Medienoasen in der Nachrichtenwüste – Worauf Entrepreneure im Journalismus achten sollten

Von Deutschland aus auf die USA schauen, das ist häufig, als benutze man ein Vergrößerungsglas. Nicht nur Getränkebecher, Jeans und Überland-Trucks gibt es dort im XXL-Format. Auch gesellschaftliche Entwicklungen kommen meist krasser daher als hierzulande, Achterbahn-artige Bewegungen eingeschlossen. Bei Häme ist deshalb Vorsicht geboten, siehe Pandemie: Lästerte man gerade noch über amerikanisches Staatsversagen, sind drüben plötzlich alle durchgeimpft, während hier weiter über Reihenfolgen und Vakzine gestritten wird. Ähnlich drastisch geht es in der Medienbranche zu. So zählte man drüben schon Nachrichtenwüsten (news deserts) ohne lokaljournalistische Grundversorgung, als Regionalverlage hier noch ihre Print-Auflage feierten. Umgekehrt blicken amerikanische Medienschaffende nun auf ein ganzes Ökosystem digitaler Neugründungen, während Redaktionen diesseits des Atlantiks noch lernen, „digital first“ zu buchstabieren. Man kann das misslich finden, oder schleunigst das – in diesem Fall – Fernglas zur Hand nehmen. Ein Blick nach drüben lohnt sich, wenn man nicht nur aus eigenen Fehlern lernen, sondern ein paar lieber von vornherein vermeiden möchte.

Die amerikanische Lesart ist unmissverständlich: Wo es Nachrichtenwüsten gibt, müssen dringend Oasen her. Oasis heißt deshalb ein Gemeinschafts-Projekt, das sich an Gründer*innen von Medienmarken in den USA und Kanada richtet und ihnen mit Statistiken, Fallstudien, Rat und Benchmarks zur Seite stehen möchte. In dieser Woche nun hat Oasis den ersten Reportveröffentlicht, angeblich die größte Studie über „digital native“ Medienhäuser und -häuschen in dieser Dekade. 255 von mehr als 700 rein digitalen Medien-Unternehmen haben sich dafür an einer Umfrage beteiligt. Sie hat ein paar spannende Fakten zutage gefördert.

Die erfreulichen zuerst: Das Wachstum ist rasant, in den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Medien-Gründungen mehr als versechsfacht. Immerhin gibt bereits jede fünfte Firma an, finanziell über den Berg zu sein, eine ganze Reihe weiterer sieht sich auf dem Weg dorthin. Zwei Drittel haben die wilde Startup-Phase hinter sich gelassen und bewegen sich in ruhigerem Fahrwasser, 22 Prozent (über)leben schon länger als zehn Jahre.

Eine ganze Menge Fakten stimmen allerdings nachdenklich, vor allem diese: Viele Organisationen leben von der Selbstausbeutung ihrer Gründer*innen (Frauen sind, was die Jobs angeht, in der Überzahl). Sie verlassen sich stark auf ehrenamtliches Engagement und können wenige Vollzeit-Arbeitsplätze sichern. Nur zehn Prozent fahren Jahresumsätze von über einer Million Dollar ein. Die Abhängigkeit vom lokalen Anzeigenmarkt ist groß und für die meisten die wichtigste Einnahmequelle, andere hängen gänzlich am Tropf von wohltätigen Geldgeber*innen. Abo- oder Mitgliedermodelle trauen sich die wenigsten zu.

Eine der Hauptursachen für diese zum Teil prekären Zustände ist, dass Medien-Startups überwiegend von Journalist*innen gegründet werden. Hier rächt sich die einst so wichtige strikte Trennung von Redaktion und Verlag. Sie hat Redakteur*innen und Reporter*innen jahrzehntelang davor „bewahrt“, sich damit auseinandersetzen zu müssen, wie ihr Medienhaus eigentlich Geld verdient. Bei der Entwicklung ihrer jungen Unternehmen beginnen die Gründer*innen deshalb in der Regel mit einer Mission, nicht mit einem Geschäftsmodell. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden, wenn sie denn ihre Teams um entsprechendes Knowhow bereichern würden. Dies aber ist zu selten der Fall.

Gründer*innen in anderen Branchen arbeiten sehr häufig andersherum. Viele berichten, dass nicht die berühmte Idee oder das coole Produkt an erster Stelle standen, sondern man zunächst mit einem engagierten Team und eher vagen Vorstellungen vom Inhalt an den Start gegangen sei. Sobald man Geldgeber*innen und erste Kund*innen gefunden hatte, entwickelte sich die Idee von dort aus weiter. Auch bei Journalismus-Start-ups ist Offenheit und Anpassungsfähigkeit wichtig, wollen sie nicht nur irgendwie überleben, sondern mittelfristig gut davon leben und eine stabile Größe für ihr Publikum werden. Was ist das Geschäftsmodell, welche Zielgruppen (Audiences) kann man wie gut bedienen und wie bindet man sie, wie diversifiziert man Einnahmequellen, welche Partner*innen könnte man begeistern – und, ganz wichtig, was sollte man auf jeden Fall sein lassen? All diese Fragen müssen sich Gründer*innen immer wieder stellen und entsprechend nachjustieren.

All das würde deutlich besser funktionieren, gäbe es eine gute Infrastruktur, bei der sich Medien-Start-ups Rat und Unterstützung holen können. Das finden auch die Oasis-Autor*innen. Ob es um Training, Ausbildung und Personalführung geht, Beratung zu Geschäftsmodellen oder technische Infrastruktur gefragt ist: Junge Unternehmen sind mit vielem überfordert. Dazu ist es weder sinnvoll noch effizient, wenn jede Neugründung auf diesen skalierbaren Gebieten bei null anfängt. Für die USA können sich ambitionierte Medien-Unternehmer*innen künftig an das Oasis-Projekt wenden. In Deutschland warten potenzielle Geldgeber*innen hoffentlich nicht darauf, dass es erst einmal Nachrichtenwüsten gibt.

Diese Kolumne erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 19. März 2021. 

Die Ich AG als Redaktion – kann das klappen?

Nicht jeder kann eine Art Gabor Steingart werden. Als der ehemalige Handelsblatt-Herausgeber den Holtzbrinck-Konzern im Februar 2018 im Streit verlassen hatte, gehörte die Abonnenten-Datei seines „Morning Briefing“ Newsletters mit zum Abfindungspaket. Zwei Jahre später führt Steingart mit Media Pioneer ein kleines aber deutschlandweit bekanntes Medien-Unternehmen mit um die 50 Mitarbeitern, Redaktionsschiff und 36-Prozent-Beteiligung der Axel Springer AG inklusive. Für so eine Wachstumskurve braucht man mehr als nur gute Kontakte und einen Namen, und schon daran dürfte es den meisten mangeln. Dennoch steigt mit den zunehmenden Möglichkeiten der Digitalisierung bei vielen Journalist_innen und Medien-Fachleuten die Lust, es mit dem Gründen wenigstens einmal zu versuchen.

Gerade unter den Leistungsträgern haben etliche genug von Hierarchien und Kommando-Strukturen, routiniertem Reaktions- und Rattenrennen-Journalismus. Sie mögen sich nicht mehr für einen Arbeitgeber aufarbeiten, von dem sie zum Dank für ihren Einsatz neuerdings auch noch auf Kurzarbeit geschickt werden – immerhin die verträgliche Variante einer Krisenstrategie. Aber als Bittsteller mit einem Bauchladen durch die Gegend zu tingeln ist auch kein Spaß in diesen Zeiten, in denen freie Etats gekappt werden, wo es eben nur geht. Ist es eine Lösung, selbst zu publizieren?

Für manche schon. Vor allem in den USA gibt es einen Trend zum journalistischen Freischwimmer. Dort ist das Klima etwas rauer als hierzulande, weil man Journalist_innen eher in die Arbeitslosigkeit schickt, als ihre Jobs mit staatlichen Programmen abzufedern. Aber womöglich entstehen genau deshalb dort auch mehr Möglichkeiten, seinen eigenen Mini-Verlag aufzubauen – ganz ohne Overhead und großen Kapitaleinsatz. Ein Beispiel ist die Plattform Substack. Autor_innen können dort eigene Newsletter aufsetzen und dafür Bezahlmodelle erproben, sofern sie sich mit Premium-Inhalten eine gewisse Reichweite erschrieben haben. Die Washington Post berichtete kürzlich von einer ganzen Reihe namhafter Schreiber_innen, die etablierte Redaktionen verlassen und ein eigenes „mini media empire“ gegründet haben. Zuvor arbeiteten sie für Magazine wie New Republic, Rolling Stone, Sports Illustrated oder New York Magazine, nun werkeln sie auf eigene Rechnung und genießen ihre Autonomie.

Eine von ihnen ist Emily Atkin. Ihr viermal wöchentlich erscheinender Newsletter über die Klimakrise mit dem Titel „Heated“ ist einer der bestbezahlten bei Substack. Atkin, die sich als Wissenschaftsjournalistin Profil und Publikum erworben hatte, war die Auseinandersetzungen mit Redaktionen leid gewesen. „Im Lauf deiner journalistischen Laufbahn kommst du irgendwann an eine Grenze, an der du merkst, dass du nicht mehr von deinem Verlag profitierst sondern dein Verlag von dir“, wird sie von der Post zitiert.  Die Frage sei dann: Gebe die Marke einem so viel wie man selbst der Marke gebe.

Substack wurde 2017 in San Francisco gegründet mit der Idee, Autor_innen die Kontrolle über ihr Werk zurückzugeben. Die Newsletter funktionieren ohne Werbung, es gibt keine Algorithmen, die Journalist_innen behalten die Hoheit über ihre Inhalte und Mailing-Listen.  Einige von ihnen verdienen angeblich über die Abo-Modelle sogar mehr Geld als zu Zeiten ihrer Festanstellung, wobei man davon ausgehen kann, dass nur sehr wenige tatsächlich sechsstellige Beträge einnehmen. Aber sie bedienen einen Trend. Laut dem Digital News Report sind Newsletter ein zunehmend beliebter Zugang zur Welt der Informationen. Sie übernehmen die Rolle der Zeitung, sortieren und bündeln das Nachrichtengeschehen und heben sich damit für manch einen wohltuend vom endlosen, unsortierten Strom an Neuigkeiten in den sozialen Netzwerken ab.

Eine Newsletter-getriebene Ich AG eignet sich vor allem für Spezialisten oder Autoren, die eine ganz bestimmte Stärke kultivieren. Aber auch für andere, die lieber im Team arbeiten, gibt es Möglichkeiten. Ein aktuelles Beispiel – auch aus den USA – ist Defector, eine neu gegründete Kooperative von 18 Journalist_innen, die im vergangenen Jahr aus Protest gegen das Management die auf Sport-Berichterstattung ausgerichtete Plattform Deadspin verlassen hatten. Sie waren offenbar ihr Einzelkämpfer-Dasein satt und wollten gemeinsam etwas Neues wagen. Alle erhalten nun einen Anteil an dem Startup, das sich über Digital-Abos finanzieren will. Unter Kennern sei die Begeisterung groß gewesen, schon am ersten Tag hätten sich 10 000 Leser_innen registriert, berichtete das Team auf Twitter. Hauptsache man habe ausreichend Talente, zitiert die New York Times Defector-Geschäftsführer Jasper Wang, einen ehemaligen Unternehmensberater. Das strukturelle Gerüst darum herum zu bauen, sei nie einfacher gewesen als heute.

Was sich nach einem Traum anhört – der beruflichen Leidenschaft nachgehen und dabei Autonomie genießen – ist allerdings harte Arbeit, nicht immer macht sie Spaß. Konnten sich Journalisten früher ganz auf die Trennung zwischen Redaktion und Verlag verlassen und sich allein der Recherche, dem Schreiben und Redigieren widmen, erfordert der Beruf heute in jedem Fall ein Mindestmaß an wirtschaftlichem Sachverstand, vor allem in Sachen Marketing und Kundenbindung. Dies gilt umso mehr, wenn man selbst gründet. Natürlich geht es um Inhalte, aber man sollte auch Lust haben, sich intensiv mit potenziellen Einnahmequellen, Geldgebern und Geschäftsmodellen auseinanderzusetzen.

Deutschland mit seiner noch recht traditionell geprägten und einigermaßen gut bestückten Medienlandschaft ist nicht das leichteste Spielfeld für neue Medienmacher_innen. Das liegt einerseits am Publikum und an den Geldgebern. Hierzulande zahlt man ungerne für Dienstleistungen, gespendet wird eher wenig, großzügige Mäzene unterstützen lieber Fußballvereine, und auch Stiftungen rücken nur vergleichsweise kleine Beträge heraus. Andererseits liegt es an denen, die etwas wagen müssen: Die Angst davor, einen festen Job in einer Redaktion aufzugeben, ist größer als in Märkten, in denen es solche sicheren Posten ohnehin kaum noch gibt. Aber die technischen Hürden sinken. Und die Experimentierfreude junger (und älterer) Journalist_innen nimmt zu.           

Dieser Text erschien am 31. Juli 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School.