Junge Nutzer, die unbekannten Wesen – und warum Journalismus sie doch erreichen kann

Wenn Verlagsmanager und Senderverantwortliche über junge Menschen sprechen, kommt einem zuweilen der Titel eines Aufklärungsbestsellers aus den sechziger Jahren in den Sinn: Meine Frau, das unbekannte Wesen. Vielen Verantwortlichen in den Medienhäusern scheinen die jungen Nutzer so nah und doch so fern zu sein, wie damals offenbar dem einen oder anderen die Ehefrau. Dabei könnte man so viel lernen, würde man den Objekten der Begierde einfach mal zuhören. 

Das hat nun eine Gruppe von Medienforschern im Auftrag von FT Strategies und dem Knight Lab getan. Der Report Next Gen News: understanding the audiences of 2030 eignet sich durchaus, nun ja, als Aufklärungslektüre.  

Einige Erkenntnisse aus der Studie, die keine Umfrage ist, sondern sich mit tatsächlichem Verhalten beschäftigt, dürften für die Medienbranche schmerzhaft sein. Etliche sind aber nur unangenehm, wenn man sich vor Arbeit drücken möchte. Denn die jungen Nutzer in den drei untersuchten Märkten USA, Nigeria und Indien schätzen Journalismus durchaus. Sie können oft nur nichts mit jenem Journalismus anfangen, der in vielen Redaktionen jahrzehntelang als Goldstandard galt und sich wohl schon damals nicht ausreichend verkauft hätte, wäre er nicht in lukrative Geschäftsmodelle verpackt gewesen.

Junge Menschen wollen kein Geschwurbel

Zunächst also zu den womöglich nicht so willkommenen Wahrheiten. Die erste ist, dass der so genannte Qualitätsjournalismus schon immer eine Sache für Eliten war. Er erreichte eine relativ kleine Schicht gebildeter Menschen, vorrangig Männer. Wer dazugehören wollte, empfand einen gewissen Stolz dabei, sich durch Bleiwüsten quälen zu können oder Nachrichten auszusitzen, von denen vielleicht zehn Prozent mit dem eigenen Leben zu tun hatten – darunter der Wetterbericht. 

Die junge Generation hingegen ist selbstbewusster als ihre Vorgänger. Sie findet sich mit Geschwurbel nicht mehr ab, da sie dank Digitalisierung weiß, dass man alles auch einfacher, anschaulicher, respektvoller oder lustiger erklären kann. Dies gilt insbesondere in Märkten und für Menschen, denen der Zugang zu vielfältigen Informationen früher verschlossen war.

Zu diesem Blick von oben herab gehört auch die recht willkürliche Einteilung in harte und weiche Nachrichten, Stoffe oder Ressorts. Als hart galten Politik und Wirtschaft, als weich, oder zumindest weicher, eben der Rest. Nicht einmal die in den Siebzigerjahren geprägte Aussage, das Private sei politisch, konnte Nachrichtenchefs für die längste Zeit davon überzeugen, dass die Wortblase eines Ministerpräsidenten mehr Nachrichtenwert hat als Debatten um die Aufteilung der Familienarbeit, der ewige Stau auf der Bundesstraße oder der ökologische Fußabdruck des Skiurlaubs. Zwar wunderten sich Redaktionsleiter ab und an, dass überwiegend Männer Zeitung lasen, aber selten dachten sie darüber nach, woran das lag – und noch seltener taten sie etwas dagegen. 

Die jüngere Generation, in der Männer und Frauen zumindest versuchen, sich mit ähnlichem Einsatz ums Familienleben zu kümmern, hält plötzlich Themen für relevant, die Chefredakteure älterer Jahrgänge – überwiegend ehemalige Politikreporter – maximal in Frauenzeitschriften geduldet hätten. Aber für die Jungen ist das Private eben politisch, das Weiche zuweilen ziemlich hart.

Auch unter Jungen gilt: Klasse statt Masse – nur eben anders

Besonders unpopulär dürfte die Einsicht sein, dass die Branche im Digitalen früh falsch abgebogen ist und auf Masse statt Qualität gesetzt hat. Denn das rüttelt am Selbstbild von Digitalchefs, die sich üblicherweise als Chef-Innovatoren betrachten. Aber Hingucker schaffen selten Loyalität, sorgfältiges Kuratieren ist journalistisches Kerngeschäft. Zu spät dämmerte es vielen Verantwortlichen, dass verlässliche, vertrauensvolle Beziehungen zu den Nutzern das Kapital erfolgreicher Medienunternehmen sind – wie schon zur Blütezeit des Zeitungsabos. Junge Menschen empfinden das ganz genauso. Sie schätzen Tiefe, Augenhöhe – auch im Umgang mit Fehlern – , Sorgfalt in der Auswahl und Ansprache. Keinesfalls wollen sie von Meldungen erdrückt werden. Erfolgsgeschichten wie die dänische Online-Marke Zetland, die mit ihrem „slow journalism“ bei einem vergleichsweise jungen Publikum gut ankommt und profitabel ist, belegen das. 

In der Untersuchung von FT Strategies gaben viele zu Protokoll, dass sie Push-Mitteilungen zwar als Informationsquellen nutzten, aber nie öffneten. (Zu Papierzeiten las man schließlich oft auch nur die Schlagzeilen.) „Sifting through the noise“: Aus dem Nachrichtenstrom das herauszufischen, was für sie Nährwert hat, ist für die Jungen zur Kulturtechnik geworden. Und weil Ablenkung und Unterhaltung überall sind, erwarten sie vom Journalismus einen Mehrwert. Zwei Drittel wünschen sich, er solle konstruktiv und lösungsorientiert sein.   

Der vertrauensvolle News-Anchor ist heute Influencer – und Experte auf seinem Gebiet

Vertrauensvolle Beziehungen hängen oft an Persönlichkeiten. Ähnlich wie die Alten Ulrich Wickert, Anne Will oder Peter Kloeppel schätzten, folgen die Jüngeren „ihren“ Influencern, wie Mai Thi Nguyen-Kim oder (international) Sophia Smith Galer. Der Unterschied ist, dass journalistische Influencer auf Kanälen unterwegs sind, auf denen die Linien zwischen Journalismus, Meinung und Marketing verschwimmen, die Studie nennt das „information context collapse“. Aber es wäre pure Arroganz zu behaupten, junge Menschen seien zu dumm, das zu erkennen. Sie betrachten stattdessen alle Veröffentlichungen mit einer ausgeprägten Skepsis. Auch bei den traditionellen Medienmarken wittern sie zuweilen Interessen, die nicht ganz mit dem Pressekodex zu vereinbaren sind – wer mag es ihnen verdenken?  

Was junge Nutzer wirklich von älteren unterscheidet: Sie erwarten mehr Authentizität. Dem Chefredakteur, der in der Konferenz regelmäßig murmelte, man müsse nicht im Krieg gewesen sein, um darüber zu schreiben, würden sie ein fröhliches „doch!“ zurufen. Immerhin gibt es ausreichend Menschen mit allen möglichen Erfahrungen, warum lässt man sie nicht zu Wort kommen? Weniger als frühere Generationen verlassen sie sich auf Seniorität und Hierarchie. Dies stellt Redaktionen vor ein Problem. Denn woher soll man all die jungen Kollegen nehmen, die „authentisch“ mit ihren Alterskohorten auf Augenhöhe kommunizieren – und was tun sie mit den anderen? Schließlich spüren junge Reporter schnell, was sie liefern müssen, um ihre Chefs zu beeindrucken, manch einer schreibt schon mit 30 so, wie er es sich beim 50-jährigen, intern hochgelobten Kollegen abgeschaut hat. Hier sind eine aktive Personalpolitik und eine wertschätzende Redaktionskultur gefragt. Gestandene Redakteure brauchen Offenheit und eine gewisse Demut. Sie sollten ihre alten Glaubenssätze auch mal hinterfragen und in Sachen Angriffslustigkeit und Wörter-Verliebtheit abrüsten, ohne sich den Jungen anzubiedern und journalistische Grundsätze aufzugeben.   

Junge Menschen zu verstehen und mit journalistischen Produkten zu erreichen ist also gar nicht so schwer. Man muss sich aber Mühe geben. Und das scheuen viele, die lieber mit alten Geschäftsmodellen Geld verdienen als Beziehungen aufbauen wollen. Eine wichtige Erkenntnis der Studie sollte ihnen jedoch zu denken geben: Auch ältere Nutzer integrieren moderne Technologie gerne in ihren Lebensstil – nur mit Zeitverzug. Großeltern kommunizieren heute selbstverständlich mit WhatsApp, verschicken digitale Fotos, nutzen Facebook oder gar TikTok. Wer die Jungen gewinnt, sichert sich deshalb womöglich auch die Loyalität der Alten – auch wenn die sich nur ungern duzen lassen. Helje Solberg, Chefredakteurin beim norwegischen Fernsehsender NRK, beobachtet zudem einen positiven Nebeneffekt, den sie in Interviews für den EBU News Report skizziert hat: Formate, die bei jungen Leuten ankommen, erwiesen sich häufig als inklusiver, sie erreichten Menschen verschiedener Bildungsgrade, Herkünfte und Gesellschaftsschichten. Womöglich sollte das die Definition von Qualitätsjournalismus sein.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 28. März 2024. Aktuelle Kolumnen lassen sich mit einem Abo lesen. 


Vielfalt fordern, Einfalt meinen: Wenn Journalismus-Kritiker aneinander vorbeireden

Eines lässt sich mit ziemlicher Sicherheit behaupten: Das Angebot an Journalismus war noch nie so vielfältig wie heute. Man kann sich einerseits wie früher bei den großen oder lokalen Medienmarken informieren. Deren Inhalte gibt es aber nicht länger nur als lineare Sendung oder auf Papier, sondern auch auf Websites, manchmal bei YouTube, Instagram, TikTok, bei Spotify oder in der Mediathek. Zudem handeln die etablierten Nachrichtenmarken heute in einer Breite Themen ab, die es noch vor zehn Jahren an keinem Chefredakteur vorbei geschafft hätten. Vermutlich kommen heute selbst in der FAZ mehr Paartherapeuten als Parteiforscher zu Wort. Andererseits existieren unzählige Spezial-Angebote für diejenigen, die sich als Teil einer Gruppe oder mit einem Interessengebiet identifizieren – ob das junge Frauen sind, People of Colour, die queere Community, Politik-Junkies oder Menschen, die sich im Detail über Klima-Themen oder Geldanlage auf dem Laufenden halten wollen. Das Gründen im Journalismus ist einfach geworden (was nicht für das wirtschaftliche Überleben gilt). Und dennoch beklagen sich mindestens zwei Lager darüber, dass es den Medien an Vielfalt mangelt. 

Der Streit um die Vielfalt und seine beiden Lager 

Das ist einerseits die Fraktion, die Harald Welzer und Richard David Precht (Die Vierte Gewalt) applaudiert. Sie unterstellt insbesondere dem politischen Journalismus eine ideologische Einfalt, die sie irgendwo links von der Mitte und auf jeden Fall im grünen Milieu verortet. Sie beklagen: Die angebliche „Mehrheits-Meinung“ (nämlich ihre eigene) komme in den Medien nicht vor. Sie greifen vor allem den öffentlich-rechtlichen Rundfunk an, was man befremdlich finden kann, denn anders als bei kommerziellen Anbietern wird gerade dort penibel auf angemessene Redezeiten aller in den Parlamenten vertretenen Parteien geachtet. 

Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die etwas Ähnliches behaupten, aber etwas anderes meinen. Sie sagen: Redaktionelle Inhalte und Entscheidungen seien nach wie vor von einer Mehrheit weißer, gut ausgebildeter Männer, vielleicht auch ein paar Frauen geprägt. Menschen wie sie – schwarz, muslimisch, transsexuell, Arbeiterkinder, man ergänze – seien weder optisch noch inhaltlich so repräsentiert, dass es die Gesellschaft abbilde. Sie kämen höchstens als Objekte vor, die es zu sezieren gelte. Praktisch ist, dass auf diese Weise so gut wie jeder in den Chor der nach Vielfalt Rufenden einstimmen kann, was dem Anliegen eine gewisse Lautstärke verleiht. Allerdings ist es schon jetzt absehbar, dass kein Ergebnis alle zufriedenstellen wird. 

Was sind also die Fakten?

Eine Tagung des Instituts für Journalistik der Universität Dortmund um Michael Steinbrecher und Tobias Gostomzyk hatte im Sommer 2023 den Spagat versucht, die Debatte in ihrer gesamten Breite abzubilden und dazu einige Fachleute samt Forschung aufgefahren. Es ging sowohl um inhaltliche Vielfalt als auch um Vielfalt in Redaktionen und Gremien. 

Eine wichtige Erkenntnis in Sachen politische Vielfalt lieferte die Uni selbst in einer Studie aus ihrem Projekt Journalismus und Demokratie: Anhänger verschiedener Parteien finden, dass jeweils das andere politische Lager in den Medien überrepräsentiert ist. Im Kontrast dazu sehen sie sich und ihre Positionen zu wenig gespiegelt. Man könnte das als Hinweis auf eine gewisse Vielfalt deuten, denn schon als Journalist ahnt man, wenn sich gegensätzliche Seiten beklagen, hat man wohl etwas richtig gemacht. Trotzdem attestierten die Anhänger fast aller Parteien dem Journalismus eine verhältnismäßig hohe Glaubwürdigkeit. Allein diejenigen, die sich in der forsa-Umfrage als AFD-Sympathisanten bekannten, vertrauen den traditionellen Medien kaum, weshalb sie ihre Informationen eher aus anderen Quellen beziehen. 

38 Prozent der befragten Journalisten stehen den Grünen nahe 

Die Dortmund-Studie legt allerdings die Interpretation nahe, dass der politische Journalismus eine gewisse Schlagseite Richtung grüne Positionen haben könnte. Laut Michael Steinbrecher gaben 38 Prozent von 750 befragten Journalisten an, den Grünen nahezustehen. Es ist jedoch nicht belegt, ob und wie sich Parteipräferenzen in der Berichterstattung niederschlagen. Jeder vierte Befragte hatte zu Protokoll gegeben, sich mit keiner politischen Partei zu identifizieren.           

Die Journalismusforscherin Birgit Stark von der Johannes Gutenberg Universität Mainz präsentierte zudem eine Studie aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, in der sich die befragten Nutzer recht zufrieden mit der Vielfalt in den Medien äußerten. Die Forscher:innen hatten Themenvielfalt, Meinungsvielfalt und Akteursvielfalt in den öffentlich-rechtlichen Medien der drei Länder untersucht. Vor allem bei Themen und Meinungen sahen die Angesprochenen kaum Defizite in der Vielfalt. Wo also liegen die Probleme wirklich?

Die erdrückende Dominanz des politischen Journalismus 

Ein Grund, warum Menschen Journalismus oft als einseitig wahrnehmen, dürfte in der erdrückenden Dominanz des traditionellen politischen Journalismus liegen, der insbesondere die wichtigen Nachrichtensendungen prägt. Hier geht es häufiger um Zitate und Konflikte als um Fakten und Nutzwert, zu Wort kommen in erster Linie Funktionäre. Harald Welzer sprach bei der Tagung von „Politik-Politik-Journalismus“, also einer selbstreferentiellen Spielart des Fachs. Auch der Digital News Report von 2023 sieht Anzeichen dafür, dass diese Art von Journalismus Menschen in den Nachrichten-Überdruss treibt. „Das Nachrichten-Interesse rutscht ab“, bestätigte Juliane Leopold, Chefredakteurin Digital von ARD Aktuell auf der Tagung. Wer sich aber generell vom Journalismus abwendet, nimmt die gesamte Breite und Vielfalt des journalistischen Angebots nicht mehr wahr und verpasst wichtige Informationen und Debatten. 

Der Kommunikationswissenschaftler Christoph Neuberger von der FU Berlin warnte auf der Konferenz davor, nur auf die Angebotsvielfalt zu schauen. Es komme auf die Nutzungsvielfalt an, also darauf, dass der Journalismus auch die Breite der Gesellschaft erreicht. Hier haben viele Redaktionen Nachholbedarf, denn traditionell beschäftigen sich Journalisten viel mit ihren Inhalten, aber wenig oder gar nicht mit deren Wirkung auf diejenigen, für die sie gedacht sind. Es reicht nicht, Vielfalt zu produzieren, wenn sie die potenziellen Adressaten nicht erreicht. 

„News Outsider“ – wem der Journalismus nichts bedeutet 

Die Gründerin des Schibsted-Innovation Labs, Agnes Stenbom, hat den Begriff „News Outsider“ geprägt. Er beschreibt diejenigen, denen Journalismus nichts bedeutet. Sie finden, er sei für ihr Leben nicht relevant. Insbesondere junge Menschen aus sozialen Brennpunkten zählen dazu. Für sie sind Angebote auf den (Social Media-)Plattformen wichtig, auf denen sie sich bewegen. Und darin müssen natürlich Menschen vorkommen, mit denen sich diese Zielgruppen identifizieren können. Der Haken ist: Genau solche Formate, wie sie zum Beispiel bei Funk von ARD und ZDF zu finden sind, ärgern wiederum diejenigen, die in Talkshows gerne von mangelnder Medienvielfalt sprechen. Man könnte unterstellen, dass sich so manch einer dieser Kritiker eher eine Rückkehr zur Medienwelt von früher wünscht – als es so ein breiteres Angebot eben nicht gab.

Man sollte nicht vergessen, dass einige derjenigen, die den Medien einen Mangel an Meinungsvielfalt attestieren, politische Interessen damit verfolgen. Nicht erst seit den „Fake News Media“-Tiraden von Donald Trump ist klar, dass sich Politiker gerne Kritiker vom Hals schaffen, indem sie die gesamte Branche als unglaubwürdig diskreditieren. Wie Craig Robertson im Digital News Report belegt, setzen Politiker Medienkritik weltweit als Instrument ein, um Widerspruch zu ersticken und Rechercheure einzuschüchtern. Genau aus diesem Grund wird Forschung gebraucht, die Fakten zur Medienvielfalt liefert. Wer nur Gefühlslagen abbildet, dient damit gewollt oder ungewollt Interessen, die den unabhängigen Journalismus gezielt schwächen wollen.      

Durch tägliches Erleben wie auch durch Forschung nachgewiesen ist hingegen der Mangel an Vielfalt innerhalb der Redaktionen. Zahlreiche Publikationen zum Beispiel von den Neuen deutschen Medienmacher*innen oder dem Reuters Institute for the Study of Journalism in Oxford belegen, dass hier noch viel getan werden muss. Das reicht von der Einstellung und Förderung entsprechender Kandidat:innen über die Sensibilisierung von Führungskräften bis hin zum Kulturwandel. Nur in einer Umgebung, in der sich vielfältige Mitarbeiter:innen sicher fühlen, in der sie ihre Ideen als willkommen wahrnehmen, werden entsprechende Projekte gedeihen. 

Dabei geht es auch um Bedürfnisse von Menschen, die sich in keiner Statistik potenziell benachteiligter Gruppen finden. Schließlich stecken die urban und bildungsbürgerlich geprägten Redaktionen großer Medienmarken die Themenfelder entsprechend ab. Sven Gösmann, Chefredakteur der DPA,  gab auf der Konferenz zu bedenken, dass zum Beispiel die Berufsschule in der Berichterstattung deutscher Medien kaum stattfinde. Dafür habe man sich zeitweise überproportional mit Elektro-Rollern beschäftigt. Redaktionen, die die Gesellschaft nicht abbilden, werden dies auch in ihren Inhalten kaum schaffen. Damit riskieren sie aber nicht nur ihre Glaubwürdigkeit, sie verschenken auch wirtschaftliches Potenzial. Letztlich gefährden sie die Rolle des Journalismus in der Demokratie.

Diese Kolumne erschien zuerst bei Medieninsider am 27. Juli 2023. Aktuelle Kolumnen lesen Sie dort mit einem Abo.

So kann Klimajournalismus den Journalismus nachhaltiger machen

Ein sehr geschätzter ehemaliger Kollege reagierte kürzlich etwas verschnupft auf die Ankündigung, demnächst erscheine ein großer Report zum Thema Klimajournalismus. „Klimajournalismus – was ist das? Journalisten sind keine Aktivisten“, kommentierte er einen entsprechenden LinkedIn-Post. Dieser Kollege hat sich Zeit seines Berufslebens mit der Autoindustrie beschäftigt. Er tut das kritisch, kompetent, exzellent vernetzt und mit Begeisterung für das Fachgebiet. Kaum jemand würde ihm dafür Aktivismus vorwerfen. Reportern, die über Klimaschutz berichten, geht dies anders. Auch wenn sie dies nur am Rande tun, zum Beispiel im Kontext eines Wetterberichts, findet sich immer jemand, der ihnen eine politische Agenda unterstellt. 

Das macht eine ohnehin komplizierte Sache nicht einfacher, selbst wenn sich die Führungsetage gegen solche Anwürfe verwahrt. „Wir haben keine Agenda. Der Klimawandel ist so offensichtlich geworden. Selbst den größten Kritikern ist klar, dass da etwas passiert“, sagt zum Beispiel der ARD-Vorsitzende und SWR-Intendant Kai Gniffke in einem Interview für den oben erwähnten Report „Climate Journalism That Works – Between Knowledge and Impact“, der von der European Broadcasting Union in Auftrag gegeben wurde und in der vergangenen Woche erschienen ist (Disclaimer: Ich bin Lead-Autorin dieses Reports). 

So wie Gniffke reagierten viele Interviewpartner. Man berichte die Fakten, auf jeden Fall. Das ist verständlich, denn wer würde schon zugeben, eventuell eine Schere im Kopf zu haben, weil der Ruf der Überparteilichkeit auf dem Spiel steht? Für die öffentlich-rechtlichen Medien, die dieser verpflichtet sind, ist das eine spezielle Herausforderung. 

Da hilft es womöglich, wenn Führungskräfte sich und anderen vor Augen führen, dass eine Investition in Klimajournalismus und eine entsprechende Strategie in jedem Fall nutzt – und sei es, um das gesamte journalistische Angebot und damit die Organisation nachhaltiger zu machen. Denn gerade, weil Klimajournalismus so komplex ist, lassen sich die Lektionen, die Redaktionen daraus lernen können, auch auf andere Felder anwenden. Dies ist das Fazit des Reports, der sieben solcher Vorteile herausgearbeitet hat:

Erstens: Beim Klimajournalismus geht es um die Zukunft. Der heutige Journalismus steckt allzu häufig in der Gegenwart fest. Er muss Strategien entwickeln, um seine Legitimität in der Aufmerksamkeitsökonomie zu steigern. Dies gilt besonders für öffentlich-rechtliche Medienhäuser, denen die Daseinsberechtigung von verschiedenen politischen Lagern abgesprochen wird. Wer, wenn nicht sie sollte den Auftrag haben, zum Schutz der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten durch besseren Journalismus beizutragen? Damit würden die Sender auch den besonderen Ansprüchen der jungen Generation gerecht. Es ist vor allem ihre Zukunft.

Zweitens: Klimaschutz braucht Hoffnung. Nur damit bringt er Menschen zum Handeln. Der heutige Journalismus konzentriert sich dagegen meist auf Konflikte, Versäumnisse und Fehlschläge. Konstruktiver und lösungsorientierter Journalismus bieten einen Weg in die Zukunft. Das Drive-Projekt der DPA und der Beratung Schickler, in dem 21 deutsche Regionalverlage ihre Daten zur Verfügung stellen, hat kürzlich belegt, dass inspirierende Stücke die wertvollsten Digital-Inhalte sind, wenn es um Abo-Abschlüsse geht. In der vergangenen Woche widmete sich der gesamte Journalismustag der Gewerkschaft Verdi dem konstruktiven Journalismus.  

Drittens: Im Klimaschutz zählt das, was getan wurde. Der heutige Journalismus konzentriert sich noch zu sehr auf das, was gesagt wurde. Dabei lässt der „Er hat gesagt, sie hat gesagt“ Journalismus, der vor allem die Politikberichterstattung dominiert, die meisten Nutzer eher kalt. Moderner Journalismus sollte stärker auf Daten als auf Zitaten aufbauen.

Viertens: Ein funktionierender Klimajournalismus nähert sich dem Publikum mit Respekt und in einer Sprache, die es versteht. Der heutige Journalismus erhebt sich oft besserwisserisch über sein Publikum. Viel zu häufig mahnt oder warnt er, statt zu erklären und aufzudecken. Viele Nutzer fühlen sich davon bevormundet oder dazu gedrängt, in Lagerkämpfen Partei zu ergreifen. Dabei muss Journalismus vielfältiger und inklusiver werden, wenn er Menschen erreichen, begeistern und zum Handeln bringen möchte. Das gilt für Formate und Protagonisten.

Fünftens: Klimajournalismus muss im Lokalen verankert sein. Der heutige Journalismus strebt dagegen zu oft nach Reichweite und vernachlässigt dabei die besonderen Bedürfnisse der Menschen vor Ort. Um sich unverzichtbar zu machen, sollte Journalismus seine Bedeutung als gemeinschaftsbildende Institution zurückgewinnen. Wer ein Medienprodukt nutzt oder gar abonniert, tut dies oft, um dazuzugehören. 

Sechstens: Klimajournalismus muss Wirkung zeigen, sonst ist er sinnlos. Er sollte deshalb seine eigenen Praktiken reflektieren und Erkenntnisse aus der Forschung nutzen, insbesondere aus den Kommunikationswissenschaften und der Psychologie. Journalismus tut dies noch viel zu selten. Journalisten sind üblicherweise neugierige Menschen, aber oft erstaunlich veränderungsresistent. Medienhäuser könnten viel gewinnen, zeigten ihre Führungskräfte und Mitarbeitenden mehr Freude am Lernen und strategischen Denken.

Siebtens: Klimajournalismus profitiert von Zusammenarbeit. Dies gilt für die interne Vernetzung von Ressorts und Regionen sowie extern für die Kooperation mit anderen Medienhäusern oder Partnern, die zum Beispiel Daten liefern. Im heutigen Journalismus dominiert noch viel zu oft altes Konkurrenzdenken. Dabei ließen sich über Kooperationen so viele Potenziale heben. Der Journalismus der Zukunft ist kollaborativ.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 7. März 2023. Um aktuelle Kolumnen dort zu lesen, braucht man ein Medieninsider-Abo. 

Darum ist der Journalismus heute objektiver als früher

Für die einen hat die Debatte um Objektivität im Journalismus gerade erst begonnen, für die anderen ist sie längst abgehakt. Allein das zeigt, wie dringend sie geführt werden muss. Denn es geht um nicht weniger als die Arbeitsgrundlage, aus der die Branche ihre Existenzberechtigung ableitet. 

Anlass dieser Feststellung ist ein Gastbeitrag in der Washington Postvom Januar 2023 samt Reaktionen darauf. Der Titel lautete: „Redaktionen, die Objektivität hinter sich lassen, können Vertrauen schaffen“. Was den Text brisant macht, ist die Autorenschaft: Leonard Downie Jr. Er ist ehemaliger Chefredakteur des Blattes und als Redakteur in den Siebzigerjahren mit den Watergate-Recherchen befasst gewesen. Heute ist er Journalismus-Professor an der Walter Cronkite School of Journalism der Arizona State University. Gemeinsam mit einem ebenso dekorierten Kollegen, Andrew Heyward, ehemals Präsident von CBS News, hat er mehr als 75 (amerikanische) Nachrichtenmacher:innen für eine Studie zum Thema befragt, deren wichtigste Erkenntnis viele in der Branche kaum verwundern dürfte: dass die vermeintliche Objektivität des (US-)Journalismus vor allem die Sichtweise derjenigen reflektiert, die in Redaktionen lange Zeit und oft nach wie vor das Sagen hatten und haben.

Die Reaktionen in der journalistischen Twitter-Blase waren gemischt. Als ein „Erdbeben“ für die Medienbranche bezeichnete ein ebenfalls langgedienter Post-Redakteur den Beitrag. Ein jüngerer Kollege aus Großbritannien hingegen bemerkte, wohl wissend, mit seiner Wortwahl zu überzeichnen: „Ich bin froh, dass zwei weiße Männer von einer Stiftung Geld dafür bekommen haben, um herauszufinden, was viele von uns schon sehr lange wissen.“ 

Ende der Geschichte? Eher nicht. Denn was die Debatte so wichtig macht, ist genau die Tatsache, dass sich die Frage nicht mit einem einfachen Daumen hoch oder Daumen runter beantworten lässt. Man kann sie mit einem „es gibt keine Objektivität“ genauso wenig beenden wie mit „es geht um nichts als die Fakten“. Dennoch stehen sich die Verfechter beider Positionen zumindest in der Außenwirkung unversöhnlich gegenüber. Dies reicht bis weit in den redaktionellen Alltag hinein. 

Bei der Recherche für einen Report zum Thema Klimajournalismus* erzählten viele Redaktionsleiter:innen von einem Generationenkonflikt. Junge Leute wollten zwar gerne über Klimathemen berichten, sie verstünden sich aber als Aktivist:innen, klagten Interview-Partner:innen aus verschiedenen Ländern und Mediengattungen. Wer so voreingenommen an die Sache herangehe, den könne man nicht mit so einer Aufgabe betrauen. „Wir müssen die jungen Leute immer wieder daran erinnern, wer wir sind“, so der Außenpolitikchef einer Nachrichtenagentur. Viele Frauen, Kolleg:innen aus Einwandererfamilien und/oder solche mit anderer Hautfarbe bemängeln hingegen auch hierzulande zurecht, dass die dominante Perspektive des Journalismus, die von der Ressortaufteilung und Bildauswahl bis hin zu Kommentaren praktisch alles prägt, der Vielfalt von Realität und Lebenserfahrungen der potenziell Angesprochenen nicht gerecht wird. 

Für die Branche verknüpft sich damit nicht nur ein Legitimitäts-, sondern auch ein Wirtschaftlichkeitsproblem. Weite – und wachsende – Teile des Publikums werden Journalismus schlicht ignorieren, wenn sie sich von dessen Inhalten und Formaten nicht angesprochen fühlen. Verlagen fehlen dann die Einnahmen, den gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Anbietern ihre gesamte Daseinsberechtigung. Es gilt aber auch: Ein Journalismus, der sich den Nutzer:innen anbiedert, in dem er allein ihre Perspektive bedient, hat seinen Namen nicht verdient. Guter Journalismus überrascht und macht neugierig, er sollte nicht erwartbar sein. 

Wie sich Widersprüche auflösen lassen

Vermeintlich steckt da ein Widerspruch, wie ließe er sich auflösen? Zunächst einmal durch Begrifflichkeiten. Das Wort Objektivität gehört ins Museum journalistischer Selbstbeschreibungen. Über Themen und Fakten zu berichten hat schon immer bedeutet, Themen und Fakten auszuwählen und zu gewichten. Viel öfter noch als heute, wo Daten beim Priorisieren helfen, wurde dazu früher vor allem das Bauchgefühl bemüht – und dann das Gespräch mit Kolleg:innen und Vorgesetzten, die ähnlich tickten. Auch am Beginn einer jeden investigativen Recherche stand und steht die Entscheidung: ist das ein Thema, lohnt sich die Investition? Es ist kein Zufall, dass es bei großen Investigativ-Projekten bislang viel häufiger um Korruption und Steuerhinterziehung ging als um andere Arten von Machtmissbrauch – die Recherchen zum Fall Harvey Weinstein waren auch aus diesem Grund ein wichtiger Schritt zu mehr Vielfalt. 

Ähnlich angeschlagen ist der im britischen Englisch eher verwendete Begriff „impartiality“, die Unparteilichkeit. Diese Vorgabe hatte zum Beispiel im Klimajournalismus viel zu lange dazu geführt, dass Leugner des Klimawandels Sendezeit bekamen, obwohl die Fakten sie längst widerlegt hatten. Die für die BBC zuständige britische Regulierungsbehörde Ofcom hat deshalb den Begriff um „due impartiality“ – angemessene Unparteilichkeit – erweitert und in ihre Statuten geschrieben. Darin verbirgt sich der Auftrag, das zu ignorieren oder zumindest richtigzustellen, was aus Sicht der Wissenschaft Blödsinn ist – was sich in manchen Fällen leider erst im Nachhinein beurteilen lässt. 

Dies alles bedeutet aber keinesfalls, dass Journalist:innen damit von der Pflicht entbunden sind, sich ein möglichst objektives Bild zu verschaffen. Ihr Job ist es, eigene Befindlichkeiten zurückzustellen, eine Position der Distanz einzunehmen und auf der Grundlage von Fakten Vorgänge von möglichst vielen Seiten zu beleuchten. Schon frühere Generationen von Reporter:innen und Redakteur:innen hätten dies tun sollen, dann wäre ihnen aufgefallen, dass in ihren Publikationen viele Themen und Perspektiven schlicht fehlten. So gesehen könnte man sagen, dass der Journalismus von heute objektiver ist als früher, weil er immer besser darin wird, Vielfalt zu sehen, zu schätzen, abzubilden und sich seiner blinden Flecken bewusst zu werden. 

Die Datenjournalistin Julia Angwien schrieb in ihrem Essay „Journalistic Lessons for the Algorithmic Age“ in der vergangenen Woche, statt von Objektivität oder Fairness zu sprechen, betrachte sie es als Aufgabe von Journalisten, eine Hypothese zu erstellen und dann Beweise dafür zu sammeln. Die Betonung liegt auf dem Wort Beweis, und das hat etwas mit Fakten zu tun. Denn auch das ist Realität in der Branche: Manch einer, der sich auf Subjektivität beruft, war nur zu bequem zum Recherchieren. 

Natürlich haben auch sehr subjektive Beiträge einen Platz im Journalismus. Erfahrungsberichte, die frische Einblicke bringen, gehören zu den stark nachgefragten und wirkungsstarken Stücken, sei es im Text-, Video- oder Podcast-Format. Nur muss dann – wie auch beim Kommentar – die Perspektive deutlich gemacht werden. Die Ich-Geschichte funktioniert nur, wenn sie handwerklich exzellent und wohl dosiert daherkommt.

Allerdings gibt es ohnehin keine Lösung, die für alle passt, so auch das Fazit des oben zitierten Gastbeitrags der Washington Post. Jedes Medienhaus muss seine eigenen Regeln entwickeln, auch dazu, wie sich Redakteur:innen in den sozialen Netzwerken verhalten sollten. Was nicht geht: Wolkig von Objektivität reden – und dann schweigen.    

Was der Journalismus nicht in Frage stellen darf

Journalist:innen sollten sich aber sehr klar darüber sein, was ihre Aufgabe und spezielle Rolle in der Gesellschaft ist. Subjektivität lässt sich in der weiten Welt der digitalen Plattformen überall besichtigen. Die Suche nach der „bestmöglichen Version der Wahrheit“ hingegen, wie es die Watergate-Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein einst formuliert hatten, ist ein Alleinstellungsmerkmal des Journalismus. Stellte er dieses Prinzip in Frage, würde er an seinem eigenen Untergang arbeiten. 

Dass die Ergebnisse dieser Suche oft unbefriedigend, unausgewogen, so gut wie immer unvollständig sind, liegt in der Natur der Sache. Auch Wissenschaftler:innen tasten sich nur mühsam von Erkenntnis zu Erkenntnis voran. Gerichte müssen urteilen, wenn noch nicht alle Fakten vorliegen. Trotz aller Datenfülle ist selbst Künstliche Intelligenz fehlbar, weil sie nur Wahrscheinlichkeiten aber nicht die Wahrheit berechnen kann. Alle können falsch liegen. Aber Journalist:in sein heißt zuhören, hinschauen, nachbohren, fragen – und die Scheinwerfer auf andere richten, nicht auf sich selbst. Dass dazu Journalist:innen unterschiedlichster Perspektiven gebraucht werden, versteht sich. Nur manch eine Redaktion muss das noch begreifen.       

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 8. Februar 2023. Alexandra schreibt dort jeden Monat, zum Lesen aktueller Kolumnen braucht man ein Medieninsider-Abo. 

Von wegen „Digital Natives“ – Gerade beim jungen Publikum klafft die Medienkompetenz weit auseinander

Es ist eine bequeme Annahme, dass sich manche Probleme mit dem Generationenwechsel von selbst lösen werden. Leider fällt sie immer wieder durch den Wirklichkeitstest. Dies trifft auch auf die Fähigkeit zu, mit dem Digitalen im Allgemeinen und digitalen Medien im Besonderen kompetent umzugehen. Belegt wird das von einer großen Studie für Deutschland, die in dieser Woche von der Stiftung Neue Verantwortung veröffentlicht wurde und Pflichtlektüre für alle sein sollte, die etwas mit Journalismus zu tun haben. Denn unter den vielen interessanten Einzelergebnissen fällt eins besonders ins Auge: Gebildete junge Menschen erreichen in dem Test im Durchschnitt die besten Werte aller Altersgruppen, während ihre Altersgenossen mit niedriger Schulbildung schlechter abschneiden als ältere Jahrgänge mit ähnlichem Ausbildungsniveau. Kurz gesagt: Der Begriff „Digital Natives“ beschreibt kaum mehr als eine Wunschvorstellung. Vielmehr wird der digitale Graben tiefer.

Es lohnt sich, die Studie genauer zu lesen, denn etliche Aussagen sollten Redaktionen schwer zu denken geben. Nicht nur ist das Niveau der Medienbildung insgesamt mau: Im Durchschnitt erreichten die Befragten nicht einmal die Hälfte der möglichen Punktzahl, nur jede*r Fünfte qualifizierte sich in den Kategorien hohe oder sehr hohe Medienkompetenz. Aber einige Erkenntnisse rufen direkt nach Taten.

Da ist zum einen der Vorwurf einer „von oben“ gesteuerten Presse. Etwa ein Viertel der Befragten nimmt nach eigenem Bekunden an, Politik und Journalist*innen arbeiten Hand in Hand und täuschen die Bevölkerung, „Lügenpresse“ lässt grüßen. Woran die Menschen das festmachen, ergibt sich nicht. Aber eine Unterrichtseinheit in der Schule reicht vermutlich nicht, um das Gegenteil zu beweisen. Hier rächt sich eine Politik-Berichterstattung, die sich nach wie vor zu sehr auf Statements von Funktionsträger*innen und zu wenig auf die Recherche von Themen fokussiert. Wer Politiker*innen und Journalist*innen ständig gemeinsam in Bild und Gespräch wahrnimmt, wird womöglich auch bei kritischen Interviewfragen den Eindruck nicht los, hier werde über die Köpfe der Bürger*innen hinweg verhandelt. Dazu passt, dass der Lokaljournalismus in den meisten Studien auch international die höchsten Vertrauenswerte genießt. Er ist eben näher dran.

Besonders schwer taten sich die Teilnehmer*innen der Untersuchung damit, Journalismus von Werbung zu unterscheiden oder Kommentare von Nachrichten. Wer seine Informationen überwiegend aus den sozialen Netzwerken bezieht, verirrt sich der Studie zufolge besonders häufig im Überangebot und Nebeneinander von unabhängiger, überprüfter auf der einen und interessengeleiteter Information auf der anderen Seite. Nutzer*innen, die sich direkt in Nachrichten-Apps schlau machen, schneiden dagegen deutlich besser ab. Das ist bedenklich, da der weit überwiegende Teil der Medienkonsument*innen über die Plattformen Dritter auf Journalismus zugreift, Tendenz steigend. Bei den jungen Leuten nutzen laut aktuellem Digital News Report 84 Prozent den Seiteneinstieg, nur ein geringer Teil geht also direkt auf Website oder App.

In der Branche wird immer wieder die Notwendigkeit diskutiert, Beiträge nach Kategorien zu kennzeichnen. Aber ein schlichtes „Kommentar“ in der Dachzeile reicht möglicherweise nicht aus. In der Studie konnte zum Beispiel kaum jemand ein Advertorial identifizieren, selbst wenn es als Anzeige gekennzeichnet war. Auch das Label „Kolumne“ wurde als wenig hilfreich empfunden. Die Wirkung von Kennzeichnungen ist offenbar auch bei Falschinformationen begrenzt. Selbst wenn soziale Netzwerke Lügen eindeutig als solche ausweisen, ist das offenbar nicht für alle ein Grund dafür, sie als solche zu behandeln.

Wenn es nur noch gut ausgebildete Menschen schaffen, sich einigermaßen sicher in der digitalen Medienwelt zu bewegen, sind das schlechte Nachrichten für die Demokratie. Die Gefahr steigt, falsch oder gar nicht informiert zu sein und deshalb schlechte Entscheidungen zu treffen. Die Ergebnisse der Studie unterstreichen, was die Forschung schon länger nahelegt: dass das Internet den Zugang zu Information und Wissen nicht etwa egalitärer, sondern ungleicher gemacht hat. Antonis Kalogeropoulos hatte dies 2018 in einer Studie für Großbritannien belegt. Demnach kamen in der alten Welt von Print und linearem Fernsehen Menschen mit niedrigem Bildungsgrad häufiger mit Journalismus in Kontakt als heute, wo jeder zwar ständig an seinem Smartphone herumfingert, darauf aber eher chattet und spielt, statt nach Information zu fahnden. In der Zeit vor Netflix und Spotify griffen auch weniger Bildungsbeflissene schon mal aus Langeweile zur herumliegenden Zeitung oder ließen die Nachrichten an sich vorbeirauschen, schnappten dabei das eine oder andere auf. Exzellent ausgebildete Nutzer*innen sind dagegen heute in der Lage, sich deutlich besser und vielfältiger zu informieren als je zuvor.

Was also tun, damit Journalismus nicht zum Klassen-Privileg wird? Medienbildung erreicht Menschen kaum noch, sobald sie die Schule verlassen haben. Gerade die ältere Generation ist besonders anfällig für „Fake News“, ebenso die Jüngeren, die sich Informationen bewusst oder unbewusst entziehen. Schon jede*r Dritte gilt laut Digital News Report als Nachrichten-Verweiger*in.

Redaktionen stehen in besonderer Verantwortung. Medientrainings in Schulen sollten Standard werden, aber nicht als „wir erklären euch mal was“ von oben herab. Junge Leute können fantastische Reporter*innen sein, man muss sie nur ermutigen. Journalismus und die Aufklärung gehören zudem auf die Plattformen, auf denen sich die Nutzer*innen bewegen. Die Tagesschau mit ihren vielfältigen digitalen Angeboten macht vor, wie so etwas gehen kann – in der Studie der Stiftung Neue Verantwortung schneidet sie vergleichsweise gut ab. Idealerweise begeistern Medien das Publikum so, dass es den direkten Weg auf die Nachrichten-App findet und keine Verwechselungsgefahr besteht. Aber dazu muss auch der Journalismus besser werden: weniger fixiert auf Institutionen, dafür mehr auf Menschen und Themen, stärker im Austausch mit den Nutzer*innen, transparenter, was die eigene Arbeitsweise angeht.

Die Medien können die Aufgabe allerdings nicht alleine stemmen. Öffentliche Institutionen und Privatwirtschaft müssen nicht nur besser aufklären. Aus jedem Plattform-Design muss klar hervorgehen, was die Konsument*innen von Inhalten erwarten können: Ist das nur Werbung oder Bla Bla, oder ist da echter Journalismus drin? Was Zeitungen einigermaßen gelungen ist, muss auch im Digitalen möglich sein.

Diese Kolumne erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 26. März 2021.

Von wegen Troll-Farmen – „Fake News” sind ein Problem, aber anders, als viele denken

Gefälschte Videos, fingierte Posts, Lügengeschichten und das alles massenhaft verbreitet von Bots über soziale Netzwerke: „Fake News“ werden häufig als ähnlich ansteckend beschrieben wie das Corona-Virus. So hatte die Weltgesundheitsorganisation die „Infodemic“ lange vor der Pandemie ausgerufen. Am 2. Februar war das, weltweit gab es damals noch nicht einmal 15.000 bestätigte Fälle von Covid-19. Allerdings verhält es sich mit dem Begriff „Fake News“ eher wie mit einigen anderen, wenn man sie unter das Vergrößerungsglas der Forschung legt: Die Fakten dazu unterscheiden sich nicht unwesentlich von dem, was gemeinhin darunter verstanden wird.

In der öffentlichen Debatte, wie sie auch von besorgten Politiker*innen geführt wird, insinuiert das Schlagwort in erster Linie die Manipulation von Bild, Ton und Text. Oft spielen darin feindliche politische Kräfte, geldgierige Hacker*innen oder zumindest Spaßvögel eine Rolle, die ihr gefälschtes Material über Facebook und Co. auf nichtsahnende Bürger*innen abwerfen. Eine ganze Fact-Checking-Industrie ist um diese Annahmen herum entstanden.

Nun ist es wichtig, Informationen zu verifizieren – es gehört zum Beispiel zur Job-Beschreibung von Journalist*innen. Allerdings tragen genau diese eine ordentliche Portion Mitschuld am Dilemma. Dies hat jetzt eine großangelegte Studie des Berkman Klein Center for Internet and Society an der Universität Harvard bestätigt, acht Autor*innen waren daran beteiligt. Anders als oft angenommen tragen der Untersuchung zufolge falsche Aussagen von Politiker*innen, die dann von traditionellen Medien wiedergegeben werden, am stärksten zur Verbreitung von Fehlinformation bei. Soziale Netzwerke hingegen spielten eine untergeordnete Rolle.

Das Problem werde von Eliten verursacht und von den Massenmedien getrieben, so die Harvard-Studie. Politiker*innen beuteten dabei gnadenlos drei Standard-Praktiken des klassischen Journalismus aus: den Fokus auf Institutionen und Eliten (wenn es der Präsident sagt, ist es eine Nachricht), die Suche nach der Schlagzeile (je krawalliger, desto besser) und das Streben nach Neutralität (nur nicht so wirken, als würde man sich auf eine Seite schlagen). Zwar haben die Wissenschaftler*innen dies nur für die USA untersucht, aber die Dynamiken sind überall ähnlich.

Neu ist diese Erkenntnis nicht. Auch andere Forscher*innen haben schon belegt, dass die Reichweite traditioneller Medien einen großen Einfluss auf die Verbreitung von Fehlinformationen hat. Und selbst die Bürger*innen wissen es besser. Sie betrachten Falschaussagen von Politiker*innen als mit Abstand wichtigste Quelle von „Fake News“, rund 40 Prozent der Befragten äußerten sich entsprechend im diesjährigen Digital News Report. Nur zwischen 10 und 14 Prozent dagegen schoben die Verantwortung ausländischen Geheimdiensten, gewöhnlichen Bürger*innen, den Medien (13 Prozent) oder Aktivist*innen zu. Auch schon in früheren Ausgaben der Groß-Studie, zum Beispiel 2018, dachten die Befragten bei „Fake News“ nicht zuallererst an Lügengeschichten. Viel eher kam ihnen schlechter, fehlerhafter oder tendenziöser Journalismus in den Sinn.

Was folgt daraus? Zunächst einmal ist das eine gute Nachricht für die Medien. Sie haben es in der Hand. Sie können abwägen, zum Beispiel welchen präsidentiellen Narrativ sie wiedergeben, wie sie eine Aussage einordnen oder ob sie ein Zitat mit Märchenstunden-Charakter womöglich am besten gleich weglassen. Sie können den Verbreiter*innen von Falschinformationen damit die von ihnen so begehrte Bühne verweigern. Um in der Corona-Virus-Begrifflichkeit zu bleiben: Superspreader von „Fake News“ kann man nur mit Quarantäne unschädlich machen. Auch gegen schlechten Journalismus oder politische Schlagseite in der Einordnung können Redaktionen deutlich leichter vorgehen als gegen Troll-Farmen in fernen Ländern oder russische „information operations“. Und dass viele Bürger*innen dies so klarsehen, sollte die ganze Sache erleichtern.

Einfach ist dies dennoch nicht. Denn der Reflex des klassischen Journalismus sitzt tief, Amtsträger*innen damit zu entzaubern, dass man sie beim Wort nimmt. Und die Wähler*innen haben natürlich ein Recht darauf zu erfahren, was für einen Blödsinn manch ein von ihnen gewählter Repräsentant zumindest verbal verzapft. Gefährlich wird es allerdings, wenn der Faktencheck allzu viel Energien absorbiert. Redaktionen, die einen Großteil ihrer Zeit damit verbringen, die Aussagen von Politiker*innen zu überprüfen, werden nicht mehr genügend Ressourcen für eigene Recherchen haben. Statt selbst die Agenda zu setzen und Institutionen in Zugzwang zu setzen, sind sie Gejagte des nie versiegenden Zitate-Betriebs. Selbstbewusstes Weglassen kann also durchaus eine Strategie sein, um sich die Hoheit über die Tagesordnung zurückzuerobern.

Was all das nicht heißt: Facebook und andere soziale Netzwerke aus der Verantwortung zu entlassen. So wie auch die traditionellen Medien haben es die Plattformen in der Hand, schädliche Inhalte nicht oder zumindest nur mit geringer Priorität weiterzuverbreiten. Im Fall von Covid-19 gehören dazu zum Beispiel von Politiker*innen proklamierte Therapien, die womöglich lebensgefährlich sind. Der Fakten-Check sollte bei den Plattform-Konzernen zum Standard-Repertoire gehören. Und mit der Hoheit über Algorithmen haben sie einen kraftvollen Hebel in der Hand, der Redaktionen so nicht zur Verfügung steht.

Bürger*innen sind mehr denn je aufgerufen, nicht alles zu glauben, skurrile Aussagen selbst zu überprüfen. Eine solche generell skeptischere Grundhaltung tut der Gesellschaft nicht immer gut, auch die Medien leiden unter dem gestiegenen Misstrauen Institutionen gegenüber. Aber es gehört zum Erwachsensein, Verantwortung dafür zu übernehmen, welchen Informationen man folgt. In dem Fall hat die junge Generation der älteren übrigens etwas voraus. Junge Leute sitzen Studien zufolge deutlich seltener Falschinformationen auf als ihre Eltern und Großeltern, weil sie im Zweifel eher mal googeln. Auch das sollte in der Debatte Hoffnung machen.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School am 9. Oktober 2020