann ich mir auch Recherche sparen.)

Antwort: Es gibt wunderbare, packende und wichtige Geschichten in der Ich-Form. Es gibt aber auch eine ganze Menge Befindlichkeits-Journalismus, der eher Schulaufsatz-Charakter hat. Das sind dann Geschichten, die Perspektive mit Fakten verwechseln, die eigene Erfahrung als allgemeingültig betrachten und damit ebenso bevormundend herüberkommen wie manch ein Politik-Kommentator der alten Schule. Tatsächlich unterscheidet sich Journalismus vom meinungsstarken Influencer-Post und vom subjektiven Blog dadurch, dass er sich um Perspektiven-Vielfalt und Fakten bemüht, dass er sich auf die Suche nach etwas macht, das manche Wahrheit nennen. Und das gelingt nur mit einer gewissen professionellen Distanz. Die kann man auch einnehmen, wenn man das in der Ich-Form tut. Aber es geht auch gut ohne. Das Publikum wird es schätzen. In der Definition von Journalismus steckt das Konzept der Unabhängigkeit. Ohne diese ist er nicht mehr als Content, Meinung, womöglich sogar Propaganda – und verspielt damit seine Daseinsberechtigung. Wer unabhängig berichten will, tut gut daran, von der Selbstbeschau auf die Beobachterperspektive zu wechseln.  

Stichwort Desinformation: Was kann man nur gegen diese „Fake News Epidemie“ machen? (Was wirklich gemeint ist: Das Problem ist nicht unser Journalismus sondern diese Lügengeschichten, die das Netz verstopfen.)

Antwort: Das Problem Desinformation wird häufig falsch eingeschätzt und überschätzt. Deshalb werden darauf auch unwirksame Antworten gefunden. Ohne Zweifel gibt es staatliche Desinformation als Mittel der hybriden Kriegsführung. Aber Forschung zum Beispiel des Reuters Institutes in Oxford zeigt: Der größte Teil der Falschinformationen wird bewusst von Politikern verbreitet, um Meinung zu machen. Zudem ist der Einfluss von Desinformation auf das Verhalten von Menschen geringer, als dies oft angenommen wird. Das gilt auch für Lügengeschichten, die mit Hilfe Künstlicher Intelligenz erstellt werden. Medien sind gut beraten, sich erst einmal darauf zu konzentrieren, eigene Themen zu recherchieren und damit die Agenda zu setzen, statt Falschmeldungen hinterherzujagen und sie damit womöglich größer zu machen, als sie sind. Faktenchecks können große Organisationen wie Nachrichtenagenturen am besten liefern. Zum Thema Desinformation gibt es viel Forschung, es empfiehlt sich vor dem Lamentieren über das Problem einen Blick hineinzuwerfen. Unglücklicherweise stecken Geldgeber, die ein Interesse an der Eindämmung des Themas haben, viel Geld in Projekte zum Kampf gegen „Fake News“ – deutlich mehr, als sie in den Journalismus als solchen investieren. Der hätte es aber nötiger, vor allem der Lokaljournalismus.

Stichwort konstruktiver Journalismus: So etwas wie konstruktiver Journalismus klingt ja gut, aber verfehle ich damit nicht meine Aufgabe als Journalist? (Was wirklich gemeint ist: Echt jetzt, die wollen MIR Journalismus neu erklären?)

Antwort: Diese Frage kommt praktisch ausschließlich von älteren, gestandenen Kollegen. Junge Journalisten, insbesondere solche, die neue Medienmarken gründen wollen, sehnen sich nach konstruktiven Formaten. Für sie ist der etablierte „er hat gesagt, sie hat gesagt“-Journalismus wie Weißbrot: stopft irgendwie, macht aber nicht satt. Sie wissen: In einer digitalen Informationswelt, die voll ist von Content, suchen sie und ihre Altersgenossen nach jenen Stoffen, von denen sie etwas Neues, Überraschendes mitnehmen können – und vielleicht sogar etwas Zuversicht. Und nein, konstruktiver Journalismus bedeutet nicht, die Welt in rosarot zu malen, sondern Nuancen abzubilden und Perspektiven aufzuzeigen. Er ist ein Versuch, den Bedürfnissen der Nutzer näher zu kommen und sie wieder für Journalismus zu begeistern. Der AFP-Journalist Ivan Couronne formulierte es kürzlich auf einer Tagung so: „Menschen vermeiden keine Nachrichten, sie vermeiden schlechten Journalismus.“ Und sie vermeiden solchen, den sie nicht brauchen.   

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 3. Oktober 2024. Mit einem Medieninsider-Abo kannst du dort aktuelle Kolumnen von mir lesen.

Vorsicht mit der „Klimakrise“: Warum Wortwahl zählt

Journalisten glauben gewöhnlich, dass sie mit Sprache die Welt verändern können. Dinge präzise zu benennen, gehört immerhin zum Handwerk, das manch einer als Kunsthandwerk versteht. Deshalb führen große Redaktionen Stil-Bücher. Diese geben nicht nur Schreibweisen vor, sondern legen auch fest, mit welchen Begriffen Reporter welche Phänomene beschreiben sollten, welche sie keinesfalls verwenden sollten, und mit welchen sie riskieren sich im Kollegenkreis lächerlich zu machen (ändert sich bei Chefredakteurswechsel). Organisationen geben Empfehlungen zu diskriminierungsfreier (-armer) Sprache ab, wie die Neuen Deutschen Medienmacher mit ihrem Glossar zur Einwanderungsgesellschaft. Und wenn es um polarisierende Themen geht wie das Gendern, werden Debatten schnell leidenschaftlich. Wo die einen die Sprachpolizei fürchten, wittern die anderen den unverbesserlichen Sexisten.

In der Klimaberichterstattung ist die Aufregung zwar nicht ganz so groß, dennoch machen sich einige Redaktionen Gedanken darüber, wie man über die Erderwärmung schreiben sollte, um dem Publikum die Dringlichkeit des Ganzen nahezubringen. Der britische Guardian hatte 2019 mit neuen Regeln zum Sprachgebrauch in Sachen Klima für Aufsehen gesorgt. Auf Weisung der Chefredaktion ersetzen Redakteure und Reporter seitdem das gebräuchliche climate change mit climate crisis oder climate emergency, statt global warming schreiben sie global heating.

Was bei den traditionell eher linksliberalen Lesern des Guardian gut ankam, könnte allerdings am breiten Publikum vorbeigezielt haben, wie eine neue Untersuchung nahelegt. Die im Fachmagazin Climatic Change veröffentlichte Studie hat für den amerikanischen Markt ergeben: Wenn Redaktionen das Publikum für Klimathemen interessieren und dazu motivieren möchten, etwas zu tun, sollten sie gebräuchliche Begriffe wie Klimawandel oder Erderwärmung nutzen. Andere Ausdrücke zeigten weniger Effekte oder könnten sogar polarisieren, so zum Beispiel das politisch links konnotierte climate justice. Das Autorenteam der University of California Los Angeles schloss daraus: “Begriffe zu verändern, ist wahrscheinlich kein Schlüssel zu vermehrter Aktivität in Sachen Klima. Wir empfehlen andere Kommunikationsstrategien.” In einem Artikel des populärwissenschaftlichen Magazins The Conversation schrieben dieselben Forscher: Es sei generell ratsam aufgeheizte, politisch aufgeladene Begriffe zu vermeiden und Sprache einfach zu halten.

Tatsächlich decken sich diese Erkenntnisse mit Erfahrungen aus Redaktionen, wie sie Medien-Führungskräfte im 2023 erschienenen EBU News Report Climate Journalism That Works – Between Knowledge and Impact schildern. Zum Beispiel berichteten Nora Zimmett und Angie Massie, Top-Managerinnen bei der amerikanischen Weather Group, sie würden bei Reportagen über Klimaphänomene zum Teil sogar den Begriff Klimawandel vermeiden, um konservative Zuschauer nicht zu vertreiben. Von sauberer Luft zu sprechen, funktioniere oft besser. Das Etikett „Klima“ sperre zudem entsprechende Berichterstattung in ein Ghetto. Sinnvoller sei es, Fakten zum Thema überall einfließen zu lassen, so wie man Kindern Gemüse in allerlei Gerichten unterschiebe, ohne daraus ein großes Ding zu machen. Andere Interviewpartner meinten, wer politisch aufgeladene Begriffe verwende, mache sich eher angreifbar. Jon Williams, früher Chefredakteur des irischen Senders RTE sagte: „Es ist wichtiger, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen.“

Nach diesem Credo richten auch Unternehmen ihre Kommunikation aus, die Kunden dazu bewegen wollen, für hochwertigere Ware mehr Geld auszugeben. Aldi Süd hat sich zum Beispiel zum Ziel gesetzt, bis 2030 bei gekühlten Fleisch- und Milchprodukten nur noch solche aus den Haltungsstufen 3 und 4 im Angebot zu haben. Es empfehle sich, Menschen zu erklären, dass sie beim Kauf solcher Produkte der Gesundheit ihrer Familie etwas Gutes tun, sagt Aldi Süds Nachhaltigkeitschefin Julia Adou dazu. Mit dem Klimawandel zu argumentieren, funktioniere deutlich schlechter.

Sprachgebrauch sollte sich vor allem am Gegenüber orientieren. Dies betonen auch Liam Mannix und Mahima Jain in ihrer Empfehlung zum Klima-Vokabular; beide haben am Climate Explorer Program des Constructive Institutes in Aarhus teilgenommen. Wer sich verständlich machen möchte, sollte in der Sprache des Publikums sprechen und sich vorher darüber informieren, welche Bedeutungen bestimmte Begriffe haben könnten. In manchen Weltregionen wissen die Einwohner zum Beispiel sehr viel über die Folgen des Klimawandels, auch wenn sie den Ausdruck nie benutzen. Das Wichtigste sei, wissenschaftlich präzise zu bleiben – und das Publikum nicht zu unterschätzen: „Respektieren Sie die Intelligenz Ihrer Zielgruppen.“  

Dieser Respekt bedeutet aber nicht, Dinge komplizierter als nötig zu machen. Experimente mit verschieden komplexen Überschriften haben ergeben, dass „normale“ Leser mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die simplere Variante klicken, während Journalisten das nicht unbedingt tun. Dies geht aus einer weiteren Studie hervor, die im August in der Fachzeitschrift Science Advances veröffentlich wurde. Als Beispiel nannten die Autoren in einem Beitrag für The Conversation eine Überschrift aus der Washington Post: “Meghan and Harry are talking to Oprah. Here’s why they shouldn’t say too much” zog deutlich mehr Leser an als “Are Meghan and Harry spilling royal tea to Oprah? Don’t bet on it.” Man ahnt – leicht beschämt – , wie sich Kollegen bei der Referenz zum königlichen Tee an der eigenen Originalität erfreut haben könnten.

All dies bedeutet keinesfalls, dass sich Redaktionen nicht mit Sprache auseinandersetzen sollten. Zum Beispiel ist es ein Unterschied, ob Journalisten von Terror oder Überfall, von Kampf oder Krieg sprechen. Debatten über solche Definitionen sind wichtig. Sie tragen aktiv zur Veränderung von Sprache bei, wie es das Oxford English Dictionary am Beispiel Klimawandel dekliniert. Manche setzen gesellschaftliche Diskussionen und damit Veränderungen in Gang.

Wer Regeln erlässt, muss sich aber darüber klar sein, was sie bewirken sollen: Sind sie ein politisches oder moralisches Signal an Kunden? Das ist durchaus legitim; der Axel Springer Verlag praktizierte dies zum Beispiel zu Zeiten des Kalten Krieges, indem er seine Redaktionen „DDR“ stets in Anführungszeichen setzen ließ. Sollen die Regeln allerdings vor allem dem jeweiligen Publikum dabei helfen, etwas besser zu verstehen, helfen Vereinfachung, Flexibilität und Anpassung mehr als ein sprachliches Korsett. Zurecht handhaben das auch viele öffentlich-rechtlichen Sender so. In Programmen mit jungen Zielgruppen wird gegendert und geduzt, während anderswo die traditionellen Formen mehr Vertrauen vermitteln. Nur faktisch richtig sollten Begriffe immer sein. Darüber, dass Journalisten ziemlich häufig Prozent sagen, wenn sie Prozentpunkte meinen, muss es zum Beispiel keine Debatte geben. Das ist einfach falsch.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 30. August 2024. Mit einem Medieninsider-Abo kannst du dort aktuelle Kolumnen von mir lesen. 

Die Besserwisser-Spirale: Warum Journalisten mehr über die Wirkung ihrer Arbeit nachdenken sollten

Nur wenige Journalisten konnten nach dem Mordanschlag auf Donald Trump am 13. Juli der Versuchung widerstehen, in Interviews diese eine Frage zu stellen: „Ist die US-Wahl jetzt gelaufen?“ Jeder Experte, der von Demokratie etwas hält, hätte nun eigentlich die Pflicht gehabt, das Ganze mit einem beherzten „Nein“ zu beantworten. Ganz einfach, weil die Wahl erst im November gelaufen sein wird. Aber natürlich inspirierte das die meisten Befragten dazu, den Kenner heraushängen zu lassen. Und so folgten längliche Erläuterungen, warum dieses „ikonographische Foto“ des blutverschmierten, faustreckenden Trump diesen nun praktisch bis kurz vor den Wahlsieg katapultiert habe.

Die Angst, im Welterklärer-Wettbewerb von Kollegen abgehängt zu werden, ist bei vielen erkennbar größer als der Respekt vor dem demokratischen Prozess. Dabei verhallen Aussagen wie „Wahl gelaufen“ nicht nur im Raum. Sie wirken auf Menschen. Und wenn diese Menschen Wähler sind, entscheiden sie sich womöglich dafür, nicht zu einer Wahl zu gehen, bei der ihre Stimme vermeintlich ohnehin nichts mehr drehen kann. Was dem einen oder anderen Kollegen in der Nachschau das befriedigende Gefühl geben dürfte, Recht gehabt zu haben.

Zum Glück funktionieren viele Menschen nicht so und stimmen im November trotzdem ab. Historisch ist sogar belegt, dass Attentate selten Wahlen beeinflusst haben, wie der  The Atlantic-Redakteur Derek Thompson unter dem Titel „Stop Pretending You Know How This Will End“ darlegte. Aber Medien funktionieren so. Nicht nur wählten unzählige Bildredakteure unter Dutzenden Trump-Fotos zielsicher das mit der Faust aus, aus ähnlichen Motiven, aus denen weltweit Konzertgänger nach Taylor-Swift-Karten Schlange stehen: Man will einfach dabei sein. Im Journalisten-Sprech wurde es dann noch zu einem „ikonografischen Bild“ erklärt, an dem Kollegen in Interviews folglich kaum mehr vorbeikamen.   

Mit dieser Art Besserwisser-Spirale, dem Effekt der selbsterfüllenden Prophezeiung, setzen sich die wenigsten Journalisten gerne auseinander. „Ich recherchiere nur die Fakten“, sagen sie dann, die Wirkung ihrer Worte müsse ihnen von Berufswegen egal sein. Aber die Wahrheit ist, dass es ohne den Herdentrieb der Medien, die journalistische Zuspitzung und die Lust an der Rechthaberei manche gesellschaftlichen Phänomene gar nicht in der Ausprägung gäbe, wie sie nun zu beobachten sind.

Beim Thema Desinformation zum Beispiel haben Forscher wie Andreas Jungherr von der Universität Bamberg, Ralph Schröder und Felix Simon von der Universität Oxford wiederholt nachgewiesen, dass das Phänomen in der Realität deutlich weniger ausgeprägt ist, als dies die mediale Debatte darüber vermuten lassen könnte. Der Journalismus, nicht die Fakten lösten eine „moralische Panik“ aus. Doch solche Erkenntnisse ändern nichts daran, dass rund um das Thema im Zusammenspiel zwischen Regulierern und Geldgebern eine Art „Fake-News“-Bekämpfungs-Komplex entstanden ist, der zum Teil mehr Schaden anrichtet, als dass er nutzt – in dem Regierungen dies zum Beispiel zum Anlass nehmen, Pressefreiheit einzuschränken.

Ein anderes Beispiel ist Künstliche Intelligenz. Ob die Bevölkerung die Technologie als potenziell hilfreich oder als bedrohlich wahrnimmt, richtet sich sehr stark danach, wie Medien das Thema angehen, ob sie Möglichkeiten erläutern oder Risiken dämonisieren. Sind Ängste erst einmal gesät, helfen Fakten kaum noch dabei die Wahrnehmung zu verändern.

Im vergangenen Jahr konnte man diese Dynamik in Deutschland rund um das Thema Wärmepumpe nachverfolgen. Die „Heiz-Hammer-Debatte“ ließ viele Menschen in Öl-Heizungen investieren, was etliche Immobilien perspektivisch unverkäuflich machen dürfte. Viele Redaktionen werden trotzdem auf ihre Pflicht zur kritischen Berichterstattung verweisen. Es ist leichter, Menschen kurzfristige Folgen nahezubringen (es wird teuer), als langfristige (Wertverfall, Klimafolgen) korrekt zu prognostizieren. Berichterstattung beeinflusst aber nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Wahrnehmung von Führungskräften in Politik und Wirtschaft. Deshalb wirkt sie sich auf Unternehmensstrategien, Investitionen, Regulierung und alltägliche Praxis aus.

Letztlich bezwecken Journalisten genau das: Sie wollen beeinflussen. Dennoch reflektieren Redaktionen viel zu selten über die potenziellen Folgen von geballter Nachrichten-Aufmerksamkeit (oder deren Entzug) – manchmal auch aus Angst, die Öffentlichkeit könnte dies als Zensur verstehen. Eine interessante Debatte gab es darüber nach der Finanzkrise von 2008: Wann ist es die Pflicht von Finanzjournalisten, Berichterstattung zurückzuhalten, um zum Beispiel zu vermeiden, dass Menschen die Banken stürmen und das System damit weiter destabilisieren?

Ähnliche Überlegungen gibt es in Redaktionen, wenn Nachahmer-Effekte zu befürchten sind, zum Beispiel bei Suiziden. Gängige Praxis ist es mittlerweile, dann auf Hilfsangebote hinzuweisen, wenn die Berichterstattung über spezielle Fälle im öffentlichen Interesse ist. Auch bei Erkenntnissen über individuelles Verhalten, das gegen Normen verstößt, wägen Journalisten ab (heute eher weniger als früher): Beeinflusst es zum Beispiel die Amtsführung eines Politikers oder einer Wirtschaftsführerin, wenn er oder sie eine Beziehung neben der Ehe pflegt oder sich regelmäßig betrinkt? Oder, um wieder nach Amerika zu schauen: Wann wurden Jo Bidens Aussetzer so gravierend, dass die Bevölkerung Aufklärung verdient hatte? Nicht über alles, was man erfährt, muss zwingend und sofort berichtet werden. Journalisten stünde es gut an, auch in anderen Feldern mehr Verantwortung für die Folgen ihrer Arbeit zu übernehmen.  

Wer nun erklärt, der Journalismus habe die Kraft des Agenda-Setzens ohnehin längst eingebüßt, in den sozialen Netzwerken verbreiteten sich massentaugliche Bilder wie jenes vom angeschossenen Trump schließlich viel schneller, stützt damit einen Abgesang auf das Metier, der eindeutig zu früh kommt. Denn tatsächlich ist die Macht der traditionellen Medien immer noch enorm. Dazu verstärken sie die auf Social Media geteilten Inhalte massiv. Studien des Berkman Klein Centers for Internet and Society an der Universität Harvard hatten dies für die US-Wahlen von 2016 und 2020 überzeugend belegt. Politiker, die Propaganda verbreiten wollen, profitieren von dieser Art Doppel-Effekt: Sie posten in den sozialen Netzwerken, setzen aber darauf, dass Politikjournalisten diese Beiträge aufspüren und zum Inhalt ihrer Berichterstattung machen.

Polarisierung war für Medien schon immer ein lukratives Geschäftsmodell, auch wenn die Vertreter traditioneller Marken dies gerne allein den Plattform-Konzernen ankreiden. Der Unterschied zu diesen ist jedoch, dass sich Facebook, Insta, YouTube und TikTok nicht den strengen ethischen Grundsätzen unterwerfen, wie Presseorgane dies tun. Journalisten haben deshalb die besondere Verpflichtung, auch nach dem zu suchen, was Menschen verbindet und Gesellschaften zusammenhält. Dazu gehört, immer wieder nach dem Gegenargument zu suchen, Nuancen und die andere Seite auszuleuchten, nicht nur den Konflikt sondern auch die Lösung hervorzuheben und eben über die Folgen von Veröffentlichungen nachzudenken. Manchmal kann das sogar bedeuten, dann und wann auf Inhalte zu verzichten, selbst wenn man noch so überzeugt von einer guten Schlagzeile oder einer reißerischen Interpretation ist.

Diese Kolumne erschien am 22. Juli 2024 bei Medieninsider. Aktuelle Kolumnen kann man dort mit einem Abo lesen.