Aufpasser von nebenan: Der Lokaljournalismus braucht eine digitale Zukunft

Die Hackordnung im Journalismus war über die längste Zeit klar: Man begann vielleicht im Lokalen, weil sich da schnell viel recherchieren, aufdecken, aufschreiben und gestalten ließ. Aber wer in den Augen der Kolleg_innen etwas gelten wollte, musste irgendwann den Sprung in die nationale Berichterstattung schaffen – ob bei Zeitungshäusern, im Radio oder Fernsehen spielte keine Rolle. Die Metriken, mit denen Prestige und Gehälter stiegen, hießen Sichtbarkeit oder Reichweite. Das hat sich nicht grundlegend geändert, was die Binnensicht angeht. Aber mit Blick auf den Journalismus als vierte Gewalt und Säule der Demokratie sieht die Sache ganz anders aus. Da heißt die wichtigste Metrik Vertrauen. Und was das angeht, schneidet der Lokaljournalismus in so gut wie allen Umfragen am besten ab.

Das war auch schon vor der Corona-Krise so. Ob das die Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen ist, amerikanische Umfragen der Marktforscher von Pew Research oder der Digital News Reportdes Reuters Institutes in Oxford, Bürger_innen trauen ihren lokalen Zeitungen und Fernsehstationen mehr als den überregionalen Medieninstitutionen. Nur öffentlich-rechtlichen Sendern, die im Lokalen meist auch recht präsent sind, geben sie bessere Noten. Und was den Wert für die Demokratie angeht, ist der Zusammenhang zwischen gutem Lokaljournalismus und bürgerlichem Engagement eindeutig. Bürger gehen häufiger wählen, kandidieren öfter für politische Ämter, Gemeindefinanzen sind gesünder und die Korruption ist dort niedriger, wo Journalisten den Institutionen vor Ort in die Bücher schauen.[1]

Dass sich so etwas überhaupt belegen lässt, hat einen traurigen Grund: Vor allem in den USA, wo der Kapitalismus ein Stück gnadenloser arbeitet als hierzulande, gibt es bereits weit über tausend Orte und sogar Kleinstädte, in denen keine Lokalredaktionen mehr an der Aufklärung der Bürger_innen arbeiten. Medienwissenschaftler dokumentieren sie als News Deserts. Und man kann die Daten solcher Nachrichtenwüsten gut mit denen jener Orte vergleichen, in denen Journalist_innen den Mächtigen noch auf die Finger schauen und Debatten von örtlichem Interesse initiieren und abbilden.

Wer wissen möchte, was dem Lokaljournalismus womöglich auch hierzulande bevorsteht, dem sei die Lektüre von Margaret Sullivans neuem Buch „Ghosting the News“ ans Herz gelegt.[2] Sullivan ist Medienkorrespondentin der Washington Post, davor hatte sie als Public Editor die Interessen der Leser_innen der New York Times
vertreten. Und davor wirkte sie 13 Jahre lang als Chefredakteurin der Buffalo News, der größten Regionalzeitung im US-Bundesstaat New York außerhalb von New York City. Heute sei die Redaktion dort nur noch halb so groß wie zu ihrer Zeit, schreibt sie, und damit schneide die Buffalo News sogar recht gut ab. Unter dem Druck von Investoren hätten die Redaktionen amerikanischer Zeitungen zwischen 2008 und 2017 schon 45 Prozent der Stellen gestrichen, danach sei der Kahlschlag noch massiver vorangetrieben worden. Zwischen 2004 und 2015 seien 1800 amerikanische Zeitungen komplett vom Markt verschwunden. Und in diesem Jahr hat sogar Groß-Investor Warren Buffett aufgegeben. Lokalzeitungen würden verschwinden, hatte er 2019 in einem Interview prophezeit.

Man merkt Sullivan an, wie sehr sie darum ringt, Perspektiven für den Lokaljournalismus zu entwickeln, und wie wenige Möglichkeiten sie dennoch ausfindig macht. Denn solche Projekte wie das von Alice Dreger in East Lansing im Staat Michigan hören sich ehrenwert, aber nicht nach gesundem Geschäftsmodell an: Dreger hat ein Team von 140 Leuten zusammengestellt, die sich im Nebenberuf mit dem Wohlergehen der Region beschäftigen. Es sind vor allem Studierende, Rentner und andere Freiwillige, die das Zusammentragen, was in der Gemeinde wichtig ist – für 50 Dollar Lohn pro Artikel. Das ist Journalismus als Passion, nicht als Beruf.

Dabei ist Lokaljournalismus für die Bürger wichtiger denn je. Überregionale News finden sie schließlich im Internet überall, wer des Englischen mächtig ist, kann sich über verschiedenste Quellen weltweit auf dem Laufenden halten. Die Branchengrößen wie die New York Times, die Washington Post oder der Guardian greifen das globale Bildungs-Publikum ab. Aber wie das Verkehrskonzept für die eigene Region ausschaut, was hinter den Türen des Rathauses geschieht, und was den Ort sonst noch bewegt, darauf hat Google selten Antworten.

Lokalzeitungen haben sie leider auch nicht immer. Man sollte hier nichts verklären, Lokaljournalismus war nicht immer und überall investigativ und unabhängig. So manch ein Blatt vermischte redaktionelle Inhalte und Werbung, berichtete allzu wohlwollend über die örtliche Prominenz, schrieb die Spalten mit nutzlosem oder unverständlichen Stoff aus dem Gemeinderat voll, nur weil sich dort ein Reporter den Abend um die Ohren geschlagen hatte und füllte Seiten über Seiten mit mittelprächtigen Fotos, weil die Budgets für Recherchen nicht reichten.

Die Digitalisierung kann helfen. Nicht nur, weil das Publizieren technisch einfacher und günstiger wird. Die Denke ist eine neue. Wer möchte, dass Abonnenten für ein Produkt bezahlen, muss sich mehr als früher mit ihren Interessen und Bedürfnissen beschäftigen, Stichwort „Audience first“. Nur wer sein Publikum ernst nimmt, erweist ihm eine echte Dienstleistung, auf die er oder sie nicht verzichten möchte – und für die er/sie dann auch zu zahlen bereit ist. Das können ausführliche Recherchen sein, aber auch datenjournalistische Angebote, die sich mit künstlicher Intelligenz künftig billiger und schneller erstellen lassen werden. Über Geotags haben lokale Anzeigenkunden einen zielgenaueren Zugang zu ihrem Publikum. Und Redaktionen können das Wissen ihrer Leser_innen über digitale Kanäle besser anzapfen und Kommunikation initiieren.

Das alles löst das Finanzierungsproblem noch nicht gänzlich. In den meisten Fällen werden potente Geldgeber nötig sein, denen das Schicksal ihrer Gemeinde am Herzen liegt. Aber auch auf der Suche nach Investoren gilt: Ein starkes journalistisches Produkt ist immer ein gutes Argument.

[1] Siehe Alexandra Borchardt, „Mehr Wahrheit wagen – Warum die Demokratie einen starken Journalismus braucht“, Dudenverlag 2020.
[2] Margaret Sullivan„Ghosting the News – Local Journalism and the Crisis of American Democracy“, Columbia University Press 2020

Dieser Text erschien am 7. August im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School. 

Die Ich AG als Redaktion – kann das klappen?

Nicht jeder kann eine Art Gabor Steingart werden. Als der ehemalige Handelsblatt-Herausgeber den Holtzbrinck-Konzern im Februar 2018 im Streit verlassen hatte, gehörte die Abonnenten-Datei seines „Morning Briefing“ Newsletters mit zum Abfindungspaket. Zwei Jahre später führt Steingart mit Media Pioneer ein kleines aber deutschlandweit bekanntes Medien-Unternehmen mit um die 50 Mitarbeitern, Redaktionsschiff und 36-Prozent-Beteiligung der Axel Springer AG inklusive. Für so eine Wachstumskurve braucht man mehr als nur gute Kontakte und einen Namen, und schon daran dürfte es den meisten mangeln. Dennoch steigt mit den zunehmenden Möglichkeiten der Digitalisierung bei vielen Journalist_innen und Medien-Fachleuten die Lust, es mit dem Gründen wenigstens einmal zu versuchen.

Gerade unter den Leistungsträgern haben etliche genug von Hierarchien und Kommando-Strukturen, routiniertem Reaktions- und Rattenrennen-Journalismus. Sie mögen sich nicht mehr für einen Arbeitgeber aufarbeiten, von dem sie zum Dank für ihren Einsatz neuerdings auch noch auf Kurzarbeit geschickt werden – immerhin die verträgliche Variante einer Krisenstrategie. Aber als Bittsteller mit einem Bauchladen durch die Gegend zu tingeln ist auch kein Spaß in diesen Zeiten, in denen freie Etats gekappt werden, wo es eben nur geht. Ist es eine Lösung, selbst zu publizieren?

Für manche schon. Vor allem in den USA gibt es einen Trend zum journalistischen Freischwimmer. Dort ist das Klima etwas rauer als hierzulande, weil man Journalist_innen eher in die Arbeitslosigkeit schickt, als ihre Jobs mit staatlichen Programmen abzufedern. Aber womöglich entstehen genau deshalb dort auch mehr Möglichkeiten, seinen eigenen Mini-Verlag aufzubauen – ganz ohne Overhead und großen Kapitaleinsatz. Ein Beispiel ist die Plattform Substack. Autor_innen können dort eigene Newsletter aufsetzen und dafür Bezahlmodelle erproben, sofern sie sich mit Premium-Inhalten eine gewisse Reichweite erschrieben haben. Die Washington Post berichtete kürzlich von einer ganzen Reihe namhafter Schreiber_innen, die etablierte Redaktionen verlassen und ein eigenes „mini media empire“ gegründet haben. Zuvor arbeiteten sie für Magazine wie New Republic, Rolling Stone, Sports Illustrated oder New York Magazine, nun werkeln sie auf eigene Rechnung und genießen ihre Autonomie.

Eine von ihnen ist Emily Atkin. Ihr viermal wöchentlich erscheinender Newsletter über die Klimakrise mit dem Titel „Heated“ ist einer der bestbezahlten bei Substack. Atkin, die sich als Wissenschaftsjournalistin Profil und Publikum erworben hatte, war die Auseinandersetzungen mit Redaktionen leid gewesen. „Im Lauf deiner journalistischen Laufbahn kommst du irgendwann an eine Grenze, an der du merkst, dass du nicht mehr von deinem Verlag profitierst sondern dein Verlag von dir“, wird sie von der Post zitiert.  Die Frage sei dann: Gebe die Marke einem so viel wie man selbst der Marke gebe.

Substack wurde 2017 in San Francisco gegründet mit der Idee, Autor_innen die Kontrolle über ihr Werk zurückzugeben. Die Newsletter funktionieren ohne Werbung, es gibt keine Algorithmen, die Journalist_innen behalten die Hoheit über ihre Inhalte und Mailing-Listen.  Einige von ihnen verdienen angeblich über die Abo-Modelle sogar mehr Geld als zu Zeiten ihrer Festanstellung, wobei man davon ausgehen kann, dass nur sehr wenige tatsächlich sechsstellige Beträge einnehmen. Aber sie bedienen einen Trend. Laut dem Digital News Report sind Newsletter ein zunehmend beliebter Zugang zur Welt der Informationen. Sie übernehmen die Rolle der Zeitung, sortieren und bündeln das Nachrichtengeschehen und heben sich damit für manch einen wohltuend vom endlosen, unsortierten Strom an Neuigkeiten in den sozialen Netzwerken ab.

Eine Newsletter-getriebene Ich AG eignet sich vor allem für Spezialisten oder Autoren, die eine ganz bestimmte Stärke kultivieren. Aber auch für andere, die lieber im Team arbeiten, gibt es Möglichkeiten. Ein aktuelles Beispiel – auch aus den USA – ist Defector, eine neu gegründete Kooperative von 18 Journalist_innen, die im vergangenen Jahr aus Protest gegen das Management die auf Sport-Berichterstattung ausgerichtete Plattform Deadspin verlassen hatten. Sie waren offenbar ihr Einzelkämpfer-Dasein satt und wollten gemeinsam etwas Neues wagen. Alle erhalten nun einen Anteil an dem Startup, das sich über Digital-Abos finanzieren will. Unter Kennern sei die Begeisterung groß gewesen, schon am ersten Tag hätten sich 10 000 Leser_innen registriert, berichtete das Team auf Twitter. Hauptsache man habe ausreichend Talente, zitiert die New York Times Defector-Geschäftsführer Jasper Wang, einen ehemaligen Unternehmensberater. Das strukturelle Gerüst darum herum zu bauen, sei nie einfacher gewesen als heute.

Was sich nach einem Traum anhört – der beruflichen Leidenschaft nachgehen und dabei Autonomie genießen – ist allerdings harte Arbeit, nicht immer macht sie Spaß. Konnten sich Journalisten früher ganz auf die Trennung zwischen Redaktion und Verlag verlassen und sich allein der Recherche, dem Schreiben und Redigieren widmen, erfordert der Beruf heute in jedem Fall ein Mindestmaß an wirtschaftlichem Sachverstand, vor allem in Sachen Marketing und Kundenbindung. Dies gilt umso mehr, wenn man selbst gründet. Natürlich geht es um Inhalte, aber man sollte auch Lust haben, sich intensiv mit potenziellen Einnahmequellen, Geldgebern und Geschäftsmodellen auseinanderzusetzen.

Deutschland mit seiner noch recht traditionell geprägten und einigermaßen gut bestückten Medienlandschaft ist nicht das leichteste Spielfeld für neue Medienmacher_innen. Das liegt einerseits am Publikum und an den Geldgebern. Hierzulande zahlt man ungerne für Dienstleistungen, gespendet wird eher wenig, großzügige Mäzene unterstützen lieber Fußballvereine, und auch Stiftungen rücken nur vergleichsweise kleine Beträge heraus. Andererseits liegt es an denen, die etwas wagen müssen: Die Angst davor, einen festen Job in einer Redaktion aufzugeben, ist größer als in Märkten, in denen es solche sicheren Posten ohnehin kaum noch gibt. Aber die technischen Hürden sinken. Und die Experimentierfreude junger (und älterer) Journalist_innen nimmt zu.           

Dieser Text erschien am 31. Juli 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School. 

Journalismus darf etwas kosten – aber wie viel?

Gary Liu, CEO der in Hongkong erscheinenden South China Morning Post, gilt im internationalen Medien-Zirkus als ein Dynamo des digitalen Wandels, auch deshalb, weil er nicht aus der Branche kommt. Liu ist in den USA geboren, in Taiwan und Neuseeland aufgewachsen, hat an der Harvard Business School studiert und dann in verschiedensten Tech-Unternehmen gearbeitet, unter anderem bei AOL, Google und Spotify. Seit 2017 führt er die SCMP mit der Mission, die weltweit wichtigste englischsprachige Quelle für alle zu werden, die sich über China informieren wollen. Bislang kann man das dort kostenlos tun. Seitdem der Verlag 2015 vom chinesischen Internet-Konzern Alibaba gekauft wurde, ging es nur um Reichweite; Millionen Leser_innen rund um den Globus schätzen das. Allerdings kämpft derzeit auch die SCMP: Wirtschaftskrise, die instabile politische Lage, Covid-19 – das Anzeigengeschäft leidet. Jetzt plant das Team um Liu Abo-Modelle. Aber die Erfahrung in der Tech-Branche hat ihn gelehrt: „Es muss etwas Dynamisches sein.“ Jemand, der nur ab und an mal auf der Seite vorbeischaue, werde keinen vollen Preis bezahlen, sagte Liu kürzlich beim Asian Media Leaders Summit der WAN-IFRA.

Ganz oder gar nicht, das war für Zeitungshäuser über die längste Zeit ein Mantra. Entweder die Leser_innen unterschrieben für das Voll-Abo oder sie ließen es bleiben. Und natürlich kostete es für alle gleich viel. Als sich die ersten Verlage vom Papier-Abo in digitale Angebote vorwagten, hieß die größte Sorge: „Nur nicht kannibalisieren!“ Denn das Print-Produkt verdiente (und verdient meist noch immer) das Geld. Was, wenn Tausende Leser_innen auf ein billiges Digital-Abo umsteigen würden? Teure digitale Abonnements waren die Folge. Das überzeugte manche Print-Kunden, erschloss aber kaum neue Käuferschichten. Es ist ein klassisches Dilemma der Disruption, wie es der in diesem Jahr verstorbene Harvard-Professor Clayton Christensen beschrieben hat: Unternehmen sind so sehr um jene Kund_innen bemüht, die ihnen die höchste Gewinnmarge verschaffen, dass sie neue Entwicklungen am Markt versäumen. Das ist vollkommen rational – bis es zu spät ist.

Die Medienbranche hat diese Disruption früher gespürt als zum Beispiel die deutsche Autoindustrie, die sich noch immer mit den Gewinnen aus S-Klasse, 5er-Modell oder schweren SUV darüber hinwegtäuscht, dass sich Mobilitäts-Gewohnheiten und Vorlieben ändern (müssen). Viele Häuser wagen sich mit Digital-Abo-Preisen vor, die nichts mit der stattlichen Summe zu tun haben, die ein Jahres-Abo der Zeitung kostet. Und in der Corona-Krise wurden genau die belohnt. In den ersten Wochen der großen Verunsicherung, in denen die Bürger_innen nur so nach Information und Erklärung gierten, waren Häuser mit einfach zu buchenden digitalen Bezahlangeboten im Vorteil. Die Kund_innen griffen zu – und viele blieben. Auch junge Leute, denen das Print-Abo allenfalls im Elternhaus begegnet, gaben ihre Kreditkartennummer preis.

Die richtigen Preise zu setzen, das kann eine Wissenschaft für sich sein. Aber für die Welt der digitalen (journalistischen) Angebote zeichnen sich einige Trends ab. Der wichtigste ist, dass es keine einheitliche Lösung gibt. Kunden haben unterschiedliche Bedürfnisse und eine unterschiedliche Zahlungsbereitschaft, also muss es unterschiedliche Angebote für verschiedene Kundengruppen geben. Einer Leserin in Deutschland wird ein Digital-Abo der New York Times zum Beispiel niemals so viel wert sein, wie einem Leser aus Brooklyn, weil es für sie maximal ein Zweit-Abo sein wird. Es kann also durchaus funktionieren, ihr ein 50-Cent-pro-Woche Angebot zu machen, während US-Leser_innen weiterhin den vollen Preis bezahlen. Manch eine Medienmarke lockt Kund_innen mit einem abgespeckten Angebot und macht den Zugriff auf die gesamte Produktpalette teurer. Oder sie lässt sich spezielle Produkte etwas kosten, zum Beispiel Pakete, die Rätsel, Service-Angebote oder den Zugriff aufs Archiv enthalten.

Verlage haben tatsächlich auch gute Erfahrungen mit Preiserhöhungen gemacht. Als der dänische Konzern JP Politikens Hus seine Flaggschiff-Zeitung Politiken als E-Paper offensiv zu einem Premium-Preis anbot, stiegen die Verkaufszahlen rasant, ganz nach dem Prinzip: Was viel kostet, muss viel wert sein. In der Corona-Krise gingen dagegen etliche amerikanische Verlage den umgekehrten Weg: Sie machten den Zugriff auf die Berichterstattung kostenfrei, warben aber um freiwillige Beiträge, Spenden und Mitgliedschaften, wie dies der britische Guardian schon lange einigermaßen erfolgreich als Geschäftsmodell betreibt.

Auch der Moment, an dem sich für Leser_innen die Bezahlschranke über dem digitalen Angebot senkt, kann dynamisch gemanagt werden. Bei vielen Marken gibt es grundsätzlich eine bestimmte Anzahl an Texten kostenlos zu lesen (Metered Model), bevor man sich registrieren und dann irgendwann bezahlen muss. Bei anderen herrscht das Freemium-Prinzip: Für einige Genres muss man grundsätzlich zahlen, andere sind immer frei. Wieder andere, wie die schwedische Zeitung Dagens Nyheter, experimentieren damit, Texte in den ersten Stunden kostenfrei zu stellen und die Kund_innen dann zum Registrieren aufzufordern, wenn das Stück besonders begehrt geworden ist. Für die Nutzer_innen ist dies ein Anreiz, öfter mal auf der Seite vorbeizuschauen. Als Grundregel für alle gilt: Immer aus Sicht des_die Kund_in denken.

Nur eine Erkenntnis hat sich in der Branche durchgesetzt: Der Einzelverkauf von Texten oder anderen Stücken ist kein zukunftsfähiges Modell – jedenfalls nicht für die Medienhäuser. Und das muss es auch nicht sein. Den Konsument_innen, die bereit sind, für guten Journalismus zu zahlen, geht es eher selten um den einzelnen Text. Es geht ihnen um Gewohnheit und Rituale, Genuss, ein Erlebnis, die Sicherheit, jederzeit auf Qualität zugreifen und Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu können. Verlage müssen Wege finden, ihren Kund_innen diese Erlebnisse zu verschaffen und sie damit als loyale Nutzer_innen gewinnen.

Auch Gary Liu stellt klar, dass es so genannte Micropayments bei der SCMP nicht geben wird. Das Beispiel Musikindustrie sollte allen eine Warnung sein. Die Musikindustrie sei nicht durch Piraterie umgebracht worden, sagt Liu, „Nicht Napster hat das erledigt, sondern es war iTunes“. In dem Moment, in dem die Leute nicht mehr für das gesamte Album bezahlt hätten, sondern nur noch für einzelne Songs, sei das Geschäft tot gewesen. Als ehemaliger Spotify-Manager weiß er, wovon er spricht.

Dieser Text erschien am 24. Juli 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School.

Jetzt reicht’s mit Lügenpresse – Wenn das Publikum die Medien verteidigt

Beim Thema Medienvertrauen wird gerne mit Superlativen gearbeitet, auch in der Branche selbst. „Noch nie war das Vertrauen in den Journalismus so niedrig“, heißt es dann oder „Vertrauen in die Presse sinkt seit Jahren“. Man sollte hinter beide Behauptungen zumindest ein Fragezeichen stellen, denn wie so oft ist die Wirklichkeit komplizierter. Forscher_innen diagnostizieren keinen drastischen Vertrauensschwund in journalistische Produkte. Im Gegenteil: In der Corona-Krise war die Hoffnung auf Aufklärung durch etablierte Medien ausgeprägt wie lange nicht, selbst bei jungen Leuten. Es geht vielmehr um die Frage, wer wem vertraut – oder eben nicht. Neue Studien bestätigen dies.

Da ist zum Beispiel die Langzeitstudie Medienvertrauen der Universität Mainz. Die repräsentative Umfrage wurde bereits sechsmal durchgeführt, die Werte zum allgemeinen Vertrauen in Medien rangierten in den vergangenen vier Jahren einigermaßen konstant zwischen 40 und 44 Prozent. Das ist kein schlechter Wert, denn eine gesunde Skepsis ist auch ein Zeichen von Medienbildung in der Demokratie. Allerdings legte bei der im Dezember 2019 erhobenen Welle der Anteil derjenigen auf 28 Prozent deutlich zu, die deutliches Misstrauen äußerten. Was hingegen so selten vorkam wie noch nie: Dass sich jemand mit „teils, teils“ äußerte. „Offenbar sehen sich immer mehr Menschen angesichts einer sich immer weiter polarisierenden Debattenkultur dazu veranlasst, auch selbst Position zu beziehen“, schlossen die Forscher_innen daraus. Noch deutlicher wird dies bei dem Vorwurf, die Bevölkerung werde „systematisch von den Medien belogen“. Zwar stimmte knapp jeder Fünfte dieser Aussage zu, 58 Prozent wiesen sie aber zurück – und damit so viele wie nie zuvor.

Dieser Trend zur klaren Meinungsbildung deutet darauf hin, dass sich mehr Menschen mit der Rolle der Medien und des Journalismus in der Demokratie auseinandersetzen als früher. Und das ist eine gute Nachricht. Schließlich haben Redaktionen in den vergangenen Jahren offensiv um das Vertrauen der Bürger_innen geworben. Das ist neu. Schließlich gab es Zeiten, in denen Journalisten so etwas nicht für nötig gehalten hatten. Das war damals, als man Leserpost als lästige Nebenwirkung betrachtete und es zur Berufsehre gehörte, sich bei der Recherche nicht in die Karten schauen zu lassen (manchmal auch, weil es da nicht viel zu sehen gab). Heute, wo Medienhäuser mehr und mehr darauf angewiesen sind, ihre Einkünfte aus Abos oder Mitglieder-Beiträgen zu generieren, kann man sich eine solche (Nach-)Lässigkeit nicht mehr leisten. Auf der einen Seite gewinnt man also Verbündete.

Auf der anderen kommen sie allerdings abhanden, denn das Bekenntnis zur Medienmarke wird immer stärker politisch aufgeladen. Dies belegt auch der aktuelle Digital News Report. Das generelle Vertrauen in Medien hat demzufolge über alle 40 Märkte hinweg etwas gelitten, es sank um vier Prozentpunkte auf 38 Prozent verglichen mit 2019. Aber der Blick auf einzelne Länder ergibt ein differenziertes Bild. In Großbritannien mit einer eher rechts der Mitte orientierten Medienlandschaft kollabierte das Vertrauen derjenigen nahezu, die sich als politisch links identifizieren. Die Berichterstattung über Brexit und ein polarisierender Wahlkampf können als Ursachen gewertet werden. In den USA hingegen vertraut das linke Spektrum den etablierten Medien dagegen deutlich stärker, als dies Angehörige des konservativen Lagers tun. Es geht also deutlich mehr um Gesinnung als um so etwas wie objektive Qualitätsdaten.

Daraus folgt allerdings noch lange nicht, dass sich Medien mit eben dieser Gesinnung diesen Rändern anbiedern sollten. In vielen Ländern gibt es nach wie vor eine große Mehrheit derjenigen, die es schätzen, wenn sich Journalismus zumindest um Objektivität bemüht. In Deutschland ist dieses Bedürfnis laut Digital News Report so ausgeprägt wie nirgendwo: 80 Prozent aller Befragten wünschen sich Unparteilichkeit, nur 15 Prozent hätten nach eigenem Bekunden gerne ihre eigene Sicht auf die Welt bestätigt, und nur fünf Prozent möchten sich durch andere politische Standpunkte herausfordern lassen. Kein Wunder, denn hierzulande haben sich schlechte Erfahrungen besonders eingeprägt mit einer Presse, die eher indoktriniert als informiert.

Diese Zahlen sollte man kennen. Denn gerade die jüngere Generation von Journalist_innen führt eine ausgeprägte Debatte darüber, ob Objektivität eigentlich möglich sei. Die Antwort darauf ist schlicht: Natürlich hat Journalismus immer mit Auswahl zu tun, ob Reportage, Kommentar oder Datenanalyse, und diese Auswahl ist persönlich gefärbt. Ein journalistisches Produkt ist deshalb nie so neutral wie die Lösung einer Mathe-Aufgabe. Aber es wäre grundfalsch, das Bemühen um Fakten und Objektivität deshalb gleich einzustellen. Denn ein Ringen um Wahrheit gehört zur Grundausstattung des Handwerks, damit heben sich Journalist_innen von allen anderen Meinungsmachern ab, die es ja reichlich gibt. Wichtig ist allerdings, dass Reporterinnen und Redakteure mit vielen unterschiedlichen Standpunkten um diese Wahrheit ringen. Das große Ganze ergibt dann den Journalismus.

Eine neue, großangelegte quantitative Studie der Kommunikationswissenschaftler Antonis Kalogeropoulos und Benjamin Toff hat ergeben, dass Vertrauen in die Qualität von Medien und der Grad an Pressefreiheit die wichtigsten Variablen dafür sind, ob Menschen Medien überhaupt nutzen oder ob sie sie ignorieren. Der Bildungsgrad spielte dagegen praktisch keine Rolle. Es lohnt sich also, in diese Qualität zu investieren. Denn wenn sich die Bürger_innen vom Journalismus abwenden, entziehen sie ihm die Lebensgrundlage.

Dieser Text erschien am 17. Juli 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School.

Digitale Meisterprüfung: Was JournalistInnen von Maria Ressa lernen können

 

Maria Ressa als Rockstar des globalen Journalismus zu beschreiben, wäre untertrieben. Als das Reisen noch möglich war, schien die philippinisch-amerikanische Star-Journalistin alle Bühnen der Welt gleichzeitig zu bespielen. Ehemalige CNN-Büroleiterin und Investigativ-Reporterin mit Schwerpunkt Terrorismus, Gründerin von Rappler.com, im Clinch mit dem philippinischen Präsidenten Duterte und dessen diktatorischem Regime, ständig mit einem Bein im Gefängnis und Time Magazine Person of the Year 2018: Praktisch jede Medienorganisation wollte sich von Ressa ihre Konferenz eröffnen lassen. Jetzt, in Covid-19-Zeiten, zoomt sie von einem Webinar zum nächsten, als kämpfe sie um ihr Leben – und das trifft es ziemlich gut. Seitdem sie und ein Rappler-Mitarbeiter am 15. Juni in ihrer Heimat Manila wegen Cyber Verleumdung verurteilt wurden, ist internationale Sichtbarkeit ihre wichtigste Strategie. Das Urteil ist Teil einer Schikane gegen die freie Presse, zu den Tricks gehören auch Anklagen wegen Steuerhinterziehung. Derzeit ist Ressa nur auf Kaution frei. Sollte sie in Haft gehen müssen, wird ihre Anwältin Amal Clooney für sie weiterkämpfen.

Ressa ist für viele Journalistinnen und Journalisten heute, was Bob Woodward und Carl Bernstein zu ihrer Zeit waren, aber nicht nur das: Sie steht auch als Vorbild für den digitalen Journalismus. Das ist nicht ganz selbstverständlich für eine Frau von 56 Jahren in einer Branche, in der sich CEOs damit rühmen, fürs Digitale nur noch bei den „digital Natives“ zu rekrutieren, weshalb manch einer per Hoodie versucht, noch für maximal Ende 30 durchzugehen. Aber Ressa, die mit charismatischem Lächeln, Leidenschaft und Eloquenz regelmäßig stehende Ovationen auslöst, lässt gar keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie schon ganz andere Dinge bezwungen hat als das bisschen digitale Transformation.

Rappler, vor sechs Jahren gegründet, ist als reine Online-Plattform zu einer der wichtigsten Medienmarken auf den Philippinen geworden. Auf Konferenzen sieht man die Chefin häufig selbst mit dem Smartphone live streamen. Und die Mitarbeiter_innen – der Anteil der Frauen liegt bei über der Hälfte – sind auch sonst absolut technikaffin. „Du musst sie mit ihren eigenen Waffen schlagen“, betont Ressa oft. Und dann demonstriert sie gleich dazu, wie sie das meint. Denn Duterte und seine Unterstützer_innen hetzen pausenlos mit Cyber-Trollen gegen Ressa und ihr Team. Mord- und Vergewaltigungsdrohungen gegen die Reporter_innen und deren Familiengehören zum Standard-Repertoire. Aber Rappler schafft es, diese Netzwerke mit Hilfe von Datenjournalismus sichtbar zu machen, zum Beispiel in der „Weaponizing the internet“-Serie. Gäbe es einen digitalen Meisterbrief, die Rappler-Kolleg_innen könnten ihn vorlegen. Oder vielleicht sollte man gleich von einem digitalen Waffenschein sprechen.

Aber Rappler ist auch ein Beispiel dafür, wie dicht Böse und Gut im Netz zusammenliegen. Ressa gehört zu einer der schärfsten Kritiker_innen von Facebook. Nur durch das soziale Netzwerk gelänge es Diktatoren wie Duterte, ihre Propaganda zu verbreiten, die Presse und Opposition plattzumachen versucht. Die Plattform um Mark Zuckerberg habe es bislang versäumt, an den Mechanismen zu drehen, die Hass und Hetze wie Brandbeschleuniger im Netz verbreiten. Gleichzeitig weiß Ressa, dass das Netzwerk vor allem in Regionen wie Südostasien der wichtigste Kanal dafür ist, aufklärerische Ideen und Wissen unter die Menschen zu bringen. Als „Frenemy“ – eine Mischung aus den englischen Wörtern für Freund und Feind – bezeichne sie die Plattformen oft, schreibt die Wissenschaftlerin Julie Posetti, die Ressa seit Jahren eng begleitet, in einem Meinungsstück für CNN.

Genau in diesem Zwiespalt bewegen sich Journalist_innen unablässig dieser Tage. So sehr, wie die Plattformen den Medienhäusern Werbeeinnahmen streitig machen, eröffnen sie auch Möglichkeiten, Inhalte in unterschiedlichsten Formen und auf unterschiedlichsten Wegen zu verbreiten. Digitale Hass-Attacken auf Kommentator_innen und Reporter_innen erschweren den Beruf. Die Möglichkeit, unkompliziert mit dem Publikum ins Gespräch zu gehen und sich dessen Wissen für Recherchen nutzbar zu machen, erleichtern ihn und erweitern seine Möglichkeiten. In der Beziehung zwischen den Tech-Konzernen und Medienmarken ist diese Hass-Liebe Tagesgeschäft. Die „Frenemies“ scheitern kläglich im Kampf gegen Hass und Hetze, machen aber gleichzeitig Geschenke: Google und Facebook fördern Redaktionen und journalistische Projekte mit Hunderten Millionen Dollar – auch das von Facebook gesponserte Digital Journalism Fellowship profitiert davon.

Die Leiterin des Tow Center for Digital Journalism an der Columbia University, Emily Bell, beleuchtet den Gewissenskonflikt der Branche im jüngsten Newsletter des Centers. Anders als für große Konsumgütermarken, die aus Protest gegen Facebooks nachlässigen Umgang mit Hassrede vorerst keine Anzeigen mehr auf der Plattform schalten, könnten sich dies viele Medienmarken gar nicht leisten. Die Reichweite sei für sie eine Überlebensfrage. „Auf Facebook zu werben ist (für diese Marken) wie Lastwagen dafür zu bezahlen, Zeitungen zu Kiosken zu transportieren“, schreibt Bell, es gehe um den Marktzugang.

Von Maria Ressa lässt sich in diesem Zusammenhang lernen: Man kann wie Ressa bei Facebook vorstellig werden und seine Praktiken anprangern. Und man kann die Möglichkeiten digitaler Technologien trotzdem für sich und eine gute Sache nutzen. #HoldTheLine ist Ressas berühmter Hashtag-Schlachtruf. Das gelingt aber nur, wenn man versiert genug ist, mit den Möglichkeiten von Daten und Netz umzugehen. Spätestens mit Blick auf Ressa weiß nun jeder: Nicht einmal das Alter ist eine Entschuldigung dafür, es nicht zu versuchen.

Dieser Text erschien zuerst am 9. Juli 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School.

Wirecard:Eine Pleite – auch für den (deutschen) Wirtschaftsjournalismus

Man könnte sagen, im Nachhinein sind alle schlauer. Im Vorhinein war es nur die Financial Times (FT). Wer die Timeline der Ereignisse rund um den Niedergang des im Dax gelisteten und nun insolventen Finanzdienstleisters Wirecard liest (die FT bietet das Stück ausnahmsweise gratis an), erschrickt schon ein wenig ob der Arglosigkeit vieler Beteiligter, seien es der Wirtschaftsprüfer EY, die deutschen Finanzbehörden – oder heimische Wirtschaftsjournalisten. Statt angesichts der ausdauernden und intensiven Recherchen des britischen Pflicht-Mediums für Wirtschafts- und Finanzakteure hellhörig zu werden, neigte man hier der Sicht der Behörden zuzustimmen, die dem britischen Reporter Dan McCrum unlautere Arbeit vorgeworfen hatten. Sogar die Staatsanwaltschaft München ermittelte gegen den Journalisten. Im Februar zeichnete der Branchendienst Meedia
die Auseinandersetzung um die FT-Berichterstattung nach.

Nun gebührt den FT-Kolleg_innen um McCrum Ehre, ein paar Preise werden wohl drin sein. Großes Lob verdient auch die Chefredaktion, die sich trotz aller Angriffe von außen klar vor das Team stellte. So soll es sein. Als nächstes fragt man sich allerdings: Warum haben Journalist_innen in Deutschland nicht aufgemerkt? Waren sie zu nah dran, oder eher zu weit weg? Denn wenngleich ein Journalist aus London die Story ausgegraben hatte, fand er Unterstützung in Südostasien, wo sich kaum ein deutsches Medienhaus noch Korrespondent_innen leisten kann (die FT hat dort fünf festangestellte Reporter_innen und mehrere Stringer_innen).

Einer der Gründe dürfte sein, dass noch immer zu viel „Er hat gesagt, sie hat gesagt“-Journalismus betrieben wird, vor allem hierzulande. Man betrachtet es schon als Scoop, wenn ein Behördenvertreter oder ein anderer Offizieller einem etwas steckt, das andere nicht wissen. Das hat man dann „exklusiv“. Bernd Ziesemer, ehemals Chefredakteur des Handelsblatts, hat diese Dynamik in einem Gastbeitrag gut beschrieben – der erschien bezeichnenderweise in der FT. Professionelle Kommunikator_innen wissen und nutzen das, indem sie mal dieses, mal jenes Medium bedienen und auf diese Weise gewogen halten.

Da Medienhäuser die Konkurrenz untereinander immer noch als Treiber von Innovation betrachten, geben sich Journalist_innen mit solchem Ruhm auf Zeit zufrieden. Ihrem Publikum dienen sie damit eher nicht. Das hätte im Fall Wirecard von einer schnelleren Aufklärung profitiert – zumindest die wichtigen Fonds hätten dann wohl ihre Posten zeitiger umgeschichtet und Anleger_innen vor herben Verlusten bewahrt. Kein Wunder, dass sich deutsche Mediennutzer_innen in Umfragen einigermaßen skeptisch dazu äußern, ob Journalist_innen mächtige Personen und Unternehmen ausreichend kontrollieren. Nur 37 Prozent gaben das in der deutschen Stichprobe des Digital News Report 2019 zu Protokoll, jüngere Leute waren noch deutlich skeptischer.

Große investigative Recherchen scheitern einerseits oft daran, dass dafür nur die wenigsten Redaktionen Kapazitäten haben. Andererseits fehlen vielen Reporter_innen dafür auch Handwerk und Training. Wie man sich Schritt für Schritt an eine Hypothese heran arbeitet und dann genügend Material und Daten anhäuft, um sie zu belegen oder zu verwerfen, lernt man nicht, wenn man im Volontariat stundenlange Newsdesk-Dienste absolvieren, im Akkord Seiten bauen oder Agenturen plus Google zu sendefähigem Material verquicken muss. Und mit ein, zwei schnellen Interviews zwischendurch ist es auch nicht getan.

Die Journalisten-Ausbildung sollte sich deshalb lieber früher als später darauf werfen, Reporter_innen in investigativen Methoden zu trainieren. Denn die Zukunft des Journalismus liegt genau auf den Feldern, auf denen andere nichts zu bieten haben in einer Welt, in der jeder veröffentlichen kann. Kommentieren kann jede/r Blogger_in, wenngleich nicht immer so, wie man das auf der Journalistenschule lernt. Auf künstliche Intelligenz gestützte Programme werden früher oder später in der Lage sein, Meldungen aller Arten selbst zu schreiben. Selbst einfache Interviews können Bots schon führen, die Homepage bestücken sowieso. Aber in mühevoller Denk- und Such-Arbeit Missständen auf die Spur zu kommen, und dies mit unabhängiger Perspektive zu tun, für diese Aufgaben ist kein anderer Berufszweig gleichermaßen ausgestattet.

Außerdem sollten Medienmarken genau darüber nachdenken, wen sie als Konkurrent_innen und wen als möglichen Kooperationspartner_innen betrachten. Investigativer Journalismus ist häufig teuer und aufwändig, da geht es nicht ohne Zusammenarbeit. Nun muss nicht jede Recherche in Projekte à la Panama Papers ausufern – die Großrecherche wäre ohne das beteiligte internationale Journalisten-Konsortium gar nicht möglich gewesen. Aber im Sinne der Bürger_innen zu denken heißt oft, alte Eitelkeiten über Bord zu werfen. Man kann Stoffe dann immer noch so aufbereiten, dass sie vor allem die eigenen Nutzer_innen begeistern. In der digitalen Informations- und Ablenkungswelt konkurrieren Medienmarken häufig nicht mehr gegen einen anderen Verlag. Ihr größter Gegner ist die Abstinenz des Journalismus.

Dieser Kommentar wurde am 2. Juli im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School veröffentlicht.

Forschung hilft – übrigens auch dem Journalismus

Der Intendant eines großen deutschen Senders ließ die Forscherin nicht einmal ausreden. Sie hatte Zahlen über das sinkende Vertrauen der Bürger in den Journalismus präsentiert, doch der Medienmann, in überschaubarer Runde von gleichrangigen Kollegen umgeben, wiegelte ab. Sein Haus habe seine eigenen Zahlen, sagte er, und denen zufolge stehe man recht gut da. Noch Lust auf eine Debatte? Eben. Die Szene, so beobachtet vor zwei Jahren, steht exemplarisch für eine Branche, die ihren ganzen Stolz aus der täglichen Praxis zieht. Untereinander mögen sich Journalisten und Journalistinnen öffentlich zerfleischen über missratene Kommentare, lückenhafte Recherche, unangebrachte oder fehlende Entschuldigungen, vor allem, wenn die Konkurrenz betroffen ist. Aber gegen Kritik aus der Wissenschaft stehen Praktiker_innen gerne wie eine Wand aus Selbstbewusstsein: Davon, wie es da draußen zugeht, hätten diese Akademiker keine Ahnung.

Dieselben Kolleg_innen, die sich angesichts der Corona-Krise für die wissenschaftliche Methodik stark machen, die nicht auf Wahrheiten baut, sondern auf den stets suchenden Prozess der Wahrheitsfindung, schalten schnell auf Durchzug, wenn Forschung ihnen Erkenntnisse über die eigene Zunft präsentiert. Sagen Wissenschaftler_innen, das Publikum erlebe Journalismus als zu negativ, fühle sich von der Masse der Nachrichten erdrückt, wünsche sich eine Trennung von Meinung und Kommentar oder störe sich am zuweilen überheblichen Ton, kontern Held_innen des Redaktionsalltags ziemlich sicher mit einem „ja, aber …?“ Wie groß da wohl die Stichprobe war, wen man befragt habe, und ob speziell diese Methodik generell irgendeinen Schluss darauf zulasse, was das Publikum wirklich denke. Schließlich habe man ja all diese Software-Analyse-Tools, die einem ziemlich genau zeigten, was gut laufe und was nur so, nun ja, mittelmäßig. Die Botschaft: Bleibt ihr in eurem Elfenbeinturm und lasst uns arbeiten.

Ist das zugespitzt? Vielleicht. Tatsächlich nimmt das Interesse an Publikumsforschung gefühlt in dem Maße zu, in dem das Publikum den Medienmarken abhandenkommt. Digital orientierte Journalist_innen arbeiten sich durchaus schon mal in den Digital News Report des Reuters Institutes aus Oxford ein, die größte fortlaufende Untersuchung über den weltweiten digitalen Medienkonsum. Die neueste Ausgabe wurde übrigens am 16. Juni veröffentlicht, sie deckt 40 Märkte und Länder auf allen Kontinenten ab, 80.000 Menschen wurden befragt. Sie abonnieren Newsletter des Nieman Lab aus Harvard oder des Tow Center for Digital Journalism an der Columbia University. Und die eine oder der andere schaut sich sogar bei deutschen Institutionen um, dem Leibniz Institut für Medienforschung Hans Bredow Institut beispielsweise oder dem IfKW an der LMU München. Aber dass man gemeinsam Ideen spinnt, Formate entwickelt und entsprechend begleiten lässt, ja an der Zukunft des Journalismus bastelt, kommt höchst selten vor.

Das ist schade, denn beide Seiten hätten sich gegenseitig so viel zu sagen. Die akademischen Institute böten den nötigen Abstand zum täglichen „das funktioniert nur so“ und „die Leser mögen das“. Die Praktiker_innen könnten den Forscher_innen haufenweise relevante Themen liefern und beim Studien-Design helfen.

Mit dem Einzug von Datenanalyse und Dashboards in die Redaktionen glauben zwar viele Newsdesk-Teams solche Unterstützung nicht länger zu brauchen. Schließlich sehe man ja nun im Überfluss, welche Stücke bei den Leser_innen und Abonnent_innen „funktionieren“. Dabei vergessen sie aber oft, dass Metriken nur über diejenigen Nutzer Auskunft geben, die man bereits gewonnen hat. Warum man welche Gruppen oder Bevölkerungsschichten gar nicht erreicht, was ihnen fehlt oder sie womöglich abstößt, lässt sich nur mit anderen Mitteln ergründen.

Noch spannender wären regelmäßige Forschungsaufenthalte im Lager des jeweils anderen. Frische Ideen und Impulse schaden weder der Wissenschaft noch den Redaktionen, die Akademiker_innen bekämen eine ordentliche Praxis-Dusche, die Praktiker_innen könnten sich mit Erkenntnissen für ihre Arbeit munitionieren. So etwas ließe sich sogar als Incentive organisieren, das Ermüdung vorbeugt und beim Auftanken hilft.

Okay, solche Vorstellungen klingen einigermaßen naiv für diejenigen, die ein bisschen etwas vom Geschäft verstehen. Wissenschaftler_innen in die Praxis zu schicken würde bedeuten, den zurückbleibenden Kolleg_innen einen Vorsprung im Rennen um die längste akademische Veröffentlichungsliste zu lassen. Denn journalistische Publikationen haben darauf nichts zu suchen. Und Journalist_innen, die das Redaktionsgebäude Richtung Akademie verlassen, werden ziemlich schnell als „Seitenwechsler“ abgeschrieben. Noch stärker als das unterschiedliche Tempo und die Erfolgsmetriken beider Berufe steht einem solchen Austausch die Hybris beider Seiten entgegen.

In Deutschland ist die Trennung dabei besonders scharf. Die eine Partei glorifiziert das Praktische und wertet das Akademische ab – eine Einstellung, die ihre historischen Wurzeln in der Betriebsamkeit des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit haben mag: Zum Forschen blieb damals keine Zeit, es wurde aufgebaut. Die andere Partei blickt leicht verächtlich auf diejenigen herab, die jeden Tag ein neues Fass aufmachen, statt den Dingen anständig auf den Grund zu gehen. Akademischer Stolz ist auch ein Teil Entschädigung für schlechte Bezahlung und mühsame Karrierewege. So lässt man sich lieber gegenseitig in Ruhe und geht seiner Wege.

Für den Journalismus selbst ist das bedauerlich. Aber vielleicht ändert sich das noch. Fast wünscht man sich einen Christian Drosten der Medienforschung herbei, der wie der berühmte Virologe regelmäßig ausführlich und in aller Seelenruhe erklärt, wie publikumsgerechter Journalismus wirklich geht – Irrwege eingeschlossen. Es dürfte übrigens auch eine Christiane sein.

Dieser Beitrag wurde am 26. Juni 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School publiziert.

Mehr Mensch oder mehr Journalist? Es ist kompliziert, besonders in den sozialen Netzwerken

Für Evan Smith, Mitgründer des gemeinnützigen News-Portals Texas Tribune, schien die Sache klar zu sein. „Wir nehmen Unparteilichkeit ernst wie einen Herzinfarkt“, sagte er 2018 auf einer Lokaljournalismus-Tagung in Oxford. Die mehrfach preisgekrönte Publikation hat sich auf Politikjournalismus spezialisiert, und ein paar Regeln müssten da sein, fand Smith: Er und sein Team gehörten keinen Parteien an, gingen nicht wählen, stellten keine Wahlplakate in ihre Vorgärten, auch Autoaufkleber seien tabu.

Viele Bürger*innen würden vermutlich laut klatschen bei dieser starken Ansage. Aber gerade in diesen Tagen, in denen Rassismus auch innerhalb der Medienbranche das große Thema ist, zeigt sich: So einfach ist das mit der Unparteilichkeit nicht. In amerikanischen Medienhäusern mussten jüngst mehrere Redaktionsleiter ihre Ämter niederlegen oder ruhen lassen, weil ihre Belegschaften ihnen zu viel Neutralität zum Vorwurf gemacht haben. Die Redakteure, zum Beispiel der Chef des Meinungsressorts der New York Times, hatten Gastbeiträge oder Überschriften durchgehen lassen, von denen sich ihre Mitarbeiter persönlich angegriffen, ja bedroht gefühlt haben: als Menschen, nicht als Journalisten. Und in diesem aufgeheizten Klima machten die Medienhäuser gar nicht erst den Versuch, die kritisierten Beiträge als legitime Ausdrücke von Meinungsfreiheit zu verteidigen. Sie entschieden sich für den Schutz ihrer Belegschaften. Zurecht, denn die Freiheit des einen endet immer dort, wo die des anderen beginnt. Der Punkt, an dem sich beide berühren, ist Aushandlungssache. Und es ist an der Zeit, jahrzehntelang erduldetem Unrecht mehr Gewicht zu geben.

Nur weil man eine Haltung hat, ist man auch als Journalist*in noch keine Aktivist*in. Die brillante Kolumnistin der Washington Post, Margaret Sullivan, hat das kürzlich in einem Beitrag treffend beschrieben: Journalist*innen seien der Suche nach der Wahrheit verpflichtet und dem Streben nach einer besseren Gesellschaft. Die Schritte auf dem Weg dorthin gilt es zu verteidigen. Manche Konflikte zwingen Journalist*innen deshalb dazu, sich auf eine Seite zu stellen: immer dann, wenn es um den Schutz der Demokratie, der Menschenwürde oder anderer existenzieller Güter wie der öffentlichen Gesundheit oder der Sicherheit und Ordnung gilt. Aber welche Güter sind existenziell? Hier wird es kompliziert. Was für die eine Minimum-Standard ist, betrachtet der andere als verhandelbar.

Schon im Redaktionsalltag sind die Grenzen fließend, wenn es um die Vereinbarkeit von Berichterstattung und persönlichen Werten geht. Aber besonders schwierig wird es, wenn sich Journalist*innen in den sozialen Netzwerken bewegen. Dort ist jeder zuerst Individuum, sieht sich aber mit Anforderungen von Redaktionen konfrontiert, die schlicht nicht zu erfüllen sind. Einerseits sollen Reporter*innen und Redakteur*innen mit möglichst hoher Präsenz den Ruhm ihres Hauses mehren, der Schlüssel dazu ist Reichweite. Und wer etwas vom Geschäft versteht weiß: Die bekommt man nicht mit dem pflichtschuldigen Klick auf das Retweet-Symbol. Für Medienhäuser ist es ein Gewinn, wenn sich ihre Stars als Neben-Marken profilieren und auf diese Weise Publikum binden. Aber zu viel Chuzpe ist den meisten Chefredakteur*innen auch nicht recht. Die Kolleg*innen mögen sich doch bitte allzu drastische Meinungsäußerungen oder rüde Sprache verkneifen, heißt es dann. Man trete schließlich doch immer im Namen des Hauses auf, allen „views are my own“-Bemerkungen in der Twitter-Bio zum Trotz. Es haben schon einige Journalist*innen ihren Job verloren, weil ihnen – womöglich zu fortgeschrittener Stunde – ein paar Dutzend Zeichen im Ton verrutscht waren.

Die New York Times hat kürzlich ein internes Dokument des Innenpolitik-Ressorts beim Konkurrenten Washington Post gezogen, das es in sich hat. Auf zwölf eng beschriebenen Seiten, die in vier Empfehlungen münden, hat eine Kommission darin zusammengetragen, was die Belegschaft von den Regeln und Praktiken im Umgang mit sozialen Netzwerken hält. Nicht viel, sei hier zusammengefasst. Beklagt werden die beschriebenen widersprüchlichen Anforderungen, Intransparenz, eine fehlende Strategie aber auch einen Mangel an Fairness beim Durchsetzen von Regeln. „Wer ein Star ist, kann sich alles erlauben“, heißt es in einem Kommentar. Andere Kolleg*innen hingegen würden abgemahnt, wobei sich Redaktionsleiter dabei zu sehr dem Herdentrieb hingäben. Gleichzeitig unternehme die Chefredaktion zu wenig, um Mitarbeiter*innen zu verteidigen oder zu schützen, wenn sie mit Hasskommentaren attackiert werden. Kulturell tue sich ein Graben zwischen den Generationen auf. Vor allem Frauen und Minderheiten würden häufig im Regen stehengelassen. Lehne man aus all diesen Gründen ein Engagement in den sozialen Netzwerken ganz ab, schade das womöglich der eigenen Karriere, beklagten die Reporter*innen. Schließlich sei reges Posten ein Weg, intern und extern auf sich aufmerksam zu machen. Gerade Twitter ist schließlich ein Journalisten-Biotop.

Ein solches oder ähnliches Papier ließe sich vermutlich in fast jeder Redaktion erstellen. Denn Chefredaktionen belassen es häufig bei dem Hinweis, man möge eben gesunden Menschenverstand walten lassen und sich so verhalten wie auch sonst im öffentlichen Raum. Nur sind die Netzwerke eben ein Raum, der nach den Regeln der Plattform-Konzerne bewirtschaftet wird, die Aufmerksamkeit verstärken. Fazit: Die Kolleginnen und Kollegen werden von ihren Häusern als Journalisten gefordert, als Menschen aber allein gelassen.

Was also tun? Um das vorwegzunehmen: Ein Rezept, das alle Seiten zufriedenstellt, gibt es nicht. Wichtig sind aber ein paar Dinge. Dazu gehören eine klare Strategie, was die Marke mit Hilfe sozialer Netzwerke erreichen will. Erwartungen an die Mitarbeiter sollten deutlich formuliert werden, es muss klar sein, was vertretbar ist und was rote Linien überschreitet. So wie jede große Medienmarke einen Style-Guide hat, sollte es auch Anleitungen für das Navigieren von Twitter, Facebook und Co. geben. Das hilft dabei, Regeln transparent und fair durchzusetzen.

Manch einer mag solche Vorgaben als Einschränkung persönlicher Freiheiten betrachten. Aber die sollte akzeptabel sein angesichts der Privilegien, die der Beruf mit sich bringt. Journalismus ist nun einmal eine Dienstleistung am Bürger, ihr Kern ist Glaubwürdigkeit, gezahlt wird mit Vertrauen. Ausbrüche von Häme, Wut und Sarkasmus dienen in der Regel niemandem, sie fachen nur jene Hasstiraden an, vor denen andere dann geschützt werden müssen. Was zum wichtigsten Punkt führt: Wer seine Mitarbeiter*innen dazu ermutigt, sich auf dem Tummelplatz der sozialen Netzwerke zu behaupten, muss ihnen auch beistehen, wenn sie sich dort Blessuren holen.

Dieser Text erschien zuerst am 12. Juni 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School. 

Beruf mit Risiken und Nebenwirkungen – Journalisten im Burnout

Man kann diese Bilder schwer ertragen, vor allem, wenn man die USA kennt und den großartigen Journalismus amerikanischer Medienhäuser schätzt: Polizisten, die Reporter*innen und Fernsehteams gezielt mit Tränengas und Gummigeschossen attackieren, sogar festnehmen, weil sie von den landesweiten Protesten gegen Polizeigewalt und Rassismus berichten. Etwa 120 solcher Angriffe hatte es allein in der ersten Woche nach dem Tod von George Floyd gegeben, der unter dem Knie eines Polizisten erstickte. Der Journalistenberuf ist selbst im Kernland der Meinungs- und Pressefreiheit gefährlich geworden. Das wird Folgen haben. Noch schweißen die Attacken von außen die Redaktionen zusammen, verleihen ihrer Arbeit Sinn und eine extra Portion Legitimation. Aber irgendwann wird die große Erschöpfung eintreten. Im Journalismus ist Burnout ein erhebliches Berufsrisiko.

Doch während Journalisten gerne emphatisch über psychische Belastungen, Verletzungen und Traumata anderer berichten, werden sie beim Blick in die eigene Branche schmallippig. Natürlich kennt man den einen oder die andere Kollegin, die es „nicht mehr gepackt“ hat, längere Auszeiten nehmen musste oder plötzlich vom riskanten Auslandsposten in die Zentrale zurückversetzt wurde. Aber die längste Zeit über wurden solche Fälle eher unter der Decke chefredaktioneller Fürsorge gehalten. Und das hatte nicht nur mit dem Schutz der Privatsphäre zu tun. Es war – und ist – ein Tabu-Thema in einer Branche, in der Stressresistenz und Zähigkeit zum Berufsbild gehören.

Der Psychiater Anthony Feinstein von der Universität Toronto beschäftigt sich seit 20 Jahren mit psychisch belasteten und traumatisierten Journalist*innen. Begonnen hatte er damit 1999, als sich eine Reporterin an ihn wandte. Zur Vorbereitung des Gesprächs hatte er eine Literatur-Recherche gestartet – und zu seiner Überraschung keine einzige Studie zu dem Thema gefunden. Die Journalistin klärte ihn auf: „Sie verstehen meinen Beruf nicht.“ So erzählte es Feinstein kürzlich in einem Webinar. In einer ersten Untersuchung zum Thema schrieb er 180 Journalist*innen großer Medienhäuser an, 80 Prozent antworteten. Das ist für eine sozialwissenschaftliche Studie eine überwältigende Resonanz. Seitdem hat ihn das Thema nicht mehr losgelassen. Post-traumatische Belastungsstörungen seien gut behandelbar, sagt er, wenn man sie denn identifiziere. Aber viele Journalist*innen fühlten sich damit allein gelassen. 

Kein Wunder, denn gerade in kleineren Redaktionen gilt noch immer, was ein gestandener Ressortleiter in einem Seminar am Reuters Institute in Oxford einmal etwas verlegen mit einer englischen Redensart beschrieb: „If you can’t stand the heat, get out of the kitchen.“ Anders gesagt: Wenn du Journalist wirst, musst du das abkönnen. In der Session ging es um Burnout. Das Thema war ins Programm genommen worden, weil es leitende und Chef-Redakteur*innen in den vertraulichen Runden immer wieder als eine der größten Herausforderungen für ihre Redaktionen genannt hatten – und zwar nicht in erster Linie mit Blick auf riskante Einsätze im In- und Ausland.

Die Belastungen durch die digitale Transformation seien extrem hoch, argumentierten sie. „Wie können wir 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche digitalen Journalismus und Veränderungsprozesse managen, ohne das Team dem Burnout auszuliefern?“ So hatte es die Geschäftsführende Redakteurin einer renommierten britischen Tageszeitung einmal formuliert. In einer 2019 veröffentlichten Umfrage des Reuters-Institutes gaben 62 Prozent der Medien-Führungskräfte an, dass Burnout in ihren Teams für sie ein wichtiges Thema sei.

Einerseits ist das eine gute Nachricht, denn sie zeigt, dass Chefinnen und Chefs das Problem zunehmend sehen und ernst nehmen. Andererseits ist es das: ein ernstes Problem. Im Journalismus musste man schon immer schnell und gleichzeitig akkurat sein, war dem Wettbewerb ausgesetzt, brachte sich zuweilen in Gefahr, musste schlimme Bilder verarbeiten und konnte sich die Arbeit nicht besonders frei einteilen. Wenn es brannte, brannte es halt. Aber heute ist das, was einst guten Journalismus ausmachte, oft nicht mehr gut genug. Gute Schreiber*innen müssen nun auch Videos oder Tonspuren liefern, sich ständig neuen Workflows anpassen und für verschiedene Plattformen produzieren. Außerdem sind etliche dem Dauerfeuer von Hasskommentaren ausgesetzt. Neuerdings erschwert die Bedrohung durch das Corona-Virus die Arbeit und erhöht das Risiko.

Gleichzeitig überfordert das Veränderungsmanagement Führungskräfte, die nie fürs Führen ausgebildet wurden. Lucy Küng, Journalismusforscherin und Beraterin, erlebt bei ihren Recherchen vor allem im mittleren Management eine große Verunsicherung. Führungskräfte, die im Tagesgeschäft agieren, müssen den Wandel vorantreiben, ihre Teams motivieren und gleichzeitig vor Überlastung schützen. Gerade die Leistungsträger, die alles besonders gut machen wollten, seien vom Burnout bedroht, sagt Küng. Viele Talente verließen deshalb die Branche.

Es ist deshalb wichtig, auch in der Medienbranche Führungskräfte entsprechend auszubilden. Sie müssen lernen, die Zeichen von Überlastung zu lesen – bei ihren Mitarbeiter*innen und sich selbst. Professionelle Hilfe muss systematischer angeboten werden. Dazu verdient das Thema mehr Öffentlichkeit. Im Zuge der Me-Too-Debatte hatten sich viele Journalistinnen gewagt, erstmals über sexuelle Belästigung und Gewalt zu sprechen, die sie im Job erlebt hatten. Das war ein wichtiger Schritt. Auch für Kolleg*innen, denen andere Aspekte ihrer Arbeit Albträume machen, muss es akzeptabel werden, dies zu offenbaren. Journalist*innen ziehen viel Energie aus ihrer Mission, sie halten sich für etwas Besonderes. Aber im Angesicht des Hasses sind sie auch nur Menschen.

#Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 5. Juni 2020. 

 

Nicht nur die Lufthansa ist systemrelevant – Wie die Pressefreiheit unter Druck gerät

Nicht alle ver­wen­den die Methode Holz­ham­mer so wie die alba­ni­sche Regie­rung. Als es ernst wurde mit Covid-19, ver­schickte sie an sämt­li­che Nutzer von Mobil­te­le­fo­nen lan­des­weit eine Sprach­nach­richt, die drei Bot­schaf­ten ent­hielt: „Waschen Sie sich die Hände! Bleiben Sie zuhause! Miss­trauen sie den Medien!“ Bong. So viel Dreis­tig­keit muss man erst einmal ver­dauen. Aber ähnlich plump oder sub­ti­ler nutzen diverse Regie­run­gen rund um die Welt die Corona-Krise dazu, den Medien das Leben im All­ge­mei­nen und die Recher­che im Beson­de­ren zu erschwe­ren. Covid-19 wirke wie ein Brand­be­schleu­ni­ger auf die ver­schie­de­nen Krisen, die dem Jour­na­lis­mus ohnehin schon zu schaf­fen machten, resü­mierte die Orga­ni­sa­tion Repor­ter ohne Grenzen in ihrem jüngst ver­öf­fent­lich­ten World Press Freedom Index.

Man kann solche Sprach­bil­der leicht über­stra­pa­zie­ren, aber unter all den Pan­de­mie-beding­ten Ein­schrän­kun­gen und Ver­lus­ten kommt so manch eine Redak­tion in Atemnot, wirt­schaft­lich und ope­ra­tiv. Das Virus testet das Immun­sys­tem des unab­hän­gi­gen Jour­na­lis­mus und all der Insti­tu­tio­nen, die ihn unter­stüt­zen.

Es gibt in diesen Tagen viel­fäl­tige Metho­den, die Arbeit von Repor­te­rin­nen und Repor­tern konkret zu behin­dern. Repor­ter ohne Grenzen doku­men­tiert ent­spre­chende Not­stands­ge­setze, Ver­haf­tun­gen und andere dras­ti­sche Frei­heits­be­schrän­kun­gen für Medien in ihrem „Tracker 19“, Mitte Mai umfasste der News­feed schon mehr als 80 Ein­träge.

Aber es gibt auch weniger absichts­volle Zwänge. So werden zu manch einer Pres­se­kon­fe­renz wegen der Hygiene-Vor­schrif­ten nur hand­ver­le­sene Repor­ter zuge­las­sen, andere finden aus­schließ­lich online statt. Für infor­melle Gesprä­che am Rande und Nach­fra­gen bleibt keine Zeit, und bei unan­ge­neh­men Themen bricht womög­lich die Ver­bin­dung ab – zu sehen in einem viel­fach geteil­ten Video, in dem eine Repor­te­rin einen WHO-Offi­zi­el­len zu Taiwan befragt, er möchte partout nicht ant­wor­ten. Manche Regie­run­gen ver­ste­cken sich hinter Exper­ten, die sie zu All­wis­sen­den sti­li­sie­ren. Eine Dis­kus­sion ver­schie­de­ner Argu­mente ist dann uner­wünscht, die Medien werden allein als Laut­spre­cher gebraucht.

Außer­dem bindet die Corona-Krise Auf­merk­sam­keit, die der Jour­na­lis­ten und die des Publi­kums. Manch anderer Skandal wird mangels Kapa­zi­tä­ten nicht nach­re­cher­chiert, und wird dann doch etwas publi­ziert, ver­sinkt es im Covid-19-Getöse. Wer unlau­tere Absich­ten hat, kann sich derzeit relativ unbe­ob­ach­tet fühlen.

Am gefähr­lichs­ten ist aller­dings die Methode Alba­nien: wenn Regie­run­gen den Jour­na­lis­mus als Ganzes her­ab­wür­di­gen und Jour­na­lis­ten lächer­lich machen. Denn starker Jour­na­lis­mus baut darauf, dass Bürger die Medien als ihre Ver­bün­de­ten betrach­ten. Dazu gehört Ver­trauen. Und wenn dies brö­ckelt, wird dem Jour­na­lis­mus die Daseins­grund­lage ent­zo­gen.

Das wussten Poten­ta­ten schon immer, aber auch popu­lis­tisch agie­rende Demo­kra­ten finden immer wieder Gefal­len daran, sich der läs­ti­gen Nach­fra­gen von Pres­se­ver­tre­tern zu ent­zie­hen. Schließ­lich ist es deut­lich anstren­gen­der, sich mit ein­zel­nen Fakten zu beschäf­ti­gen, als die Glaub­wür­dig­keit ihrer Ver­brei­ter als solches in Frage zu stellen. Donald Trump hat den Begriff „Fake News Press“ nicht erfun­den, ihn aber wie kein anderer zu einer Pro­pa­ganda-Waffe gemacht. Und was sich der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent her­aus­nimmt, schauen sich andere ab. Mehr als 50 Regie­rungs­chefs auf fünf Kon­ti­nen­ten hätten den Begriff in den ver­gan­ge­nen Jahren ent­spre­chend ver­wen­det, schrieb der Her­aus­ge­ber der New York Times, A.G. Sulz­ber­ger, im Sep­tem­ber 2019 in einem Edi­to­rial nach einer Rede an der Brown Uni­ver­sity zur bedroh­ten Pres­se­frei­heit – das war noch vor Corona.

In diesen Tagen kann es lebens­ge­fähr­lich sein, auf seinen Prä­si­den­ten zu hören statt auf Jour­na­lis­ten, die das beste gerade ver­füg­bare Exper­ten­wis­sen zusam­men­tra­gen. Zum Glück spüren dies viele. Bür­ge­rin­nen und Bürger haben den Wert des unab­hän­gi­gen Jour­na­lis­mus wieder neu schät­zen gelernt. Zumin­dest in den ersten Kri­sen­wo­chen ist das Ver­trauen in tra­di­tio­nelle Medien gewach­sen wie seit langem nicht, sogar junge Men­schen schauen wieder ver­mehrt nach Nach­rich­ten-Marken, denen schon ihre Eltern trauten.

Aber die Freude in den Redak­tio­nen könnte kurz­le­big sein. Vor lauter Unge­duld mögen manche Men­schen lieber „Exper­ten“ glauben, deren Aus­sa­gen ihre eigenen Hoff­nun­gen spie­geln. Und es gibt Anzei­chen für einen mas­si­ven Über­druss an Nach­rich­ten, zumal allem, was mit Covid-19 zusam­men­hängt. Eine neue Studie des Reuters Insti­tu­tes belegt das für Groß­bri­tan­nien.

Es geht deshalb um viel. Redak­tio­nen müssen am Ver­trauen zu ihrem Publi­kum arbei­ten: erklä­ren, beob­ach­ten, abbil­den, ver­su­chen, Fragen zu beant­wor­ten, trans­pa­rent mit Fehlern umgehen. Lese­rin­nen, Zuschauer und Zuhö­re­rin­nen schät­zen das mehr als das übliche Rat­ten­ren­nen um den besten Scoop, das inter­es­san­teste Zitat. Jour­na­lis­mus nahe an den Men­schen zu pro­du­zie­ren – selten war das wich­ti­ger und selten schwe­rer als dieser Tage, wenn man Nähe phy­sisch ver­steht.

Regie­run­gen müssen zur Insti­tu­tion der freien Presse stehen, und zwar in Worten und Tat. Nicht nur die Luft­hansa, auch Medi­en­viel­falt ist sys­tem­re­le­vant für die Demo­kra­tie. Platt­form-Kon­zerne wie Google und Face­book können Qua­li­täts­jour­na­lis­mus fördern, nicht nur mit den in der Branche will­kom­me­nen Mil­lio­nen, sondern auch, indem sie ihn auf ihren Seiten und in ihren Feeds sicht­bar machen. Und Bür­ge­rin­nen und Bürger können zeigen, was ihnen unab­hän­gi­ger Jour­na­lis­mus wert ist, indem sie zum Bei­spiel ein Abo abschlie­ßen. Sie sichern damit mehr als Arbeits­plätze. Es geht um die Qua­li­tät der Gesell­schaft, in der sie leben. Und manch­mal auch ums Über­le­ben.

Diese Kolumne erschien zuerst am 27. Mai 2020 bei Zentrum Liberale Moderne