KI-Washing: Wer jetzt keine Moral hat, entwickelt keine mehr

Auf den ersten Blick sind viele Medienhäuser das Thema KI nahezu vorbildlich angegangen. Man kam schnell in den Tritt, experimentierte, bildete interdisziplinäre Teams, ernannte KI-Direktoren und, man hat schließlich Verantwortung, entwickelte Ethik-Regeln. Natürlich konnte sich die Branche auch über ein paar moralische Ausreißer empören – „Sports Illustrated!“, „Michael Schumacher Interview!“, „Burda-Kochzeitschrift!“ –, aber vielerorts sollten längliche Listen zu „Dos and Don’ts“ das Gröbste verhindern. Schade nur, dass sich die meisten dieser Regelwerke schon bald als eine Form von KI-Washing erweisen dürften. Denn sie gaukeln eine Kontrolle vor, die den Medienhäusern schon lange aus den Händen geglitten ist. Kurz gesagt: Wer jetzt keine Moral hat, entwickelt keine mehr.

Die Langversion ist: Der rasante technische Fortschritt und die Macht der Tech-Konzerne gepaart mit wirtschaftlichem und mancherorts politischem Druck haben Tatsachen geschaffen, denen selbst vorbildliches Management nur schwer beikommen kann. Dies legt die Recherche zu dem Report „Leading Newsrooms in the Age of Generative AI“ nahe, den ich für die European Broadcasting Union recherchiert und geschrieben habe.

Da ist zunächst einmal das Thema „Shadow AI“. Die größten Veränderungen würden derzeit nicht von Medienhäusern angestoßen, sondern entstünden dadurch, dass Journalisten KI-Tools einfach nutzten, beobachtet Ezra Eeman, KI-Direktor des niederländischen Broadcasters NPO. Anders als vor 25 Jahren, als man Redakteure und Reporter noch mühevoll vom Sinn digitaler Tools und Plattformen überzeugen musste, sind KI-Werkzeuge so intuitiv zu bedienen, dass Menschen sie im Privatleben noch häufiger anwenden als bei der Arbeit, wie eine jüngst veröffentlichte Studiezumindest mit Blick auf die USA ergab. Ein Report der Thomson Reuters Foundation stützt die These für Journalisten im Globalen Süden: 80 Prozent der Befragten nutzten KI bei der Arbeit, aber noch nicht einmal 20 Prozent von deren Redaktionen hatte eine entsprechende Strategie oder Politik. Dabei können in Organisationen beide Gruppen zum Problem werden: die Techies, die beim Experimentieren Grenzen überschreiten, und die Unbedarften, die aus Unkenntnis Fehler machen, zum Beispiel sensible Daten preisgeben.

Von Journalisten, die so unter Zeitdruck stehen, dass sich manche noch nicht einmal aufs Klo trauen, kann man nicht erwarten, dass sie alle KI-Regeln verinnerlicht haben. 

Hinzu kommt, dass viele Ethik-Richtlinien nicht alltagstauglich sind. Die BBC ist sicher stolz darauf, dass sie ihre aktuelle Guidance zu KI in nur neun Punkten untergebracht hat – zuzüglich Unterpunkten. Aber von Redakteuren, die in ihren Schichten so unter Zeitdruck stehen, dass sich manche noch nicht einmal aufs Klo trauen, kann man nicht erwarten, dass sie alle Vorschriften verinnerlicht haben. Die Arbeitsbelastung drängt Journalisten vermutlich eher stärker in die Anwendung von KI. So, wie bislang streckenweise Text aus der dpa-Meldung herhalten musste, wird künftig ein LLM zurate gezogen, wenn sich damit Zeit sparen lässt.

Besonders schwer durchzuhalten ist die derzeit beliebteste Regel: „Human in the loop“ – ein Mensch sollte den letzten Blick auf KI-generierte Inhalte haben, bevor sie publiziert werden. Schon im regulären Betrieb übersehen Redakteure Fehler. Wenn KI-Tools die Output-Geschwindigkeit vervielfachen, kommen Menschen kognitiv an ihre Grenzen. Und sollten sie dennoch sorgfältig arbeiten, verhindern sie zwangsläufig die von der Geschäftsführung erhofften Effizienzgewinne. Das „Human in the Loop“-Prinzip sabotiere die Skalierbarkeit, die man sich von KI erhoffe, schreibt Felix Simon in einem Kommentar für das Reuters Institute.

Im Zweifel winden sich Redaktionen mit Disclaimern aus der Vorgabe heraus. Man kennzeichne Inhalte, die mit KI übersetzt oder produziert seien, heißt es dann, auf Deutsch: Man übernehme keine Verantwortung für Fehler. Das kann gut gehen und wird in einigen Fällen vom Publikum akzeptiert, zum Beispiel beim Untertiteln von TV-Beiträgen. Da überwiegt der Wunsch nach Verständlichkeit, zum Beispiel bei Hörgeschädigten. Es kann aber auch Mist herauskommen, wie bei Texten der Washington Post, die in Publikationen der Ippen-Gruppe von einer KI übersetzt und verbreitet werden. Außerdem gibt es auch im hochwertigen Journalismus Anwendungsfälle, in denen starre Regeln nicht helfen. Verbiete man zum Beispiel generell geklonte Stimmen, verbaue man sich erzählerische Möglichkeiten. Auch öffentlich-rechtliche Sender haben schon Stimmklone von historischen Protagonisten genutzt, um Zeitgeschichte anschaulicher zu machen.    

In all diesen Fällen helfen keine im Intranet geparkten Richtlinien. Wirkungsvoller ist eine Mischung aus technischen Lösungen, Schulungen und Debatten: Gewünschte Anwendungen müssen im CMS automatisiert werden. Bei Experimenten und in Trainings können die Nutzenden KI-Wissen und den Umgang damit erwerben. Und wer regelmäßig über Werte redet, auch in durchaus strittigen Fällen, denkt womöglich öfter darüber nach und handelt entsprechend. Mitarbeitern bei jedem Recherche- und Produktionsschritt auf die Tastatur zu schauen, hat im Journalismus noch nie funktioniert. Jeder Einzelne muss seinen Werte-Kompass selbst kalibrieren und ihm folgen.

Kein KI-Tool wird fehlendes Vertrauen ersetzen können. Aber ein gedankenloser Einsatz von KI kann mühsam aufgebautes Vertrauen zerstören

Das nutzt allerdings wenig, wenn die Führungsetage keinen hat. Der Besitzer der Los Angeles Times zum Beispiel hatte kürzlich verfügt, die Redaktion müsse Kommentare mit einem Werkzeug namens Bias Meterversehen. Die KI weist Leser automatisch auf Gegenpositionen hin. Offensichtlich wird der Output nicht von Menschen gegengelesen. Sonst wäre womöglich doch jemandem aufgefallen, dass die Maschine den Ku Klux Klan in etwas zu sanftes Licht getaucht hatte. Aber das sind Details. Kein KI-Tool wird fehlendes Vertrauen ersetzen können. Aber ein gedankenloser Einsatz von KI kann mühsam aufgebautes Vertrauen zerstören – in der Belegschaft und beim Publikum.

Was Ethik-Regeln in Medienhäusern allerdings gänzlich obsolet machen könnte, ist die Übermacht der Tech-Konzerne. Je mehr KI in allen Tools steckt, die jeder im Alltag nutzt, umso weniger werden Anwender die dahinterliegenden Werte hinterfragen. Dass die Smartphone-Kamera den Himmel immer etwas blauer macht als jenen, den man vor sich sieht – geschenkt. Dass Suchmaschinen die Antworten dank KI immer leichter verdaulich machen – angenehm. Dass Textverarbeitungsprogramme zunehmend zu Redakteuren werden, bevor ein Redakteur das Stück gesehen hat – warum nicht? Nur die großen Häuser werden es sich leisten können, die eigenen Standards in ihren Systemen zu hinterlegen, und womöglich sind auch die mit KI infiltriert. Der Rest arbeitet mit Office und Co..

Das alles muss nicht schlecht sein. Autopiloten haben den Luftverkehr um ein Vielfaches sicherer gemacht, autonomes Fahren wird das Gleiche auf den Straßen erreichen. Womöglich schafft es auch der KI-unterstützte Journalismus, das Niveau des Gesamt-Outputs ordentlich anzuheben. Nach den Verwüstungen des Reichweiten-Zeitalters ist das bei manchen Publikationen gar nicht so schwer. KI-Tools können irgendwann womöglich sogar dabei helfen, Ethik-Regeln zu implementieren. Entscheidend ist, wessen Regeln das sein werden.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 17. März 2025. Neue und ältere Kolumnen kann man dort mit einem Abo lesen. 

Zeitenwende: Wie Journalismus nun reagieren muss

Glaubte man an Verschwörungserzählungen, käme einem das vor, wie von langer Hand geplant: Von der einen Seite her diskreditieren Politiker im Dauerfeuer etablierte Medien und damit den unabhängigen Journalismus; von der anderen pushen Tech-Konzerne über entsprechende Plattformen und großzügige Förderung die „Creator Economy“. Das Prinzip „Teile und herrsche!“ lässt grüßen. Und plötzlich stehen beide Seiten einträchtig auf dem Balkon und grinsen hinab zu denjenigen, die den einen gewählt und den anderen ihre Daten überlassen haben. Mehr Symbolik als das Foto von den Tech-Jungs mit Trump bei dessen Amtseinführung im Januar 2025 geht kaum.

Ach, wenn es doch nur Symbolik wäre! Aber die neue amerikanische Regierung zeigt an allen Ecken und Enden, dass sie von Pressefreiheit (und demokratischer Gewaltenteilung generell) nichts hält. Journalisten der weltweit größten Nachrichtenagentur AP wird der Zugang zum Präsidenten verwehrt, weil sie den Golf von Mexiko nicht wie von ihm vorgeschrieben Golf von Amerika nennen. Sender und Regionalzeitungen werden für faktentreue Berichterstattung verklagt. Und gleichzeitig regeln die Plattform-Konzerne Facebook und X den Anteil der seriösen Nachrichten in den Newsfeeds ihrer Kunden herunter, Job erledigt.

Wer jetzt sagt, wir werden auch nach der Bundestagswahl nicht von Trump regiert, hat zwar faktisch Recht. Dennoch ist es allerhöchste Zeit, sich in den etablierten Redaktionen ein paar Gedanken mehr darüber zu machen, wie man die Loyalität seiner Nutzer in Zeiten des politischen Gegenwindes erhält und pflegt – und womöglich neue gewinnt. Denn die Anti-Medien-Erzählung und die Mechanismen der Plattform-Ökonomie mit ihren Aufmerksamkeits-Spiralen wirken auch hierzulande. Spätestens seit klar ist, dass kritisch-aufklärende Berichterstattung allein Menschen nicht davon abhält, Zersetzer der Demokratie zu unterstützen, muss sich vor allem der Politikjournalismus hier und dort ein paar unangenehme Fragen stellen, darunter jene: Hat man womöglich manch einen Kandidaten durch permanentes Scheinwerferlicht erst wählbar gemacht?

Auch der Journalismus in der Demokratie erlebt eine Zeitenwende. Und lange erprobte Praktiken eignen sich womöglich nicht mehr zur Bewältigung der Zukunft. Was also ließe sich tun? Zunächst könnten drei Strategien helfen:

Erstens, von Journalisten aus unfreien Regimen lernen. Was bringt es zum Beispiel, das präsidentielle Pressebriefing zu besuchen, wenn es den Veranstaltern nur um das Verbreiten ihrer Propaganda geht und kritische Journalisten-Fragen umgehend zu Waffen gemacht werden, die sich gegen die Fragesteller richten? Womöglich würde es wirken, blieben alle Kolleginnen und Kollegen, die etwas von Pressefreiheit halten, solchen Briefings und auch der Präsidentenmaschine fern, bis beispielsweise die AP-Kollegen wieder zugelassen werden. So wie es journalistische Arbeit manchmal verlangt, sich Menschen mit Einfluss von außen anzunähern und lediglich ihr Umfeld zu befragen, wenn sie partout nicht mit einem sprechen wollen, gibt es für Reporter auch und gerade jenseits offizieller Termine und Verlautbarungen ausreichend viel zu recherchieren.

Vor allem in Politikredaktionen herrscht eine bemerkenswerte Resistenz gegen den Wandel

Zu Beginn der ersten Amtszeit Donald Trumps vor exakt acht Jahren hatte das Reuters Institute dazu eine Umfrage unter Journalisten mit dem Titel „How to cover powerful people who lie“ gestartet. Mehr als 100 Kollegen aus aller Welt hatten mit Tipps beigetragen, die in einer immer noch brandaktuellen Liste der Do’s and Don’ts zusammengefasst sind. Dazu gehören, sich nicht vom endlosen Strom der Social-Media-Zitate ablenken lassen, den Geldströmen hinterherrecherchieren („Follow the money“)  – und zusammenhalten. Und für alle außerhalb der Medien gilt: Jeder kann sich für Pressefreiheit stark machen, vor allem Menschen mit Macht, Einfluss und öffentlicher Präsenz sind hier gefragt. 

Zweitens, das journalistische Angebot auf die Bedürfnisse der Nutzer ausrichten. In den etablierten Medien, vor allem deren Politikredaktionen, herrscht eine bemerkenswerte Resistenz gegen den Wandel. Obwohl man Nutzer langfristig binden will, feilt man am Clickbait-Journalismus, für den niemand ein Abo abschließt. Obwohl man um Nachrichtenmüdigkeit und -verweigerung weiß, springt man über jedes Stöckchen und setzt auf immer mehr News und diese möglichst schneller. Obwohl man vom tiefgründigen Journalismus, exzellentem Storytelling und investigativen Recherchen schwärmt, verlangt man seinen Leuten die schnelle Geschichte ab und bringt sie dazu, die Erstversion ChatGPT zu überlassen – wird schon keiner merken. Obwohl man Social Media in Sonntagsreden verachtet, zwingt man Politiker in TV-Duelle, die genau die gleichen Mechanismen bedienen wie knackige Posts. Und obwohl Lokaljournalismus fast überall und bei allen Altersgruppen zu den Top-Interessen gehört – ein Blick in den Digital News Report 2024 bietet sich an –, dünnt man Lokalredaktionen aus und setzt auf überregionale Inhalte, die schon heute jede KI-Suche zutage fördern kann. Ein Angebot, das den durchaus verschiedenen Bedürfnissen der Kunden entspricht, sieht sehr häufig sehr anders aus: es ist selektiver, konstruktiver und begegnet den Menschen, statt sie zu belehren. Medienhäuser täten gut daran, sich mehr mit Psychologie,  Verhaltensforschung und den Bedürfnissen ihrer Zielgruppen zu beschäftigen und ihre Produkte entsprechend zu gestalten. Der politische Journalismus muss sich als Dienstleistung für sein Publikum neu erfinden.                    

Manchmal fällt es einem schwer, die eigene Branche zu lieben

Drittens, unabhängige Medienmarken stärken – auch wenn es manchmal schwerfällt. Wer im Journalismus einen großen Namen und Unternehmergeist hat, für den mag es verlockend sein, vom Influencer-Trend zu profitieren. Das Vertrauen vor allem junger Menschen wandert eindeutig weg von Institutionen hin zu Individuen, die nahbarer, authentischer und irgendwie ehrlicher rüberkommen, als dies der traditionelle Journalismus tut. Dieser wiederum hat einiges dazu beigetragen. Erwartbare Inhalte, formelhafte Sprache, Clickbait, „Copy and Paste“-Nachrichten, „der hat gesagt, die hat gesagt“-Verlautbarungen – manchmal fällt es einem schwer, die eigene Branche zu lieben.

Viele Nutzer, die die Welt da draußen nur durch TikTok und YouTube erleben, wissen zudem nicht einmal mehr, was journalistische Prinzipien sind und was Pressefreiheit bedeutet. KI-Portale werden die Präsenz von zur Unabhängigkeit verpflichteten Quellen weiter zurückdrängen. Und diverse digitale Plattformen ermöglichen es Einzelkämpfern, sich dort ein loyales Publikum heranzuziehen. Einerseits erfrischt und beeindruckt das. Anderseits haben und hatten die Tech-Konzerne offenbar genau das im Sinn: Individuen lassen sich leichter korrumpieren oder einschüchtern als große Medienmarken mit der Macht vieler Reporter und ihren Rechtsabteilungen, die den Mächtigen recht lästig werden können. Die Konsequenz: Etablierte Marken können sich von Influencern abschauen, was sie so attraktiv macht und ihre eigenen Personenmarken aufbauen und binden, ohne journalistische Prinzipien aufzuweichen. Und reichweitenstarke Solo-Unternehmer mögen sich überlegen, ob sie nicht doch mit Marken kooperieren wollen, die für Pressefreiheit stehen. Die Demokratie wird es ihnen danken.  

Diese Kolumne erschien am 18. Februar bei Medieninsider. Um neue und frühere Kolumnen zu lesen, empfiehlt sich ein Abo dort. 

 

Trends 2025: Journalismus braucht chemische Verbindungen

Es ist nicht leichter geworden für den Journalismus im Jahr 2025. Politiker und Tech-Oligarchen diskreditieren Medien, das Publikum ist nachrichtenmüde oder folgt Influencern, die (nach)lässig mit Fakten umgehen, und der digitale Wandel klappt zwar leidlich, kann aber weder die Verluste aus dem Niedergang von Print kompensieren noch jene wettmachen, die ihnen die Herren Musk und Zuckerberg einbrocken, weil sie nichts von Journalismus halten und ihre Social Media Plattformen entsprechend gestalten. Wenn man den neuen Report „Journalism and Technology Trends and Predictions 2025“ des Reuters Institutes studiert, schaut man selbst als Optimistin eher in ein halbleeres Glas.

Vielen in der Branche gilt der stets im Januar erscheinende Trend-Report aus Oxford als Pflichtlektüre. Er basiert auf einer Befragung von handverlesenen Medien-Führungskräften aus aller Welt. Dieses Mal haben 326 geantwortet, und nur 41 Prozent von diesen zeigten sich optimistisch für die Zukunft des Journalismus – vor zwei Jahren waren es bei sehr ähnlicher Zusammensetzung noch 60 Prozent. Die Realität dürfte eher noch trüber aussehen, denn wer sich weder international vernetzt noch für die Zukunft des Journalismus oder wenigstens seines Hauses einsetzt, wird gar nicht erst erfasst. Zusätzlich startet das Reuters Institute das Jahr traditionell mit seinem „News Innovation Forum“, bei dem ein kleiner Kreis von überwiegend europäischen Medienmachern Erfahrungen austauscht und Stimmungen abgleicht. Die folgenden Erkenntnisse beruhen sowohl auf dem Report als auch auf den Diskussionen in Oxford und sind so subjektiv, wie sich das für eine Kolumne gehört.   

Die erste Einsicht ist keine Überraschung: Für Medienhäuser sind direkte Verbindungen zu ihren Nutzern der Schlüssel zum Erfolg. Was haben Redaktionen in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht alles dafür getan, um über soziale Netzwerke in die Feeds ihrer Nutzer zu gelangen. Nun stellen sie fest, dass X unbrauchbar und Facebook zum weitgehend nachrichtenfreien Raum geworden ist. Die Reichweite, die Medienmarken über die beiden Plattformen erzielen, ist in den vergangenen beiden Jahren massiv eingebrochen. Die meisten setzen deshalb auf Einnahmen über Digital-Abos oder Mitgliedschaften sowie die üblichen Geschäftsmodelle inklusive neuer Produkte, aber auch da geht es sehr häufig um direkten Kundenkontakt, der gepflegt werden will. Um es mit einer nunmehr vier Jahre alten Medieninsider-Kolumne zu sagen: „Print hat gewonnen“ – zumindest dessen Prinzip der festen, auf Gewohnheit und Zuneigung beruhenden Beziehung.

Das Vordringen von generativer KI als Such-Werkzeug macht den Ausbau dieser Verbindungen noch dringlicher. Denn abgesehen von den großen Verlagen erwartet kaum ein Medienhaus, von Deals mit den großen KI-Konzernen zu profitieren. Zwar wünschen sich viele Manager – in der Umfrage fast drei Viertel –, dass die Branche solche Verträge im Schulterschluss aushandelt, in der Realität kämpft aber jeder für sich allein, was ein klassisches Collective Action Dilemma abbildet.

Auf der Suche nach Rezepten für die beschriebene Beziehungspflege drängt sich eine weitere Erkenntnis auf: Journalismus ist eine Frage der Chemie. Erfolgreiche Medienhäuser und Einzelkämpfer begreifen, dass es in einer Welt der Über-Information zunehmend auf die emotionalen Verbindungen ankommt, die zwischen Sendern und Empfängern entstehen. Da geht es stärker um Nähe, Authentizität und Identifikation als um Faktenfülle, Geschwindigkeit und Chronistenpflicht, wie sie etablierte Medienhäuser in den Mittelpunkt stellen. Tony Pastor, Mitgründer der größten unabhängigen britischen Podcast-Firma Goalhanger, beschreibt das Casting der jeweils zwei Hosts als wichtigsten Erfolgsfaktor seiner Produkte: „Die Chemie zwischen den beiden muss stimmen.“ Ähnliches gilt für slow journalism Marken wie das dänische Zetland, das in dieser Woche eine neue Marke in Finnland launcht, oder eben jene polarisierenden Politik-Kommentatoren der so genannten alternativen Medien: Allen geht es in erster Linie um einen bestimmten Ton der Ansprache, der beim jeweiligen Publikum verfängt. Wer den trifft, der kann auch mit überlangen Stücken und auch bei jungen Nutzern punkten. Der traditionelle Journalismus muss sich diesem Trend stellen.

Die neuen Vorlieben dürften auch etwas mit dem Zeitgeist zu tun haben, zum Beispiel in Deutschland. War der Hunger nach Nüchternheit, Fakten und Neutralität nach dem Propaganda-Gebrüll der Nazi-Zeit groß, erleben Generationen, die nicht mehr mit den Kriegsgeschichten ihrer Großeltern aufgewachsen sind, die gleiche Art der Ansprache als bürokratisch, kalt und lebensfern. Wer Vereinzelung und Flüchtigkeit von Beziehungen als bedrückendste Probleme der Zeit wahrnimmt, sucht eher nach Identifikation, Emotionalität und Menschlichkeit. Journalismus muss also etwas wie ein guter Freund werden, ohne seine Grundwerte zu verraten. Das gilt auch für faktenreiche, nüchtern erklärende Stücke, die oft dann gut funktionieren, wenn sie das Informationsbedürfnis der Nutzer ernst nehmen, sie also weder über- noch unterschätzen, mit passenden, attraktiven Formaten arbeiten und auch mal klarstellen, etwas (noch) nicht zu wissen.

Noch keine befriedigenden Antworten gibt es auf die Frage, ob KI mehr Nähe zum Publikum schaffen kann – oder gar das Gegenteil bewirkt. Viele Häuser arbeiten derzeit daran, ihre Angebote mit Hilfe von KI zu personalisieren und erhoffen sich davon mehr Nähe. Aber im direkten Kundenkontakt könnte dann doch der Mensch wörtlich genommen die Nase vorn haben. Roboterstimmen zum Beispiel klängen zu perfekt, hatte Zetland-CEO Tav Klitgaard kürzlich in einem Interview mit Medieninsider gesagt, die Nutzer wollten aber Menschlichkeit: „Wir mögen keine Perfektion, weil Perfektion nicht vertrauenswürdig ist.“

Auch das ist eine Erkenntnis aus Report und Innovation Forum: KI sucht in vielen Redaktionen noch ihren Platz. Zwar gibt es kaum ein Haus, das noch nicht an und mit entsprechenden Werkzeugen arbeitet, mehr als 80 Prozent der Befragten berichten von laufenden KI-Projekten. Man habe es aber noch zu häufig mit „Lösungen zu tun, die nach Problemen suchen“, wie es ein Teilnehmer der Diskussionsrunde formulierte. Sprich, es wird viel experimentiert, aber es ist unklar, was man mit Hilfe Künstlicher Intelligenz wirklich erreichen will und kann. Noch ist KI in Redaktionen mehr Handwerkszeug als Heilsbringer, sie transkribiert, übersetzt, fasst zusammen und schlägt Text-Bausteine vor. Auch Effizienz-Versprechen werden noch nicht eingelöst – jedenfalls dort, wo man Journalismus ernst nimmt und das Vertrauen seines Publikums nicht durch übermäßige Fehler riskieren will. Stattdessen sind Investitionen nötig, auch in neue Talente. Fazit: Für Medienhäuser wird das KI-Rennen zum Marathon, auf der Strecke steht manch quälender Abschnitt noch bevor.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 14. Januar 2025. Aktuelle Kolumnen von Alexandra lesen Sie dort mit einem Abo. 

KI-Siegel im Journalismus? Wenn, dann richtig

Im Fall Sports Illustrated war die Sache eindeutig. Als durchsickerte, dass nicht hinter jedem Kolumnisten und Reporter des traditionsreichen amerikanischen Sportmagazins ein kluger Kopf sondern zuweilen nur ein Sprachmodell steckte, kostete das etliche Abos und am Ende auch CEO Ross Levinsohn seinen Job. Redaktionen, die Journalisten-Imitate aus künstlicher Intelligenz einsetzen, machen das also besser selbstbewusst mit eindeutigem Transparenz-Hinweis, wie dies zum Beispiel der Kölner Express mit seiner Avatar-Reporterin Klara Indernach (abgekürzt KI!) tut. Und selbst dann kann die Sache schief gehen. Der Radio-Sender Off Radio aus Krakau, der zunächst stolz verkündet hatte, seinen Hörern ein allein von KI gesteuertes Programm vorzusetzen, musste das Experiment nach kurzer Zeit abbrechen. Eine Avatar-Moderatorin hatte ein fiktives Interview mit der Literatur-Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska geführt und sie zu aktuellen Themen befragt – nur lebt die Autorin schon seit 2012 nicht mehr. Das Publikum war entsetzt.

Derzeit gilt Transparenz und eine offene Debatte darüber, ob, wann und in welchem Maße Redaktionen beim Erstellen von Inhalten KI einsetzen, in der Branche dennoch als eine Art Königsweg. In den meisten Ethik-Leitlinien zum redaktionellen Umgang mit KI dürfte sich dazu der eine oder andere Absatz finden. Die Furcht ist groß, durch unbedachten KI-Gebrauch die eigene Marke zu beschädigen und das vielerorts angeknackste Medienvertrauen weiter auszuhöhlen. Da schreibt man dann lieber mal dazu, dass diese oder jene Zusammenfassung oder Übersetzung von Sprachmodellen generiert wurde. Wie das bei den Lesern und Nutzern ankommt, ist allerdings noch kaum erforscht – und auch unter Branchen-Experten umstritten. Während die einen sich für Kennzeichnungen aussprechen, wie man sie von Nahrungsmitteln kennt, verweisen die anderen darauf, dass Label das Publikum erst recht misstrauisch stimmen könnten. Immerhin könnte der Hinweis „KI-unterstützt“ auch so interpretiert werden, dass sich die Redaktion aus der Verantwortung stehlen möchte.

Aus anderen Bereichen weiß man zudem: zu viel Transparenz kann Vertrauen ebenso schmälern wie zu wenig. Eine vollständige Liste aller Pannen und Kunstfehler, im Foyer eines Krankenhauses ausgehängt, würde Patienten vermutlich eher abschrecken als zuversichtlich stimmen. Gleiches gilt für Defekte an Flugzeugen oder Missgeschicke in Restaurantküchen. Wer überall einen Warnhinweis liest, ergreift entweder die Flucht oder schaut nicht mehr hin. Rachel Botsman, eine führende Expertin zum Thema, definiert Vertrauen als „eine selbstbewusste Beziehung zum Unbekannten“. Transparenz und Kontrolle stärkten Vertrauen nicht, sondern machten es weniger notwendig, weil sie das Unbekannte reduzierten, argumentiert sie.

Viel wichtiger für die Vertrauensbildung sind gute Erfahrungen mit der Marke oder Individuen, die sie repräsentieren. Dazu sollte eine Organisation offen darüber kommunizieren, welche Schritte sie unternimmt und welche Prozesse sie installiert hat, um Pannen zu verhindern. In Flugzeugen gehören dazu Redundanz von Technik, die doppelte Besetzung des Cockpits und feste Abläufe, in Redaktionen das Vier-Augen- und das Zwei-Quellen-Prinzip. Wenn Menschen einer Medienmarke vertrauen, gehen sie schlicht davon aus, dass dieses Haus alle Abläufe nach bestem Wissen und Gewissen strukturiert und regelmäßig überprüft. Wird KI als Sonderfall herausgestellt, könnte sich der Eindruck einschleichen, dass die Redaktion der Sache selbst nicht so richtig traut.

Felix Simon, Wissenschaftler am Reuters Institute in Oxford, hält deshalb allgemeine Transparenz-Regeln für ebenso wenig praxistauglich wie auch den Grundsatz, es müsse immer ein Mensch die Endkontrolle übernehmen. Es sei eine Fehlannahme, dass man allein mit diesen Maßnahmen das Vertrauen des Publikums zurückgewinnen könne, schreibt er in einem Essay.

Viele Journalisten machen sich zudem nicht bewusst, wie stark ihre eigene redaktionelle Berichterstattung über Künstliche Intelligenz das Verhältnis ihres Publikums dazu prägt. Wer in Interviews, Essays und Podcasts ständig liest und hört, was für einem Teufelszeug sich die Menschheit da ausliefert, wird der Technologie kaum aufgeschlossen gegenüberstehen, wenn die sonst so geschätzte Redaktion plötzlich überall KI-Hinweise anbringt. In Umfragen äußern sich Befragte deshalb erwartungsgemäß eher skeptisch, wenn sie zum Einsatz von KI im Journalismus um Auskunft gebeten werden.

Es gilt deshalb, die Kompetenz der eigenen Reporter zu stärken, damit sie das Thema KI vielschichtig angehen und konstruktiv begleiten, statt zwischen Hype und Weltuntergang zu mäandrieren. Auch die Vermenschlichung von KI – sei es über Avatar-Reporter oder nur in der Sprache (streng genommen ist schon Intelligenz ein unpassendes Wort) – trägt nicht gerade dazu bei, dem Publikum ein realistisches Bild davon zu vermitteln, was Sprach- und Rechenmodelle können und was eben nicht.   

 

Der Eindruck, den Menschen von KI haben, wird zudem stark davon geprägt werden, welche Erfahrungen sie selbst damit machen. Unter Studierenden gibt es wohl schon gegenwärtig kaum jemanden mehr, der nicht dann und wann Hilfsmittel wie ChatGPT nutzt. Auch wer von Berufs wegen programmiert, greift auf die blitzschnellen Rechenmodelle zurück, und für Büroarbeiter wird KI in zunehmendem Maße zum alltäglichen Werkzeug, ganz so wie Rechtschreibkontrolle, Excel Kalkulationen oder Spracheingabe. Allerdings wird es immer weniger offensichtlich werden, hinter welchen Tools welche KI steckt, da die Tech-Anbieter sie ins Leistungspaket stecken wie den Autofokus beim Fotografieren mit dem Smartphone. KI-Labels könnten deshalb schon bald wirken wie ein Relikt aus vergangener Zeit. 

Bei einer Konferenz, zu der das in Washington ansässige Center for News, Technology & Innovation jüngst nach Brüssel eingeladen hatte, schlug ein Teilnehmer vor, man sollte womöglich über eine Kennzeichnung von menschengemachtem Journalismus nachdenken. Was im ersten Moment nach einem Scherz klingt, hat tatsächlich einen ernsthaften Hintergrund. Die Branche muss sich zügig darüber klar werden, wie sich Journalismus in einer Welt der rasant skalierenden automatisierten Inhalte-Produktion seine Einzigartigkeit und Relevanz bewahrt. Sonst hat sie bald größere Probleme als die Frage, wie man KI-unterstützten Journalismus im Einzelfall kennzeichnen soll.               

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 28. November 2024. Aktuelle Kolumnen von Alexandra dort lesen Sie mit einem Abo. 

Der Aufstieg der Journalismus-Influencer

Müsste man den Zustand des Journalismus auf Basis des Digital News Reports von 2024 in einen Satz fassen, könnte man sich an Rasmus Nielsen halten, den scheidende Direktor des Reuters Institutes: „Die Öffentlichkeit ist im Grunde zufrieden mit dem Journalismus“, hatte Nielsen beim Launch der weltweit größten fortlaufenden Untersuchung zum Medienkonsum gesagt. Von einer Krise könne nicht die Rede sein. Zwar hält der Report für jeden etwas bereits, der Alarmstimmung schüren möchte: Menschen vermeiden weiterhin oft oder manchmal Nachrichten (39 Prozent geben das an), fürchten Desinformation und vertrauen dem, was sie lesen, nicht unbedingt. Aber man hat es hier überwiegend mit „Glas-halb-leer“-Interpretationen zu tun. Tatsächlich finden Nutzer im Journalismus vieles, was ihren Bedürfnissen entspricht, ihr Vertrauen in Medienmarken ist recht stabil, und viele trauen sich zu, den Wahrheitsgehalt von Nachrichten einordnen zu können.   

Die Prognose für diejenigen, die mit eben diesem Journalismus Geld verdienen müssen, fällt hingegen weniger günstig aus. Die Zahlungsbereitschaft für journalistische Produkte stagniert im weltweiten Durchschnitt bei etwa 17 Prozent (in Deutschland sind es 13); im vergangenen Jahrzehnt hat sich der Wert kaum bewegt. Ein sinkender Anteil von Menschen steuert Medienmarken direkt über Websites oder Apps an, was mit der Aussicht auf die neue KI-Wirklichkeit besonders beunruhigend ist, wo Suchergebnisse von Sprachmodellen generierte Texte statt Links zutage fördern werden. Bei unter 35-Jährigen nehmen sogar nur noch 14 Prozent den direkten Weg, weitere vier Prozent konsumieren Nachrichten über Newsletter. Dafür konsumieren immer mehr Nutzende News-Videos über Tik Tok und YouTube, was Verlage bekanntlich nicht monetarisieren können. Der Trend, dass die ganz Großen das Geschäft für sich entscheiden, dürfte sich fortsetzen, und hinzu kommt eine weitere Entwicklung: Einzelne prominente Journalismus-Influencer ziehen zum Teil mehr Aufmerksamkeit auf sich, als dies Medienmarken schaffen.

Wer Letzteres als einen Sieg der Medien-Vielfalt feiert, freut sich womöglich zu früh. Analysiert wurden die Märkte USA, Großbritannien, und Frankreich, und bis auf eine Ausnahme haben alle diese vom Publikum genannten Einzelkämpfer eines gemeinsam: Es sind Männer. Während die Redaktionen von den Volontärs-Jahrgängen bis in die Chefetagen zunehmend weiblicher werden, zeichnet sich beim Nutzerverhalten ein Muster ab, das den Aufstieg der Populisten in der politischen Welt spiegelt: Etliche Menschen vertrauen der starken Stimme mehr als den vielen, denen vor allem die Marke ihrer Organisation Autorität verleiht.

Beobachter, zu denen auch die Experten auf dem Launch-Panel gehörten, erklären sich das damit, dass Authentizität ein zunehmend gefragter Wert ist. Dies gaben auch etliche für den Digital News Report befragte Nutzer zu Protokoll. Dass Video-Formate immer beliebter werden, erklärt sich zu einem Teil ebenfalls daraus. Die im März veröffentlichte qualitative FT Strategies Studie „Next Gen News“ hatte ergeben, dass gerade jüngere Menschen Journalismus-Influencern mehr vertrauen als traditionelle Medienmarken, die ihnen nicht mehr so viel sagen wie der Generation ihrer Eltern und Großeltern. Diese Persönlichkeits-Marken helfen ihnen beim Navigieren in einer zunehmend unübersichtlichen Informationswelt.

Wie „authentisch“ diese Meinungsmacher wirklich sind, und vor allem, wie sauber sie arbeiten, wenn sie sich keiner redaktionellen Kontrolle unterziehen müssen, erweist sich von Fall zu Fall. Medienhäuser begeben sich deshalb in einen Spagat. Sie sollen Stars rekrutieren oder aufbauen und pflegen, während sie alle anderen bei Laune halten müssen. Das ist nicht gänzlich neu, kann aber zu einer schwierigen Übung werden, wenn es um Teamgeist und die zunehmend wichtigeren Aufgaben geht, die vielen Mitarbeitenden kein Rampenlicht versprechen. 

Dass Journalismus im Leben vieler Menschen einen Platz hat, ist zunächst einmal eine beruhigende Erkenntnis aus diesem Report. Dass ihnen die Organisationen weniger bedeuten, die ihn mit viel Aufwand und unter großem Einsatz von Ressourcen produzieren, bereitet jedoch vielen in der Branche Sorgen. Und so gehen auch die Bewertungen dazu weit auseinander, was Künstliche Intelligenz für das Metier bedeuten könnte. Für den EBU News Report „Trusted Journalism in the Age of Generative AI” von 2024 haben wir mit Dutzenden Medien-Führungskräften gesprochen. Die meisten betonten die Möglichkeiten, die KI für die redaktionelle Arbeit eröffnet. Auf der Suche nach Geschäftsmodellen bleiben allerdings derzeit nur die ganz Großen einigermaßen locker. KI könnte gut für den Journalismus sein. Für die Branche ist sie es höchstwahrscheinlich nicht.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 25. Juni 2024. Um aktuelle Kolumnen zu lesen, braucht man ein Abo.         

(Alb-)Traumberuf Journalist – So könnten Verlage der Nachwuchskrise begegnen

Es ist eine Weile her, da galt der „Volontärsbeauftragte“ als eine Art Wächter vor dem Paradies. Die Journalistenausbildung war begehrt, und wer sich bewarb, musste dafür einiges tun – zum Beispiel zum „Probearbeiten“ antreten. Mittlerweile hat sich die Dynamik ins Gegenteil verkehrt.

Assessment Center möge er das gar nicht mehr nennen, sagte ein für die Ausbildung verantwortlicher Kollege einer deutschen Regionalmarke kürzlich auf dem Forum Lokaljournalismus. „Es ist mittlerweile so, dass wir uns bei denen bewerben.“ 

Die Branche steckt in der Talentekrise

Zunächst hatte man sich – typisch Journalistin – gewundert, im April 2024 wegen einer fünf (!) Jahre alten Studie zu der Veranstaltung der Bundeszentrale für Politische Bildung eingeladen worden zu sein. Im Workshop-Raum wurde allerdings schnell klar: Der Titel der Studie Are Journalists Today’s Coal Miners? hat keinerlei an Aktualität verloren und beschreibt die gegenwärtige Situation in den Regionalverlagen recht genau. Zusammengefasst: Immer weniger junge Menschen interessieren sich für Journalistenjobs, die Qualität der Bewerbungen sinkt – und etliche von denen, die dann doch anheuern, sind schnell wieder weg. Die Branche steckt mitten in der Talente-Krise.

Dabei habe man die Anforderungen doch schon gesenkt, lamentierten einige Diskutanten. Früher habe man Anschreiben mit Rechtschreibfehlern sofort weggelegt oder müde abgewunken, wollte jemand das Abenteuer Journalistenberuf ohne Führerschein wagen. Heute versuche man, jegliche Homeoffice-Wünsche mit den Anforderungen des aktuellen Geschäfts zu verbinden. Aber wo nicht Berlin, Hamburg, Leipzig, oder Köln in der Nähe seien, winkten heute die meisten jungen Leute ab. 

Die Gründe für das mangelnde Interesse am einstigen Traumberuf sind vielfältig. Einstiegsgehälter nach dem Volontariat „knapp unter Busfahrer in München“ (so ein Teilnehmer), hohe Arbeitsbelastung, die schwierige Situation der Branche und zunehmende Anfeindungen gehören dazu. Der wichtigste dürfte aber das sein, was ein Chefredaktionsmitglied so beschrieb: „Die jungen Leute haben keinen Produktkontakt mehr“.

Wer sich vorwiegend auf Instagram und TikTok über das Weltgeschehen auf dem Laufenden hält, dem fehlen nicht nur die Vorbilder, die mit dem Weißen Haus im Hintergrund die Lage erklären, in Schutzweste vor Trümmern in Charkiw stehen oder als sonor plaudernde Radiomoderatorin den morgendlichen Erstkontakt zur Außenwelt herstellen. Der potenzielle Nachwuchs fragt sich auch, warum er für etwas, das heute jeder selbst produzieren kann, eine Ausbildung und eine Marke als Ausspielkanal baucht, die jeder mit seinen Großeltern assoziiert. Wer dann noch auf Führungskulturen aus dem vergangenen Jahrhundert trifft, schaltet ab.

All dies wurde in der oben genannten, 2019 vom Reuters Institute in Oxford und der Universität Mainz herausgegebenen und von der Deutsche Telekom Stiftung finanzierten Studie thematisiert. Dort ging es auch um mangelnde Vielfalt in Redaktionen Deutschlands, Schwedens und Großbritanniens, was damals vielen als das drängende Thema erschien. Beim Stichwort Talentekrise hatten noch viele abgewunken. Ein Grund ist, dass die Debatte über Journalismus und Medien vorwiegend von den großen Marken dominiert wird, bei denen sich der Bewerbermangel in Grenzen hielt. Aber nun, da viele Baby-Boomer in Rente gehen, wissen Regionalverlage kaum noch, wo der Nachwuchs herkommen soll. Und viele derjenigen, die dann doch einsteigen, wollen arbeiten wie die Alten, statt dem Verlagshaus den Weg in die Zukunft zu zeigen. Sie wollen lange Geschichten recherchieren und schreiben, statt TikToks zu produzieren (oder der „human in the loop“ bei der KI-assistierten Produktion zu sein).

Viele in der Branche scheinen verzweifelt, doch die Lage ist nicht aussichtslos. Es gibt Mittel und Wege, die Attraktivität des Journalistenberufs und der Branche zu steigern.

Lösung eins: Diversität

Man kann gleich zwei Probleme lösen, in dem man sie miteinander kombiniert. Viele Häuser ringen ohnehin um mehr Vielfalt in den Redaktionen, um die Gesellschaft abzubilden und hoffentlich neue Zielgruppen zu erreichen. Das heißt: Theoretisch könnten sie aus einem deutlich größeren Kandidaten-Pool schöpfen als früher, wo überwiegend die sehr gute Deutschnote Voraussetzung für eine Journalistenkarriere war. Zweitens haben etliche Verlage das erkannt und tun eine ganze Menge, um sich attraktiver für junge Kollegen zu machen. Leider ist dies anstrengend. 

Mit dem Öffnen der Tore für junge Menschen, deren Herkunft, Bildung, Hautfarbe, Muttersprache oder Religionszugehörigkeit nicht der Mehrheit entsprechen, ist es nämlich nicht getan. Man muss zunächst aktiv um sie werben und sie dann auch entsprechend ermutigen, begleiten, zum Teil extra ausbilden. Gerade Kinder aus Einwandererfamilien werden oft von ihren Familien vom Weg in den Journalismus abgehalten. Großeltern oder Eltern hätten viel dafür riskiert und geopfert, heißt es dort, um den Kindern den Aufstieg zu ermöglichen. Im Gegensatz zur Medizin, zur Juristerei oder dem Ingenieurwesen gilt der Journalismus nicht als Aufstiegsberuf – zumal Pressefreiheit in einigen Herkunftsländern nicht vorgelebt werden konnte.

Lösung zwei: Anpassungsdruck abbauen 

Die nächste Hürde ist die Redaktionskultur. Wer zu einer Minderheit gehört und trotzdem brilliert, tut das oft unter erheblichem Anpassungsdruck. Diese Kandidaten haben ein exzellentes Gespür für die Mehrheitsnormen und werden sich diesen eher anpassen, als dagegenzuhalten. Das heißt dann für die Redaktionen, dass sie zwar optisch besser aussehen, aber inhaltlich nicht von der Vielfalt profitieren. Eine wertschätzende Kultur, in der man abweichende Stimmen ermutigt, ihnen zuhört und ihre Ideen auch mal umsetzt, ist die Grundvoraussetzung für ein inklusives Klima. 

Es geht darum, die Stärken der jungen Kollegen zu erkennen, zu nutzen und darin zu investieren, nicht darum, sie in das alte Schema zu pressen. Wer das hinbekommt, entwickelt nicht nur loyale Mitarbeiter, sondern hilft auch dem Produkt und damit letztlich dem Publikum. Beim Birminghamer Ableger der größten britischen Regionalzeitungsgruppe Reach war es zum Beispiel eine muslimische Volontärin, die den preisgekrönten Newsletter  Brummie Muslims entwickelt und zu einer Erfolgsgeschichte gemacht hatte. 

Lösung drei: Weg von den Muster-Ausbildungen

Verlage haben einige interessante, zum Teil sogar erfolgreiche Versuche in der Mache, um den Trend zu drehen. Die einen setzen Karriereseiten auf, die barrierefrei konzipiert sind, also Bewerber nicht mit übermäßigen Anforderungen abschrecken. Die anderen haben Quereinsteiger eingestellt: die ehemalige Versicherungskauffrau, die jetzt Service-Stücke schreibt, die ehemalige Kindergärtnerin, die es versteht, mit verschiedensten Menschen ins Gespräch zu kommen; den Instagramer mit den vielen Followern, der die Marke bei jungen Leuten bekannt macht – wenngleich er niemals als Blattmacher im Sonntagsdienst einsetzbar sein wird. Die WAZ brüstet sich damit, Deutschlands erstes Klimavolontariat anzubieten. Und dann gibt es tatsächlich solche Arbeitgeber, die mehr zahlen – ein Deutschland-Ticket gibt es obendrauf. Die Ausbildungsbeauftragte der Freien Presse Chemnitz, Jana Klameth, brachte es beim Forum Lokaljournalismus auf den Punkt: „Wir brauchen viele zugeschnittene Volontariate. Eines für alle, das geht nicht mehr.“

Diese Herausforderung bleibt

Mit etwas Mühe, der richtigen Verkaufe und ein paar Anreizen dürfte das Werben eigentlich gelingen. Ist „Purpose“ nicht angeblich eines der wichtigsten Themen für die jüngeren Generationen? Einige Verlage beobachten das; allerdings zieht dieses Argument wohl vor allem bei Frauen. Der Nachwuchs sei überwiegend weiblich, heißt es. Und das hat man ja schon in anderen Berufen beobachtet, in denen Status und Gehälter in gleichem Maße sanken wie die Arbeitsanforderungen stiegen.

Was aber noch überzeugender sein sollte als das Sinnstiftende am Beruf ist die Aussicht auf eine Top-Qualifikation. Journalisten müssen heute so viel mehr können als früher: Es geht nicht nur ums Geschichtenerzählen, sondern um Produktentwicklung, Datenanalyse, den Umgang mit KI, das Verständnis von Geschäftsmodellen und Distributionskanälen – alles Fähigkeiten, die Bewerber auch in anderen Branchen hoch attraktiv machen. Und hiermit tut sich für die Medienhäuser das nächste Problem auf.

Dieser Text erschien bei Medieninsider am 30. April 2024. Aktuelle Kolumnen lassen sich mit einem Abo lesen. 

Zwischen Energieschub und Datensalat: So klappt das mit den Redaktionsmetriken

Was nicht gemessen wird, wird nicht erledigt. In den Künstlerflügeln von Redaktionen mag diese alte Weisheit aus der Wirtschaftswelt noch immer nach kleinkarierter Controller-Denke klingen. Aber mit dem Generationswechsel in den Verlagshäusern hat sich selbst unter Journalisten die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich mit Hilfe von Kennzahlen nicht nur jenes Wachstum treiben lässt, das die eigenen Arbeitsplätze sichert. Daten übermitteln auch Signale, ob die Verbindung zu den Menschen noch stimmt. Metriken sind selbstverständliche Begleiter des Redaktionsalltags geworden. Allerdings gehen Meinungen und Erfahrungen dazu weit auseinander, was denn nun gemessen werden kann und vor allem, was davon an wen kommuniziert werden sollte.

Martin Baron, ehemaliger Chefredakteur der Washington Post, beschreibt in seinem neuen Buch Collision of Power einerseits, wie er immer ungehaltener wurde angesichts der von ihm bei Kollegen beobachteten „absichtlichen Ignoranz dessen, was nötig ist, um ein gesundes Geschäft zu führen, des selbstgerechten Moralisierens und der reflexhaften Opposition gegen das Durchsetzen von Verhaltensstandards, selbst solcher, denen die Mitarbeiter bei ihrer Einstellung zugestimmt hatten“. 

Andererseits erzählt er auch vom Widerstand gegen Metriken, mit denen WaPo-Eigentümer Jeff Bezos die Redaktion antreiben wollte – zum Beispiel die Vorgabe, dass bestimmte Texte innerhalb von 15 Minuten umgeschlagen werden sollten als wären sie Amazon-Päckchen. Baron schreibt, er habe in seiner Karriere meist gedacht, „dass Verleger und ihre Business-Teams nicht begriffen hatten, welche Mühe und welche Ressourcen notwendig sind, um Qualitätsjournalismus zu produzieren – und dass ihre Metriken mit gelegentlichen Ausnahmen Bullshit waren“.

Unter dem Strich aber, so klingt es durch, hatten die neuen Strategien und Standards, die Bezos einforderte, die Redaktion eher beflügelt. Das wird zum Großteil daran gelegen haben, dass der Multimilliardär kräftig in Personal und Technik investierte. Das wird derzeit zwar teilweise wieder rückabgewickelt, allerdings arbeiten viele wohl jeder lieber in einer Organisation, in der Leistung intern und extern gesehen und in der an Zukunft gebastelt wird, statt die Gegenwart zu verwalten. Wie ein Fitnessarmband können Metriken die Motivation ordentlich treiben, wenn sie richtig gesetzt werden. Damit das klappt, sind einige Grundsätze hilfreich. Hier sind fünf Punkte, wie es mit den Metriken funktioniert.

Erstens: Den eigenen Weg finden 

Verlage suchen gerne anderswo nach Erfolgsgeschichten und hoffen, sie kopieren zu können. Das gelingt allerdings nur bedingt. Kaum ein Haus ist vergleichbar mit der New York Times, deren Führungskräfte auf Branchenkonferenzen umlagert werden. Auch kleinere skandinavische Marken eignen sich nur eingeschränkt als Vorbilder – wenngleich deutsche Verlage allzu gerne in die Nordländer schauen, wo die Zahlungsbereitschaft für Digitalabos am höchsten ist. Jeder Verlag muss zunächst eine Strategie für seinen Journalismus und Geschäftsmodelle entwickeln, die zum eigenen Markt und zur Marke passen. Erst dann folgen die Metriken, die diesen Wachstumspfad flankieren. Ansonsten liefen Redaktionen Gefahr, ihren Journalismus den gesetzten Metriken anzupassen, anstatt sie so zu setzen, dass sie dem Journalismus dienten, schrieb Elisabeth Gamperl in einem 2021 erschienenen Report für das Reuters Institute. Das Papier, für das die SZ-Journalistin datenaffine Redaktionsmanager von Medienhäusern wie The Guardian, The Times, Globe and Mail, and Dagens Nyheter interviewt hatte, enthält einige wertvolle Ratschläge dazu, wie das gehen kann.  

Zweitens: Die Redaktionskultur beachten und entsprechend kommunizieren

Redaktionen sind unterschiedlich. Das betrifft nicht nur den Grad der Digitalisierung und das allgemeine Datenverständnis, sondern auch die Kommunikations- und Fehlerkultur. Während zum Beispiel beim schwedischen Dagens Nyheter jeder Journalist jederzeit am eigenen Bildschirm die Erfolge und Misserfolge aller Kollegen abrufen kann, sind hierzulande viele Verlage sehr darum bemüht, solche Auswertungen nur individuell oder sehr dosiert zu verteilen – vor allem um Redakteure und Betriebsräte nicht gegen sich aufzubringen. Eine leitende Redakteurin einer Regionalzeitung erklärte es in einem Workshop jüngst so:  „In den Konferenzen kommunizieren wir nur die Erfolge, die Fehler werden individuell besprochen.“. Oft gehen die gesammelten Datensätze nur an Führungskräfte. Eine Redaktion, die stolz auf ihren investigativen Journalismus ist, fühlt sich womöglich demotiviert von Hitlisten, in denen stets Service-Texte dominieren. Ebenso verwirrend kann es sein, wenn das leitende Personal ständig über Klickraten jubelt, obwohl Aboabschlüsse das Ziel sind. Solche „Eitelkeitsmetriken“, wie Medienforscher Nic Newman sie nennt, mögen legitime Kosmetik für Präsentationen vor der Geschäftsführung sein, lenken aber vom Ziel ab. Natürlich können sich Redaktionskulturen auch wandeln. Aber solche Veränderungsfreude entfachen nur Führungskräfte, die konstruktiv kommunizieren können und nicht solche, die Metriken als Mittel des Prinzips „teile und herrsche“ einsetzen. Schließlich sollten Daten vor allem dazu eingesetzt werden, aus den verfügbaren Ressourcen mehr zu machen. Kaum ein Journalist produziert gerne allein für das Redaktionsarchiv.      

Drittens: Simpel bleiben 

Die wirkungsvollsten Metriken sind jene, die jeder versteht. Noch besser sind sie, wenn Kollegen daraus ableiten können, was jetzt zu tun ist. Das klingt simpel, wird aber nicht überall so gesehen. Sehr oft werden die Redaktionskennzahlen von Datenanalysten entwickelt, die sich nicht vorstellen können, dass sich vielen Redakteuren die Schönheit einer Excel-Tabelle nicht erschließt. Die Folge sind komplizierte Formeln, die nur Eingeweihte deuten können. Einige Redaktionen beweisen Mut zur Lücke und trimmen ihre Kollegen darauf, zum Beispiel nur auf die täglich eingeloggten Abonnenten zu schauen – ein Zeichen dafür, ob die Nutzerloyalität und damit die Abohaltbarkeit stimmt. Andere wiederum entwickeln aus einer Kombination von Metriken einen Wert, den es im Auge zu behalten gilt. Die  Financial Times zum Beispiel hatte es mit ihrer „R x F x V“-Formel (Recency, Frequency, Volume) geschafft, die Zahl ihrer Digitalabonnenten binnen zehn Jahren auf über eine Million zu verzehnfachen. Aber selbst das mag manch einem zu kompliziert sein. Da hilft nur einfach starten und langsam steigern – und aufpassen, dass man nicht doch irgendwann mit Datensalat endet.  

Viertens: Veränderungen nicht scheuen

Da hat man die Redaktion nun endlich für Daten erwärmt, sind alle gespannt auf die „Conversions“ wie auf das tägliche Päckchen im Adventskalender – und plötzlich soll man verkünden, dass man von nun an auf die zehn Texte vor dem Aboabschluss schauen wird? Kein Redaktionsmanager gibt gerne zu, dass eine Metrik ihr Ziel verfehlt. Doch der Weg zu funktionierenden Kennzahlen ist anstrengend und führt in manche Sackgasse. Die klarsten Metriken nutzen nichts, wenn sie ein Klima erbitterter Konkurrenz oder gar Angst forcieren oder sich als letztlich sinnlos erweisen. Danny Gawlowski von der Seattle Times kann wunderbar vom Ringen der Redaktion um die richtigen Werte erzählen. Dort hat man ein Verfahren etabliert, bei dem Redakteure sich nicht untereinander vergleichen, sondern nur gegen sich selbst antreten: Wer die gleiche Aufgabe hat, muss idealerweise 15 Prozent besser abschneiden als im Jahr zuvor. Jemand, der über Opern schreibt, könne sich unmöglich mit jemandem messen, der das örtliche Football-Team begleitet, so Gawlowski. Aber ein bisschen sportlichen Ehrgeiz sollten auch die Kulturkollegen mitbringen.

Fünftens: Von Ausreißern lernen

Wo Daten ausgewertet werden, geht es oft ums Große. Man schaut auf Häufungen, Volumen, die Top-Performer. Manchmal sind aber gerade die Ausreißer wichtige Signale dafür, was gegen jeden Instinkt funktioniert oder an welchen Schrauben man drehen könnte. Schneidet ein Stück zu einem Thema herausragend ab, das sonst als eher schwer verkäuflich gilt, mag das ein Zufall sein. Wahrscheinlicher aber ist, dass es eine Ursache gibt. Vielleicht war die Sendezeit richtig gewählt, vielleicht hat der politische Kontext gestimmt, möglicherweise klang auch die Überschrift ungewöhnlich emotional oder eine Protagonistin ist ein Star in den sozialen Netzwerken. Es sei gut investierte Zeit, nach positiven Überraschungen zu fahnden, habe Jeff Bezos der Redaktion mitgegeben, so Baron. Sei etwas erfolgreich, ohne dass man es bewusst forciere, liege da womöglich eine Chance.

Ohnehin müssen laut dem Amazon-Gründer auch gute Regeln manchmal gebrochen werden. Bei einer Mitarbeiterversammlung der Washington Post sagte er laut Baron: „Manche Dinge sind so schwer zu messen, dass du […] sie nicht wirklich messen kannst und Bauchgefühl und Intuition nutzen musst. Und dann gibt es andere Dinge, die über den Metriken stehen. Das sind Prinzipien, die dir so wichtig sind, dass du ihnen folgen musst, selbst wenn die Metriken dir das Gegenteil nahelegen.“ Was diese Prinzipien oder – besser – Werte sind, muss jede Redaktion für sich festlegen.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 30. Oktober 2023.

Verlockt, verwöhnt, verbunden: Mit dieser Preispolitik erobern Verlage die Herzen ihrer Kunden

Wer viel unterwegs ist, hat sich längst daran gewöhnt, dass Preise nicht nur von der Qualität des Produkts abhängen: Airlines verkaufen ihre Tickets je nach Nachfrage, bei Booking.com zahlen Smartphone-Nutzer und loyale Kunden günstigere Raten für Hotelzimmer, an der Tankstelle steht manchmal ein anderer Liter-Preis an der Zapfsäule als der, den man noch vor ein paar Minuten an der Einfahrt gesehen hatte. Und womöglich wird zukünftig auch die Kneipe zu einer Art Bier-Börse: „The rise of surge pricing: It will eventually be everywhere“, betitelte die Financial Times kürzlich eine größere Recherche, nachdem eine britische Pub-Kette angekündigt hatte, zu Stoßzeiten mehr fürs Bier zu verlangen. 

In der Medienbranche halten sich die flexiblen Preismodelle noch in Grenzen, aber es gibt sie: Die New York Times verlangt für das Abo in Europa deutlich weniger als auf dem Heimatmarkt. Andere Marken wie der zur schwedischen Bonnier-Gruppe gehörende Dagens Nyheter arbeiten mit dynamischen Bezahlschranken, die hochgezogen werden, sobald ein Text häufig und ausführlich gelesen und geteilt wird, die Nutzer ihn also als besonders attraktiv bewerten. Außerdem scheinen Abos zuweilen Verhandlungssache zu sein. Nic Newman und Craig Robertson vom Reuters Institute in Oxford bezeichnen es als eines der erstaunlichsten Erkenntnisse einer auf Deutschland, die USA und Großbritannien fokussierten Studie, welche Bandbreite an Abo-Preisen verschiedene Nutzer für ein und dasselbe Produkt zu zahlen scheinen. Die Untersuchung Paying for News: Price-Conscious Consumers Look for Value amid Cost-of-Living Crisis erschien im September 2023.

Flexible Preise sind kein „No Go“ mehr

Flexible Preise galten lange als „No-Go“. Aber womöglich ist es nur fair, dass diejenigen mehr für ein Produkt zahlen, denen es mehr bedeutet. Angesichts der rasant wachsenden Möglichkeiten künstlicher Intelligenz ist es absehbar, dass sich in verschiedensten Branchen Preismodelle durchsetzen werden, die berücksichtigen, wann, wie häufig, wie intensiv und von welchem Endgerät aus ein Nutzer auf bestimmte Produkte und Dienstleistungen zugreift. Verlage sind also gut beraten, schon jetzt mit Kreativität an die Sache zu gehen. Denn zwischen Paywall, Mitgliedschaften und dem unbegrenzt kostenlosen Zugriff gibt es noch eine Reihe von flexiblen Möglichkeiten. Wichtig ist allerdings, dass man sich über seine Strategie und Zielgruppen im Klaren ist – und die darf man getrost differenzieren.

Die New York Times zum Beispiel wird für die wenigsten Menschen in Übersee beim Abo-Abschluss erste Wahl sein, anders als in ihrem Kernverbreitungsgebiet rund um New York City. Es ist nur logisch, dass der Verlag nicht allen Kunden den gleichen Preis anbietet. Der Guardian verzichtet ganz auf Bezahl-Zwang, weil sich die Geschäftsführung darauf verlassen kann, dass ein beträchtlicher Teil des politisch eher links engagierten Publikums aus moralischer Verpflichtung freiwillig für den Journalismus zahlt und ihn auch anderen zugänglich machen möchte. Fast nirgendwo anders funktioniert dieses Modell so gut wie dort.  

Eine vielversprechende Mischform ist der Text zum Verschenken. Schon jetzt erlauben viele Medienmarken ihren Abonnenten, Beiträge mit einer begrenzten Anzahl von Nutzern zu teilen. Für das dänische Journalismus-Portal Zetland ist das ein Erfolgsprinzip: Abonnenten dürfen Geschichten unbegrenzt oft verschenken. „Journalismus funktioniert als Gespräch“, sagt Zetland-CEO Tav Klitgaard. Das 2016 gegründete, strikt auf konstruktiven Journalismus fokussierte Medienunternehmen generiert auf diese Weise Leser-Einnahmen und Reichweite gleichermaßen, und es scheint sich auszuzahlen. Seit 2019 ist Zetland profitabel und hat mittlerweile 40.000 zahlende Kunden, die pro Monat im Schnitt 17 Euro hinlegen. Ein Drittel davon ist jünger als 33 Jahre. Die Gründer führen dies natürlich nicht nur auf das Geschenk-Konzept zurück, sondern auf die  journalistische Qualität und ein stark auf Audio ausgelegtes Angebot.  

Auch das kulturelle Umfeld ist für die Preisgestaltung relevant

Wer an Preis- und Geschäftsmodellen arbeitet, sollte sich aber nicht nur mit seinen Produkten und Nutzern, sondern auch mit dem kulturellen Umfeld beschäftigen. US-Amerikaner zum Beispiel sind das Spenden gewöhnt, sie tun es in den vielfältigsten Zusammenhängen gerne und reichhaltig. In Deutschland, wo man Wohltätigkeit vor allem vom Staat erwartet, weil man ohnehin kräftig Steuern zahlt, ist die Spender-Kultur weniger ausgeprägt. Preise und Leistung werden genauer abgeglichen. Wer hier auf Mitgliedsmodelle setzt, muss mindestens eine gute Story bieten.

Für alle Kulturräume gilt: Verlage, die allzu starr an ihren Bezahlmodellen festhalten, machen es sich unnötig schwer. Viele Medienhäuser erleben, dass eine harte Paywall das Wachstum irgendwann versiegen lässt, weil ein Grund-Potenzial ausgeschöpft ist. Die NOZ-Gruppe experimentiert deshalb neuerdings mit flexibleren Modellen, um unterschiedliche Nutzerbedürfnisse besser abzuschöpfen – die Bezahlschranken variieren je nach Themenfeld und Angebot. Als Grundregel lässt sich feststellen: Themen und Formate, die es auch anderswo gibt, sollten eher frei zugänglich sein. Bei Marken mit Alleinstellungsmerkmal  können sich höhere Barrieren lohnen. Mancher Inhalt lässt sich über Anzeigeneinnahmen besser monetarisieren. 

Wichtig ist auch, dass sich Abos schnell kündigen lassen. Vertriebsleuten alter Schule mag das Magenkrämpfte bereiten. Aber wer sich im Abo fühlt wie im Gefängnis, wird bei nächster Gelegenheit ausbrechen und nie wiederkommen. Es ist deutlich sinnvoller, Kunden jederzeit gehen zu lassen, ihnen aber immer wieder neue Angebote zu machen. Dabei darf man ihnen ruhig ein bisschen auf die Nerven gehen. KI wird dabei helfen, die richtigen Anreize zu setzen. 

Die Forscher des Reuters Institutes haben übrigens herausgefunden, dass es kaum Unterschiede zwischen den Altersgruppen gibt, was die Zahlungsbereitschaft für Journalismus angeht. Allerdings weichen die Preisvorstellungen voneinander ab – auf eine Weise, die für die Verlage eher ungünstig ist. Während für ältere Kunden das Zeitungsabo der Referenzrahmen sei, verglichen jüngere die Angebote mit den Kosten und Nutzen von Netflix und Spotify, sagt Autor Nic Newman. Ein E-Paper-Abo ist derzeit zwar das lukrativste digitale Medienprodukt, dessen Fans dürften aber mittelfristig weniger werden. 

Man kann nur jedem Verlagsverantwortlichen raten, offen an die Preisgestaltung heranzugehen. Während einige Nutzer strikt aufs Budget schauen und am liebsten penibel abrechnen möchten, mögen die anderen bereit sein, für eine Art Deutschland-Ticket für Journalismus tatsächlich 49 Euro zu zahlen. Und wenn man hier mal fantasieren darf: Vielleicht könnten sogar Öffentlich-Rechtliche und ein paar Verlage ihre Streitigkeiten beilegen und eine Flatrate für Qualitätsjournalismus entwickeln, eine Art aufgestockte Haushaltsabgabe, bei der man sich quer durch verschiedenste Angebote lesen und hören kann. Kern aller Modelle sollte es sein, gewohnheitsbildend zu wirken – auch wenn das nur mit Hilfe von Rätseln und Kochrezepten funktioniert. Im Sinne einer gut informierten, aufgeklärten Bevölkerung und Wählerschaft ist es wichtig, dass Menschen Interesse an Journalismus entwickeln und es durch verschiedenste Lebenslagen beibehalten. Dann werden sie auch immer mal wieder zahlen.                    

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 28. September 2023. Aktuelle Kolumnen lassen sich mit einem Abo lesen. 

Vielfalt fordern, Einfalt meinen: Wenn Journalismus-Kritiker aneinander vorbeireden

Eines lässt sich mit ziemlicher Sicherheit behaupten: Das Angebot an Journalismus war noch nie so vielfältig wie heute. Man kann sich einerseits wie früher bei den großen oder lokalen Medienmarken informieren. Deren Inhalte gibt es aber nicht länger nur als lineare Sendung oder auf Papier, sondern auch auf Websites, manchmal bei YouTube, Instagram, TikTok, bei Spotify oder in der Mediathek. Zudem handeln die etablierten Nachrichtenmarken heute in einer Breite Themen ab, die es noch vor zehn Jahren an keinem Chefredakteur vorbei geschafft hätten. Vermutlich kommen heute selbst in der FAZ mehr Paartherapeuten als Parteiforscher zu Wort. Andererseits existieren unzählige Spezial-Angebote für diejenigen, die sich als Teil einer Gruppe oder mit einem Interessengebiet identifizieren – ob das junge Frauen sind, People of Colour, die queere Community, Politik-Junkies oder Menschen, die sich im Detail über Klima-Themen oder Geldanlage auf dem Laufenden halten wollen. Das Gründen im Journalismus ist einfach geworden (was nicht für das wirtschaftliche Überleben gilt). Und dennoch beklagen sich mindestens zwei Lager darüber, dass es den Medien an Vielfalt mangelt. 

Der Streit um die Vielfalt und seine beiden Lager 

Das ist einerseits die Fraktion, die Harald Welzer und Richard David Precht (Die Vierte Gewalt) applaudiert. Sie unterstellt insbesondere dem politischen Journalismus eine ideologische Einfalt, die sie irgendwo links von der Mitte und auf jeden Fall im grünen Milieu verortet. Sie beklagen: Die angebliche „Mehrheits-Meinung“ (nämlich ihre eigene) komme in den Medien nicht vor. Sie greifen vor allem den öffentlich-rechtlichen Rundfunk an, was man befremdlich finden kann, denn anders als bei kommerziellen Anbietern wird gerade dort penibel auf angemessene Redezeiten aller in den Parlamenten vertretenen Parteien geachtet. 

Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die etwas Ähnliches behaupten, aber etwas anderes meinen. Sie sagen: Redaktionelle Inhalte und Entscheidungen seien nach wie vor von einer Mehrheit weißer, gut ausgebildeter Männer, vielleicht auch ein paar Frauen geprägt. Menschen wie sie – schwarz, muslimisch, transsexuell, Arbeiterkinder, man ergänze – seien weder optisch noch inhaltlich so repräsentiert, dass es die Gesellschaft abbilde. Sie kämen höchstens als Objekte vor, die es zu sezieren gelte. Praktisch ist, dass auf diese Weise so gut wie jeder in den Chor der nach Vielfalt Rufenden einstimmen kann, was dem Anliegen eine gewisse Lautstärke verleiht. Allerdings ist es schon jetzt absehbar, dass kein Ergebnis alle zufriedenstellen wird. 

Was sind also die Fakten?

Eine Tagung des Instituts für Journalistik der Universität Dortmund um Michael Steinbrecher und Tobias Gostomzyk hatte im Sommer 2023 den Spagat versucht, die Debatte in ihrer gesamten Breite abzubilden und dazu einige Fachleute samt Forschung aufgefahren. Es ging sowohl um inhaltliche Vielfalt als auch um Vielfalt in Redaktionen und Gremien. 

Eine wichtige Erkenntnis in Sachen politische Vielfalt lieferte die Uni selbst in einer Studie aus ihrem Projekt Journalismus und Demokratie: Anhänger verschiedener Parteien finden, dass jeweils das andere politische Lager in den Medien überrepräsentiert ist. Im Kontrast dazu sehen sie sich und ihre Positionen zu wenig gespiegelt. Man könnte das als Hinweis auf eine gewisse Vielfalt deuten, denn schon als Journalist ahnt man, wenn sich gegensätzliche Seiten beklagen, hat man wohl etwas richtig gemacht. Trotzdem attestierten die Anhänger fast aller Parteien dem Journalismus eine verhältnismäßig hohe Glaubwürdigkeit. Allein diejenigen, die sich in der forsa-Umfrage als AFD-Sympathisanten bekannten, vertrauen den traditionellen Medien kaum, weshalb sie ihre Informationen eher aus anderen Quellen beziehen. 

38 Prozent der befragten Journalisten stehen den Grünen nahe 

Die Dortmund-Studie legt allerdings die Interpretation nahe, dass der politische Journalismus eine gewisse Schlagseite Richtung grüne Positionen haben könnte. Laut Michael Steinbrecher gaben 38 Prozent von 750 befragten Journalisten an, den Grünen nahezustehen. Es ist jedoch nicht belegt, ob und wie sich Parteipräferenzen in der Berichterstattung niederschlagen. Jeder vierte Befragte hatte zu Protokoll gegeben, sich mit keiner politischen Partei zu identifizieren.           

Die Journalismusforscherin Birgit Stark von der Johannes Gutenberg Universität Mainz präsentierte zudem eine Studie aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, in der sich die befragten Nutzer recht zufrieden mit der Vielfalt in den Medien äußerten. Die Forscher:innen hatten Themenvielfalt, Meinungsvielfalt und Akteursvielfalt in den öffentlich-rechtlichen Medien der drei Länder untersucht. Vor allem bei Themen und Meinungen sahen die Angesprochenen kaum Defizite in der Vielfalt. Wo also liegen die Probleme wirklich?

Die erdrückende Dominanz des politischen Journalismus 

Ein Grund, warum Menschen Journalismus oft als einseitig wahrnehmen, dürfte in der erdrückenden Dominanz des traditionellen politischen Journalismus liegen, der insbesondere die wichtigen Nachrichtensendungen prägt. Hier geht es häufiger um Zitate und Konflikte als um Fakten und Nutzwert, zu Wort kommen in erster Linie Funktionäre. Harald Welzer sprach bei der Tagung von „Politik-Politik-Journalismus“, also einer selbstreferentiellen Spielart des Fachs. Auch der Digital News Report von 2023 sieht Anzeichen dafür, dass diese Art von Journalismus Menschen in den Nachrichten-Überdruss treibt. „Das Nachrichten-Interesse rutscht ab“, bestätigte Juliane Leopold, Chefredakteurin Digital von ARD Aktuell auf der Tagung. Wer sich aber generell vom Journalismus abwendet, nimmt die gesamte Breite und Vielfalt des journalistischen Angebots nicht mehr wahr und verpasst wichtige Informationen und Debatten. 

Der Kommunikationswissenschaftler Christoph Neuberger von der FU Berlin warnte auf der Konferenz davor, nur auf die Angebotsvielfalt zu schauen. Es komme auf die Nutzungsvielfalt an, also darauf, dass der Journalismus auch die Breite der Gesellschaft erreicht. Hier haben viele Redaktionen Nachholbedarf, denn traditionell beschäftigen sich Journalisten viel mit ihren Inhalten, aber wenig oder gar nicht mit deren Wirkung auf diejenigen, für die sie gedacht sind. Es reicht nicht, Vielfalt zu produzieren, wenn sie die potenziellen Adressaten nicht erreicht. 

„News Outsider“ – wem der Journalismus nichts bedeutet 

Die Gründerin des Schibsted-Innovation Labs, Agnes Stenbom, hat den Begriff „News Outsider“ geprägt. Er beschreibt diejenigen, denen Journalismus nichts bedeutet. Sie finden, er sei für ihr Leben nicht relevant. Insbesondere junge Menschen aus sozialen Brennpunkten zählen dazu. Für sie sind Angebote auf den (Social Media-)Plattformen wichtig, auf denen sie sich bewegen. Und darin müssen natürlich Menschen vorkommen, mit denen sich diese Zielgruppen identifizieren können. Der Haken ist: Genau solche Formate, wie sie zum Beispiel bei Funk von ARD und ZDF zu finden sind, ärgern wiederum diejenigen, die in Talkshows gerne von mangelnder Medienvielfalt sprechen. Man könnte unterstellen, dass sich so manch einer dieser Kritiker eher eine Rückkehr zur Medienwelt von früher wünscht – als es so ein breiteres Angebot eben nicht gab.

Man sollte nicht vergessen, dass einige derjenigen, die den Medien einen Mangel an Meinungsvielfalt attestieren, politische Interessen damit verfolgen. Nicht erst seit den „Fake News Media“-Tiraden von Donald Trump ist klar, dass sich Politiker gerne Kritiker vom Hals schaffen, indem sie die gesamte Branche als unglaubwürdig diskreditieren. Wie Craig Robertson im Digital News Report belegt, setzen Politiker Medienkritik weltweit als Instrument ein, um Widerspruch zu ersticken und Rechercheure einzuschüchtern. Genau aus diesem Grund wird Forschung gebraucht, die Fakten zur Medienvielfalt liefert. Wer nur Gefühlslagen abbildet, dient damit gewollt oder ungewollt Interessen, die den unabhängigen Journalismus gezielt schwächen wollen.      

Durch tägliches Erleben wie auch durch Forschung nachgewiesen ist hingegen der Mangel an Vielfalt innerhalb der Redaktionen. Zahlreiche Publikationen zum Beispiel von den Neuen deutschen Medienmacher*innen oder dem Reuters Institute for the Study of Journalism in Oxford belegen, dass hier noch viel getan werden muss. Das reicht von der Einstellung und Förderung entsprechender Kandidat:innen über die Sensibilisierung von Führungskräften bis hin zum Kulturwandel. Nur in einer Umgebung, in der sich vielfältige Mitarbeiter:innen sicher fühlen, in der sie ihre Ideen als willkommen wahrnehmen, werden entsprechende Projekte gedeihen. 

Dabei geht es auch um Bedürfnisse von Menschen, die sich in keiner Statistik potenziell benachteiligter Gruppen finden. Schließlich stecken die urban und bildungsbürgerlich geprägten Redaktionen großer Medienmarken die Themenfelder entsprechend ab. Sven Gösmann, Chefredakteur der DPA,  gab auf der Konferenz zu bedenken, dass zum Beispiel die Berufsschule in der Berichterstattung deutscher Medien kaum stattfinde. Dafür habe man sich zeitweise überproportional mit Elektro-Rollern beschäftigt. Redaktionen, die die Gesellschaft nicht abbilden, werden dies auch in ihren Inhalten kaum schaffen. Damit riskieren sie aber nicht nur ihre Glaubwürdigkeit, sie verschenken auch wirtschaftliches Potenzial. Letztlich gefährden sie die Rolle des Journalismus in der Demokratie.

Diese Kolumne erschien zuerst bei Medieninsider am 27. Juli 2023. Aktuelle Kolumnen lesen Sie dort mit einem Abo.

Warum Vertrauen in Medien als Messgröße wenig nützt

Zwischen der Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa und dem Reuters Institute in Oxford schwelt ein Konflikt, der für Medienschaffende Stoff zum Nachdenken enthält. Die weithin bewunderte philippinische Journalistin und Gründerin der Newssite Rappler wirft dem Institut vor, mit einem Teil seiner Forschung Journalistinnen und Journalisten in Ländern zu schaden, deren Regierungen aktiv daran arbeiten, das Vertrauen in Medien auszuhöhlen. Es geht um den Digital News Report, die weltweit größte fortlaufende Untersuchung zum Medienkonsum, dessen elfte Ausgabe im Juni erschienen ist. Die Umfrage listet Rappler wiederholt als eine derjenigen philippinischen Medienmarken, denen die Nutzer am wenigsten vertrauen. Ressa sagt, die Regierung verwende diese Daten gegen sie und ihre Kollegen. Aus Protest gegen die Methodik war Ressa bereits im vergangenen Jahr aus dem Beirat des Instituts zurückgetreten.

Vertrauen ist ein aufgeladener Begriff. Kaum eine große oder groß gemeinte Rede kommt ohne ihn aus. Das Vertrauen in Institutionen schwinde, heißt es dann mit leicht dramatisierender Intonierung, speziell jenes in Medien und in den Journalismus. Aber ist Vertrauen überhaupt eine nützliche Kategorie?

Im Fall Ressa gegen Reuters hatte Institutsleiter Rasmus Kleis Nielsen schon 2022 versucht, die Sache einzuordnen. Hier zeigten sich die Kosten von mutigem, aufklärerischem Journalismus, analysierte er in einem Artikel. Natürlich hätten Regierungen, die Stimmung gegen unabhängige Medien machten, stets bei einem Teil der Bevölkerung Erfolg. „Beim Medienvertrauen gehe es um mehr als Faktentreue und die Vertrauenswürdigkeit des journalistischen Outputs eines Unternehmens. Es geht auch darum, wie Menschen diese Arbeit im Licht der jeweiligen Politik und ihrer parteipolitischen Präferenzen interpretieren“, so Nielsen. Man könnte also sagen, viel Feind, wenig Ehr. Die Forschung des Instituts belegt schon lange, dass Medienvertrauen und das Vertrauen in die jeweilige Politik eines Landes eng verknüpft sind. Ärgern sich Menschen über Politiker und politische Institutionen, erstreckt sich ihre Wut auch häufig auf Journalisten. 

Um Vertrauen zu verstehen, muss man Misstrauen verstehen 

Weder Forschung noch Journalismus können also ohne Kontext verstanden werden. Das macht es kompliziert in einer Welt, in der Politiker, Chefredakteure, Wissenschaftler und auch die informierte Öffentlichkeit recht leichtfertig mit Kategorien wie Medienvertrauen, Qualitätsjournalismus, Filterblasen oder Fake News um sich werfen, oft aus dem – natürlich lobenswerten – Ansinnen heraus, sich für einen starken Journalismus zum Schutz der Demokratie einzusetzen. Tenor: alles geht bergab, nur heiße Luft und Lügen nehmen zu. Doch so einfach ist es nicht.

Um zum Beispiel Medienvertrauen zu verstehen, muss man Misstrauen verstehen. Tatsächlich gehört es zu den Kernmerkmalen der Demokratie, dass sie ihren Bürgern ein gewisses Maß an Skepsis nicht nur gestattet, sondern sogar abverlangt. Vertrauenswerte nahe der 100 Prozent sollten eher stutzig machen als begeistern. Tatsächlich predigen die Medien selbst es ihren Konsumenten immer wieder: Sei kritisch, skeptisch, hinterfrage. Dies prägt auch die vielfach geforderte digitale Bildung. Teenager und junge Erwachsene wurden und werden dazu erzogen, lieber einmal mehr zu googeln, als auf Spam, Phishing oder Lügengeschichten hereinzufallen. Wenn das Medienvertrauen in der Folge niedrig ist, hat der Journalismus so betrachtet eines seiner Ziele erreicht.

Dies wird sich mit dem Vordringen generativer KI noch verstärken. Schließlich weisen auch die Medien zurecht darauf hin, dass Bots wie Chat GPT manchmal halluzinieren und (noch) keinen Faktencheck können. Klar, die Medienmarken, die so etwas verbreiten, wollen damit auch sagen: Wenn ihr euch auf uns verlasst, seid ihr sicher. Aber sind die Nutzer es wirklich, wenn es gleichzeitig zunehmend heißen wird, dass dieses und jenes Produkt mit Hilfe von KI erstellt oder zumindest ergänzt und animiert wurde? Etwas Misstrauen ist da eine gute Strategie. 

Das heißt nicht, dass man Medienvertrauen nicht messen kann und sollte. Neben dem Digital News Report, dessen deutscher Teil vom Hans Bredow Institut erstellt wird, tun dies auch andere Untersuchungen wie zum Beispiel die Langzeitstudie Medienvertrauen der Universität Mainz. Interessant an solchen Erhebungen sind vor allem die Zeitreihen und Nuancen, nicht so sehr die plakativen Aussagen („dramatischer Vertrauensverlust“), die es in Vorträge schaffen. Ein hoher Vertrauenswert kann schließlich vieles bedeuten. Er kann ein Indikator für journalistische Qualität und Markenstärke sein, leider aber auch zeigen, dass Propaganda wirkt, es an Medienvielfalt mangelt, oder dass Menschen schlecht gebildet und oder einfach naiv sind. 

Der schwammige Qualitätsbegriff

Ähnlich schwammig ist der Begriff Qualitätsmedien. Den nutzen vor allem jene gerne, die in Häusern arbeiten, die sie für etwas besser als den Rest halten. Sie verstehen das als Abgrenzung zum Boulevard. Früher galt, je mehr Bleiwüste, desto höher die (vermutete) Qualität. Das hat allerdings noch nie etwas darüber ausgesagt, wie viele Menschen diese Medien mit welcher Wirkung tatsächlich erreichen. Zudem enthalten auch Qualitätszeitungen durchaus schlechten Journalismus. In manchen Regionen der Welt wird „quality media“ sogar als Kampfbegriff verstanden. Gerne beschränkten Regierungen mit zweifelhaftem demokratischem Verständnis den Zugang zu Informationen auf „Qualitätsmedien“, die Klassifizierung werde somit ein Einfallstor für Zensur, argumentieren Vertreter entsprechender Länder. Im Europarat wäre die Eröffnungssitzung des Experten-Ausschusses „Quality journalism in the digital age“ 2018 fast daran gescheitert, dass sich manche Mitglieder auf den Begriff nicht einlassen wollten.

Journalisten sollten sich generell darüber bewusst sein, dass ihre eigene Berichterstattung viel dazu beiträgt, wie Menschen Risiken der digitalen Kommunikationswelt wahrnehmen. Begegnet den Nachrichten-Konsumenten in großer Frequenz der Begriff „Fake News“, werden sie solche auch eher wahrnehmen, als Problem definieren und sich in Umfragen entsprechend äußern. Auch die Filterblase ist ein gängiger Begriff geworden, obwohl es Belege dafür gibt, dass Mediennutzer heute mit mehr verschiedenen Quellen in Berührung kommen als früher. Reporter und Kommentatoren beeinflussen also mit ihren Warnungen die Forschung, über deren Ergebnisse sie dann erschrecken. 

Was wir daraus lernen können

Praktiker können daraus ein paar Dinge ableiten. Zunächst einmal sollten sie auf andere Indikatoren schauen als auf Vertrauensabfragen, wenn sie sich der Qualität ihrer Erzeugnisse vergewissern möchten. 

► Werden journalistische Angebote tatsächlich genutzt? Wie lange bleiben die Kunden dran? Wie oft kommen sie wieder und zahlen sie dafür? Hat Berichterstattung (politische) Konsequenzen? All das zeigt deutlich verlässlicher an, ob man seinen Job anständig macht. Der Bild zum Beispiel begegnen viele Menschen aus gutem Grund mit Misstrauen. Trotzdem bietet sie ihren Nutzern etwas, das diese woanders offenbar so nicht finden: zugespitzte, manchmal exklusive Informationen und einen gewissen Unterhaltungswert. Der Qualitätsmarke hingegen mögen sie vertrauen, sie aber trotzdem ignorieren. Vertrauen allein reicht nicht, der Gebrauchswert muss stimmen.  

► Außerdem sollten sich Journalisten ihre eigene Rolle in gewissen Aufregungsspiralen bewusst machen. Wer pöbelnden Politikern Reichweite verschafft, trägt dazu bei, dass der Ton rauer wird. Wer wochenlang in allen Facetten diskutiert, ob Aktionen von Klimaklebern gerechtfertigt sind, muss sich nicht wundern, wenn das Thema Klimaschutz polarisiert. Mit solchen Debatten zwingt man das Publikum in gegensätzliche Haltungen hinein, meist ohne ihnen wieder herauszuhelfen. In einer komplexen Welt ist die Aufgabe von Journalismus aber auch, Menschen bei der Suche nach Lösungen zu begleiten. 

► Schließlich brauchen Medien ein neues Verständnis von Qualität. Das sollte sich einerseits mehr an Prozessen, andererseits an der Wirkung des eigenen Journalismus orientieren als an selbstdefinierter Brillanz. Ein Qualitätsausweis ist zum Beispiel, wenn Redaktion und Organisation journalistische und ethische Standards einhalten und transparent mit möglichen Interessenkonflikten umgehen. Qualität könnte man auch daran messen, ob die Produkte eines Hauses die Bedürfnisse verschiedener Nutzergruppen erfüllen, ob die eigenen Recherchen Organisationen und Individuen zum Handeln bewegen, ob man Menschen auch mal Mut statt Angst macht. 

Natürlich dürfen sich Intendanten und Chefredakteure trotzdem über einen oberen Platz in Vertrauensrankings freuen – seit Jahren werden die Listen in Deutschland übrigens von öffentlich-rechtlichen Medien und Lokalzeitungen angeführt. Ob Redaktionen aber wirklich einen starken Journalismus produzieren, zeigt sich anderswo. 

Diese Kolumne erschien zuerst bei Medieninsider am 26. Juni 2023.