Wie der Lokaljournalismus einen Weg in die Zukunft finden kann

Man muss nicht mit dem Finger auf die Washington Post zeigen, um festzustellen, dass im Journalismus nicht alles, was der Demokratie dient, gut fürs Geschäft ist – und umgekehrt. Jenseits des Atlantiks hat Amazon Gründer und WaPo-Besitzer Jeff Bezos jüngst die Redaktion daran gehindert, eine Wahlempfehlung für Kamala Harris abzugeben – er sah offenbar lukrative Staatsaufträge für Amazon in Gefahr, sollte Donald Trump die Wahl gewinnen. Dieser hatte Bezos, wie vom ehemaligen Chefredakteur Marty Baron beschrieben, schon in seiner ersten Amtszeit böse zugesetzt.

Aber auch diesseits des Ozeans ist die Spannung zwischen medialen Geschäftsinteressen und demokratischer Verantwortung beträchtlich. Zum einen verkämpfen sich die Verleger in einem Konflikt mit den öffentlich-rechtlichen Sendern, der dazu führen könnte, dass den erfolgreichsten deutschen Nachrichtenangeboten auf Social Media – jenen der Tagesschau – die Reichweite abgedreht wird. Die Verleger argumentieren, die Konkurrenz der Öffentlich-Rechtlichen koste sie Abos. (Man wartet nun darauf, welche packenden Angebote die Regionalzeitungsverleger für TikTok und Insta in den Schubladen haben, um den politischen Rechtsaußen-Bewegungen etwas entgegenzusetzen, die sich dort fröhlich tummeln.) Außerdem schließt die Süddeutsche Zeitung ihre Regionalbüros samt den dazugehörigen Ausgaben, was man durchaus als Schlag gegen die wichtige Verankerung der Demokratie im Lokalen werten kann.

Die SZ-Strategen werden das durchgerechnet haben. Fakt ist, dass man Lokaljournalismus nur sehr begrenzt skalieren kann, im Gegensatz zu etwas wie „15 Erkenntnisse zu Erkältungskrankheiten, die jeder kennen sollte“, (wobei so etwas künftig jede KI sekundenschnell zusammentragen kann). Hinzu kommt, dass die begehrten, besser gebildeten nachwachsenden Zielgruppen eine deutlich geringere Bindung an Orte haben als noch frühere Generationen. Lokaljournalismus hat es also bei den Jungen schwerer – wenngleich er auch dort immer noch die Interessen toppt (siehe Grafik). Auf der Soll-Seite hinzu kommt, dass genau jener intensiv recherchierte, investigative Lokaljournalismus, der wirklich gebraucht wird, teuer zu produzieren ist.  

Fakt ist aber auch, dass lokale Medien in Studien zum Thema Vertrauen in den Journalismusregelmäßig Spitzenwerte erzielen. Nur noch die öffentlich-rechtlichen Anbieter schneiden oft besser ab. Und dass Lokaljournalismus einen wichtigen Beitrag zu einer funktionierenden Demokratie leistet, ist kaum umstritten: Mehr Menschen gehen zur Wahl und kandidieren für politische Ämter, wenn eben dieses politische Leben auch irgendwo öffentlich verhandelt wird. Menschen engagieren sich mehr, wenn sie wissen, wo sie das tun können. Gemeindefinanzen werden besser gemanagt, wenn die Verantwortlichen fürchten müssen, dass ihnen die Presse auf die Schliche kommt. All dies ist von Studien belegt.

Es ist kaum bestritten, dass es dem demokratischen Dialog nicht guttut, wenn Journalismus nur noch aus den urbanen Zentren gemacht wird und die Belange der Menschen in ländlichen Regionen keine Rolle mehr spielen. Auch große öffentlich-rechtliche Anbieter wie die BBC und das Schwedische Fernsehen SVT haben das erkannt und ihre Aktivitäten in den Regionen fernab von London und Stockholm in den vergangenen Jahren wieder intensiviert. Wenn es um das Überleben des Journalismus als solchen geht, steht die Sorge um den Lokaljournalismus aus all diesen Gründen häufig im Fokus potenzieller Geldgeber, weshalb es international eine ganze Reihe von entsprechenden Förderprogrammen gibt – vor allem in den USA.

Die amerikanische Medienlandschaft unterscheidet sich zwar deutlich von der hiesigen. Dennoch lohnt ein Blick über den Atlantik, wenn man sehen möchte, welchen Weg der Lokaljournalismus nehmen kann. Innerhalb der vergangenen 20 Jahre ist dort laut dem jüngst veröffentlichten Bericht des State of Local News Projects ein Drittel aller Zeitungen verschwunden – in Summe mehr als 3200. Übrig geblieben seien 5600, von denen 80 Prozent nur noch wöchentlich erschienen. Der Report weist 208 Landkreise als Nachrichtenwüsten aus, in denen keinen Zugang zu lokalem Journalismus mehr gibt. Rund 55 Millionen Amerikaner hätten somit gar keine oder nur eine lokale Quelle, aus der sie sich mit unabhängigen Informationen versorgen könnten. Übrigens ist laut dem amerikanischen Büro of Labor Statistics die Zahl der Arbeitsplätze in absoluten Zahlen in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten in keiner Branche so drastisch geschrumpft wie im Journalismus.

All dies heißt aber nicht, dass die Lage für den Lokaljournalismus hoffnungslos ist. Es demonstriert vor allem den nicht aufzuhaltenden Niedergang von Print-Produkten, an denen viele Verlage aus (verständlichen) kommerziellen Gründen viel zu lange festgehalten haben. Dies hatte nur den unschönen Nebeneffekt, dass digitale Innovationen im Lokalen gar nicht oder nur halbherzig vorangetrieben wurden – etwas, das sich nun rächt. Denn auch im Digitalen gilt es, Nutzende zu loyalen, möglichst zahlenden Kunden zu machen. Und Kunden zahlen bekanntermaßen nicht für die schnell zusammengezimmerte Ein-Quellen-Geschichte, die zur Not die Aufschlagseite im Print-Lokalteil füllt. Sie erwarten innovative, digitale Produkte.

Und auch da lohnt sich der Blick in die USA. Ganz nach Lehrbuch ist es dort bislang nicht etwa den Platzhirschen sondern vor allem Newcomern gelungen, solche neuen Angebote zu machen. Das US-Portal Axios ist seit 2021 im Lokaljournalismus aktiv und bedient mittlerweile 30 lokale Märkte mit Newslettern. Die Gründer Jim VandeHei und Mike Allen und werden im November für ihre Verdienste um den Journalismus mit dem renommierten Fourth Estate Award des National Press Clubs geehrt. Der State of Local News Report listet etliche „Local News Bright Spots“, also innovative lokale Medien vom WhatsApp-Angebot Conecta Arizona, das sich an die spanischsprachige Community richtet, bis hin zur Traditionszeitung Salt Lake Tribune, die sich als gemeinnütziges digital first Medium neu erfunden hat. Allerdings konzentrieren sich fast alle diese Angebote auf urbane Regionen, in denen zumindest eine gewisse Skalierung möglich ist, in ausgedünnten Landkreisen bleibt die Lage weiterhin ernst.

Aber auch in Europa und Deutschland zeigt sich, dass diejenigen, die sich reinhängen, auch mit digitalen Produkten Erfolg haben können. In Wan-Ifras  Table Stakes Europe Projekt haben Dutzende Teams unter Beweis gestellt, dass man im traditionellen Lokaljournalismus wachsen kann, wenn man sich intensiv mit den Zielgruppen in der Region und deren Bedürfnissen beschäftigt.[1) In den verschiedenen Reports finden sich etliche Fallstudien erfolgreicher digitaler Transformation. Wichtigste Erkenntnis: jede Region bietet andere Chancen. In manch einem Umfeld wollen die Leser alles über einen großen Arbeitgeber wissen, wie zum Beispiel über Volkswagen bei der Freien Presse Chemnitz. Die Nutzer des Hamburger Abendblatts hingegen verschlingen alles zu Kulturangeboten, was bei anderen Regionalanbietern gar nicht funktioniert. Was fast immer läuft: gut recherchierte Angebote zu erfolgreichen Fußball-Bundesligisten und zum Thema Essen und Trinken in der Region. 

Aber es geht nicht nur um Zielgruppen und Themen. Wichtig ist es auch, auf der ganzen Klaviatur der Angebote zu spielen, von der Push Mitteilung über den Newsletter und den Live-Stream von lokalen Events bis hin zur eigenen öffentlichen Veranstaltung, der bei der die Leser direkt in den Kontakt zu den Journalisten kommen können – eine wahrhaft vertrauensbildende Maßnahme. Viele Verlage, vor allem jene in Skandinavien, setzen zunehmend auf die Möglichkeiten von KI, Lokalseiten automatisiert zu erstellen und mit hyperlokalen Informationen zu personalisieren, zum Beispiel zu den nachgefragten Lokalthemen Wetter, Verkehrslage, Lokalsport und Immobilienpreise. Auf diesem Gebiet wird sich in den kommenden Jahren viel tun. 

Idealerweise baut man seine digitalen Angebote übrigens auf, bevor man Lokalausgaben dicht macht. Denn eins weiß jeder Marketing-Manager: Einen neuen Kunden zu gewinnen ist um ein Vielfaches teurer, als einen bestehenden zu halten und an ein neues Produkt zu gewöhnen.  

[1] Alexandra Borchardt hat im Table Stakes Europe Project in den vergangenen fünf Jahren 26 Verlage gecoacht.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 30. Oktober 2024. Aktuelle Kolumnen von Alexandra lesen Sie dort mit einem Abo. 

Aufpasser von nebenan: Der Lokaljournalismus braucht eine digitale Zukunft

Die Hackordnung im Journalismus war über die längste Zeit klar: Man begann vielleicht im Lokalen, weil sich da schnell viel recherchieren, aufdecken, aufschreiben und gestalten ließ. Aber wer in den Augen der Kolleg_innen etwas gelten wollte, musste irgendwann den Sprung in die nationale Berichterstattung schaffen – ob bei Zeitungshäusern, im Radio oder Fernsehen spielte keine Rolle. Die Metriken, mit denen Prestige und Gehälter stiegen, hießen Sichtbarkeit oder Reichweite. Das hat sich nicht grundlegend geändert, was die Binnensicht angeht. Aber mit Blick auf den Journalismus als vierte Gewalt und Säule der Demokratie sieht die Sache ganz anders aus. Da heißt die wichtigste Metrik Vertrauen. Und was das angeht, schneidet der Lokaljournalismus in so gut wie allen Umfragen am besten ab.

Das war auch schon vor der Corona-Krise so. Ob das die Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen ist, amerikanische Umfragen der Marktforscher von Pew Research oder der Digital News Reportdes Reuters Institutes in Oxford, Bürger_innen trauen ihren lokalen Zeitungen und Fernsehstationen mehr als den überregionalen Medieninstitutionen. Nur öffentlich-rechtlichen Sendern, die im Lokalen meist auch recht präsent sind, geben sie bessere Noten. Und was den Wert für die Demokratie angeht, ist der Zusammenhang zwischen gutem Lokaljournalismus und bürgerlichem Engagement eindeutig. Bürger gehen häufiger wählen, kandidieren öfter für politische Ämter, Gemeindefinanzen sind gesünder und die Korruption ist dort niedriger, wo Journalisten den Institutionen vor Ort in die Bücher schauen.[1]

Dass sich so etwas überhaupt belegen lässt, hat einen traurigen Grund: Vor allem in den USA, wo der Kapitalismus ein Stück gnadenloser arbeitet als hierzulande, gibt es bereits weit über tausend Orte und sogar Kleinstädte, in denen keine Lokalredaktionen mehr an der Aufklärung der Bürger_innen arbeiten. Medienwissenschaftler dokumentieren sie als News Deserts. Und man kann die Daten solcher Nachrichtenwüsten gut mit denen jener Orte vergleichen, in denen Journalist_innen den Mächtigen noch auf die Finger schauen und Debatten von örtlichem Interesse initiieren und abbilden.

Wer wissen möchte, was dem Lokaljournalismus womöglich auch hierzulande bevorsteht, dem sei die Lektüre von Margaret Sullivans neuem Buch „Ghosting the News“ ans Herz gelegt.[2] Sullivan ist Medienkorrespondentin der Washington Post, davor hatte sie als Public Editor die Interessen der Leser_innen der New York Times
vertreten. Und davor wirkte sie 13 Jahre lang als Chefredakteurin der Buffalo News, der größten Regionalzeitung im US-Bundesstaat New York außerhalb von New York City. Heute sei die Redaktion dort nur noch halb so groß wie zu ihrer Zeit, schreibt sie, und damit schneide die Buffalo News sogar recht gut ab. Unter dem Druck von Investoren hätten die Redaktionen amerikanischer Zeitungen zwischen 2008 und 2017 schon 45 Prozent der Stellen gestrichen, danach sei der Kahlschlag noch massiver vorangetrieben worden. Zwischen 2004 und 2015 seien 1800 amerikanische Zeitungen komplett vom Markt verschwunden. Und in diesem Jahr hat sogar Groß-Investor Warren Buffett aufgegeben. Lokalzeitungen würden verschwinden, hatte er 2019 in einem Interview prophezeit.

Man merkt Sullivan an, wie sehr sie darum ringt, Perspektiven für den Lokaljournalismus zu entwickeln, und wie wenige Möglichkeiten sie dennoch ausfindig macht. Denn solche Projekte wie das von Alice Dreger in East Lansing im Staat Michigan hören sich ehrenwert, aber nicht nach gesundem Geschäftsmodell an: Dreger hat ein Team von 140 Leuten zusammengestellt, die sich im Nebenberuf mit dem Wohlergehen der Region beschäftigen. Es sind vor allem Studierende, Rentner und andere Freiwillige, die das Zusammentragen, was in der Gemeinde wichtig ist – für 50 Dollar Lohn pro Artikel. Das ist Journalismus als Passion, nicht als Beruf.

Dabei ist Lokaljournalismus für die Bürger wichtiger denn je. Überregionale News finden sie schließlich im Internet überall, wer des Englischen mächtig ist, kann sich über verschiedenste Quellen weltweit auf dem Laufenden halten. Die Branchengrößen wie die New York Times, die Washington Post oder der Guardian greifen das globale Bildungs-Publikum ab. Aber wie das Verkehrskonzept für die eigene Region ausschaut, was hinter den Türen des Rathauses geschieht, und was den Ort sonst noch bewegt, darauf hat Google selten Antworten.

Lokalzeitungen haben sie leider auch nicht immer. Man sollte hier nichts verklären, Lokaljournalismus war nicht immer und überall investigativ und unabhängig. So manch ein Blatt vermischte redaktionelle Inhalte und Werbung, berichtete allzu wohlwollend über die örtliche Prominenz, schrieb die Spalten mit nutzlosem oder unverständlichen Stoff aus dem Gemeinderat voll, nur weil sich dort ein Reporter den Abend um die Ohren geschlagen hatte und füllte Seiten über Seiten mit mittelprächtigen Fotos, weil die Budgets für Recherchen nicht reichten.

Die Digitalisierung kann helfen. Nicht nur, weil das Publizieren technisch einfacher und günstiger wird. Die Denke ist eine neue. Wer möchte, dass Abonnenten für ein Produkt bezahlen, muss sich mehr als früher mit ihren Interessen und Bedürfnissen beschäftigen, Stichwort „Audience first“. Nur wer sein Publikum ernst nimmt, erweist ihm eine echte Dienstleistung, auf die er oder sie nicht verzichten möchte – und für die er/sie dann auch zu zahlen bereit ist. Das können ausführliche Recherchen sein, aber auch datenjournalistische Angebote, die sich mit künstlicher Intelligenz künftig billiger und schneller erstellen lassen werden. Über Geotags haben lokale Anzeigenkunden einen zielgenaueren Zugang zu ihrem Publikum. Und Redaktionen können das Wissen ihrer Leser_innen über digitale Kanäle besser anzapfen und Kommunikation initiieren.

Das alles löst das Finanzierungsproblem noch nicht gänzlich. In den meisten Fällen werden potente Geldgeber nötig sein, denen das Schicksal ihrer Gemeinde am Herzen liegt. Aber auch auf der Suche nach Investoren gilt: Ein starkes journalistisches Produkt ist immer ein gutes Argument.

[1] Siehe Alexandra Borchardt, „Mehr Wahrheit wagen – Warum die Demokratie einen starken Journalismus braucht“, Dudenverlag 2020.
[2] Margaret Sullivan„Ghosting the News – Local Journalism and the Crisis of American Democracy“, Columbia University Press 2020

Dieser Text erschien am 7. August im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School.