Junge Nutzer, die unbekannten Wesen – und warum Journalismus sie doch erreichen kann

Wenn Verlagsmanager und Senderverantwortliche über junge Menschen sprechen, kommt einem zuweilen der Titel eines Aufklärungsbestsellers aus den sechziger Jahren in den Sinn: Meine Frau, das unbekannte Wesen. Vielen Verantwortlichen in den Medienhäusern scheinen die jungen Nutzer so nah und doch so fern zu sein, wie damals offenbar dem einen oder anderen die Ehefrau. Dabei könnte man so viel lernen, würde man den Objekten der Begierde einfach mal zuhören. 

Das hat nun eine Gruppe von Medienforschern im Auftrag von FT Strategies und dem Knight Lab getan. Der Report Next Gen News: understanding the audiences of 2030 eignet sich durchaus, nun ja, als Aufklärungslektüre.  

Einige Erkenntnisse aus der Studie, die keine Umfrage ist, sondern sich mit tatsächlichem Verhalten beschäftigt, dürften für die Medienbranche schmerzhaft sein. Etliche sind aber nur unangenehm, wenn man sich vor Arbeit drücken möchte. Denn die jungen Nutzer in den drei untersuchten Märkten USA, Nigeria und Indien schätzen Journalismus durchaus. Sie können oft nur nichts mit jenem Journalismus anfangen, der in vielen Redaktionen jahrzehntelang als Goldstandard galt und sich wohl schon damals nicht ausreichend verkauft hätte, wäre er nicht in lukrative Geschäftsmodelle verpackt gewesen.

Junge Menschen wollen kein Geschwurbel

Zunächst also zu den womöglich nicht so willkommenen Wahrheiten. Die erste ist, dass der so genannte Qualitätsjournalismus schon immer eine Sache für Eliten war. Er erreichte eine relativ kleine Schicht gebildeter Menschen, vorrangig Männer. Wer dazugehören wollte, empfand einen gewissen Stolz dabei, sich durch Bleiwüsten quälen zu können oder Nachrichten auszusitzen, von denen vielleicht zehn Prozent mit dem eigenen Leben zu tun hatten – darunter der Wetterbericht. 

Die junge Generation hingegen ist selbstbewusster als ihre Vorgänger. Sie findet sich mit Geschwurbel nicht mehr ab, da sie dank Digitalisierung weiß, dass man alles auch einfacher, anschaulicher, respektvoller oder lustiger erklären kann. Dies gilt insbesondere in Märkten und für Menschen, denen der Zugang zu vielfältigen Informationen früher verschlossen war.

Zu diesem Blick von oben herab gehört auch die recht willkürliche Einteilung in harte und weiche Nachrichten, Stoffe oder Ressorts. Als hart galten Politik und Wirtschaft, als weich, oder zumindest weicher, eben der Rest. Nicht einmal die in den Siebzigerjahren geprägte Aussage, das Private sei politisch, konnte Nachrichtenchefs für die längste Zeit davon überzeugen, dass die Wortblase eines Ministerpräsidenten mehr Nachrichtenwert hat als Debatten um die Aufteilung der Familienarbeit, der ewige Stau auf der Bundesstraße oder der ökologische Fußabdruck des Skiurlaubs. Zwar wunderten sich Redaktionsleiter ab und an, dass überwiegend Männer Zeitung lasen, aber selten dachten sie darüber nach, woran das lag – und noch seltener taten sie etwas dagegen. 

Die jüngere Generation, in der Männer und Frauen zumindest versuchen, sich mit ähnlichem Einsatz ums Familienleben zu kümmern, hält plötzlich Themen für relevant, die Chefredakteure älterer Jahrgänge – überwiegend ehemalige Politikreporter – maximal in Frauenzeitschriften geduldet hätten. Aber für die Jungen ist das Private eben politisch, das Weiche zuweilen ziemlich hart.

Auch unter Jungen gilt: Klasse statt Masse – nur eben anders

Besonders unpopulär dürfte die Einsicht sein, dass die Branche im Digitalen früh falsch abgebogen ist und auf Masse statt Qualität gesetzt hat. Denn das rüttelt am Selbstbild von Digitalchefs, die sich üblicherweise als Chef-Innovatoren betrachten. Aber Hingucker schaffen selten Loyalität, sorgfältiges Kuratieren ist journalistisches Kerngeschäft. Zu spät dämmerte es vielen Verantwortlichen, dass verlässliche, vertrauensvolle Beziehungen zu den Nutzern das Kapital erfolgreicher Medienunternehmen sind – wie schon zur Blütezeit des Zeitungsabos. Junge Menschen empfinden das ganz genauso. Sie schätzen Tiefe, Augenhöhe – auch im Umgang mit Fehlern – , Sorgfalt in der Auswahl und Ansprache. Keinesfalls wollen sie von Meldungen erdrückt werden. Erfolgsgeschichten wie die dänische Online-Marke Zetland, die mit ihrem „slow journalism“ bei einem vergleichsweise jungen Publikum gut ankommt und profitabel ist, belegen das. 

In der Untersuchung von FT Strategies gaben viele zu Protokoll, dass sie Push-Mitteilungen zwar als Informationsquellen nutzten, aber nie öffneten. (Zu Papierzeiten las man schließlich oft auch nur die Schlagzeilen.) „Sifting through the noise“: Aus dem Nachrichtenstrom das herauszufischen, was für sie Nährwert hat, ist für die Jungen zur Kulturtechnik geworden. Und weil Ablenkung und Unterhaltung überall sind, erwarten sie vom Journalismus einen Mehrwert. Zwei Drittel wünschen sich, er solle konstruktiv und lösungsorientiert sein.   

Der vertrauensvolle News-Anchor ist heute Influencer – und Experte auf seinem Gebiet

Vertrauensvolle Beziehungen hängen oft an Persönlichkeiten. Ähnlich wie die Alten Ulrich Wickert, Anne Will oder Peter Kloeppel schätzten, folgen die Jüngeren „ihren“ Influencern, wie Mai Thi Nguyen-Kim oder (international) Sophia Smith Galer. Der Unterschied ist, dass journalistische Influencer auf Kanälen unterwegs sind, auf denen die Linien zwischen Journalismus, Meinung und Marketing verschwimmen, die Studie nennt das „information context collapse“. Aber es wäre pure Arroganz zu behaupten, junge Menschen seien zu dumm, das zu erkennen. Sie betrachten stattdessen alle Veröffentlichungen mit einer ausgeprägten Skepsis. Auch bei den traditionellen Medienmarken wittern sie zuweilen Interessen, die nicht ganz mit dem Pressekodex zu vereinbaren sind – wer mag es ihnen verdenken?  

Was junge Nutzer wirklich von älteren unterscheidet: Sie erwarten mehr Authentizität. Dem Chefredakteur, der in der Konferenz regelmäßig murmelte, man müsse nicht im Krieg gewesen sein, um darüber zu schreiben, würden sie ein fröhliches „doch!“ zurufen. Immerhin gibt es ausreichend Menschen mit allen möglichen Erfahrungen, warum lässt man sie nicht zu Wort kommen? Weniger als frühere Generationen verlassen sie sich auf Seniorität und Hierarchie. Dies stellt Redaktionen vor ein Problem. Denn woher soll man all die jungen Kollegen nehmen, die „authentisch“ mit ihren Alterskohorten auf Augenhöhe kommunizieren – und was tun sie mit den anderen? Schließlich spüren junge Reporter schnell, was sie liefern müssen, um ihre Chefs zu beeindrucken, manch einer schreibt schon mit 30 so, wie er es sich beim 50-jährigen, intern hochgelobten Kollegen abgeschaut hat. Hier sind eine aktive Personalpolitik und eine wertschätzende Redaktionskultur gefragt. Gestandene Redakteure brauchen Offenheit und eine gewisse Demut. Sie sollten ihre alten Glaubenssätze auch mal hinterfragen und in Sachen Angriffslustigkeit und Wörter-Verliebtheit abrüsten, ohne sich den Jungen anzubiedern und journalistische Grundsätze aufzugeben.   

Junge Menschen zu verstehen und mit journalistischen Produkten zu erreichen ist also gar nicht so schwer. Man muss sich aber Mühe geben. Und das scheuen viele, die lieber mit alten Geschäftsmodellen Geld verdienen als Beziehungen aufbauen wollen. Eine wichtige Erkenntnis der Studie sollte ihnen jedoch zu denken geben: Auch ältere Nutzer integrieren moderne Technologie gerne in ihren Lebensstil – nur mit Zeitverzug. Großeltern kommunizieren heute selbstverständlich mit WhatsApp, verschicken digitale Fotos, nutzen Facebook oder gar TikTok. Wer die Jungen gewinnt, sichert sich deshalb womöglich auch die Loyalität der Alten – auch wenn die sich nur ungern duzen lassen. Helje Solberg, Chefredakteurin beim norwegischen Fernsehsender NRK, beobachtet zudem einen positiven Nebeneffekt, den sie in Interviews für den EBU News Report skizziert hat: Formate, die bei jungen Leuten ankommen, erwiesen sich häufig als inklusiver, sie erreichten Menschen verschiedener Bildungsgrade, Herkünfte und Gesellschaftsschichten. Womöglich sollte das die Definition von Qualitätsjournalismus sein.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 28. März 2024. Aktuelle Kolumnen lassen sich mit einem Abo lesen. 


Junge Nutzer verzweifelt gesucht – sieben Erkenntnisse über eine anspruchsvolle Zielgruppe

Man kennt diesen Satz aus der Redaktionskonferenz. Themenplanung ist dran, und irgendein Chef wirft ihn in die Runde: „Wir müssen mal wieder was für die Jungen machen.“ Ratlosigkeit entweicht den Blicken der Älteren. Vielleicht was über Tik Tok? Über angesagte Musik oder das nahende Abitur? Alle unter 30 gehen vorsichtshalber in Deckung. Besteht doch ihr wichtigster Job darin, ihre Ü40-Vorgesetzten mit klugen Vorschlägen zu beeindrucken, die dann vor allem bei der Ü60-Kundschaft gut ankommen. Sie wollen ja ernst genommen werden.  

Etablierte Medienhäuser und das junge Publikum haben es schwer miteinander. Während die einen nicht ohne die anderen können, weil dies ihren wirtschaftlichen Hungertod zur Folge haben würde, können die anderen sehr wohl ohne vieles, was den Verlagen und Sendern ihr Auskommen sichert: Abos, Apps und Abendprogramm im Fernsehen zum Beispiel. Selbst mit dem Digitalen ist das so eine Sache. Laut Digital News Report 2020 gehen 84 Prozent der unter 25-Jährigen nicht direkt auf die Website einer Medienmarke, sondern informieren sich über das, was Soziale Netzwerke, Suchmaschinen oder Nachrichten-Aggregatoren in ihre Timelines oder per Push-Nachricht auf ihre Bildschirme spülen. In den Strategie-Sitzungen etablierter Medienmarken steht deshalb auf Wiedervorlage: Junge Nutzer verzweifelt gesucht.

Aber wie steht es um den Medienkonsum junger Menschen, was mögen sie, was ignorieren sie, wann schalten sie ein und wann wieder ab? Gemessen daran, wie stark und wie lange das Thema Redaktionen schon beschäftigt, ist die Forschung dazu einigermaßen dünn. Für den deutschen Markt gibt es wichtige neue Erkenntnisse. 

Nachzulesen sind sie in der im April 2021 veröffentlichten Studie „#usethenews“ des Leibniz-Instituts für Medienforschung Hans-Bredow Institut und der Studie zur Medienkompetenz in Deutschland, die im März bei der Stiftung Neue Verantwortung erschienen ist. Daraus und aus zahllosen Gesprächen mit Studierenden verschiedener Fachrichtungen leiten sich ein paar Dinge ab, die Redaktionsstrategen wissen sollten.

Erstens: Tatsächlich brennt bei diesem Thema die Hütte, nicht nur, was die Zukunft der Verlage angeht, sondern auch mit Blick auf bürgerliches Engagement in der Demokratie. Etwa jeder zweite Jugendliche hält es nicht für wichtig, sich über aktuelle Ereignisse zu informieren, so das Forscherteam des Hans-Bredow-Instituts. Die Erklärung liefern es gleich mit: „Bei journalistischen Nachrichten fehlt ihnen oft der Bezug zu ihrem Alltag.“ Es reicht also nicht, schulterzuckend auf den allgemein steigenden Anteil der Nachrichten-Vermeider zu verweisen, der laut Digital News Report international bei etwa einem Drittel liegt. In der jungen Generation ist die News-Abstinenz deutlich ausgeprägter. Wer es ernst meint mit dem Journalismus als Säule der Demokratie, sollte also dringend tätig werden. 

Zweitens: Die Schere zwischen denjenigen, die top informiert und kompetent sind und denjenigen, die sich kaum in der neuen Informationslandschaft zurechtfinden, geht weit auseinander. Waren diejenigen mit niedrigem Schulabschluss früher noch einigermaßen informiert, weil vielleicht hier und da mal eine Zeitung herumlag, man aus Langeweile die Fernseh-Nachrichten schaute oder beim Autofahren stündlich mit Radio-News zwangsgefüttert wurde, lässt sich all das im Zeitalter der maximalen Ablenkungsmöglichkeiten komplett vermeiden. Die Informationslücke, die das Internet eigentlich schließen sollte, tut sich als digitaler Graben zwischen den Gesellschaftsschichten immer weiter auf – wenn nichts geschieht. Die öffentlich-rechtlichen Sender mit ihrem Auftrag, Journalismus für alle anzubieten, haben hier eine besondere Verpflichtung. 

Drittens: Zum Glück interessieren sich viele junge Leute doch für die Welt um sie herum – nur nicht immer für das, was gereifte Politik- und Feuilleton-Redakteure und -Redakteurinnen spannend finden. Diejenigen, die Journalismus mögen, schauen gerne mal bei den Lokalnachrichten rein. Alles, was mit Umweltschutz und Wissenschaft zu tun hat, ist zumindest für die Gebildeteren ein Hingucker. In einer neuen amerikanischen Studie zum Thema Journalismus-Vermeider („The head and heart of news avoidance“) waren es übrigens auch die Themen Gesundheit, Wissenschaft, Umwelt und Lokales, die Nachrichtenmuffel aller Generationen am ehesten interessierten. Redaktionen, in deren informeller Hackordnung nach Innen- und Außenpolitik erst einmal lange gar nichts kommt, werden sich umstellen müssen.  

Viertens: Was alle Nutzer der jüngeren Generationen vereint, ist die Vorliebe fürs leichte Fach. „Lustiges und Sonderbares“ kommt laut der Leibniz-Studie durchweg gut an. Ohnehin ist Humor ein ziemlich sicherer Weg, um bei den Generationen Y und Z Gehör zu finden, das belegen nicht nur Böhmermann und Co.. Aber Achtung, es ist nicht unbedingt die Art von Humor, den eben jene gereiften Führungskräfte mögen. Witzeln auf Kosten von Schwächeren geht gar nicht. Wer austeilt, muss sich zumindest selbst auch mal einen mitgeben. In der Abteilung Humor im Journalismus gilt deshalb das Gleiche wie bei unsicherer Quellenlage: Im Zweifel lieber lassen.

Fünftens: An Influencern führt kein Weg vorbei, aber es müssen keine Instagram-Vertriebshelden sein. Als die schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter im vergangenen Jahr Greta Thunberg für einen Tag das Blatt machen ließ, rauschten die Digital-Abos nur so rein, mehrere Tausend waren es an einem Tag. Prominenz erhöht die Reichweite und hilft dabei, Botschaften zu vermitteln. Faustregel: Promis sollten als Menschen rüberkommen, nicht als Funktionäre. Den Filmstar über Politik reden lassen und die Politikerin über Filme kann beide glaubwürdiger machen, wenn sie es denn ehrlich meinen. Junge Leute sind geübt darin, zwischen echter Authentizität und inszenierter Nahbarkeit zu unterscheiden.  

Sechstens: Vielfalt zählt – und zwar nicht nur als Ankreuz-Übung. Junge Leute erwarten, dass ein Programm oder eine Marke die Welt so abbildet, wie sie sie erleben. Sie mögen sich mit Protagonisten identifizieren können und vielleicht sogar selbst etwas beitragen. Dazu gehören eine Sprache, die ebenso locker wie respektvoll ist und Inhalte, die – siehe oben – etwas mit ihrem Alltag zu tun haben. Nachrichten sollten nützlich sein und Spaß machen, lautete das Fazit einer Studie über junge Journalismus-Nutzer, die der Marktforscher Flamingo gemeinsam mit dem Reuters Institute 2019 veröffentlicht hatte. Konstruktiver Journalismus, der die Welt mit Perspektiven weit öffnet, kommt bei der jungen Generation deshalb besonders gut an. Faustregel: Man darf dem Publikum ruhig etwas zutrauen. Der Erfolg von wissenschaftsgetriebenen Formaten wie Brainstorm des irischen öffentlich-rechtlichen Senders RTE oder des Magazins Katapult sind Belege dafür. Dumm für Kostenkiller, dass hintergründiges Berichten meist aufwändiger ist als das fixe Wegmelden nach Methode Copy and Paste. Aber die schnelle Nachricht gibt’s eben heute überall. Man könnte sagen: Junge Leute sind Journalismus-Gourmets.  

Siebtens: Journalismus muss leicht zugänglich und gut aufbereitet sein. Die Digitalisierung trainiert alle Generationen auf Bequemlichkeit, Amazon, PayPal, Spotify und Co. haben den Gold-Standard für Nutzerfreundlichkeit gesetzt. Die alte Welt, in der man noch Gebrauchsanleitungen las, sich Telefonnummern notierte und zum Kiosk an der Ecke ging, verschwindet. Für den Journalismus heißt das: Er muss dahin, wo die Nutzer sind und es ihnen leicht machen. Die oben erwähnte amerikanische Studie sagt: Verständnishürden und mangelndes Selbstbewusstsein im Umgang mit Medien seien die Hauptgründe, warum Menschen um Nachrichten einen Bogen machen. Im Zweifel schlägt die interaktive Infografik mit drei Bullet-Points den 200-Zeilen-Leitartikel. Das ist bitter für manche Autorinnen und Autoren. War Komplexität früher ein Ausweis von Qualität, muss sie heute gut begründet sein. Leider kaschiert sie allzu oft nur Dünkel oder schiere Bequemlichkeit.

Diese Kolumne erschien am 17. Mai 2021 bei Medieninsider, wo ich monatlich zu Medienthemen schreibe.