Warum Menschen Medien meiden – Fünf Gründe für News Avoidance

Medienverdrossenheit hat nicht immer etwas mit dem Glaubwürdigkeitsproblem der Medien zu tun. Es gibt eine Menge anderer Gründe, die beim Publikum zur News Avoidance führen – hier sind fünf davon.

Der Journalismus stecke in einer Vertrauenskrise. Diese Aussage darf in kaum einer Rede zur Lage der Medienbranche fehlen, und doch ist sie mittlerweile mehr Allgemeinplatz als empirisch belegt. Denn gerade während der Pandemie sind die Vertrauenswerte für journalistische Angebote zum Teil deutlich gestiegen, gerade in Deutschland. Etablierte Nachrichten-Marken schlagen dabei insbesondere das um Längen, was sonst auf digitalen Kanälen an Informationen verbreitet wird. Zwar radikalisiert sich eine kleine, medienfeindliche Minderheit erheblich, was das Leben für Reporterinnen und Reporter gefährlicher macht. Aber mit generellem Misstrauen hat das nichts zu tun. 

Was Medienschaffende dagegen wirklich umtreiben sollte, ist die Aufmerksamkeitskrise: Etwa jeder Dritte ignoriert das Nachrichtengeschehen, bei jungen Leuten in Deutschland ist es fast jeder Zweite. Für Redaktionen schlummern hier nicht nur erhebliche Möglichkeiten, zusätzliche Kunden (wieder) zu erreichen, womöglich mit einem veränderten Angebot. Medien müssen sich auch fragen, ob sie ihrer Rolle in der Demokratie noch gerecht werden, wenn sie zu vielen Menschen gar nicht mehr durchdringen.

Geht der Journalismus am Überdruss seines Publikums zugrunde? 

Forscherinnen und Forscher beschäftigen sich seit kurzem verstärkt mit den Gründen der News Avoidance. Auf dem jüngsten Jahrestreffen der International Communication Association, der weltweit wichtigsten Tagung der Kommunikationswissenschaftler, war sie eines der wichtigsten Themen. Aus den Erkenntnissen verschiedener Arbeiten leiten sich wertvolle Hinweise ab, nicht nur für Redaktionen, sondern auch für die Politik. Denn die Ursachen dafür, warum viele Menschen die Beschäftigung mit dem Tagesgeschehen für Zeitverschwendung, ja sogar für kontraproduktiv halten, sind nicht nur inhaltlicher und psychologischer, sondern auch struktureller Art. Hier sind fünf davon:

Erstens: Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Qualität des Mediensystems und dem Phänomen der News Avoidance

In Ländern, in denen der Staat oder einflussreiche Personen stärker in Medien hineinregieren, wenden sich mehr Menschen von Journalismus ab. Dies haben Antonis Kalogeropoulos und Bejamin Toff in ihrem Paper „All the news that’s fit to ignore“ belegt und dafür von der ICA den Preis für den besten Fachartikel des Jahres 2020 bekommen. Dieses Nutzer-Verhalten ist nur rational. Denn wer vermutet, dass der Journalismus nicht unabhängig, sondern irgendwie gesteuert ist, wird sich davon wenig Wert und Aufklärung versprechen.

Pressefreiheit und ein gesundes, pluralistisches Mediensystem sind also die beste Voraussetzung dafür, dass sich Bürgerinnen und Bürger mit dem Geschehen in ihrem Land und der Welt beschäftigen.  

Zweitens: Frauen und die jüngeren Generationen vermeiden die Nachrichten überdurchschnittlich häufig

Das kann daran liegen, dass sie die Inhalte als nicht sonderlich relevant für ihr Leben betrachten oder sich vom vorherrschenden Ton nicht angesprochen fühlen. Beides ist nach wie vor von männlich-traditionell dominierten Redaktionen geprägt. Der Digital News Report 2019 hat diese beiden Mängel als größte inhaltliche Herausforderungen für den Journalismus identifiziert, auch unabhängig von Geschlecht oder Alter. Hinzu kommt noch die Masse an Informationen: Mehr ist nicht immer mehr wert. Gerade bei Frauen dürfte aber auch die höhere Arbeitsbelastung in Haus und Familie eine Rolle spielen. Meera Selva und Simge Andi haben dies für das Reuters Institute thematisiert. Für diese These spricht, dass das Geschlechterverhältnis bei der Podcast-Nutzung sehr ausgewogen ist. Hören kann man schließlich auch, während man kocht oder die Waschmaschine leert. Redaktionen sind deshalb gut beraten, sich mit den Lebensgewohnheiten und -verhältnissen verschiedener Zielgruppen auseinanderzusetzen, bevor sie entsprechende Inhalte und deren Ausspielwege und -zeiten planen.     

Drittens: Vielen Menschen macht Journalismus schlechte Laune.

Das gibt jeder Zweite an, der Nachrichten routinemäßig aus dem Weg geht. Die ständige Beschallung mit negativen Meldungen und Geschichten bedrückt viele dermaßen, dass sie sich ausgeliefert und ohnmächtig fühlen, sie wenden sich ab. Gerade in der Pandemie sollten sich Redaktionen deshalb überlegen, wieviel Raum sie den Details des politischen Streits einräumen. Konstruktiver und lösungsorientierter Journalismus scheinen dazu beizutragen, dass sich Menschen ihrer Möglichkeiten stärker bewusst werden, den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Diese Spielarten des Journalismus sind besonders in der jüngeren Generation beliebt, auch bei den Produzenten. Beim von der EU finanzierten Innovationswettbewerb Stars4Media – die Kolumnistin ist Jury-Mitglied – hatte ein großer Teil der eingereichten Projekte einen solchen Ansatz als Kern. 

Viertens: Bei den Inhalten existiert ein Missverhältnis zwischen Bedürfnissen und Interessen des Publikums und dem journalistischen Output

Journalismus definiert sich in erster Linie über den Politik-Journalismus, er ist die Königsklasse. Dies prägt die klassischen Nachrichtensendungen, die Qualitätsmedien und selbst den Boulevard. Wer im Journalismus Karriere machen will, orientiert sich daran. Politik ist „hard news“. Fragt man Nachrichtenmuffel danach, was sie trotzdem manchmal mögen, stehen andere Themen oben in der Präferenzen-Liste: Gesundheit, Lokales und Wissenschaft zum Beispiel. Stephanie Edgerly von der Northwestern University hat dies in ihrem kürzlich erschienenen Fachartikel „The head and heart of news avoidance” dargelegt. Sie hat außerdem herausgefunden, das Journalismus-Verweigerer oft weniger politisch interessiert aber auch weniger kompetent darin sind, journalistische Angebote zu nutzen. Redaktionen sollten also nicht nur ihre inhaltlichen Schwerpunkte überdenken, sondern auch die Nutzerfreundlichkeit erhöhen. Die Unterscheidung zwischen „hard news“ und „soft news“ sagt womöglich mehr über diejenigen aus, die sie geprägt haben als über journalistische Qualität. Oder möchte jemand ernsthaft behaupten, die x-te Politiker-Aussage im Streit um FFP2-Masken sei wichtiger als die Unwetter-Warnung für das Wochenende? Letztere hat vermutlich nicht nur eine höhere Einschaltquote, sondern auch konkreten Einfluss auf Verhalten und damit die Gefahrenlage.  

Fünftens: Menschen vermeiden Journalismus aus ganz unterschiedlichen Gründen, manche lassen sich beeinflussen, andere nicht

Kiki de Bruin und Kollegen von der Universität Amsterdam haben eine Typologie der Nachrichten-Muffel entwickelt. Sie kamen auf acht Charaktere: die Sensiblen, die unter schlechten Nachrichten leiden; die Misstrauischen, die Medien skeptisch gegenüber stehen; die Uninteressierten, die das Tagesgeschehen kalt lässt; die Spezialisten, die sich außerhalb ihres Hobbys für nichts interessieren; die Achtsamkeits-Anhänger, denen es vor allem um mentale Balance geht; die Eingespannten, die mit Job, Kindern und Haushalt genug anderes zu tun haben; die Hedonisten, die vor allem eigenen Genuss und Wohlbefinden im Sinn haben; und diejenigen, die Mediennutzung weder zuhause noch in der Schule gelernt haben.

Manche dieser Typen lassen sich mit bestimmten Angeboten locken, andere nicht, oder zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Allen darf man unterstellen, gute Gründe für ihre Ablehnung zu haben. Für Redaktionen empfiehlt es sich, erst einmal in ihrem eigenen Angebot nach den Ursachen zu suchen, statt über diejenigen zu urteilen, die dem Journalismus partout nichts abgewinnen können. Davon könnten tatsächlich beide Seiten profitieren. 

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 14. Juni 2021. Ich schreibe dort jeden Monat. Aktuelle Kolumnen und spannende News aus der Branche gibt es für Abonnenten. 


Eine Checkliste für starken Journalismus

Die Frage, wie Qualitätsjournalismus definiert wird, ist keine einfache – schon gar nicht in Zeiten des digitalen Wandels. Genauso schwierig gestaltet sich dann die Kontrolle. Das sollte Redaktionen aber nicht davon abhalten, über Kriterien und Kontrollstandards zu diskutieren. Zehn Impulse, mit denen das gelingen kann.

Sicher, auch über die Substanz von Autos, Mänteln oder Möbelstücken kann man streiten: Ist das nun Qualität, oder doch eher nur gute Verpackung? Wer sich allerdings daran versucht, Qualitätsjournalismus zu definieren, sollte Zeit und Lust auf eine erhitzte Debatte mitbringen. Denn was die einen als große publizistische Leistung empfinden, ist für die anderen nichts als abgehobene Schwurbelei. Werden Inhalte mit einem Qualitätssiegel versehen, sagt so ein Prädikat oft mehr über die Bewertenden aus als über das Produkt. Manche betrachten es gar als Einfallstor für Zensur: Gelobt wird das, was politisch erwünscht ist.

Alternativ kann man den Prozess unter die Lupe zu nehmen, mit dem Journalismus erstellt wird. Werden Fakten überprüft, mehrere Quellen konsultiert, wie wird redigiert, wie wird Unabhängigkeit gewahrt? All das lässt sich leichter beurteilen als Faktoren wie Sprache, Themenwahl oder Ausgestaltung. Aber bei der Herangehensweise haben starke Medienmarken zwangsläufig die Nase vorn. Kurz: Es ist kompliziert.

Die Debatte um Qualität ist dennoch zentral, schon gar in einer Medienwelt, in der Algorithmen Inhalte auf- und abwerten und damit vorselektieren, wie viel Aufmerksamkeit ein Stück bekommt. Redaktionen tun deshalb gut daran, immer wieder Inventur zu machen: Wie stark ist unser Journalismus? Eine Checkliste mit zehn Punkten dürfte helfen:

1. Haben wir genug erklärt?

Wer sich informiert, will nicht nur Bescheid wissen. Er möchte wissen, warum er Bescheid wissen sollte. Journalismus muss immer einordnen, und er muss das immer wieder tun. Laut Digital News Report 2019 findet nur jeder zweite Nutzer, dass die Medien einen guten Job dabei machen, das aktuelle Geschehen zu erklären. Da ist Luft nach oben.

2. Setzen wir die Agenda?

Im täglichen Feuerwerk der Informationen und Zitate ist es allzu leicht, sich von anderen treiben zu lassen. Stimmt das, was dieser Politiker, jene CEO behauptet, oder ist das eine Falschinformation? Verifizieren ist wichtig, aber wer nur noch überprüft, was andere sagen, kann es leicht versäumen, eigene Themen zu setzen. Da gilt das in der Branche gerne genutzte Wort: Journalismus ist, über etwas zu berichten, das andere gerne verbergen würden.

3. Begeistern wir Nutzer mit Produkten, die ihnen helfen?

Die Erfolge von Apple, Amazon, Netflix und Co. sind nicht die Ergebnisse von klugem Marketing. Die Produkte und Plattformen überzeugen, weil sie einen Mehrwert bieten. Sie helfen dabei, alltägliche Probleme zu lösen. Welche Produkte können Medienhäuser entwickeln, die ihren Kundinnen und Kunden im Alltag helfen? Die Denke vom Nutzer her ist zentral, wenn man sich unverzichtbar machen will. 

4. Begeistern wir unsere Nutzer mit Themen, die sie berühren?

In der Welt der Überinformation dringen diejenigen durch, die Emotionen wecken, Menschen in ihrem Alltag abholen, bei ihren Sorgen, Freuden, Hoffnungen. Es ist ein schwerer Fehler, das Feld der Emotionen den Populisten zu überlassen, die bevorzugt in Schwarz oder Weiß malen. Menschen sind komplex und sie begreifen Komplexität – wenn man sie denn lässt.

5. Lassen wir andere zu Wort kommen?

Der Trend geht zum Kommentar, denn er ist billig. Recherche hingegen kostet Geld. Aber Kommentare gibt es überall. Beobachtung, Beschreibung, Einordnung, Gespräch, echte Analyse führen weiter. Zuhören ist der Schlüssel, oder genau hinschauen. Wenig überzeugt so schnell wie eine gute Datenreihe – und wenig macht so viel Mühe.  

6. Suchen wir Vielfalt und lassen sie zu?

Es ist ein Reflex, der nicht nur beim Besetzen von Talk-Shows funktioniert: Journalisten greifen bei der Recherche wieder und wieder auf dieselben Experten zurück. Ein Grund dafür ist, dass es funktioniert. Ein Christian Drosten schafft Vertrauen, die Medienmarke profitiert. Aber die Welt ist weit, die Perspektiven vielfältig. Das 50:50 Projekt der BBC hat gezeigt, wie ein bewussterer Umgang mit Quellen nicht nur Geschlechtergerechtigkeit vorantreiben, sondern auch das Publikum begeistern kann.

7. Bieten wir Perspektiven an?

Etwa ein Drittel aller Bürgeren vermeidet den Kontakt mit Nachrichten mittlerweile bewusst, die Tendenz ist steigend. Der Hauptgrund: Journalismus sei zu negativ, mache schlechte Laune, wecke Ohnmachtsgefühle. Die Alternative ist keine Weichzeichner-PR. Aber Menschen brauchen Perspektiven und Lösungen, das Stückchen Inspiration. Wie sind andere aus einem Dilemma gekommen, was funktioniert? Die Ansätze des Konstruktiven Journalismus können helfen. Wer seine Nutzeren in dunkle Szenarien hineinführt, muss sie auch wieder hinausbegleiten. 

8. Gehen wir transparent mit Wissen, Quellen und Meinung um?

Manchmal weiß man, dass man (noch) nicht viel weiß – die Pandemie erinnert einen täglich daran. Aber weiß unser Publikum auch, wo unsere Erkenntnisse enden und das informierte Raten beginnt? Je mehr wir die Menschen mitnehmen auf die Forschungsreise, umso weniger peinlich wird es, wenn wir uns korrigieren müssen. Ähnliches gilt für den Umgang mit Quellen und deren Interessen. Journalismus wäre unmöglich in kompletter Transparenz, es gelten Fürsorgepflicht und Quellenschutz. Aber unsere Nutzeren haben Klarheit darüber verdient, wie wir arbeiten und warum. 

9. Erheben wir Daten und lernen daraus?

Oft ist es die bequemere Lösung, den Journalismus in die Nähe von Kunst zu rücken, die vor allem im Auge des Betrachters wirkt. Oder man argumentiert mit der Mission, dem öffentlichen Interesse, der Wächterfunktion, wenn man ein Stück verteidigen möchte, das beim Publikum „nicht funktioniert“. Man kann aber auch nach Gründen forschen. Dabei helfen Daten. Daten können niemals alles belegen und schon gar nicht erklären. Aber es wäre fahrlässig, sie nicht zu nutzen, um die Bedürfnisse des Publikums zu ergründen. Der A/B-Test sollte eine geläufige Vokabel in jeder Redaktion sein.

10. Begegnen wir den Menschen auf Augenhöhe?

Noch nicht einmal ein Fünftel aller Nutzer findet, dass die Medien den richtigen Ton treffen. 39 Prozent gaben im Digital News Report 2019 sogar explizit zu Protokoll, dass sie dieser Aussage überhaupt nicht zustimmen. Zu negativ, zu belehrend, zu stark politisch eingefärbt – Beschwerden gibt es viele. Das Verhältnis zwischen Journalisten und ihrem Publikum ist komplex, auch weil das Bild auf beiden Seiten häufig von denjenigen dominiert wird, die sich selbst besonders wichtig nehmen. Mehr Gespräch und mehr Begegnungen bilden Vertrauen und stärken den Journalismus. Zugegeben, in Pandemie-Zeiten ist das noch leichter gesagt als getan. Aber auch ohne physischen Kontakt kann man Fragen stellen – und das in Frage stellen, was man schon immer unter Qualität verstanden hat. Es mögen sich daraus sogar ein paar neue Antworten ergeben.     

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 22. März 2021. Aktuelle Kolumnen und Neues aus der Branche sind mit einem Abo zu lesen. 


Die Vertrauensfrage ist offen – über das Verhältnis zwischen Journalisten und ihrem Publikum

Den Hollywood-Film „Field of Dreams“ haben vermutlich nur diejenigen in Erinnerung, die 1989 entweder für Baseball oder für Kevin Costner geschwärmt haben (was damals eine ganze Menge gewesen sein dürften). Aus diesem Film wiederum blieb vielen nur eine einzige Zeile in Erinnerung, die allerdings so populär wurde, dass manche sie heute für einen Bibel-Spruch halten: „If you build it, he will come.“ Es geht um einen Mais-Farmer aus Iowa, seinem Traum von einem Baseball-Feld auf dem eigenen Acker und eine Versammlung von längst verschiedenen Sportler-Legenden, die sich dort vergnügen, nachdem der Bauer vom Traum zur Tat geschritten war. Mit der Medienbranche hat der Film nichts zu tun, aber tatsächlich denken viele Journalist*innen sehr ähnlich wie der Farmer Ray alias Kevin Costner: Wenn nur ihr Journalismus gut genug sei, dann kämen sie schon, die Leser*innen. Qualität schaffe Vertrauen.

Aber so einfach ist die Sache nicht. Das Reuters Institute for the Study of Journalism in Oxford hat gerade die erste Studie eines Forschungsprojekts veröffentlicht, das sich dem Thema „Vertrauen in den Journalismus“ widmet. Und die Ergebnisse werfen mindestens ebenso viele Fragen auf, wie sie Antworten geben. Denn die Gründe, warum Menschen Medien vertrauen oder eben nicht, sind vielschichtig und ebenso vielfältig wie das Publikum selbst. Das macht es Redaktionen schwer. Sie wissen, dass sie nur eine Zukunft haben, wenn sie vertrauensvolle Beziehungen zu ihren Nutzer*innen aufbauen. Aber wie das geht, dafür gibt es kein Rezept.

Für die Studie haben die Wissenschaftler*innen über 80 Interviews mit leitenden Journalist*innen und Medienmanager*innen in den USA, Großbritannien, Indien und Brasilien geführt. Sie machen immer wieder deutlich, dass es noch viel zu erforschen gibt, aber ein paar Dinge haben sich herauskristallisiert. Zunächst einmal – siehe oben – hängt Vertrauen nicht nur von Faktentreue und journalistischer Präzision und Aufwand ab, sondern oft auch davon, ob das Publikum und das Medium ähnliche Werte vertreten. In politisch polarisierten Gesellschaften wird es deshalb keiner Publikation gelingen, flächendeckend Vertrauen zu gewinnen. Jeder glaubt und vertraut der Marke, die das eigene Weltbild am ehesten widerspiegelt. Auch wenn sich Leser*innen in Umfragen überwiegend neutrale, faktenbasierte Berichterstattung wünschen, glauben sie dann doch am ehesten denjenigen, die überwiegend über Fakten berichten, die ihnen zusagen. Starke Medien-Marken haben es dabei leichter, als vertrauenswürdig durchzugehen.

Für manche gesellschaftliche Gruppen ist Vertrauen eine Frage der Repräsentation. Wenn Medien nie jemanden zitieren oder abbilden, der ihre Lebenswirklichkeit teilt, fühlen sie sich missachtet. Je weiter sich Redaktionen ihrem Publikum öffnen, desto offensichtlicher wird, dass deren Belegschaften und vor allem deren Führungsteams meist sehr homogene Gruppen sind. Die (überfällige) Debatte um Vielfalt in den Verlagshäusern ist eine Folge davon. Medien leiden unter der Vertrauenskrise wie alle Institutionen. Die Gründe dafür sind vielschichtig und haben nicht zuletzt mit der Aufmerksamkeits-Ökonomie der sozialen Netzwerke zu tun. Kaum jemand hat das so gut beschrieben wie Rachel Botsman in ihrem 2017 erschienenen Buch „Who can you trust: How technology brought us together and why it might drive us apart“. Die Forschung des Reuters Institutes zeigt, dass man dabei Politik und Medien als Schicksalsgemeinschaft verstehen muss. Der Digital News Report von 2020 belegt einen eindeutigen Zusammenhang: Dort, wo in der Politik mit harten Bandagen gekämpft und gestritten wird, sinkt auch das Vertrauen in die Medien.

Eine Vertrauenslücke gibt es auch, weil viele Menschen zu wenig darüber wissen, wie Journalismus entsteht, welchen Prinzipien, Standards und Regeln Journalist*innen folgen. Es hilft oft, das zu erklären. Aber wird zu viel offenbart und erklärt, kann das auch das Gegenteil bewirken. Journalismus sei letztlich wie Wurst herstellen, sagte einer der für die neue Studie Interviewten: Niemand wolle ganz genau wissen, wie Wurst hergestellt werde. Sprich, zu viel Transparenz zeigt auch, wie viel im medialen Tagesgeschäft letztlich improvisiert werden muss und wo Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Manch ein Erzeugnis verliert dann die Aura des Besonderen, mit dem man Vertrauen erwirbt.

Welche Erkenntnisse also sollten Journalist*innen in ihren Alltag mitnehmen, was müssen sie über Medienvertrauen wissen? Erstens und zur Beruhigung: So dramatisch, wie dies oft dargestellt wird, ist der Vertrauensverlust in die Medien nicht. In Deutschland zum Beispiel zeigt die Langzeitstudie Medienvertrauen der Universität Mainz erstaunlich stabile Werte, vor allem für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und für Lokalzeitungen. Und auch in anderen Ländern, wo zum Beispiel polarisierende Wahlkämpfe am Vertrauen gekratzt haben, entspannt sich die Lage meist wieder, wenn es politisch ruhiger wird. Zweitens: Journalistische Qualität mag nicht jeden überzeugen, aber schlechter Journalismus schreckt auf jeden Fall ab. Schon vermeintliche Kleinigkeiten wie Rechtschreibfehler können Vertrauen aushöhlen, auch Überschriften, die nicht zum Text passen, kratzen an der Glaubwürdigkeit. Drittens: Journalismus sollte seinem Publikum respektvoll und auf Augenhöhe begegnen, ebenso sollten es die Journalist*innen in der Kommunikation mit ihren Gegenübern halten. Gerade jüngere Generationen können mit dem zuweilen leicht herablassenden Habitus des traditionellen Journalismus nichts anfangen. Wer sich als Oberlehrer*in statt als Verbündete*r geriert, muss sich über Misstrauen nicht wundern. Viertens: Repräsentation schafft Vertrauen. Redaktionen sollten Vielfalt in der Belegschaft und im Inhalt pflegen. Fünftens: Autor*innen und Marken sollte transparenter mit den Bedingungen umgehen, unter denen ihr Journalismus entsteht. Welche ethischen Regeln gelten, wie werden Fakten überprüft, wo wird Automatisierung eingesetzt, wem gehört der Verlag, wieviel Diversität gibt es in der Redaktion, was tut man für den Datenschutz? Solche Angaben erklären nicht immer alles aber manchmal manches.

Die wichtigste Erkenntnis ist aber: Vertrauen ist kein statischer Zustand, sondern entsteht in Beziehungen, die stets gepflegt werden müssen. Nachlässigkeit und Fehler können es aushöhlen oder mit einem Schlag zunichte machen. In einer Welt des Überangebots an Quellen und Informationen kann sich deshalb niemand mehr hinter einer starken Marke verstecken. Redaktionen und ihre Journalist*innen müssen aus der Deckung kommen und sich Vertrauen immer wieder neu erarbeiten. Es hilft den Nutzer*innen, wenn sie diejenigen besser einschätzen können, die hinter den Nachrichten stecken, wenn sie spüren: Da ist jemand auf meiner Seite. Der Siegeszug der Podcasts hat auch etwas damit zu tun, dass Menschen – und eben auch Reporter*innen – in Gesprächsformaten glaubwürdiger wirken. Sie versprechen sich mal, zögern, lachen, sind verblüfft und das alles ohne Schminke und Schönheits-OP.

Es ist wichtig, sich über sinkende Vertrauenswerte den Kopf zu zerbrechen. Aber es gibt einen Trost: Gesunde Skepsis ist nicht nur ein Ausweis von Medienkompetenz, es ist die Grundhaltung aufgeklärter Bürger*innen in der Demokratie. Manchmal wird man heute die Geister nicht mehr los, die man gestern noch herbeigeschrieben hat.

Dieser Text erschien am 4. Dezember im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School.