Das Machen macht’s – Warum Redaktionen das Ausprobieren üben müssen

Die New York Times (NYT) ist so etwas wie der Goldstandard der Branche. Feuerwerk der investigativen Recherche, globale Marken-Zugkraft, Kompetenz auf allen Kanälen, Sehnsuchtsort für Journalist_innen – und auch die Zahlen stimmen. 2019 verkaufte die NYT 6,5 Millionen Abonnements, davon 5,7 Millionen für digitale Produkte, mit denen allein fuhr sie Erlöse von 450 Millionen Dollar ein. Die Redaktion ist mit 1.700 Mitarbeiter_innen so groß wie nie zuvor. Kein Wunder, dass der demnächst scheidende CEO und Brite Mark Thompson sich nicht mit britischem Understatement aufhält, wenn er über seine achtjährige Amtszeit reflektiert, wie kürzlich geschehen in einem Interview mit der Unternehmensberatung McKinsey.

Nun möchte jede Geschäftsführerin, jeder Chefredakteur, dass ihr oder sein Medienhaus mal eine Art Times wird. Und jede und jeder weiß, dass dies ziemlich ausgeschlossen ist. Aber aus dem Interview können alle etwas mitnehmen, besonders das Eine: Dass man immer erst hinterher schlauer ist. Aufs Ausprobieren kommt es an.

Es sei unglaublich kompliziert, das digitale Geschäft richtig aufzustellen, sagt der ehemalige BBC-Intendant Thompson, der 2012 zur NYT wechselte. Er hatte dort damals ein solides Business vorgefunden, das allerdings an Wachstums-Perspektive vermissen ließ. Er selbst habe dann dreimal vergeblich reorganisiert, seine Nachfolgerin Meredith Kopit Levien, die am 8. September den CEO-Job übernimmt, sei zweimal gescheitert, nun endlich laufe die Sache: „Ich glaube, seit 18 Monaten haben wir Erfolg.“

Wer eher verzagt an die Dinge herangeht, dem wird diese Aussage nicht ermutigen. Wenn sich selbst die New York Times so schwertut, wie sollen es dann diejenigen mit den weniger tiefen Taschen schaffen? Man kann dieses Bekenntnis fünffachen Versagens aber auch anders lesen. Denn es war ja nicht so, dass hier ein Tanker konsequent Richtung Eisberg fuhr und jemand in letzter Minute das Steuer herumgerissen hat. Nein, das Medienhaus war in den vergangenen Jahren auf einem Pfad des Experimentierens mit gemischter Erfolgsbilanz. Und es ist gut möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass auch die gegenwärtige Euphorie irgendwann einmal wieder der Ernüchterung weicht. Aber tendenziell geht es in die richtige Richtung, nämlich nach oben.

In der Change-Management-Terminologie heißt so etwas S-Kurve. Das bedeutet, dass der Erfolgs-Pfad von Veränderungsprozessen nie linear nach oben weist, sondern dass sich das Ganze im Schlingerkurs bergan bewegt. Immer, wenn man denkt, auf dem richtigen Weg zu sein, steht man plötzlich auf einer Art Plateau, dann geht es wieder ein Stück bergab, bevor man das nächste Mal zum Gipfelsturm ansetzt. Das Ganze kann recht ungemütlich sein, denn – siehe oben – man weiß immer erst hinterher, ob es wirklich nachhaltig bergauf gegangen ist, oder man sich am Beginn einer Talfahrt befunden hat. Was man aber daraus lernen kann, ja muss, ist: Hauptsache, man bewegt sich.

Aus diesem Grund ist das klassische Projektmanagement kein guter Ratgeber in Zeiten des Veränderungsdrucks. Beim Wandel nach Plan legt man nämlich vorher schon fest, was hinterher in den Büchern stehen soll. Um die Berg-Analogie weiter zu strapazieren: Dort ist der Gipfel bekannt, der Weg vermessen, jetzt fehlen nur noch all die Schritte, die zum Ziel führen sollen. Agile Change Prozesse hingegen gleichen kleinen Expeditionen. Man wagt sich auf unbekanntes Terrain, tastet sich vor, macht unerwartete Entdeckungen und landet in manch einer Sackgasse, die man idealerweise mit neuen Erkenntnissen hinter sich lässt. Während im Projektmanagement ein Großteil der Energie in das Planen und Nachhalten desselben fließt, funktionieren agile Prozesse wie ein Hybrid-Motor: Die Batterie lädt sich erst beim Fahren auf. Geglückte Experimente verleihen dem Prozess Schwung, der ermöglicht neue Experimente, man tastet sich vor. Statt Wandel umzusetzen, der von oben verordnet wurde, trainieren die Beteiligten ein neues Verhalten, sie selbst geben die Impulse. Und irgendwann ist das Experimentieren Alltags- und Unternehmenskultur. Man merkt gar nicht mehr, dass man sich im dauernden Innovationsmodus befindet.

Die NYT entwickelt auf diese Weise neue Produkte wie am Fließband, so beschreibt es Thompson. Und dies können sich andere in der Tat abschauen, ob Lokalzeitung, öffentlich-rechtlicher Sender oder Medien-Startup. Das Powerhouse des Investigativ- und Meinungsjournalismus hat dabei auch keine Berührungsängste mit den leichten Seiten des Lebens. Eine Million der 6,5 Millionen NYT-Abonnenten_innen hat es zum Beispiel einzig und allein auf das Kreuzworträtsel abgesehen. Andere lassen sich gerne beim Kochen beraten, passen aber bei Weltwirtschaft und Außenpolitik. Womit könnte man noch Kunden_innen an die Marke binden? Der Gedanke sollte nicht nur die Marketing-Abteilung, sondern alle in der Organisation begleiten.

Dies bedingt auch, dass Führungskräfte anders denken. „Viele, viele Führungskräfte sind auf ihre Position gekommen, weil sie etwas großartig konnten. In diesem digitalen Moment braucht man Leute, die eine Sache gut beherrschen und dann etwas anderes lernen können“, sagt Thompson. Mal sehen, was das bei Thompson sein wird. Er ist schließlich erst 63 Jahre alt.

Dieser Text erschien zuerst am 21. August 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School.