Die Black Box der KI-Debatte: Worüber Medienmacher lieber schweigen

Es gibt dieser Tage zwei Sorten von Medienmachern: diejenigen, die sich tagein, tagaus mit künstlicher Intelligenz beschäftigen und diejenigen, die das nicht tun. Zuweilen entsteht der Eindruck, dass die erste Gruppe vor Begeisterung kaum noch wahrnimmt, dass es die zweite überhaupt gibt. Es ist ein bisschen wie in den frühen Tagen des Online-Journalismus: Die einen vernetzen sich mit Gleichgesinnten, kommentieren dieselben Studien, treffen sich auf den immer gleichen Konferenzen, vergleichen ihre Tools. Die anderen versuchen, einfach ihren Job zu machen. Wie damals scheint in der Branche eine Art Bekenntniszwang zu herrschen: Entweder man schwärmt von den Möglichkeiten der KI, oder man recherchiert, wann sie denn nun die Menschheit auslöschen wird. Viele andere halten aber lieber die Klappe. Sie sorgen sich, als Innovationsfeinde zu gelten.    

Dabei wäre gerade jetzt, wo die ersten KI-Tools ausgerollt werden, eine breite und vielschichtige Debatte wichtig. Denn es geht um praktisch alles: jeden einzelnen Job, den Wert der jeweiligen Marke, die Zukunft von Geschäftsmodellen, das Vertrauen in den Journalismus als Ganzen. Der Launch von ChatGPT im November 2022 hat ein Tor aufgemacht, hinter dem sich verschiedene Wege auftun. Jene first mover, die das Thema vorantreiben, sind gut beraten, jene außerhalb ihrer Bubble um kritische Fragen zu bitten – so, wie es der Herausgeber der New York Times, A.G. Sulzberger, in einem kürzlich veröffentlichten Interview empfiehlt: „Ich habe die Erkenntnis gewonnen, dass der Weg voran in jeglicher Phase gigantischer Transformation ist, Fragen zu stellen, die Antworten mit Skepsis zu betrachten und an keine Wunderwaffen zu glauben.“

Eine Kolumne kann das Für und Wider des Einsatzes generativer KI im Journalismus nicht erschöpfend behandeln. Aus der Fülle der Szenarien und Argumente sollen hier deshalb nur ein paar Themen angerissen werden, über die derzeit selten oder gar nicht gesprochen wird. Es geht sozusagen um die Black Box der Debatte.

Erstens: Alle reden über gefährdete Jobs, kaum jemand über Verantwortung und Haftung 

Der Einsatz generativer KI in Redaktionen ist deshalb so riskant, weil sie streng genommen im Widerspruch zum Kern des Journalismus steht. Journalismus bedeutet Faktentreue und Genauigkeit; so definierte es der Ausschuss zu Qualitätsjournalismus des Europarats. Wer es pathetischer mag, spricht von Wahrheit. Große Sprachmodelle, wie sie der GenKI zugrunde liegen, berechnen aber lediglich Wahrscheinlichkeiten. Ihr Ziel ist es, sich den Fakten möglichst weit anzunähern und damit im Zweifel Wahrheit zu simulieren. Bestehen Lücken, halluzinieren sie. Einem Großteil der Nutzer ist dies mittlerweile bewusst. Dies bedeutet aber auch, dass Journalisten sämtliche Fakten überprüfen müssen, bevor sie bei mit KI ergänzten Texten oder Illustrationen auf den Sendeknopf drücken. Eine Recherche des britischen Mediendienstes Press Gazette beschreibt entsprechende Prozesse rund um ein neues Tool namens Gutenbot, mit dem die Verlagsgruppe Reach ihre Reichweite steigert. Dem Bericht zufolge ist der Produktionsdruck immens. Wer aber haftet bei Fehlern? Sind es die Hersteller der Tools, die Verlage, oder die Redakteure am Ende der Kette? Während zum Beispiel beim Einsatz selbstfahrender Autos Haftungsfragen im Kern der Debatte stehen, werden sie im Journalismus kaum thematisiert. Dies ist jedoch zwingend, sobald KI-Experimente für den täglichen Gebrauch skaliert werden. Die Glaubwürdigkeit ist das höchste Gut einer Medienmarke. Wer Gefahr läuft, sie zu ruinieren, sollte das Risiko kennen.

Zweitens: Es wird viel darüber gesprochen, was geht, aber wenig darüber, was das Publikum wirklich braucht 

Generative KI ermöglicht vieles, sekundenschnelle Übersetzungen in viele Sprachen gehören derzeit zu ihren stärksten funktionstüchtigen Features. Theoretisch könnte jedes Medienhaus seine Inhalte auf diese Weise im Rest der Welt verbreiten. Aber ist es wirklich das, worauf die Welt wartet? Tech-affine Journalisten und Manager sind schnell begeistert von neuen Tools und Formaten, doch manches davon lässt die Nutzer kalt. Man denke an komplizierte Multimedia-Produktionen, Nachrichten auf Abruf über smarte Lautsprecher, virtuelle Realität oder auch die simple Kommentarfunktion unter Onlinetexten. Der größte Teil der Journalismuskonsumenten zeigte kein Interesse daran (ebenso wie die sich ihrer Nutzer-Forschung gerne rühmenden Tech-Konzerne bislang weder smarte Brillen noch das Metaverse unter die Leute bringen konnten). Wie das Publikum reagiert, gehört bislang zu den großen Unbekannten in der KI-gestützten Medienwelt. Je bequemer zu nutzen, desto besser – das könnte eine Faustregel sein. Aber inmitten der Flut an (KI-fabrizierten) Inhalten und Deep Fakes könnte auch das Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit wachsen. Der Journalismus muss erforschen, was seinen Adressaten wirklich nutzt.   

Drittens: Es wird viel über Anwendungen gesprochen aber wenig darüber, was die dahinterliegende Technologie für Klima, Umwelt und Arbeitnehmer bedeutet

Generative KI verbraucht ein Vielfaches der Energie, die eine Google-Suche benötigt. Der CO2-Fußabdruck ist Fachleuten zufolge geschätzt fünfmal so hoch. Hinzu kommt der Wasserverbrauch in den Serverparks jener Tech Konzerne, über die die gängigsten Modelle laufen. Eine Studie des Data and Society Research Institutes beschäftigt sich nicht nur mit den Umweltkosten von generativer KI sondern auch damit, unter welchen Bedingungen Menschen die entsprechenden Modelle trainieren oder für Rohstoff-Nachschub sorgen. In den Medienhäusern herrscht dazu Schweigen. Chefredakteure, die noch vor Kurzem beim Klimajournalismus nachlegen wollten, schwärmen nun von den Möglichkeiten der KI. Nachhaltigkeit war gestern. Das ist einer Branche unwürdig, die verspricht, die Öffentlichkeit über Zukunftsfragen aufzuklären. Hier gilt die alte Regel, man muss nicht alles machen, was man machen kann. 

Viertens: Viele Redaktionen arbeiten an ethischen Regeln für den Gebrauch von KI, aber wenige thematisieren, was außerhalb ihres Einflusses liegt 

Mittlerweile gibt es in fast allen großen Medienhäusern ethische Regeln für den Einsatz von KI. Der Bayerische Rundfunk gehörte zu den ersten in Deutschland, die solche publik gemacht hatten. Im Detail unterscheiden sich die Dokumente, aber allen ist gemeinsam, dass sie sich um eine Balance zwischen Experimentierfreude und Risikobegrenzung bemühen. Das ist lobenswert. Aber wie wirksam werden solche ethischen Gerüste sein, wenn Mitarbeiter Software-Pakete nutzen, deren Vorgaben sie weder einsehen können noch verstehen würden? In den meisten Organisationen ist die Abhängigkeit von Microsoft Teams schon jetzt gewaltig. Die gegenwärtigen Co-Pilot-Funktionen dürften sich täglich verbessern. Auf manchem mit dem Smartphone aufgenommenen Foto ist der Himmel schon lange blauer als in Wirklichkeit. Da können Redaktionen noch so sehr beschwören, Bilder nicht zu verfälschen. Die Abhängigkeit von wenigen Tech-Konzernen ist auch im Kleinen immens, nicht nur im Großen, wenn es um Geschäftsmodelle geht. Felix Simon hat dieses Spannungsverhältnis in einem Report für das Tow-Center an der Columbia Universität gut beschrieben. Nicht jedes Haus wird es sich leisten können, eigene Sprachmodelle zu bauen. Da helfen nur branchenübergreifende Kooperationen. Die Zukunft der Medien wird auch davon abhängen, wie gut eine solche Zusammenarbeit klappt.   

Fünftens: Redaktionen betonen die Bedeutung von Menschen am Ende der KI-Produktionskette, aber was ist mit dem Anfang? 

Das Thema Vielfalt ist in den Medienhäusern in den vergangenen Jahren viel diskutiert worden – und es fällt ihnen immer wieder vor die Füße. Bauern, die mit Traktoren die Auslieferungen von Zeitungen verhindern wollten, haben Chefredaktionen jüngst daran erinnert, dass Vielfalt nicht nur Gleichstellung der Geschlechter und ethnische Diversität bedeutet, sondern dass auch der Stadt-Land-Konflikt einiger Aufmerksamkeit bedarf. Wenn Redaktionen nicht gegensteuern, werden KI-getriebene Produkte Stereotype eher verstärken als brechen – oder sich beim Brechen vergreifen, so wie der kürzlich von Google zurückgezogene Bild-Generator, der zu viel Diversity abbildete. Auch Redaktionen, die den Grundsatz „Human in the loop“ beherzigen, werden es im Eifer des Gefechts schwer haben solche Fehlgriffe zu reparieren. Hinzu kommt, dass KI zunehmend ins Recruitment einziehen wird, zum Beispiel als Tool zum Sichten von Lebensläufen. Journalismus sollte die Gesellschaft abbilden, wie sie ist. Dieses Ziel muss stehen. Hoffentlich gibt es künftig ein paar KI-Tools, die dabei helfen. 

Ohnehin sollte KI im Journalismus Werkzeug bleiben und nicht zum Schöpfer werden. Um es mit A.G. Sulzbergers Worten aus dem zuvor zitierten Interview zu sagen: „Unser Vorteil ist, dass wir von Menschen geführte Unternehmen sind, in denen Journalisten von den besten Redakteuren unterstützt werden und die Redakteure von den höchsten Standards. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Werkzeuge immer für uns arbeiten, und dass wir mit unseren Namen dahinterstehen, statt ihnen ein Eigenleben zu gewähren, wie wir das andere haben tun sehen.“ 

Auch jeder Hype hat ein Eigenleben. Umso wichtiger ist es zu definieren, was Journalismus in der KI-Zukunft leisten soll.  

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 27. Februar 2024.

Der weltweite Medientreff Twitter ist eine Blase – Kann man sie ignorieren?

Wer als Journalist*in seine/ihre eigene Branche verstehen will, kommt ohne Twitter kaum aus. Das soziale Netzwerk ist ohne Zweifel der weltweit größte Medientreff. Diejenigen, die das tägliche Geschäft bestreiten, treffen dort auf die anderen, die sich aus wissenschaftlicher Perspektive mit Kommunikation beschäftigen. Und praktischerweise tummelt sich dort auch allerlei Top-Personal aus anderen Branchen, denen es auf die Vermittlung von Inhalten und Botschaften ankommt: Politiker*innen, Autor*innen, Wissenschaftler*innen mit Publikationsdrang und all deren Gefolgsleute. Aber wie repräsentativ ist das Bild über die gesellschaftliche Debatte, das dort entsteht?

Ein Aufenthalt in anderen Sphären tut zuweilen gut, um Selbstbild mit Fremdbild abzugleichen. Eine Konferenz zum Beispiel, die sich an keine der genannten Berufsgruppen richtet, ist ein guter Test. Nach vollendeter Keynote spendet das Publikum Applaus, aber keinen einzigen Tweet. Für die Journalistin fühlt sich das an, als sei sie gar nicht aufgetreten. Und dann gibt es noch die Stipendiaten-Gruppe, hochbegabte Naturwissenschaftler*innen und Ingenieur*innen, mit denen man einen ganzen Tag lang über Journalismus und die Medien debattiert. Ob denn Twitter für Journalisten wichtig sei, fragt ein Teilnehmer, man fragt zurück: „Wer von euch ist auf Twitter?“ Eine Hand erhebt sich zögernd und auf halbe Höhe. Ah, willkommen in der anderen Welt, ist das womöglich die echte?

Twitter ist wichtig für die meinungsbildende Elite. Aber wer Journalismus für ein allgemeines Publikum macht und nicht nur für seine Bezugsgruppe, sollte sich so einen Realitätstest schon dann und wann einmal gönnen. Denn viele „normale“ Menschen kommen mit Twitter allein dadurch in Berührung, dass Journalist*innen über die Tweets von Prominenten berichten, ob Politiker, Künstlerin oder bedeutungssuchender Denker sei dahingestellt. Selbst die Tweets von US-Präsident Trump bekommen erst dann Reichweite, wenn Massenmedien sie aufgreifen, erst kürzlich wieder hat dies eine Harvard-Studie
belegt. Außerdem ist Twitter eine Heavy-User Plattform. So sind zum Beispiel in den USA zehn Prozent der Nutzer für 80 Prozent aller Tweets verantwortlich.

All das sollten sich Redaktionen in Erinnerung rufen, wenn sie mit Shitstorms konfrontiert sind – ein Wort übrigens, das man im englischen Sprachraum besser nicht nutzen sollte, es wird dort eher wörtlich verstanden. Mit einem solchen, vor allem auf Twitter ausgetragenen Protest sah sich in der vergangenen Woche die Süddeutsche Zeitung konfrontiert. Einer ihrer Musik-Kritiker hatte sich kürzlich den Star-Pianisten Igor Levit vorgenommen, der nicht nur ein hochbegabter Klavierspieler, sondern auch so etwas wie ein Star-Twitterer ist. Um die Geschichte zusammenzufassen: Der Kritiker war nicht begeistert von Levit, und die Mehrheit der über den Text Tweetenden nicht vom Kritiker und auch nicht von der SZ, die dem Kritiker Raum gegeben hatte.

Nun hatten die Kritiker des Kritikers allen Grund, den Text im Allgemeinen und einige seiner Formulierungen anzugreifen. Es war ein schlechter Text, der vermischte, was nicht zusammengehört, und schlimmer: selbst bei wohlwollender Betrachtung antisemitisch. Die SZ-Chefredaktion hat sich deshalb nach einer ersten Stellungnahme, die sich eher vor den Autor stellte, bei Levit und ihren Leserinnen und Lesern wortreich entschuldigt, und die Kolumnistin Carolin Emcke mit einer Analyse nachlegen lassen, die etwa doppelt so lang und in der Zeitung deutlich prominenter platziert war als das Ursprungsstück.

Nur Insider wissen, was letztlich den Ausschlag für diesen Meinungsumschwung gegeben hat. Waren es die nicht verstummenden Tweets, Abo-Kündigungen, Levit selbst, oder war es der Unmut der Redaktion über den Beitrag? Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt jedenfalls nutzte die Chance, um den Münchner Kolleg*innen von Berlin aus zuzurufen: „Wer Journalismus betreibt, sollte nicht beim ersten Shitstorm einknicken.“

Nimmt man diese Überschrift wörtlich, hat er recht. Führungskräfte sollten ihre Mitarbeiter*innen zunächst einmal vor Angriffen aus den sozialen Netzwerken schützen, statt sie der Masse zum Fraß vorzuwerfen. Ein wichtiger Grund ist, dass die Twitter-Empörung etwas mit der allgemeinen Stimmungslage zu tun haben kann aber keinesfalls muss. Zudem richten sich unpopuläre Meinungen oft gegen die allgemeine Stimmungslage, was sie nicht automatisch unwichtig macht. In diesem Sinne wäre ein schnelles Nachgeben das von Poschardt beschriebene Einknicken. Außerdem heißt Journalismus, dass jemand einen solchen Text beauftragt, gegengelesen und damit die Verantwortung dafür übernommen hat. Und dieser Jemand handelt im Auftrag der Chefredaktion. Distanzieren sich Chefredakteur*innen derart klar von ihren Mitarbeiter*innen, wirkt das ein wenig so, als erklärten VW-Top-Manager, sie hätten mit dem Abgas-Skandal nichts zu tun. Wobei man auf die Entschuldigung aus dem VW-Vorstand bis heute wartet.

Twitter komplett zu ignorieren, ist aber auch keine gute Idee. Immerhin ist das Netzwerk ein von überdurchschnittlich gebildeten Menschen genutztes Stimmungsbarometer. Es empfiehlt sich also, die Debatte dort zu verfolgen und zu analysieren, bevor man sie mit „schon wieder so ein Shitstorm“ abtut. Wenn der Ton stimmt und Argumente statt Polemik den Unmut prägen, ist es richtig und wichtig zu reagieren.

Starke Medienmarken verfügen über Meinungsmacht, Reichweite und den Anspruch an journalistische Qualität. Man kann von ihnen Sorgfalt bei der Publikation eines Artikels erwarten. Wurde diese Sorgfalt vernachlässigt, sind Konsequenzen nötig, womöglich auch eine Entschuldigung. Bei der New York Times musste ein Ressortleiter seinen Posten räumen, nachdem zweimal in Folge Gastbeiträge erschienen waren, die er angeblich nicht gelesen hatte.

Auch wenn sich Chefredakteur*innen anderer Medien daran belustigen: Es gehört manchmal mehr Rückgrat dazu, aus Fehlern zu lernen, als stur auf seinem Kurs zu beharren. Allerdings sollte dies transparent geschehen, gut begründet werden, und die Fürsorgepflicht gegenüber dem Autor oder der Autorin muss gewahrt bleiben.

Im Fall der SZ dürfte nicht Twitter den Ausschlag gegeben haben, sondern die Verletzung von Igor Levit selbst, der sich in einem zunehmend belastenden Klima des Antisemitismus in Deutschland behaupten muss. Eine Entschuldigung hätte er auch ohne Empörungswelle verdient gehabt.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School am 23. Oktober 2020.

 

Exklusivität vs. Ethik – Wie viel Verantwortung haben Journalist*innen?

Kürzlich sind die alte und die neue Welt des Journalismus ordentlich aufeinandergeprallt. Natürlich lassen sich beide nicht so scharf trennen, aber wenn einer, der am Zusammenstoß Beteiligten, Bob Woodward heißt, darf man das wohl so beschreiben. Woodward ist am bekanntesten als Teil des Journalisten-Gespanns Woodward und Bernstein, das einst den Watergate-Skandal enthüllte. In seinem gerade erschienenen Buch mit dem Titel „Rage“ nimmt er sich den amerikanischen Präsidenten vor. 18 Interviews hat er dafür mit Donald Trump geführt, und in einem davon hatte der ihm erzählt, wie gefährlich das neue Coronavirus sei. Pikantes Detail: Das war am 7. Februar. Schon damals war das kaum exklusiver Stoff, könnte man sagen. Allerdings hatte Trump die Gefahr gleichzeitig öffentlich heruntergespielt. Deshalb sieht Woodward nun schlecht aus: Hätte der die Information aus moralischer Verantwortung heraus nicht gleich publizieren müssen, statt auf die Buchveröffentlichung im September zu warten?

Genau darüber ist in der Medien-Szene und darüber hinaus ein Streit ausgebrochen. Woodward habe nur seine Auflage steigern wollen, sagen die einen. Er habe die Sache erst einmal sauber recherchieren wollen, sagt Woodward. Und dann gibt es die, die Woodward ohnehin für überschätzt halten. Dieser leide unter einem Mangel an moralischer Neugier, schreibt Alex Nazaryan. Der Autor ist ebenfalls in der Washingtoner Journalisten-Szene unterwegs, für die Los Angeles Times hat er mit spürbarer Empörung nicht nur „Rage“ sondern gleich Woodwards gesamtes Werk verrissen.

Da mag es offene Rechnungen gegeben haben. Aber die Frage, die dahinter liegt, ist brisant. Wem gegenüber sind Journalist*innen verantwortlich, wenn sie bei Recherchen etwas erfahren, dessen zügige Veröffentlichung den Lauf der Dinge zum Guten beeinflussen könnte: ihrem Verlag, der von der Exklusivität profitiert und deshalb mehr am Einschlag eines Scoop-Kometen als an einer Vielzahl von Nachrichten-Schnuppen interessiert ist? Oder der Öffentlichkeit, die ein Interesse daran haben muss, dass Missstände so schnell wie möglich publik werden? Die Frage lässt sich nur von Fall zu Fall beantworten. Aber das Missfallen im Fall Woodward hat auch mit einem Generationen-Konflikt im Journalismus zu tun.

Die alten Dickschiffe der Branche wie die Washington Post, New York Times oder in Deutschland Der Spiegel und natürlich die Buchverlage leben vom dicken Scoop oder eben vom Bestseller. Er ist ihr Geschäftsmodell. Schneller, exklusiver, einfach besser zu sein als die Konkurrenz wirkt als Treibstoff, die großen Enthüllungen prägen ihr Selbstverständnis. Dahinter steckt nicht nur die Gier nach Aufmerksamkeit, Ruhm und Ehre. Die Ethik dahinter wird auch geprägt von der Denke: Erst wenn es richtig laut knallt, hört jeder den Schuss. Es muss eine Entrüstungs-Schwelle überschritten werden, um Akteure wie zum Beispiel Gesetzgeber oder Unternehmen dazu zu bewegen, etwas zu verändern. Gleichzeitig müssen alle Recherchen gerade bei komplexen Themen juristisch wasserdicht sein. Viele Veröffentlichungen, die erwartbar Ärger nach sich ziehen, werden von der Sorge begleitet, mächtige Objekte der Berichterstattung könnten ein Medienhaus in Grund und Boden klagen. All diese Erwägungen prägen Überlegungen dazu, wie schnell man bestimmte Dinge ans Licht zerren muss.

Die jüngere Generation von Journalist*innen muss sich mit den juristischen Fallstricken ebenso beschäftigen wie ihre Vorgänger. Aber die Idee, dass das Wohl des Medienhauses über allem steht, passt vielen nicht mehr in einer Zeit, in der Kollaborationen mit anderen, Beteiligung der Leser/User*innen an Recherchen und persönliche Verantwortung für den publizistischen Auftritt stärker ins Zentrum rücken. Im digitalen „Audience first“ sieht man sich mehr als Partner seines Publikums denn als Teil einer Operation, in der gilt: „Ego first“. In Abwandlung des Claims der Süddeutschen Zeitung, die sich neuerdings mit dem Slogan „Mut entscheidet“ schmückt, könnte man den Journalismus neueren Typs auch so beschreiben: „Demut entscheidet“.

Dazu passt es überhaupt nicht, der Öffentlichkeit um des schönen Scoops willen relevante Informationen vorzuenthalten. Nun mag man im Fall Woodward argumentieren, es hätte rein gar nichts geändert, Trumps Einschätzung zum Virus früher zu publizieren. Die Bürger+innen haben längst gelernt, auf das gesprochene Wort des Präsidenten nicht allzu viel zu geben. Aber die von Woodward so verschnupfte Reaktion erstaunt nun doch. Womöglich hat sie mit seiner Verankerung im Washingtoner Establishment zu tun. Politikjournalist*innen interessieren sich häufig eher für Macht als für das, was Macht anrichtet. Anders gesagt: „den Präsidenten zu Fall bringen“ steht auf Woodwards Prioritäten-Liste vielleicht höher als „Leben retten“ – wobei man in dem Fall argumentieren könnte, dass das eine mit dem anderen verknüpft ist.

Was die Sache lehrt: Journalist*innen täten gut daran, sich mit den Folgen ihres Tuns stärker auseinanderzusetzen. Es gibt ihn schließlich immer wieder, den Journalismus, der im Dienste des Scoops und der Schlagzeile gnadenlos Verletzlichkeiten ausbeutet. Die jüngste Kontroverse um die Veröffentlichung von WhatsApp-Nachrichten eines Kindes in der Bild-Zeitung, das sich nach dem Mord an seinen Geschwistern in höchster Not einem Freund anvertraut hatte, ist ein trauriges Beispiel dafür. In dem Fall hat sogar Springer-Konzernchef Mathias Döpfner Fehler eingeräumt.

Aber auch in weniger drastischen Fällen denken Journalist*innen häufig zu wenig darüber nach, was es mit Menschen macht, wenn sie plötzlich Objekte der Berichterstattung werden. Die Kommunikationswissenschaftlerin Ruth Palmer hat ein aufschlussreiches Buch darüber geschrieben: „Becoming the News – How ordinary people respond to the media spotlight“.

Auch das ist klar: Reporter*innen sind keine Sozialarbeiter*innen. Ethisch können sie sich trotzdem verhalten. Wie dies gehen kann, haben Jodi Kantor und Megan Twohey in ihrem Buch „She said“ dokumentiert. Die Autorinnen beschreiben in diesem Lehrstück investigativer Recherche, wie sie den Skandal um Harvey Weinstein aufgedeckt und die MeToo-Debatte behandelt haben. Besonders interessant daran sind die Diskussionsprozesse innerhalb der New York Times: Wie Investigativ-Chefin Rebecca Corbett stets mahnte, mehr Fakten zu sammeln statt Aussagen – zum Beispiel Verträge mit Verschwiegenheitsklauseln. Wie viel Material die Reporter*innen zusammentragen mussten, bis endlich die Entscheidung fiel: jetzt wird veröffentlicht. Und wie sie mit ihren Quellen kommuniziert hatten, transparent, klar, sie ernst nehmend. Auch bei Weinstein war der Antrieb der Scoop. Aber bis zum Schluss ging es auch um die Frauen.

Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 18. September 2020.