Empört, empörter, am empörtesten – Wider den Kommentar-Reflex

Journalist*innen sind leidenschaftlich, das gehört zur Berufsbeschreibung. Menschen, deren Job-Profil es zuweilen verlangt, in kürzester Zeit Meinungen zu entwickeln, aus denen in nicht wesentlich längerer Zeit Kommentare oder Leitartikel werden sollen, trainieren genau das gerne: zackig und auf den Punkt urteilen. Auch deshalb ist Twitter bei Journalist*innen so beliebt. Nicht nur, weil man sich dort besser als anderswo über Branchentrends, neue Erkenntnisse aus der Medienforschung, die Karriereschritte der Kolleg*innen und Job-Angebote informieren kann. Auch nicht nur, weil sich dort allerlei Berufsgruppen mit erhöhtem Ausdrucks- und Geltungsdrang treffen, sodass man vielerlei Stoff zur Berichterstattung findet. Sondern auch, weil es reizvoll ist, die Kunst des 280-Zeichen-Kommentars zu perfektionieren, der meist daherkommt wie ein Instant-Gericht, das man allein mit heißem Wasser zum Leben erweckt: dampfend, bunt, aber wenig gehaltvoll.

Manche solcher Tweets quellen im Umlauf der sozialen Netzwerke ähnlich auf wie eine Trocken-Mahlzeit aus der Tüte. Ähnlich schnell hat man sie satt. Aber man bekommt sie nicht mehr in die Tüte hinein.

Die Aufregung über die in der taz veröffentlichten Anti-Polizei-Kolumne
der Autor*in Hengameh Yaghoobifarah kann man getrost in die Kategorie Tütensuppe zählen. Es ist wenig vorstellbar, dass die Berichterstattung über diesen geschmacklich einigermaßen missglückten Satire-Versuch ohne Twitter ein solches Volumen bekommen hätte. Empört, empörter, am empörtesten – kaum ein Journalist, der nicht meinte, dazu etwas meinen zu müssen. Und die Politik war mit dabei. Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte sogar laut über eine Anzeige nachgedacht. Beim Deutschen Presserat gingen 382 Beschwerden ein.

Wochen später, die Branche arbeitete sich mittlerweile längst an anderen Themen ab, veröffentlichte der nun seine Entscheidung: Die Satire verstoße nicht gegen den Pressekodex, sie sei vom Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt. Es lohnt sich, die Begründung nachzulesen, denn anhand der Argumentation lässt sich manch anderer Konflikt bewerten. Im Groben geht sie so: Erstens verletze der Text nicht die Würde einzelner Personen, sondern richte sich pauschal gegen eine Berufsgruppe. Zweitens müsse sich die Polizei als Organ der Exekutive harte Kritik gefallen lassen. Drittens sei die Polizei eine gesellschaftlich anerkannte Berufsgruppe und verdiene deshalb keinen besonderen Schutz, anders als zum Beispiel ethnische und religiöse Minderheiten. Das Stück sei zwar ein „drastisches Gedankenspiel“, ließe aber Raum für Interpretationen. Die Meinungsfreiheit einer einzelnen Autor*in ist also schützenswerter, als es die Gefühle einer Gruppe sind, die in Deutschland in weiten Teilen der Bevölkerung vom Image „Freund und Helfer“ getragen wird.

Die Kolumne kann nun hoffentlich dort ruhen, wo sie hingehört hätte: auf den Friedhof der Stücke, die sich, bevor es Twitter gab, aus Mangel an Qualität, Originalität, Aussagekraft und Geschmack klanglos versendet hätten. Aber leider bietet sich das soziale Netzwerk als Tummelplatz für Besserwisser und Schneller-Merker genau dafür an, solche Stücke ans Licht zu zerren und, um im Bild zu bleiben, heißes Wasser darauf zu gießen. Das wäre nicht weiter problematisch, blieben all die findigen Kommentator*innen dort unter sich – man kann das ja ignorieren und sich wieder dem klugen Twitter-Stoff zuwenden (auch der Presserat hatte seine Begründung getwittert).

Nur hat das Ganze mindestens zwei Probleme: Erstens werden manche Dinge so unverhältnismäßig aufgeblasen, dass plötzlich ein Individuum im Shitstorm-Feuer steht, dessen Würde, psychische und womöglich auch physische Gesundheit dann tatsächlich in Gefahr ist. Wer sich mit dem Thema Mobbing im Netz beschäftigen möchte, dem sei Jon Ronsons Buch „So you have been publicly shamed“ ans Herz gelegt. Yaghoobifarah zum Beispiel bekam Morddrohungen. Und zweitens haben solche Empörungszyklen keinerlei Mehrwert für das Publikum, für das man den Journalismus doch eigentlich produziert. Abgesehen davon, dass eine gelegentliche Auseinandersetzung damit nicht schadet, was die Meinungsfreiheit in der Demokratie ihren Bürgern wert sein sollte.

Der größte Teil des Publikums ist nämlich klug genug, um solche Texte a) zu ignorieren, b) zu lesen und zu vergessen und c) seine Zeit für wichtigere Themen zu nutzen. Dazu gehört durchaus das Thema rechte Tendenzen in der Polizei, aber darüber möchten die meisten Bürger*innen lieber Fakten lesen als unbeholfene Gedanken-Spielereien. Nur werden wirklich wichtige Stoffe, aufschlussreiche Recherchen und mühevoll zusammengestellte Informationen nur zu häufig von Themen überlagert, die sich bei näherem Hinsehen als Meinungs-Eintopf aus der Tüte erweisen. Kein Wunder, dass nicht einmal ein Drittel (29 Prozent) der Leser*innen im Digital News Report 2019 der Aussage zustimmte, die Themen, die Medien aufgriffen, seien für sie relevant.

Das heißt nicht, dass man sich nicht empören darf. Aufreger-Themen regen zum Nachdenken an, beleben die Debatte am Familien- und Stammtisch, manche werden sogar zu Abitur-Aufgaben. Aber Aufmerksamkeit ist begrenzt. Guter Journalismus respektiert die Zeit seines Publikums. Man möchte sich schließlich öfter begegnen.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School am 10. #September 2020.

Mehr Mensch oder mehr Journalist? Es ist kompliziert, besonders in den sozialen Netzwerken

Für Evan Smith, Mitgründer des gemeinnützigen News-Portals Texas Tribune, schien die Sache klar zu sein. „Wir nehmen Unparteilichkeit ernst wie einen Herzinfarkt“, sagte er 2018 auf einer Lokaljournalismus-Tagung in Oxford. Die mehrfach preisgekrönte Publikation hat sich auf Politikjournalismus spezialisiert, und ein paar Regeln müssten da sein, fand Smith: Er und sein Team gehörten keinen Parteien an, gingen nicht wählen, stellten keine Wahlplakate in ihre Vorgärten, auch Autoaufkleber seien tabu.

Viele Bürger*innen würden vermutlich laut klatschen bei dieser starken Ansage. Aber gerade in diesen Tagen, in denen Rassismus auch innerhalb der Medienbranche das große Thema ist, zeigt sich: So einfach ist das mit der Unparteilichkeit nicht. In amerikanischen Medienhäusern mussten jüngst mehrere Redaktionsleiter ihre Ämter niederlegen oder ruhen lassen, weil ihre Belegschaften ihnen zu viel Neutralität zum Vorwurf gemacht haben. Die Redakteure, zum Beispiel der Chef des Meinungsressorts der New York Times, hatten Gastbeiträge oder Überschriften durchgehen lassen, von denen sich ihre Mitarbeiter persönlich angegriffen, ja bedroht gefühlt haben: als Menschen, nicht als Journalisten. Und in diesem aufgeheizten Klima machten die Medienhäuser gar nicht erst den Versuch, die kritisierten Beiträge als legitime Ausdrücke von Meinungsfreiheit zu verteidigen. Sie entschieden sich für den Schutz ihrer Belegschaften. Zurecht, denn die Freiheit des einen endet immer dort, wo die des anderen beginnt. Der Punkt, an dem sich beide berühren, ist Aushandlungssache. Und es ist an der Zeit, jahrzehntelang erduldetem Unrecht mehr Gewicht zu geben.

Nur weil man eine Haltung hat, ist man auch als Journalist*in noch keine Aktivist*in. Die brillante Kolumnistin der Washington Post, Margaret Sullivan, hat das kürzlich in einem Beitrag treffend beschrieben: Journalist*innen seien der Suche nach der Wahrheit verpflichtet und dem Streben nach einer besseren Gesellschaft. Die Schritte auf dem Weg dorthin gilt es zu verteidigen. Manche Konflikte zwingen Journalist*innen deshalb dazu, sich auf eine Seite zu stellen: immer dann, wenn es um den Schutz der Demokratie, der Menschenwürde oder anderer existenzieller Güter wie der öffentlichen Gesundheit oder der Sicherheit und Ordnung gilt. Aber welche Güter sind existenziell? Hier wird es kompliziert. Was für die eine Minimum-Standard ist, betrachtet der andere als verhandelbar.

Schon im Redaktionsalltag sind die Grenzen fließend, wenn es um die Vereinbarkeit von Berichterstattung und persönlichen Werten geht. Aber besonders schwierig wird es, wenn sich Journalist*innen in den sozialen Netzwerken bewegen. Dort ist jeder zuerst Individuum, sieht sich aber mit Anforderungen von Redaktionen konfrontiert, die schlicht nicht zu erfüllen sind. Einerseits sollen Reporter*innen und Redakteur*innen mit möglichst hoher Präsenz den Ruhm ihres Hauses mehren, der Schlüssel dazu ist Reichweite. Und wer etwas vom Geschäft versteht weiß: Die bekommt man nicht mit dem pflichtschuldigen Klick auf das Retweet-Symbol. Für Medienhäuser ist es ein Gewinn, wenn sich ihre Stars als Neben-Marken profilieren und auf diese Weise Publikum binden. Aber zu viel Chuzpe ist den meisten Chefredakteur*innen auch nicht recht. Die Kolleg*innen mögen sich doch bitte allzu drastische Meinungsäußerungen oder rüde Sprache verkneifen, heißt es dann. Man trete schließlich doch immer im Namen des Hauses auf, allen „views are my own“-Bemerkungen in der Twitter-Bio zum Trotz. Es haben schon einige Journalist*innen ihren Job verloren, weil ihnen – womöglich zu fortgeschrittener Stunde – ein paar Dutzend Zeichen im Ton verrutscht waren.

Die New York Times hat kürzlich ein internes Dokument des Innenpolitik-Ressorts beim Konkurrenten Washington Post gezogen, das es in sich hat. Auf zwölf eng beschriebenen Seiten, die in vier Empfehlungen münden, hat eine Kommission darin zusammengetragen, was die Belegschaft von den Regeln und Praktiken im Umgang mit sozialen Netzwerken hält. Nicht viel, sei hier zusammengefasst. Beklagt werden die beschriebenen widersprüchlichen Anforderungen, Intransparenz, eine fehlende Strategie aber auch einen Mangel an Fairness beim Durchsetzen von Regeln. „Wer ein Star ist, kann sich alles erlauben“, heißt es in einem Kommentar. Andere Kolleg*innen hingegen würden abgemahnt, wobei sich Redaktionsleiter dabei zu sehr dem Herdentrieb hingäben. Gleichzeitig unternehme die Chefredaktion zu wenig, um Mitarbeiter*innen zu verteidigen oder zu schützen, wenn sie mit Hasskommentaren attackiert werden. Kulturell tue sich ein Graben zwischen den Generationen auf. Vor allem Frauen und Minderheiten würden häufig im Regen stehengelassen. Lehne man aus all diesen Gründen ein Engagement in den sozialen Netzwerken ganz ab, schade das womöglich der eigenen Karriere, beklagten die Reporter*innen. Schließlich sei reges Posten ein Weg, intern und extern auf sich aufmerksam zu machen. Gerade Twitter ist schließlich ein Journalisten-Biotop.

Ein solches oder ähnliches Papier ließe sich vermutlich in fast jeder Redaktion erstellen. Denn Chefredaktionen belassen es häufig bei dem Hinweis, man möge eben gesunden Menschenverstand walten lassen und sich so verhalten wie auch sonst im öffentlichen Raum. Nur sind die Netzwerke eben ein Raum, der nach den Regeln der Plattform-Konzerne bewirtschaftet wird, die Aufmerksamkeit verstärken. Fazit: Die Kolleginnen und Kollegen werden von ihren Häusern als Journalisten gefordert, als Menschen aber allein gelassen.

Was also tun? Um das vorwegzunehmen: Ein Rezept, das alle Seiten zufriedenstellt, gibt es nicht. Wichtig sind aber ein paar Dinge. Dazu gehören eine klare Strategie, was die Marke mit Hilfe sozialer Netzwerke erreichen will. Erwartungen an die Mitarbeiter sollten deutlich formuliert werden, es muss klar sein, was vertretbar ist und was rote Linien überschreitet. So wie jede große Medienmarke einen Style-Guide hat, sollte es auch Anleitungen für das Navigieren von Twitter, Facebook und Co. geben. Das hilft dabei, Regeln transparent und fair durchzusetzen.

Manch einer mag solche Vorgaben als Einschränkung persönlicher Freiheiten betrachten. Aber die sollte akzeptabel sein angesichts der Privilegien, die der Beruf mit sich bringt. Journalismus ist nun einmal eine Dienstleistung am Bürger, ihr Kern ist Glaubwürdigkeit, gezahlt wird mit Vertrauen. Ausbrüche von Häme, Wut und Sarkasmus dienen in der Regel niemandem, sie fachen nur jene Hasstiraden an, vor denen andere dann geschützt werden müssen. Was zum wichtigsten Punkt führt: Wer seine Mitarbeiter*innen dazu ermutigt, sich auf dem Tummelplatz der sozialen Netzwerke zu behaupten, muss ihnen auch beistehen, wenn sie sich dort Blessuren holen.

Dieser Text erschien zuerst am 12. Juni 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School.