Natürlich, ohne ein paar Nerds geht bei der digitalen Transformation nichts voran. Sie werden dringend gebraucht, die Kolleginnen und Kollegen, die gerne mit Software und Daten arbeiten, neue Tools und Plattformen lieben und sofort „hier!“ rufen, wenn Tech-Konzerne wieder mal ein Produkt gelauncht haben. Taugt das etwas, um den Journalismus besser zu machen, oder ist es nur eine nette Spielerei, ein Versprechen, das allein fremde Kassen füllt? So Nerd, so gut. Das Problem beginnt, wenn Technik der einzige Fokus der Veränderung bleibt. Führungskräfte delegieren dann die Verantwortung an entsprechende Teams, der Rest der Belegschaft fühlt sich nicht angesprochen oder traut sich vor lauter Respekt gar nicht mehr heran. Dabei ist Digitalisierung viel mehr. In ihrem Kern steht ein Kulturwandel hin zu einer vernetzten Welt. Die ist idealerweise inklusiver und bietet mehr Teilhabe als die analoge Gesellschaft, in der Kommunikation und Lernen oft nur als Einbahnstraßen funktionierten. Und ein Grundprinzip dieser neuen Welt ist Vielfalt.
Doch genau damit tun sich Medienhäuser in aller Welt schwer. In der Hautfarbe zu weiß, jedenfalls in den entsprechenden Regionen, in der Führung zu männlich, vor allem bei den prestigeträchtigen Marken zu akademisiert – Redaktionen bilden mitnichten die Gesellschaften ab, denen sie eigentlich dienen sollen. Chefredakteur_innen wissen das. Die Süddeutsche Zeitung hat in ihrer Reihe digitale Projekte jüngst sogar eine ganze Reihe von Gastbeiträgen zum Thema aufgelegt, Titel: „Was sich ändern muss“, gemeint ist der Journalismus. Aber bislang haben die Medienhäuser in der Regel wenig dafür getan, wie eine Studie des Reuters Instituts und der Universität Mainz vom Sommer 2019 belegt, die Deutschland, Großbritannien und Schweden analysiert hatte. Die Neuen Deutschen Medienmacher*innen stellten Ähnliches in diesem Jahr in ihrer Untersuchung zu leitenden Journalist_innen mit Migrationshintergrund fest. „Viel Wille, kein Weg“, lautete der Titel.
In den USA, wo man das Thema Diversität etwas beherzter angeht, hat sich nun der Medienkonzern Gannett zum Wandel verpflichtet. Die Muttergesellschaft der Tageszeitung USA Today und von mehr als 260 Lokalzeitungen hat sich zum Ziel gesetzt, die Belegschaft bis 2025 genauso vielfältig zu machen, wie das Land aussieht. „Gannett verpflichtet sich, eine Kultur zu schaffen, in der sich jeder Mitarbeiter sicher, akzeptiert und in seiner gesamten Identität geschätzt fühlt“, sagte Konzern-Chefin Maribel Perez Wadsworth. Es geht auch um eine andere Berichterstattung: über Themen, die Hautfarbe, ethnische Herkunft und soziale Gerechtigkeit berühren. Noch in diesem Jahr sollen dafür konzernweit 60 Stellen geschaffen werden, wie das Nieman Lab der Harvard University berichtete. Mit der Bekanntgabe des Ziels veröffentlichten die Gannett-Publikationen jeweils Statistiken darüber, wie ihre Redaktionen zusammengesetzt sind – ein wichtiger Schritt.
Es ist nicht nur die Black-Lives-Matter-Bewegung, die in Sachen Diversität einiges ins Rollen gebracht hat. Natürlich ist Vielfalt „the right thing“, das moralisch Gebotene, aber die Medienkrise verschärft sich, und da entdeckt so manch einer auch die ökonomische Logik. Auf der Suche nach Einnahmen schauen Redaktionen auf ihr Publikum und es dämmert ihnen: Da ginge noch mehr. Beim Umbau auf einen digitalen Journalismus nach dem Konzept „Audience first!“ wird vielen Häusern bewusst, dass ihr Journalismus ganze Gruppen ignoriert hat, auch solche, die durchaus bereit wären, dafür zu zahlen. Nur hat man sich um sie bislang nicht gekümmert. Nun nähert man sich an. Und dabei lernen viele: „Audience first“ ist undenkbar, ohne dass Vertreter_innen dieser Gruppen auch in irgendeiner Weise in den Redaktionen repräsentiert sind, idealerweise auch in der Führung. Es gilt, den richtigen Ton zu treffen, relevante Inhalte zu finden, die passenden Plattformen zu bespielen. Im Zentrum des Ganzen stehen nicht länger Journalistinnen und Journalisten mit ihrem Bauchgefühl und dem, was sie sich von ihren Vorgängerinnen und Vorgängern abgeguckt haben, sondern das Publikum mit seinen Bedürfnissen und das, was man anhand von Daten über das Publikum weiß. Digitale Transformation im Journalismus bedeutet eben nicht ein Weiter wie bisher, nur mit neuen Tools. Es geht darum, Journalismus neu zu denken, nämlich vom Nutzer her.
Ein Hexenwerk ist das Ganze nicht, es macht aber Arbeit. Zahlen erheben, Ziele setzen und nachhalten, Einstellungsverfahren professionalisieren, Diskussionskultur verändern – manches rüttelt an den Grundfesten, dem Selbstverständnis und muss geübt werden. Die Empfehlungen der Autorin sind nachzulesen in: „Getting real about diversity and talent: ten recommendations“, einem im Januar 2020 veröffentlichten Report für die European Federation of Journalists. Wenn in Redaktionen die Erkenntnis einsickert, dass digitale Transformation und Vielfalt zusammengehören wie Bericht und Kommentar, dürfte beides etwas schneller vorangehen. „Das Richtige“ ist es noch dazu.
Wie viel Meinung verträgt der Journalismus?
Journalisten haben Privilegien, die anderen Bürgern in dem Umfang nicht zustehen. Umso stärker stehen sie in der Pflicht. Nur wer gut und unabhängig informiert ist, kann als Bürger frei entscheiden.
So viel Empörung hat Journalismus schon lange nicht mehr verursacht. Erst trat Anfang Juni der Leiter des Meinungsressorts der New York Times zurück. Er hatte den Gastbeitrag eines republikanischen Senators durchgehen lassen, der in den Augen vieler Mitarbeiter zu Gewalt gegen Protestierende der Black Lives Matter Bewegung aufgerufen hatte. Weltweit wurde daraufhin durchaus auch außerhalb der Medienbranche darüber debattiert, ob bei dem publizistischen Flaggschiff nun der Meinungspluralismus durch die Intoleranz der „Political Correctness“ abgelöst wurde, oder ob es legitime Interessen der Belegschaft zu verteidigen galt. In Deutschland schlug kurz darauf eine Kolumne in der taz Wellen, die bis ins Bundesinnenministerium und letztlich ins Kanzleramt schwappten. Worum es ging, dürfte kaum jemandem entgangen sein: Die Autorin Hengameh Yaghoobifarah hatte anlässlich der Debatte um Polizeigewalt geschrieben, Polizisten seien für nichts tauglich als für die Müllkippe. Seitdem tobt selbst in der taz-Redaktion ein Streit darüber, ob das Stück legitimer Journalismus war. Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte sogar laut über eine Strafanzeige nachgedacht, Pressefreiheit hin oder her. Und dann folgte im Juli auch noch der von zahlreichen prominenten Autoren unterzeichnete offene Brief in Harper’s, der sich wortgewaltig gegen die vermeintlich vorherrschende „Cancel Culture“ aussprach, also in etwa eine Kultur der gutgemeinten Zensur.
Glaubt man dem jüngst veröffentlichen Digital News Report des Reuters Institutes in Oxford, der weltweit größten fortlaufenden Studie zum digitalen Medienkonsum, wünscht sich die Mehrheit der Befragten eine zumindest um Objektivität bemühte Berichterstattung. In Deutschland gaben dies sogar 80 Prozent der Teilnehmenden zu Protokoll. Entsprechend gering ist hierzulande der Anteil derjenigen, die in den Medien ihre eigenen Meinungen bestätigt finden oder mit anderen Perspektiven aus der Reserve gelockt werden wollen. Der Slogan „Fakten, Fakten, Fakten“ kommt einem in den Sinn, mit dem der Focus einst gegen den Spiegel antreten wollte. In Ländern mit starken öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten sind diese Vorlieben übrigens ähnlich verteilt, wohingegen in stärker privatwirtschaftlich geprägten Medien-Landschaften Meinungspluralismus stärker gefragt ist.
Leserinnen und Leser wünschen sich zudem immer wieder, dass Kommentare klar als solche gekennzeichnet werden. Das ist besonders wichtig in den sozialen Netzwerken, wo Meinungsstücke ohne Bindung an eine spezielle Seite im Nachrichtenfluss auftauchen und das dazugehörige Faktenstück eher selten zusätzlich serviert wird. „Journalisten wissen, das Nachrichten und Kommentare getrennt sind, aber Leser können das oft nicht auseinanderhalten“, schreibt der Journalismus-Professor Kevin Lerner in einem vom Nieman Lab der Harvard University veröffentlichten Beitrag. Dabei sind in der angelsächsischen Tradition die Rollen von Reportern und Kommentatoren sogar strikt getrennt, wohingegen Journalisten in Deutschland sehr oft beides tun: berichten und kommentieren. Das schafft eher noch mehr Verwirrung.
Es spricht also einiges für das Modell „Fels in der Brandung“: Qualitätsjournalismus sollte sich gerade dadurch auszeichnen, dass er anhand von Fakten und Daten Orientierung bietet, Situationen und Aktivitäten genau beschreibt und sich damit zurückhält, alles sofort zu bewerten. Damit dient er einem Publikum, das zunehmend verunsichert ist und Orientierung vermisst inmitten der Meinungen von Betroffenen, Experten und derjenigen, die sich für Experten halten. So viel Pluralismus war schließlich nie. Dafür spricht auch, dass das Vertrauen in die Medien laut Digital News Report weiter gesunken ist. Nur noch 38 Prozent der Befragten in den untersuchten 40 Ländern und Märkten vertrauen dem Journalismus generell, das sind vier Prozentpunkte weniger als im vergangenen Jahr. Selbst den Marken, die er oder sie selbst regelmäßig nutzt, vertraut nicht einmal jeder Zweite. Aufklärung durch Fakten klingt da nach einer guten Idee.
Bei näherem Hinschauen ist die Sache komplizierter. Zunächst einmal hat das, was Leserinnen und Leser über ihre Bedürfnisse sagen, nicht unbedingt etwas mit dem zu tun, was sie tatsächlich lesen. Sie mögen sich Neutralität wünschen, aber sie klicken dann doch viel lieber auf den pointierten Kommentar. Redaktionen wissen anhand von Daten, dass sie damit eher Reichweite erzielen als mit so manch einem faktengetränkten Stück. Das gelingt vor allem mit Texten, an denen sich die Gemüter erhitzen. Und Reichweite ist nicht nur gut für Anzeigenkunden, sondern auch willkommenes Marketing in einer Zeit, in der viele Medienhäuser um ihr wirtschaftliches Überleben kämpfen. Zumal Kommentare deutlich billiger zu produzieren sind als aufwändige Recherchen. Man braucht dazu lediglich Mitarbeiter mit Meinung und Schreibgerät, los geht’s. Die Algorithmen der Plattform-Konzerne tun ihr übriges, indem sie Stoffe nach oben spülen, an denen sich viele Menschen reiben.
Ein weiterer Grund ist komplexer. Generationen von Journalisten haben das Credo der Objektivität hochgehalten, noch heute zitiert manch einer von ihnen das Bonmot des ehemaligen Tagesthemen Moderators Hanns Joachim Friedrich, dass sich ein Journalist niemals mit einer Sache gemein machen solle, nicht einmal mit einer guten. Natürlich machten sich Journalisten schon damals mit allerlei Sachen gemein. Eine der Kernaufgaben des Journalismus ist es ja, denen eine Stimme zu geben, die sonst niemand hören würde. Aber indem man andere sprechen ließ, trat man als Komponist des Stücks scheinbar in den Hintergrund – auch wenn man genau das war: die Schöpferin, die einem Text Struktur, Klang und Emotion verlieh und ihn auf diese Weise sehr subjektiv prägte. Jüngere Journalisten finden die Debatte um Objektivität deshalb verlogen. Jede und jeder bringe ohnehin seine eigene Perspektive mit, argumentieren sie, und das sei auch gut so. Ein Generationenkonflikt schwelt.
In dem Argument steckt Wahrheit. Schwierig wird es aber dann, wenn mit der Begründung von Vielfalt jedes journalistische Produkt eine Daseinsberechtigung erhält – eine missratenen Kolumne ebenso wie ein Gewalt sanktionierenden Gastbeitrag. Die Pressefreiheit ist ein von der Verfassung geschütztes Gut. Aber Freiheitsrechte gehen immer mit einer besonderen Verantwortung einher. Die Freiheit des einen hört immer dort auf, wo die des anderen beginnt. Die Grenzen müssen demokratisch ausgehandelt werden. Respekt, Anstand und Rücksichtnahme sind Bausteine der Freiheit. Je weniger davon vorhanden ist, umso mehr Regeln werden gebraucht.
Journalisten haben Privilegien, die anderen Bürgern in dem Umfang nicht zustehen. Umso stärker stehen sie in der Pflicht. Anders als diejenigen, die in den sozialen Netzwerken einfach mal flapsig vor sich hin mutmaßen und meinen, gilt für Reporterinnen und Kommentatoren der Pressekodex. Und ein generelles Bewusstsein dafür, was man mit der Macht, die einem verliehen ist, anrichten kann, sollte bei der Berufswahl zur Grundausstattung gehören. Ebenso wie es in Redaktionen eine Sorgfaltspflicht gibt, die möglichen Wirkungen von Reichweite vor einer Veröffentlichung abzuschätzen. Wird diese Sorgfalt nicht angewandt, schadet das nicht nur den Redakteurinnen und Reportern, die ihre Verantwortung ernst nehmen, sondern dem Journalismus als Ganzem. Und wer das Ansehen des Journalismus beschädigt, schränkt die Freiheitsrechte der Gesellschaft ein. Denn nur wer gut und unabhängig informiert ist, kann als Bürger frei entscheiden.
Diese Kolumne erschien am 4. August 2020 bei Zentrum Liberale Moderne.