Sieben Wege für konstruktiven Journalismus im Krieg

Am 24. Februar 2022 befahl Russlands Präsident Wladimir Putin seinen Truppen, die Ukraine anzugreifen. Zumindest für diejenigen, die freien Zugang zu Informationen haben, ist dieser Sachverhalt so klar wie ungeheuerlich. Quasi über Nacht hatte sich damit die sonst so verwobene Welt wieder aufgeteilt: in Aggressoren und Verteidiger, Täter und Opfer, Demokraten und ihre Feinde. Und allzu leicht – man ertappt sich selbst dabei – erliegt der Journalismus in so einem Krisenfall der Versuchung, dem zu folgen. Er feiert Helden, verdammt Verbrecher, hält den Scheinwerfer immer genau dorthin, wo es am lautesten knallt. Ähnlich wie die Kriegsführung fallen viele Redaktionen zuverlässig in trainierte Muster des 20. Jahrhunderts zurück. Noch entschiedener geht es in den sozialen Netzwerken zu. Strategen erklären mit breiter Brust die Welt des Krieges und jeder, der den Schnipsel eines Bildes von den Schlachtfeldern erhaschen kann, spielt einem das Grauen zuverlässig über das Smartphone in die Hände. 

Zwischen Ohnmacht und Traumata

Für den konstruktiven Journalismus, der für Nuancen und Perspektiven plädiert und stetig mahnt, die Welt nicht in Schwarz und Weiß abzubilden, scheinen harte Zeiten anzubrechen. Oder gibt es im Angesicht des Krieges noch Platz für eine Berichterstattung, die Menschen in der Fülle ihrer Bedürfnisse begreift, Raum für Zweifel lässt, womöglich sogar Hoffnung macht?

Viele Redaktionen stellen zunehmend fest: Es muss ihn geben. Denn wer nicht gerade einen großen überregionalen Titel herausgibt oder ein nationales Fernsehprogramm steuert, erlebt in diesen Tagen etwas anderes als in den Frühzeiten der Pandemie. Menschen wenden sich ab. Aus allen Ecken hört man: Neue digitale Abos tröpfelten nur noch herein, viele der Ukraine-Stoffe auf der Homepage blieben liegen. Waren die Wege, dem Virus zu begegnen, noch zutiefst lokale Themen, trauen viele Leser offenbar nur noch wenigen Medien zu, in Sachen Ukraine den Kopf über Wasser zu haben. Die anderen schalten komplett ab. Zu groß sind offenbar die Gefühle von Ohnmacht und vergangen geglaubte Traumata. Quer durch die Generationen gilt: Bilder des Krieges machen Angst.

Wie gehen Redaktionen konstruktiv damit um? 

Am besten, indem sie die Bedürfnisse ihres Publikums ergründen. 

► Zunächst einmal gibt es viele Menschen, die einfach helfen wollen, aus Empathie und um nicht in Ohnmacht zu verharren. Ihnen zu zeigen, was man wie tun kann, wie das anderen schon gelingt und was man besser lassen sollte – das machen viele Medienhäuser gut. Noch besser ist es, wenn sie selbst vorangehen, Geld für Opfer spenden oder für den unabhängigen Journalismus, der im Krieg leicht unter die Räder kommt. Wer oft schnell und lautstark fordert, sollte seine eigenen Standards auch mindestens erfüllen. Manch ein Außenstehender wird das als Marketing-Maßnahme kritisieren. Geschenkt.  

► Zweitens können Journalisten Menschen zum Sprechen bringen. Geteilte Ängste schweißen Gemeinschaften in Krisenzeiten zusammen. Man zeigt sich verwundbar und kommt sich dadurch nahe. So erzählen Menschen, die man lange zu kennen glaubte, plötzlich Familiengeschichten von Flucht und Vertreibung. Sonst so souverän wirkende Entscheider geben zu, dass ihnen die Antworten fehlen. Formate zu finden, die Menschen miteinander ins Gespräch bringen, ist eine Kernaufgabe von Journalismus. Was könnte konstruktiver sein? „Journalism is the conversation“, pflegt der Grandseigneur der Medienbeobachtung Jeff Jarvis zu sagen.

► Drittens ist es wichtig, auf Sprache zu achten. Wer „die Russen“ sagt und schreibt, nimmt all die tapferen Staatsbürger in Sippenhaft, die für die Wahrheit und Meinungsfreiheit ihre persönliche Freiheit, womöglich ihr Leben riskieren. Dabei sind insbesondere sie es, die Russland von Putin und seinen Gefolgsleuten befreien müssen. Ukrainern stehen in der EU Grenzen und Herzen offen, wenngleich auch das wohl kaum reichen wird. Geflüchtete Russen erfahren Ablehnung, sie scheitern bereits am Geldautomaten. Im Land selbst leiden Unschuldige unter den Sanktionen. Deshalb ist es wichtig, immer wieder präzise zu betonen: Der Aggressor ist Putin mit seinem Apparat.

► Viertens, und das gilt immer für den Journalismus: Vorsicht bei der Heldenverehrung. Natürlich lieben Nutzer Geschichten von Mut und Widerstand. Solche Storys wecken Emotionen, das schafft Reichweite. Sie machen Hoffnung. Und wer bewundert sie nicht in diesen Tagen, den überlebensgroßen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, die Klitschko-Brüder, die Redaktion des Kyiv Independent und anderer ukrainischer Medien, die mitten aus den Kampfzonen zur Welt sprechen. Natürlich sind Journalisten in diesem Fall Partei, sie stehen auf der Seite der Demokratie. Aber dennoch dürfen sie nicht zu Fans werden. Sie brauchen Distanz, um genau hinzuschauen, zu dokumentieren, was passiert, zu analysieren, was gesagt wir. Auch von denen, die nicht so laute Stimmen haben. Krieg findet nicht nur dort statt, wo es knallt und brennt, auch wenn das die besten Bilder gibt. Er gräbt sich ein in die Menschen, die Gesellschaft, die Wirtschaft. Seine Spuren auch auf lange Sicht zu verfolgen, ist Journalistenpflicht.   

► Fünftens, Menschen leiden am Leid anderer, an ihrer Angst, an Bildern und Nachrichten im Überfluss. Nicht jeder, der informiert bleiben möchte, kann die volle Dröhnung ertragen. Redaktionen können entsprechende Produkte entwickeln. Das können Newsletter sein, die das Wichtigste zusammenfassen oder Angebote ganz ohne Bild und Ton. Ein Faktencheck, der populäre Bilder aus den sozialen Netzwerken einsortiert, ist ein Service, für den viele dankbar sind. Auch diejenigen, die am Live-Ticker hängen, brauchen immer wieder Auswege in andere Geschichten. Und manch einer hätte zum Abschalten womöglich gerne ein gänzlich kriegsfreies Produkt. Wer Journalismus vom Nutzer her denkt, muss über passende Formate reflektieren.

► Sechstens, Menschen brauchen Erklärung. Gerade die Generationen, die nach Ende des Kalten Krieges erwachsen geworden sind, haben sich wenig befasst mit Sicherheitsarchitektur, Atomwaffensperrvertrag und Zweitschlag-Szenarien – andere haben es allzu gerne vergessen. Manch einem mag es peinlich sein zu fragen, was eigentlich die Nato ist. Andere wollen wissen, wie sie für denkbare Notfälle vorsorgen, sich und ihre Familien schützen können. Nicht jede Redaktion kann zu all dem einen Grundkurs liefern, aber fast überall sitzt irgendein Experte, der Auskunft geben kann. Leser einladen, alles zu fragen, auch das ist konstruktiv. Zu all dem gehört, offen zu sagen oder zu schreiben, was man nicht weiß und transparent mit seinen Recherche-Methoden umzugehen, wie das in der Wissenschaft Standard ist. Das Publikum wird hoffentlich mit Vertrauen danken.  

► Siebtens, Krieg traumatisiert und das hat Folgen bis in die Redaktionen hinein. Diejenigen, die aus der Ukraine berichten, riskieren ihr Leben für ihre Mission. Das prägt, selbst wenn sie es körperlich unversehrt überleben. Aber auch andere können leiden, wenn sie tagein tagaus Live-Ticker befüllen, Bilder und Filme sichten, Schreckens-Szenarien lesen und bewerten müssen. Journalisten sind gut darin, unter Druck zu funktionieren. Aber auch sie brauchen Hilfe. Zum Glück haben einige Organisation das Thema psychische Belastung von Recherchen aus der Tabu-Ecke geholt, geben Tipps, wie man sich und seine Mitarbeitenden schützen kann. Wenn der Krieg beendet ist, fängt auf diesem Feld so manche Arbeit erst an.

Dem konstruktiven Journalismus wird oft vorgeworfen, die Welt in Pastellfarben tauchen zu wollen. Darum geht es nicht, und im Krieg ist das ohnehin keine Option. Konstruktiver Journalismus bemüht sich, die Welt so abzubilden, wie sie ist – mit all den Schattierungen und Dimensionen, die in Krisen häufig vergessen werden.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 14. März 2022. Aktuelle Kolumnen gibt es dort bei Abschluss eines Abos. #

„Kein Job für Weicheier“ – Medienmacher sorgen sich viel um andere und wenig um die eigenen Leute

Nicht überall leiden Journalist*innen so wie in Indien. Um die 500 Reporter*innen waren dort Stand Juni 2021 während der Pandemie an einer Covid-19 Erkrankung gestorben, die sie sich bei der Recherche zugezogen hatten. Ihre Familien bekämen weder Unterstützung von den Redaktionen noch von der Regierung, schreibt die indische Journalistin Rachel Chitra in einem Artikel für das Reuters Institute in Oxford. Die Pandemie ist eine vielschichtige Herausforderung für Journalist*innen, nicht nur wegen der Ansteckungsgefahr für sie und ihre Angehörigen, sondern auch wegen erschwerter Arbeitsbedingungen, dauerhaft hoher Belastung bei gleichzeitiger Furcht, in der angespannten wirtschaftlichen Lage den Job zu verlieren. Aber sie ist beileibe nicht die einzige Bürde, die diejenigen tragen, die dort nah herangehen müssen, wo es unangenehm wird. Weltweit riskieren Reporter*innen ihre physische und psychische Gesundheit, manche sogar ihr Leben, weil sie ihren Job machen.

Dabei geht es nicht nur um aufsehenerregende Angriffe auf einzelne Reporter*innen, die einflussreichen Wirtschaftsgrößen oder autoritären Regierenden zu nahe auf die Pelle rücken, wie bei der spektakulären Entführung des belarussischen Bloggers Roman Protasewitsch aus einem Flugzeug auf innereuropäischer Route. Solche Fälle lösen zurecht international Empörung aus. Aber auch die alltäglichen, subtilen oder weniger subtilen Angriffe auf Redakteur*innen, Kommentator*innen und Reporter*innen zehren an den Kräften. Da geht es um Trolle und Hass in den sozialen Netzwerken, den einzelne oder politisch motivierte Gruppen durchaus systematisch und überproportional gegen Frauen einsetzen. Es geht um eine toxische Redaktionskultur, die das Medium-Magazin kürzlich in einer großen Recherche dokumentierte. Es geht aber auch um das Tagesgeschäft: dem Berichten vom Unfallort mit grauenhaft zugerichteten Opfern oder aus dem Gerichtssaal, wenn verstörende Tatbestände detailgenau vorgetragen werden und sich als Bilder im Kopf festsetzen.

Und all das nehmen viele Redaktionen einfach so hin. Rufen sie in Kommentaren nach Unterstützung für Betroffene jeglichen Unglücks und Unrechts, sieht es mit der Fürsorge für die eigenen Leute in der Regel eher mau aus. Die Auslandskorrespondentin schickt man vor dem Einsatz im Krisengebiet noch in ein spezielles Training. Der Lokalreporter allerdings kann sich nicht darauf vorbereiten, wie es ihm bei der Recherche über das Zugunglück mit Toten oder dem Eifersuchts-Mord in der Nachbarschaft gehen wird. Und für ein Debriefing nach anspruchsvollen Recherchen, gefährlichen Einsätzen oder Attacken in den sozialen Netzwerken fehlt meist die Zeit, man ist schon beim nächsten Thema. Auch um ihr Recht müssen viele ohne Hilfe kämpfen, selbst wenn sie online massiv bedroht werden. Das Berufsethos sorgt dann dafür, dass die meisten Kolleg*innen das Leid alleine zu verarbeiten versuchen.

Viele Führungskräfte finden das immer noch in Ordnung so. Ein gewisses Maß an Kaltschnäuzigkeit und innerer Distanz gehöre eben zur Berufsbeschreibung, heißt es dann lapidar. Journalist, das sei eben „kein Job für Weicheier“ – so sagte es einmal ein BBC-Kollege in einem Leadership-Seminar. Wer die Hitze nicht möge, solle eben die Küche meiden. Die Tatsache, dass Redaktionen eher von Journalist*innen geführt werden, von denen die meisten nicht in Management-Techniken geschult sind, macht es nicht leichter.

Noch gibt es wenig Forschung zu Belastung und Trauma in Redaktionen, vor allem mit Blick auf das vermeintlich so routinierte Tagesgeschäft. Aber eine zunehmende Zahl von Redaktionsleiter*innen nimmt sich des Themas an, ebenso Wissenschaftler*innen und Verbände. Organisationen wie die Unesco beschäftigen sichmit der Sicherheit von Medienschaffenden. Die Bild-Zeitung hat ihre Mitarbeiter jüngst in einer großen Umfrage nach ihrem Befinden gefragt. Gerade die Pandemie hat viele Führungskräfte erkennen lassen, wie fragil das Gerüst ist, auf dem das tägliche Geschäft ruht. Persönliche Gespräche mit Kolleg*innen, denen man nicht mehr wie sonst im Flur begegnet, hätten ihn während des Lockdowns viel beschäftigt, erzählt der CEO eines regionalen Medienhauses.

Neben menschlichen Motiven treiben auch wirtschaftliche die Leitenden an. Es wird immer schwerer, junge Menschen für den Journalistenberuf zu begeistern. Die Aussicht, dass sie bei vergleichsweise mäßigem Einkommen, hohem zeitlichen und emotionalen Einsatz und unsicheren Perspektiven in Kauf nehmen müssen, angegriffen oder mit Belastungen alleingelassen zu werden, macht ihnen die Entscheidung für den Job nicht leichter. Psychologische und juristische Hilfe ist das Mindeste, was Redaktionen ihren Mitarbeiter*innen bieten müssen.

Manchmal allerdings sind gerade die das Problem, die an der Spitze stehen, Stichwort toxische Redaktionskultur. Da allerdings kann man rangehen. So erzählte die Kollegin einer großen Zeitung an der amerikanischen Westküste im Frühjahr in einem Webinar vom Rücktritt eines Star-Reporters, den sie so erklärte: Man habe jetzt eine „no asshole policy“, da passe nicht mehr jeder rein. Verlage, die gegen solche Klima-Vergifter konsequent vorgehen, sparen dabei manchmal weit mehr als nur ein Gehalt.  

Diese Kolumne erschien am 3. Juni 2021 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School.