„Kirche und Staat“: Warum wir dringend über journalistische Werte reden müssen

Es klingt zunächst wie ein Widerspruch, wenn sich ausgerechnet ein PR-Mann so eindeutig positioniert: Dass ein Chefredakteur gleichzeitig Geschäftsführer sei, das ginge gar nicht, hatte Karsten Krogmann im Mai 2022 auf dem Forum Lokaljournalismus in Bremerhaven auf einem Podium gesagt. Nun ist Krogmann noch recht neu dort, wo die Branche gemeinhin „die andere Seite“ verortet. Er leitet die Pressearbeit für die Opferschutzorganisation Weißer Ring, bis 2020 war er preisgekrönter Chefreporter der Nordwest-Zeitung. Verlassen habe er den Verlag, weil der Journalismus zunehmend von wirtschaftlichen Zwängen geprägt werde. Das hatte er vor zwei Jahren bereits in einem Interview mit Kress Pro erläutert. 

Nun spielen beim Jobwechsel meist mehrere, auch sehr persönliche Gründe eine Rolle. Wenn man es für höchste Zeit hält, dass sich Journalisten Gedanken über das Geldverdienen machen, hört sich eine solche Klage zudem recht larmoyant an. Ist die Zahlungsbereitschaft für Journalismus nicht der beste Qualitätsausweis? Schließlich beweist doch der Abschluss eines Abos am ehesten, dass das Produktversprechen stimmt. Wahr ist aber auch: Über journalistische Unabhängigkeit, also genau das, was Journalismus von PR unterscheidet, wird in der Branche selten diskutiert.

Zwar gilt es bei den fortschrittlichen Vertretern des Fachs als ausgemacht, dass die strikte Trennung von Redaktion und Verlag in der digitalen Medienwelt nicht mehr funktionieren kann. Aber wo genau die neuen Grenzen verlaufen, was die roten Linien sind zwischen Marketing und inhaltlicher Überzeugungsarbeit, über Angebot und Verkaufe, darüber gibt es kaum Debatten.

Das „Kirche und Staat“-Prinzip stößt auf neue Herausforderungen

Nun war auch die alte Welt von „Kirche und Staat“ keine, in der nur Heilige die Geschäfte verwalteten. Grenzüberschreitungen gab und gibt es immer wieder. Die Konflikte um Dirk Ippen, der die Springer-Recherche seines Investigativ-Teams nicht veröffentlicht haben wollte und Zeit-Herausgeber Josef Joffe, der den befreundeten Banker Max Warburg vor Recherchen warnte, bestätigen das nur. Das alte Prinzip stößt aber auf neue Begebenheiten, die es herausfordern:

► Neu ist, dass Teams aus Marketing, Redaktion und Tech-Abteilung gemeinsam Produkte für bestimmte Zielgruppen entwickeln. 

► Neu ist, dass Redaktionen, die ihre Leser in Leitartikeln vor der Macht der Daten-Konzerne warnen, selbst eifrig Daten über ihre Kunden erheben um, deren Gewohnheiten und Vorlieben besser zu verstehen. 

► Neu ist, dass sich Medienhäuser nicht nur Innovationsprojekte und Weiterbildung von Google und Meta bezahlen lassen, sondern ihre Strukturen zunehmend so ausrichten, dass sie zu den Produkten der Tech-Konzerne passen. Felix Simon vom Oxford Internet Institute hat dies für einen jüngst veröffentlichten wissenschaftlichen Artikel für das Feld Künstliche Intelligenz untersucht (Transparenz-Hinweis: Alexandra hat mit Felix mehrfach publiziert). 

► Neu ist auch, dass eine Generation von Nutzerinnen und Nutzern heranwächst, für die Journalismus nur noch eine Spielart der Informationsvermittlung ist, weil Blogger, Influencer und auch die meisten Organisationen das Geschäft selbst recht professionell betreiben. Bezeichnend ist, dass zum Beispiel auch Karsten Krogmann für sich in Anspruch nimmt, beim Weißen Ring weiterhin Journalismus abzuliefern.  

Was also darf der Journalismus und was muss er sogar, um sich von allerlei Veröffentlichungskanälen abzugrenzen und seine Existenz zu legitimieren?

„Die journalistische Reinheitsrhetorik hat ausgedient.“

Aufklärung könnte man sich vom Pressekodex erhoffen, aber auch der ist in die Jahre gekommen. Zwar haben seine 16 Ziffern weiterhin Gültigkeit, aber der Alltag in modernen Redaktionen, der von all den genannten Konflikten geprägt ist, findet dort nur in Ansätzen Erwähnung. Außerdem war er schon immer ein selten erreichtes Ideal in einer Welt, in der sich Journalisten ihr Handwerk eher von ihren Vorgesetzten oder Kollegen abgeguckt haben, statt es von einer Regelsammlung abzuleiten.

Wichtig für die neue Welt ist: Die journalistische Reinheitsrhetorik hat ausgedient, in der auch immer der Anspruch auf Unfehlbarkeit mitgeschwungen hat. Man recherchiere, weil das Thema wichtig sei und veröffentliche, weil es die Allgemeinheit interessieren müsse – nicht etwa, weil man ein Interview angeboten bekommen oder eine Pressemitteilung gesichtet hatte, von einer Idee begeistert war, Lust auf eine spezielle Recherche oder Pressereise hatte oder einfach nur dem Chefredakteur gefallen wollte. Dass man die Unabhängigkeit der Redaktion von Verlagsinteressen früher mit Stolz vor sich hertragen konnte, hat auch dabei geholfen, so manch einen Beweggrund zu verschleiern. Wer behauptet, dass Clickbait eine Erfindung des Online-Journalismus ist, war nie beim Titeln dabei.   

Anstelle der Unabhängigkeit sollte Transparenz rücken

An die Stelle des mit breiter Brust verkündeten Ideals sollte deshalb größtmögliche Transparenz treten. Was weiß man, was weiß man nicht, welche Interessenkonflikte könnte es geben, wer zahlt für bestimmte Reisen oder Produkte, aber auch welche Nutzerdaten werden erhoben und wofür werden sie verwendet? Wohl kaum ein Leser wird all diese Informationen im Detail studieren, aber sie könnten geeignet sein, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Hier gibt jemand zu, dass er befangen ist und gewissen Zwängen unterliegt, aha. Die meisten Nutzer können Abhängigkeiten durchaus verstehen, wenn man sie ihnen erklärt, so wie sie dann auch verstehen werden, dass man bestimmte Quellen nicht offenlegen kann. 

Eine solche Offenheit würde Medienmarken vor allem von denjenigen abheben, die sie nicht bieten. Das sind zum Beispiel Influencer, die selten darüber Auskunft geben, wo die Produkte herstammen, die sie empfehlen und wie ihre Geschäftsmodelle funktionieren. Sie arbeiten nicht mit erarbeitetem Vertrauen, sondern mit Gefolgschaft. Die Investigativ-Recherche des Teams um  Jan Böhmermann zum Geschäftsgebaren des Influencers Fynn Kliemann dürfte einiges dafür getan haben, jungen Leuten das Prinzip Qualitätsjournalismus näherzubringen. 

Initiativen wie die Journalism Trust Initiative zertifizieren Redaktionen danach, wie sie Qualitätsstandards einhalten. Wer nachweist, das Vier-Augen-Prinzip anzuwenden, Fakten zu checken oder Videos zu verifizieren, macht sich glaubwürdig. Solche unabhängigen Audits sind auch für Medienhäuser empfehlenswert, die öffentlich-rechtlich strukturiert sind. Statt zu viel kommerzieller Nähe wird ihnen oft Staatsnähe vorgeworfen. Vertrauenswürdig ist, wer mit Beweisen dagegenhalten kann.

Aber darf ein Geschäftsführer oder Eigentümer gleichzeitig Geschäftsführer sein? Auch hier ist die Antwort: Es kommt darauf an. So wie es manch einem Chefredakteur an journalistischem Rückgrat mangelt, wirkt manch ein CEO als leidenschaftlicher Verleger. Wichtig ist, dass ethische Standards und die Kontrolle stimmen. Die Debatte über beides ist ausbaufähig. 

Diese Kolumne erschien zuerst bei Medieninsider am 25. Mai 2022. Alexandra schreibt dort monatlich zu aktuellen Themen der Branche.

 

Und jetzt das Wetter! – Warum Redaktionen bei der Abo-Jagd weiter denken müssen

Es mag an Corona liegen, dass sich so manch eine*r an den Fernsehbildern in der ersten Februarhälfte kaum sattsehen konnte: Hilfsfahrzeuge, die andere Hilfsfahrzeuge aus Schneewehen schleppen, feststeckende Busse, Straßen- und Schwebebahnen, rotwangige Kinder, die verschneite Hügel herunterrodeln, all das moderiert von Korrespondent*innen, die ebenso selten zum Einsatz kommen wie deren mitgeführter, sichtbar im Schrank gealterter Ballon-Anorak. Endlich mal raus aus der Bund-Länder-Impf-und-Öffnungs-Krisen-Dauerschleife bebildert mit der obligatorischen Impf-Szene, hinein ins pralle, kalte Leben. Kanzlerinnen-Korrespondent*innen mögen darüber stöhnen, Investigativ-Reporter*innen die Nase rümpfen, aber manchmal interessiert die Leute eben nur eines: das Wetter.

Solche Publikums-Vorlieben haben für viele Journalist*innen das Zeug zu einer schweren Kränkung. Da recherchieren sie monatelang an einer Story, sichten Excel-Tabellen, schwatzen Quellen vertrauliche E-Mails ab, riskieren Nerven, Gesundheit und Sicherheit, und warum schließen Kund*innen dann ein Abo ab: Damit sie die Kreuzworträtsel-App nutzen oder sich bei den Kochrezepten bedienen können. So wachsen beim Branchen-Vorbild New York Times die Verkäufe genau jener digitalen Produkte deutlich schneller, die nichts mit dem Nachrichtengeschäft zu tun haben.

Auch wenn deutsche Verlage darüber sinnieren, wie sie ihre Abo-Angebote aufwerten könnten, denken sie eher selten an eine aufgestockte Politik- oder gar Feuilleton-Redaktion. Von den 16 Punkten, die Medien-Manager*innen dem Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger in seine im Februar veröffentlichten Trend-Umfrage tippten, hatten die Allerwenigsten mit klassischem Journalismus zu tun. Genannt wurden Features wie Gewinnspiele, Archiv-Zugang, Events, Rabatte im Online-Shop, Traueranzeigen, interaktive Elemente, Gamification und Plus-Newsletter – letzterer enthält zwar Journalismus, selten aber die große Reportage, deren Recherche auch Nachwuchsjournalist*innen noch erstaunlich oft ins Zentrum ihrer beruflichen Ambitionen rücken. Und dann zitiert der nahezu trommelnd optimistische, von der Agentur Schickler verfasste Bericht noch den Digitalchef der NOZ-Mediengruppe, Nicolas Fromm, mit den Worten: „Insgesamt gibt es drei wichtige Hebel für unseren Erfolg: Technologie gepaart mit Datenanalyse, Markt-Nutzer-Knowhow und Organisation.“ Hallo, war da noch was? Oder anders gefragt: Verkauft sich Journalismus etwa nicht?

Davon kann keine Rede sein. Starker Journalismus, der nahe an den Bedürfnissen des Publikums liegt, ist nach wie vor die Säule, auf der die Kundenbindung ruht. Exklusive, exzellent geschriebene Geschichten mit hohem Erklär-, Erzähl- und sonstigem Mehrwert ziehen Menschen zur Marke und stärken sie. Das bestätigt die New York Times ebenso wie die schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter (DN), die das vergangene Jahr wegen des rasanten Digital-Abo-Wachstums als das wohl erfolgreichste seit den 1990ern bilanziert. Aber während viele Redaktionen noch daran rätseln, welche Geschichten genau denn die Leser*innen zur Herausgabe ihrer Zahlungsinformation motivieren, empfehlen andere längst: größer denken! Die Kund*innen entscheiden sich nämlich nach einer längeren Reise für das Abo, und da gehört ein ganzes Paket an Erfahrungen dazu. Das Lesevergnügen ist nur ein Teil davon.

Für Dagens-Nyheter-Chefredakteur Peter Wolodarski war zum Beispiel der Umstieg auf die Zahlungs-App Klarna ein Schlüssel zum Erfolg. Wolodarski liebt starken Journalismus und kauft gerne große Talente ein, aber auf dem Wachstums-Pfad trugen die dynamische Paywall, das Testen verschiedener Preismodelle und die vereinfachten Prozesse rund ums Abonnieren und Kündigen mindestens genauso zur Beschleunigung bei wie redaktionelle Projekte. Nichts war allerdings so wirkungsvoll wie der Tag, an dem Greta Thunberg die DN-Chefredaktion übernahm – journalistisch vielleicht nicht der stärkste, aber am Abend habe man mit mehr als 10 000 Abos im Plus gestanden, erzählt ein Manager. Andere skandinavische Verlage experimentieren mit Bots, die zum Beispiel über Hausverkäufe schreiben und auf diese Weise ordentlich Abos generieren. Müssen Reporter*innen da beleidigt sein? Eher nicht, denn das lässt ihnen mehr Zeit für Recherchen in der Lokalpolitik. Die sind wichtig für Vertrauen, Image und journalistische Mission, führen aber selten zum Abo-Verkauf.

Hier liegt auch einer der Gründe, warum der Einzelverkauf von Texten praktisch nirgendwo funktioniert. Menschen zahlen selten für Texte, die gibt es im Überfluss. Sie investieren in Erlebnisse, Verlässlichkeit, Zugehörigkeit, Service und ein Qualitätsversprechen. Ein einzelner Text, von dem man am Anfang nicht weiß, wo am Ende der Mehrwert liegt, ist ein zu vages Angebot. Eine starke Redaktion alleine kann ihre PS genauso wenig auf die Straße bringen wie starke Verlagsabteilungen, der Erfolg liegt in der Kooperation. Investigativ-Recherchen alleine holen das Publikum nicht ab, manchmal muss es auch das Wetter sein.

Nutzerfreundlichkeit war übrigens schon bei der gedruckten Zeitung zentral, nur hieß es damals noch nicht User Experience (UX). Schon immer wurden deutlich mehr Abos wegen unzuverlässiger Zustellung oder ruppigem Service an der Kunden-Hotline gekündigt als mit der Begründung, dass einem ein Kommentator nicht passt. Für die Redaktion kann es sogar beruhigend sein, nicht die gesamte Last der Abo-Akquise auf ihren Schultern zu spüren. Wenn’s mal wieder gar nicht läuft mit der Conversion, dann liegt’s bestimmt an der UX. Ein bisschen Trost geht immer.

Diese Kolumne erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 11. Februar 2021.