Der Abgesang auf die Medienbranche kommt zu früh

Durchforstete man zu Beginn des Jahres 2024 einschlägige Quellen nach Branchenanalysen, entsteht der Eindruck, Beobachter und Protagonisten des journalistischen Treibens hätten sich zum Abgesang verabredet. 

► In The News About the News Business is Getting Grimmer, berichtet die New York Times über die jüngsten Entlassungswellen bei großen Titeln mit dem Verweis, dass in den USA jeder zweite Landkreis keinen Zugang zu Lokaljournalismus mehr habe. 

► Der Medienjournalist Ezra Klein beendete eine Liste sterbender Medienmarken mit dem Resümee, nur die sehr kleinen oder die ganz großen Spieler könnten überleben. 

► Zuvor hatten Reporter der New York Times vorgerechnet, dass Milliardäre wie Jeff Bezos bei ihren Investitionen in den Journalismus nichts anderes erreicht hätten, als sich um ihr Vermögen zu erleichtern. 

► Der New Yorker Medienprofessor Jeff Jarvis stellt die Frage: Is it time to give up on old news?, während ein Kolumnist der Washington Post prognostizierte: Journalism may never again make money

► Nach einem Treffen von Medienmanagern am Reuters Institute in Oxford schrieb der Berater David Caswell, die meisten der Teilnehmenden betrachteten Künstliche Intelligenz als existenzbedrohend. 

Zuversicht klingt anders. Was bedeutet das? Sind alle Versuche, den Journalismus in die nicht mehr ganz so neue digitale Welt zu bringen, vergebliche Liebesmühe?

Tatsächlich klingen auch die von Nic Newman für seinen jährlichen, am Reuters Institute erscheinenden Trend-Report befragten Medienmanager aus aller Welt in diesem Jahr skeptischer als noch 2023. Nicht einmal jeder zweite der mehr als 300 Chefredakteure, CEOs und weiterer Entscheider geht zuversichtlich ins Jahr. Eine der größten Herausforderungen sei, dass immer weniger Nutzer über soziale Netzwerke und Suchmaschinen zu journalistischen Inhalten finden. Der Trend dürfte sich verschärfen, wenn sich Menschen Inhalte nicht mehr von Suchmaschinen sondern von Chatbots servieren lassen. Gleichzeitig leiden immer mehr Titel darunter, dass in einer von Konflikten geprägten Welt viele Nutzer das ständige Bombardement mit Nachrichten nicht mehr ertragen können und deshalb den Medienkonsum vermeiden.

Für eine Zukunft des Journalismus: Daran sollten Medien arbeiten

Glücklicherweise liegen Journalisten, Analysten und Futuristen oft ziemlich daneben mit ihren Einschätzungen. Ein Grund ist, dass sie gerne Scoops produzieren: Jeder will der Erste sein, der den Untergang prognostiziert. Außerdem wirkt der Herdentrieb. Man nimmt die These der Konkurrenz, läuft damit weiter und setzt gerne noch einen drauf. Zudem – und das ist entscheidend – machen sie ihre Rechnungen viel zu oft ohne das Publikum – und das geschieht nicht nur in der Medienbranche. Man stellt Annahmen in den Raum, ohne den Beweis der Wirklichkeit abzuwarten.

Natürlich ist es kaum zu leugnen, dass alte, anzeigenbasierte Geschäftsmodelle, mit denen reichlich Geld verdient wurde, nicht mehr oder nur noch sehr begrenzt funktionieren. Es ist auch wahr, dass der Verkauf von Digital-Abos einer zähen Bergtour gleicht. Daraus aber zu schließen, man bewege sich zwangsläufig auf eine Welt ohne Journalismus zu, ignoriert ein paar fundamentale Fakten. Der zu früh verstorbene Harvard Professor Clayton Christensen, der die Theorie der Disruption entwickelt hat, hätte geraten, mal über die Jobs to be done nachzudenken, in modernerer Newsroom-Terminologie könnte man auch von User Needs sprechen. Von diesen Jobs gibt es einige: 

Menschen brauchen faktentreue Informationen, um Entscheidungen zu treffen 

Das gilt für Fachleute ebenso wie für Konsumenten, Staatsbürger, Bewohner einer Stadt oder Gemeinde. Die Pandemie hat gezeigt, dass der Journalismus die erste Adresse für diese Informationen ist, wenn viel auf dem Spiel steht. Wer annimmt, das Publikum gäbe sich mit allerlei Content zufrieden, unterschätzt die Bedürfnisse eines Großteils seiner Mitmenschen. Natürlich mögen einige durch Propaganda verführbar sein oder sich von der Welt abkapseln. Das für die gesamte Bevölkerung anzunehmen, zeugt von Überheblichkeit. Eine journalistische Grundversorgung ist deshalb zentral. Hier sind öffentlich-rechtliche Modelle gefragt, um auch ohne Gewinnabsichten alle Generationen und Gesellschaftsschichten auf dem Laufenden zu halten. Regierungen müssen dafür sorgen, sie am Leben zu erhalten.

Menschen sind neugierig und wollen die Welt verstehen 

Journalismus hat einen Bildungsauftrag. Doch dem kommt er nicht immer nach. So manch eine Politik-Story liest sich eher wie der Beitrag des Strebers, der seine Mitschüler im Kampf um gute Noten ausstechen möchte, als wie der Versuch, die gesamte Klassengemeinschaft mitzunehmen. Medien-Führungskräfte scheinen das zu ahnen. Laut dem Trend-Report des Reuters Institutes nennen sie bessere Erklär-Formate und konstruktiven Journalismus als die wichtigsten zwei Strategien, um dem Überdruss entgegenzuwirken. Wer auf diesem Gebiet sein Profil schärfen möchte, sollte sich Ros Atkins‘ The Art of Explanation besorgen. Der BBC-Journalist hat in dem 2023 erschienenen Buch aufgeschrieben, wie akribisch er jene News Explainers erarbeitet, mit denen er sich einen Namen gemacht hat.     

Menschen suchen Gemeinschaft und Zugehörigkeit

Marken, die es schaffen, ein solches Gefühl zu stiften – sei es über politische, geographische oder an Interessen gebundene Identifikation – haben ein gutes Fundament, auf dem sie aufbauen können. Konsumenten wollen zudem ernst genommen werden. Medienmarken wie das dänische Zetland, die die Zeit und Bedürfnisse ihrer Nutzenden respektieren und dosiert erklärenden, hintergründigen Journalismus in verschiedenen Formaten anbieten, treffen durchaus auf zahlungsbereite Kunden. Zetland macht mit einer vergleichsweise jungen Kundschaft Gewinn.   

Menschen wollen den Austausch

Menschen erfreuen sich an der Vielfalt und Schönheit der Welt, sie wollen berührt werden und sich in andere Menschen einfühlen, und sie wollen Freude teilen. Das Buchgeschäft zum Beispiel floriert, obwohl sowohl das Buch als auch der unabhängige Buchhandel schon oft totgesagt wurden. Aber weder hat das E-Book das Werk aus Papier verdrängt, noch konnten Amazon und große Handelsketten dem unabhängigen Buchhandel die Luft abdrücken. Werden sie gut geführt, sind Buchläden Begegnungsstätten, in denen man stöbert, sich austauscht, nach Geschenken und Inspiration sucht. Nach wie vor öffnen Bücher Türen zur Welt, wie es auch der Journalismus tun sollte.

Menschen wollen Eskapismus

Menschen müssen und wollen ihren Alltag bewältigen, und dazu gehört auch Entspannung. Bei manch einem Medienkritiker spürt man förmlich das Naserümpfen darüber, dass die New York Times viele ihrer Digital-Abos wegen der Kochrezepte und Rätsel verkauft. Aber beides deckt fundamentale Bedürfnisse ab, und auch die hat Journalismus traditionell bedient. Das mag nicht zu jeder Marke passen, zur Kundenbindung taugt es allemal.

Der Verkauf von Journalismus ist anspruchsvoll, und KI macht die Sache nicht leichter. Aber wer sich mit den Bedürfnissen potenzieller Nutzergruppen beschäftigt und es schafft, zu ihnen stabile Beziehungen aufzubauen, ist auf dem richtigen Weg. Es ist kein Zufall, dass die pessimistischsten Analysen derzeit aus den USA kommen, wo man amerikanische Phänomene gerne zum globalen Trend erklärt. Doch dort ist die Lage besonders prekär, denn Investoren haben die Regionalmedien ausgesaugt, das öffentlich-rechtliche Grundrauschen fehlt. Aber auch in Amerika entstehen junge Marken, die Gemeinschaft stiften, alte Flaggschiffe halten die Stellung. Das Berufsbild wird sich wandeln, vermutlich auch das, was wir heute unter Journalismus verstehen. Das ändert aber nichts daran, dass Menschen Journalismus brauchen, und zwar überall auf der Welt.  

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 29. Januar 2024.

Wiedervorlage für Chefredaktionen: ein Merkzettel (nicht nur zu Jahresbeginn)

Sich zum neuen Jahr eine Liste an Dingen vorzunehmen, ist zurecht etwas aus der Mode gekommen. Schließlich lehrt die Erfahrung, dass die wenigsten dieser Projekte den Januar überleben – und hätte man sie nicht längst in Angriff genommen, wenn sie einem wirklich wichtig wären? Eine Kolumne über Vorsätze zu schreiben, ist erst recht gewagt, denn Journalisten wollen in der Regel noch weniger belehrt werden, als sie das von ihrem Publikum annehmen. Deshalb veröffentlichen die meisten Branchen-Publikationen lieber Prognosen. Das klingt nach intellektuellem Mut, Weitblick und Fachkenntnis, und wenn es dann nicht klappt wie vorhergesagt, hat man sich halt geirrt. 

Anders als verpuffende Vorsätze hat das Irren keinen Beigeschmack von mangelnder Willenskraft. Allerdings gibt es ein paar Dauerbrenner in der Medienbranche, die – wenn schon nicht auf eine Vorsätze-Liste – wenigstens auf einen Merkzettel gehören, den leitende und leiten wollende Menschen in Redaktionen und Verlagen 2024 ab und an mit der Wirklichkeit abgleichen können. Hier sind ein paar Vorschläge:

Erstens: Immer an die Strategie denken

Egal ob es um künstliche Intelligenz geht, um inhaltliche Schwerpunkte, um Investitionen in Technik, Personal oder Plattformen: Die Zahl der Möglichkeiten übersteigt grundsätzlich jene der Projekte, die mit Blick auf die Ressourcen möglich und mit Blick auf die Zielgruppen nötig sind. Nur wer eine Strategie hat, kann sinnvoll sortieren und steuern. Eine solche Strategie beantwortet mindestens diese Fragen: Warum existiert meine Organisation? Für wen existiert sie? Wie erreichen wir ihre Ziele? Und: Wie messen wir Erfolg? 

Alle neuen Vorhaben sollten die Strategie stützen. Wer keine hat, läuft Gefahr, sich von Beratern oder selbsternannten Innovatoren sinnlose Investitionen aufschwatzen zu lassen, Erfolgsrezepte anderer ohne Blick auf die eigenen Besonderheiten zu kopieren, stets dem nächsten shiny new thing nachzujagen und damit alle an den Rand des Wahnsinns oder in die Kündigung zu treiben. 

Zweitens: Der KI-Hype ist real, aber KI ist es auch

Was künstliche Intelligenz angeht, kristallisieren sich derzeit grob gesagt drei Gruppen heraus: Die einen reiten auf der Höhe der Hype-Welle und prognostizieren das Ende des Journalismus, wie wir ihn kennen. Die vom anderen Extrem betrachten KI als Werkzeug zur Effizienzsteigerung, mehr nicht. Dazwischen gibt es jene pragmatischen Optimisten, die hoffnungsvoll, engagiert und dennoch besonnen experimentieren, das Ende des Hypes herbeisehnen und dabei heimlich hoffen, dass alles nicht so schlimm kommt, wie es Gruppe eins prognostiziert. 

In dem im Dezember erschienenen Reuters-Report Changing Newsrooms 2023, der auf einer nicht repräsentativen, internationalen Umfrage unter Medien-Führungskräften beruht, gab nur ein Fünftel der Befragten an, dass generative KI die Prozesse im Journalismus fundamental verändern wird, etwa drei Viertel prognostizierten keinen grundlegenden Wandel. Da erfahrungsgemäß nur besonders engagierte Manager auf solche Umfragen antworten, lässt sich aus diesem Ergebnis eine gewisse Lethargie ableiten, von der auf den entsprechenden Konferenzen, bei denen sich immer dieselben Spezialisten treffen, wenig ankommt. 

All jenen, die schon zu viele Hypes haben kommen und gehen sehen und erst einmal abwarten wollen, sei jedoch ans Herz gelegt, dass die auf großen Sprachmodellen (LLMs) basierende KI tatsächlich eine strukturverändernde Umwälzung ist. 

Überschwang hin oder her, wer jetzt nicht an Regeln zu Transparenz, Datenschutz, Copyright oder Bildbearbeitung arbeitet, bekommt die Geister, die sich gerade entwickeln, irgendwann nicht mehr in die Flasche zurück. Nach gegenwärtiger Faktenlage wird generative KI den Journalismus grundlegend verändern. 

Drittens: Weiterbildung kostet, keine Weiterbildung kostet mehr 

Die Digitalisierung und der damit verbundene Wandel von Verhalten und Präferenzen haben Redaktionen und Verlagen reihenweise Veränderungen abverlangt. Dennoch gibt es immer noch Kollegen, die diese Herausforderungen weiträumig umfahren. Spätestens der Einzug der KI wird dies unmöglich machen. Von der Investigativ-Reporterin bis zum Desk-Redakteur: Alle werden anders arbeiten müssen. Weiterbildung wird deshalb wichtiger denn je (dazu auch meine 2024 Prognose für das Nieman Lab). Der digitale Graben innerhalb von Redaktionen müsse geschlossen werden, sagt Anne Lagercrantz, Vize-Intendantin des schwedischen Fernsehens. Dabei geht es um mehr als um formelle Trainingsangebote. Ein Kulturwandel ist nötig. Medienhäuser müssen lernende Organisationen werden. Das klappt nicht per Anordnung von oben, als „Change a la Chef“. Es geht um ständiges Ausprobieren, Messen von Erfolgen, Reflektion, Nachsteuern. Kommen interdisziplinäre Teams in den Veränderungs-Rhythmus, kann das Spaß machen. Und sind die Selbsthilfe-Techniken erlernt, lassen sich teure Berater sparen.

Viertens: Mit Vielfalt allein lässt sich nicht viel erreichen

Es ist beschämend, aber nach Jahren der Diskussion gehört das Thema Vielfalt auch in diesem Jahr auf Wiedervorlage. Klar, es gibt erhebliche Fortschritte, vor allem bei den Karrierechancen für Frauen in Medienhäusern. In der bereits oben zitierten Studie des Reuters Institutes geben neun von zehn Medienmanagern an, ihr Haus mache bei der Gleichstellung der Geschlechter einen guten oder sehr guten Job. Etwas weniger Selbstbewusstsein zeigten die Führungskräfte, wenn es um andere Vielfaltskriterien geht, zum Beispiel ethnische, soziale oder politische Diversität. Aber in Wahrheit hat sich in vielen traditionellen Häusern noch nicht allzu viel gedreht, weder bei der Vielfalt in wichtigen Positionen noch bei der Ansprache des Publikums. Dabei ist die Breite und Tiefe der Perspektiven Voraussetzung für eine gelungene digitale Transformation, die Zielgruppen passgenau bedient. 

In Abgründe blicken lässt ein – zugegeben etwas beleidigter – im Dezember erschienener Essay des ehemaligen Meinungschefs der New York Times im Economist. Nach seiner Einschätzung hat die Unfähigkeit des Hauses, Vielfalt in der Führungsetage durchzusetzen, zu einer internen Polarisierung geführt, die ein breites Meinungsspektrum nicht mehr zulasse. Vielfalt kann eben nur nach außen wirken, wenn unterschiedliche Menschen intern wertschätzend miteinander umgehen, sich gegenseitig zuhören und einfach mal machen lassen.

Fünftens: Alle reden von Nutzerbedürfnissen, aber Schablonen funktionieren selten

Nachdem Kundenorientierung in anderen Branchen seit der Geburt der Marktwirtschaft Erfolg verspricht, haben das neuerdings auch Redaktionen verstanden. Nutzerbedürfnis-Modelle, maßgeblich entwickelt und vorangetrieben vom ehemaligen BBC-Mann Dmitry Shishkin, der künftig das internationale Geschäft von Ringier als CEO anführt, sind in Deutschland nicht zuletzt wegen des Drive Projekts der DPA und der Unternehmensberatung Schickler populär geworden. Es fällt allerdings auf, dass sich viele Redaktionen, die nun versuchen, ihr Angebot an den Bedürfnissen der Nutzenden auszurichten, immer noch streng am ursprünglichen BBC-Modell orientieren. Das ist in Ordnung, um von der Fixierung auf das mit Breaking News assoziierte Update me-Bedürfnis wegzukommen. Aber tatsächlich hat nicht nur jedes Medium eine ganz eigene Nutzerstruktur, sondern jede Zielgruppe tickt anders, jedes Ressort bedient verschiedene Bedürfnisse. 

Shishkin hat das Modell deshalb längst weiterentwickelt – und das sollten Redaktionen auch tun. Was brauchen die Leser, Hörer, Zuschauer wirklich von einer bestimmten Marke? Man könnte sie mal fragen – oder einfach im Alltag beim Lösen ihrer Probleme beobachten, wie dies der leider verstorbene Clayton Christensen schon 2012 vorgeschlagen hatte. Er hätte sich zum Beispiel kaum darüber gewundert, dass die NYT einen Teil ihres digitalen Erfolgs dem Verkauf von Kochrezepten verdankt.

Sechstens: Wer Klimajournalismus kann, kann Journalismus

Im Journalismus ist wohl wenig herausfordernder, als spannend, faktentreu, gut verständlich und anschaulich über alle Facetten des Klimawandels und die Lösung der damit verbundenen Probleme so zu berichten, dass das Publikum dabei bleibt. Dies liegt daran, dass das Thema sich langsam entwickelt, polarisiert, in vielen Menschen Schuldgefühle und deshalb Verdrängungsmechanismen auslöst. Das heißt aber auch: Wer dieses schwierige Fach beherrscht, dem kann man praktisch alle journalistischen Aufgaben zutrauen. So zumindest lautet das Fazit des EBU News Reports Climate Journalism That Works – Between Knowledge and Impact, der 2023 veröffentlicht wurde (ich war Lead Autorin). Der Klimajournalismus ist als Spielfeld geeignet, um sich mit Nutzerbedürfnissen zu befassen, Strategie zu entwickeln, mit neuen Formaten für diverse Zielgruppen zu experimentieren und aus Fehlern zu lernen. Aus diesem Grund lohnt sich die Investition. Am Ende des voraussichtlich wärmsten Jahres seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen kann man sagen: starker Klimajournalismus und Nachhaltigkeitsstrategien sind ein Muss für Medienhäuser und Filmproduktionen. Auch das Publikum erwartet das.                   

Siebtens: Dinge sein zu lassen ist ein Muss – immer 

Wer sich in diesem Text bis hierher vorgearbeitet hat, kann jetzt Erleichterung empfinden – oder das Gegenteil. Die Coaching- und Beratungspraxis zeigt: Stop doing, das strategische Ausmisten, Seinlassen, Herunterfahren von Aktivitäten gehört zu den größten Herausforderungen für viele Redaktionen und Verlage. Das liegt daran, dass überall Ideen und Innovationen gefeiert werden, das Abschaffen von liebgewonnenen Routinen und Praktiken aber eher Widerstand hervorruft oder schlechte Laune macht – die dann den Überbringer der Botschaft trifft. Denn viele Menschen beziehen ihren Status und damit ihre Sicherheit aus Aktivitäten, die streng genommen niemand mehr braucht. Deshalb lässt man sie stillschweigend weitermachen. Dabei ist Stop Doing wichtig. Es setzt Energien und Ressourcen frei, verleiht der Arbeit Fokus und stützt damit die Strategie. Strukturiertes Ausmisten verlangt, dass man die entsprechenden Mitarbeitenden und ihre Rollen versteht, um sie idealerweise in neue Aufgaben zu coachen. Preise gewinnt damit niemand. Aber nur wer Stop Doing beherrscht, kann beim Doing richtig glänzen.   

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 5. Januar 2024.

Zurück in die 90er: Warum sich auch Entscheider-Briefings mit Nutzerbedürfnissen beschäftigen sollten

Der Entscheider muss ein seltsames Wesen sein. Seine Diät ist einseitig, dafür aber reichhaltig. Er ist ein Mensch der Wörter, ja, er liebt das digital gewordene Blei. Er schätzt Verlässlichkeit, Überraschungen sind nicht sein Ding. Bescheid wissen über das Berufliche scheint sein Leben zu sein. Vermutlich ist er ein Mann. 

Dieser Eindruck kann beim Blick auf jene journalistischen Produkte entstehen, die speziell für die so genannten Entscheider aufgelegt sind und sich derzeit rasant verbreiten. Ihre Schöpfer treibt eine gemeinsame Motivation an: Sie betrachten den Entscheider als ein Wesen mit Geld.  

Das Newsletter-Menü von Table Media, das Hauptstadt Briefing von Pioneer Media, das neue Dossier der Süddeutschen Zeitung und das erwartete deutsche Politico: Es sind einige der einheimischen Kreationen, in denen Menschen wie Table-Gründer Sebastian Turner das womöglich einzige aus sich selbst heraus profitable Geschäftsmodell für Journalismus sehen: Fachleute erklären Fachleuten die Welt. Domänenkompetenz oder Deep Journalism nennt Turner das. Gemeinsam mit dem Journalistikprofessor Stephan Russ-Mohl hat der ehemalige Herausgeber des Tagesspiegels sogar ein Buch mit diesem Titel herausgegeben*. Gegen dessen Kernbotschaft, dass Journalisten etwas von der ihnen anvertrauten Materie verstehen sollten, kann man definitiv nichts einwenden. Aber es geht nicht um Einnahmen allein.

Problemfall Politikjournalist

Vor allem die um Berlin, Brüssel oder andere Machtzentren kreisenden Briefings werden erstellt von einer Spezies an Politikjournalisten, die zunehmend ungehalten auf kaum noch überhörbare Botschaften aus ihren Redaktionen reagieren. Deren Tenor: Viele ihrer Geschichten aus dem Inneren des Apparats begeistern zwar deren Protagonisten, bei gewöhnlichen Lesern lösen sie aber den gefürchteten Scroll-Reflex aus. Das heißt: Sie hangeln sich so lange an den Teasern entlang, bis sie etwas finden, das sie wirklich interessiert. Der Einzug der Metriken in die Inhalte-Steuerung hat vor allem eine Erkenntnis hervorgebracht: Der traditionelle politische Journalismus, vor allem jener der „die hat gesagt, der hat gesagt“-Variante interessiert das Publikum so wenig wie Ostereier im Advent. Er bringt selten Klicks und Abos ohnehin nicht. 

Neuerdings führen viele Häuser zudem so genannte User-Needs-Modelle ein. Und auch da kann der klassisch-informationsschwangere Politikjournalismus wenig glänzen. Erspart uns eure ewigen Updates, heißt es plötzlich vom Desk. Unsere Nutzer wollen mehr Erklärung, Unterhaltung, Inspiration, Emotion. Spätestens, wenn die Redaktionsleitung dann noch ein Seminar zum konstruktiven Journalismus besucht hat und gerne mehr Perspektive, Lösungen, gar Hoffnung herbeirecherchiert haben will, versteht der in Polarisierung geübte Politikjournalist die Welt nicht mehr. War er gestern noch die Nummer eins, segelte auch mal durch bis in die Chefredaktion, gilt er heute vielerorts als Problemfall, der umlernen muss.

Kein Wunder, dass die neuen Briefings Magnete für jene geworden sind, die sich in ihren Haupthäusern seltsam heimatlos vorkommen. Bei den Spezial-Newslettern darf man wieder „richtigen Journalismus“ machen. So sehen das wohl viele. Und so wirkt auch so manch ein Briefing wie eine Rolle rückwärts in den Journalismus der Neunzigerjahre. Man könnte auch sagen: Endlich wieder mehr FAZ wagen. 

Spätestens hier muss ein Disclaimer kommen: Natürlich ist es vollkommen richtig, sich über Zielgruppen Gedanken zu machen, es ist sogar zwingend. Und umso besser, wenn die angepeilten Zielgruppen auch zahlen können. Und selbstverständlich hat jedes der Briefings seine ganz eigenen Stärken und Schwächen. Aber der Journalismus hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weiterentwickelt, und das hat Gründe.

Ja, da war diese Digitalisierung. Aber damit einher ging auch die Erkenntnis, dass nicht alle (erfolgreichen) Menschen weiße, gebildete Männer sind. Und dass selbst weiße, gebildete Männer auch andere Bedürfnisse haben, als tagein, tagaus an den Lippen ihrer politischen Repräsentanten, CEOs, oder als solchen ausgewiesenen großen Denkern zu hängen. Sie sind Väter, Liebespartner, Hobby-Köche, Mountainbike-Fans und dabei umgeben von Frauen, deren Lebenswirklichkeit als Managerinnen, Richterinnen und Ingenieurinnen sie durchaus interessiert. Hinzu kommen all jene Kollegen mit Einwanderungsgeschichte, verschiedener sexueller Orientierung, körperlichen Beeinträchtigungen, die sich in dem tatsächlich schon früher an finanzkräftige Entscheider gerichteten Einheitsjournalismus nur höchst selten wiederfanden. All das hatte zur Folge, dass Medien vielfältiger geworden sind – nach innen und immer häufiger auch sichtbar nach außen.

Auch nicht der Entscheider lebt allein von Information

Nicht jedes Briefing hält da mit. Das ist nur konsequent, denn sein Ziel ist nicht Vielfalt sondern die Bubble. In der möchte man Wortführer werden, wie dies lange Zeit nur die Großen vom Schlage Financial Times oder FAZ gewesen sind. Man kennt sich, und man schreibt für diejenigen, die man kennt über das, was sie eigentlich schon kennen – nur vielleicht nicht im Detail. So ein Briefing wird dann zu einer Art Heimathafen, ein vertrauter Ort, an dem alles seinen Platz hat, wie früher in der Tageszeitung, als deren Welt noch in Ordnung war. Das kann ein Geschäftsmodell sein, auch wenn es zunehmend lebhaft werden dürfte im Hafen-Wettbewerb.

Doch Konzepte wie jenes der Domänenkompetenz verkennen: Der Mensch lebt nicht von Information allein – nicht einmal der Entscheider. Was das User-Needs-Modell für den allgemeinen Nutzer feststellt, gilt schließlich auch für jenen mit Bubble-Nähe. Er möchte Nachrichten, das schon. Aber womöglich plagen ihn Fragen, für die er Erklärungen sucht, Probleme, die gemanagt oder gelöst werden wollen. Und an dieser Stelle sind Journalisten nicht nur als Fakten-Rechercheure, sondern auch als Bedürfnis-Forscher gefragt. 

Brauchen die Adressaten wirklich den x-ten Terminkalender der Woche, oder interessiert sie womöglich mehr, wie sich ein Shitstorm verkraften, das Amt mit Familienaufgaben vereinbaren oder eine klare Wahlkampf-Botschaft formulieren lässt? Enthält der Newsletter genug frische Luft, sprich Ideen von außen, Köpfe jenseits des eingeschwungenen Zirkels? Ist er, ja, vielfältig genug? Schaut er auch mal über die Grenzen hinweg, beleuchtet Erfolgsgeschichten aus anderen Teilen der Welt? Gerade diejenigen, die neue Produkte entwickeln, müssen sich all den Themen stellen, die den Veränderungsgeist in Redaktionen beflügelt und so manch eine Verwerfung ausgelöst haben. Wer sich in alte Rituale flüchtet, wird irgendwann nur noch alt aussehen. Und das ist garantiert kein Geschäftsmodell.  

*Sebastian Turner, Stephan Russ-Mohl (Hrsg.) 2023, Deep Journalism – Domänenkompetenz als redaktioneller
Erfolgsfaktor, Herbert von Halem Verlag. Alexandra Borchardt hat einen Essay dazu beigetragen.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 28. November 2023