Mutter, Vater, Roboter – Elternsein in der digitalen Welt: Wie geht das?

Manchmal mag man auch das nicht mehr hören: Wie aufregend, frei und locker das war in den 70ern, als man als Kind noch unangeschnallt auf der Rückbank in den Urlaub chauffiert wurde und mit Freunden draußen am Fluss rumtobte bis zum Dunkelwerden. Jeder kennt solche Geschichten oder hat sich – je nach Alter –schon dabei ertappt, sie zu erzählen. Heute dagegen, oje, oje: Helmpflicht im Fahrradanhänger, elterliche Hilfestellung am Klettergerüst, WhatsApp-Pflicht bei Schulschluss. Kindheit, so die Nostalgiker, sei nicht mehr das, was sie mal war. Den Rest, der da auch war, all die Unfälle, Ängste und Stunden des gelangweilten Ausharrens in Rauchschwaden bei Erwachsenengeburtstagen – längst verdrängt.

Aber an genau das sollte man sich erinnern, wenn es um die Zukunft des Elternseins in der digitalen Welt geht. Denn einerseits ist es leicht, angesichts der wachsenden Möglichkeiten, Kinder von Geburt an elektronisch zu überwachen, zu beeinflussen und auf Schritt und Tritt zu verfolgen, in verklärende Freiheits-Fantasien zu verfallen. Andererseits bringt die digitale Technologie tatsächlich neue Risiken mit sich.

Nach Erkenntnissen aus der Forschung geht es dabei weniger um den Einfluss, den Bildschirmzeit, soziale Netzwerke und Computerspiele auf Kindergehirne haben. Die Angstmacherei vor zu viel Smartphone-Nutzung beschäftige zwar viele Experten, belegt seien Schäden aber nicht, sagen Andrew Przybylski und Amy Orben in einem Gastbeitragfür den britischen Guardian. Beide sind Wissenschaftler am Oxford Internet Institute, das gerade ein großes Forschungsprojektzur mentalen Entwicklung von Kinder und Jugendlichen in der digitalen Welt startet.

Ein viel akuteres Problem sind kommerzielle Interessen, die mit der Angst von Eltern Geschäfte machen wollen. In Mittel- und Oberschichtsfamilien überall auf der Welt heißt Elternsein heute, alles zu geben, um sein Kind zu schützen und zu fördern. Hier setzen viele Firmen an. Sie suggerieren, dass digitale Geräte und Apps dies viel effizienter und manchmal sogar effektiver können als Babysitter, Großeltern oder Mutter und Vater selbst. Noch beeindruckt die Roboter-Nanny vor allem auf Elektronikmessen. In asiatischen Ländern, die weniger Vorbehalte gegen Humanoide haben als der Westen, dürfte sie aber bald in etlichen Kinderzimmern auftauchen.

Der Markt für internetfähige Geräte und „intelligente“ Spielzeuge, die Kinder vom Babybettchen bis zum Teenager-Alter begleiten und überwachen, wächst schon jetzt rasant. Firmen werben mit Sensor-gespickten Pflastern oder Socken für Neugeborene, damit Mama und Papa ohne Angst vor dem plötzlichen Kindstod schlafen können. Slogans wie: „Love more, worry less“ setzen den Ton. Elektronische GPS-Tracker, die eigentlich für Kinder mit Behinderungen entwickelt wurden, werden allgemein vermarktet. Es gibt Apps, mit denen sich Kinder auf Schritt und Tritt verfolgen lassen (saudische Männer laden sie ihren Ehefrauen aufs Handy). Amazon bietet eine Echo-Version speziell fürs Kinderzimmer an. Und „intelligente“ Puppen wie „My friend Cayla“ versprechen interaktive Spiele, arbeiten im Zweitberuf aber als Spione, wenn sie Puppenmuttis und -papas haufenweise private Informationen entlocken. „Vernichten Sie diese Puppe“, riet dazu die Bundesnetzagentur.

Victoria Nash, ebenfalls Professorin am Oxford Internet Institute der University of Oxford, forscht darüber, wie sich das Kindsein und die Elternschaft durch Technologie verändern könnten. Und sie bleibt angenehm unaufgeregt, wenn sie über „Connected Cots, Talking Teddies and the Rise of the Algorithmic Child“ referiert. Von moralischer Panik halte sie nichts, sagt sie, das Internet habe Eltern und Kindern schließlich unglaubliche Vorteile gebracht. Aber zwei Themen blieben bislang ziemlich unterbelichtet.

Zum einen sei da der Mangel an Datensicherheit, sagt Nash. Immer wieder gerieten massenhaft sensible Informationen in falsche Hände. Oft seien die Anbieter dieser neuen Produkte eher klein, so dass sie es sich nicht leisten wollen, Geräte mit Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz der Privatsphäre zu versehen. Hacker haben es dann leicht, in Kinder- und Schlafzimmer einzudringen, über Baby-Kameras in Häuser zu schauen oder Verhaltensdaten abzufischen, die womöglich ein Leben lang an Menschen kleben bleiben. Die Standards müssten dringend aktualisiert werden, fordert Nash, denn im Moment sei es eher so: „Anstatt dass die Kinder das Internet nutzen, nutzt das Internet die Kinder.“ Und sie fügt hinzu: „Ich mache mir Sorgen um das von Algorithmen erzogene Kind, wenn wir Entscheidungen darüber, ob es sicher ist, es ihm gut geht oder ob es sich gut entwickelt nur auf der Basis von Daten treffen, die uns private Unternehmen so gerne über unsere eigenen Kinder verkaufen.“

Aber ein zweites Thema hält die Professorin für wesentlich wichtiger: Was bedeute es, in der digitalen Welt Eltern und Kind zu sein? Das Konzept Kindheit sei schließlich erfunden und habe schon immer je nach Kultur und historischer Epoche variiert. Elternschaft müsse neu gedacht werden.

Was Kindheit heute bedeuten sollte, kann man in der UN-Kinderrechtskonventionvon 1989 nachlesen: unter anderem der Schutz vor Gewalt, Rechte auf Freizeit und Bildung sind darin verbrieft. Schon 1924 hatte der Völkerbund, die UN-Vorläufer-Organisation, Kinderrechte definiert. Aber natürlich werden diese Rechte unterschiedlich umgesetzt und interpretiert. An einem Ende der Welt ist Kinderarbeit Alltag, am anderen dürfen noch nicht einmal 15-Jährige alleine zur Schule radeln. In manchen Ländern beansprucht der Staat die Rolle des Erziehers in der Überzeugung, die jungen Bürger besser nach seinem Bild formen zu können als die Eltern. In anderen liegt die gesamte Verantwortung bei den „Erziehungsberechtigten“.   

Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern verändert sich aber, wenn sich Technologie dazwischenschiebt. Zum einen lagern Eltern Kommunikation aus, wenn die Kleinen künftig nur noch Podcasts hören oder mit Roboter-Puppen reden, statt sich vorlesen zu lassen. Die MIT-Professorin Sherry Turkle („The End of Conversation“, 2015) warnt vor den Folgen: „Empathie wird durch Gespräche entwickelt“, sagt Turkle. Gäbe man Kindern zudem ständig etwas, das sie ablenke, lernten sie nie, Langeweile und Alleinsein auszuhalten. Aber daraus entwickelten sich Kreativität, Identität und Beziehungsfähigkeit. Turkle: „Wenn wir den Kindern nicht beibringen, wie man alleine ist, werden sie das nur als Einsamkeit erleben.“

Zum anderen verschafft die neue Daten-Transparenz Dritten Einblicke in das Verhalten von beiden. Waren Kindheit und Erziehung früher Räume zum Experimentieren, die alle Seiten manchmal eher schlecht als recht genutzt haben, werden Nachlässigkeit, Faulheit, Aggression und manch anderes, was einem im Rückblick als Mutter oder Tochter eher unangenehm ist, ans Licht gezerrt. Intelligente Sprachassistenten bekommen jeden Familienstreit mit. Spielzeuge können den Lernfortschritt dokumentieren, und womöglich werden Eltern bald dann haftbar gemacht, wenn sie ihre Kinder ohne Überwachungs-Technologie haben draußen spielen lassen.

Die Digitalisierung könnte also das Modell der Helikopter-Eltern zur Norm machen. Schließlich hat sie das Helikoptern durch Technologie ohnehin zum allgemeinen Lebensstil erhoben. Wir überlassen immer weniger dem Zufall, ersetzen Vertrauen durch Daten. Wenn internetfähige Geräte unsere Wohnungen, unsere Fitness, unsere Leistungen als Beschäftigter, Autofahrer, womöglich Staatsbürger überwachen – das englische Verb monitoring hört sich etwas freundlicher an –, dann ist es nicht mehr weit bis zu dem Moment, an dem Eltern vor lauter Panik, etwas falsch zu machen, ihre Kinder ganz den elektronischen Hilfsmitteln anvertrauen.

Ironischerweise geschieht dies in einer Zeit, in der man immer wieder freudig und lautstark aufgefordert wird, doch etwas mehr Risiko zu wagen. Sicherheit im alten Sinne – mein Job, mein Haus, mein Partner – gebe es nicht mehr in einer Welt des schnellen Wandels, heißt es gerne, darauf habe man sich einzustellen. Nur wann und wie soll man Risikofreude lernen, wenn nicht in der Kindheit? Kleine Freiheiten zu testen, auch mal schräge Dinge auszuprobieren und dabei darauf zu vertrauen, dass man geliebt, angenommen und umsorgt wird, ist ein Privileg, das nicht jedes Kind hat. Es führt aber erwiesenermaßen zu mehr Selbstvertrauen und hilft später dabei, mit Risiken umzugehen.

Es gibt Forderungen danach, Jugendlichen mit dem 18. Geburtstag das Recht einzuräumen, auf eine Art Lösch-Taste zu drücken, um das Erwachsenenleben ohne Datenmüll zu beginnen. Natürlich müsste es Ausnahmen geben, denn auch Verantwortung zu übernehmen lernt man nicht über Nacht. Aber grundsätzlich ist die Idee gut.

Das Konzept Freiheit muss in der digitalen Welt neu definiert werden. Wir sollten das als Bürger tun und nicht kommerziellen Interessen überlassen. Auf die Rückbank ohne Anschnallgurt wollen im Ernst die Wenigsten zurück. 

Dieser Text erschien in gekürzter und leicht veränderter Form in „ada – Heute das Morgen verstehen“, Ausgabe 03/2019