Die Transparenz-Illusion: Wie Journalisten wirklich Vertrauen schaffen

Vertrauen ist ein großes Wort – und ein ebenso schwammiges Konzept. Was bedeutet das, wenn Menschen in Umfragen die Frage verneinen, ob sie Medien vertrauen? Kann man tatsächlich von einer Vertrauenskrise in den Journalismus sprechen, wie das beide Seiten gerne tun: diejenigen, die Alarm schlagen, um sich davon Unterstützung zu erhoffen, sowie auch die anderen, die nicht viel von der Zunft und ihren Praktiken halten? 

Es gibt eine ganze Reihe von Studien, die versuchen, dem auf den Grund zu gehen. Die wohl umfangreichste Arbeit dazu leistet das Reuters Institute for the Study of Journalism in Oxford. Es legt mit dem Digital News Report nicht nur seit zehn Jahren die weltweit größte, überwiegend quantitative Studie über Mediennutzungsverhalten vor – der Deutschland-Teil wird vom Hans Bredow Institut betreut –, sondern leitet auch ein tiefgreifendes Forschungsprojekt zu Vertrauen in Medien. In Deutschland befasst sich seit 2015 auch die Johannes Gutenberg Universität in der Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen mit dem Thema. An der TU Dortmund gibt es seit 2018 im Forschungsprojekt Journalismus und Demokratie Erkenntnisse zur Glaubwürdigkeit des Journalismus und Vertrauen in die Medien.   

Auf den ersten Blick mögen sich ein paar Erkenntnisse der verschiedenen Studien widersprechen. Zum Beispiel hatten die Dortmunder im Frühjahr gemeldet, dass die Glaubwürdigkeit des Journalismus während der Pandemie gelitten habe, während sowohl der Digital News Report als auch die Uni Mainz zumindest für 2020 und 2021 einen deutlichen Zuwachs an Vertrauen in die Medien registriert hatten. Steigt man aber etwas tiefer in das Material ein, ergeben sich Gemeinsamkeiten – ganz unabhängig von der immer gültigen Erkenntnis, dass der Wortlaut der Fragestellung die Antworten prägt, weshalb sich die verschiedenen Untersuchungen im Detail schwer miteinander vergleichen lassen. Was sich ableiten lässt:

Erstens: Journalisten verstehen unter Vertrauen in Medien überwiegend etwas anderes, als dies die Konsumenten von Journalismus tun

Journalisten meinten oft, Transparenz über ihre Arbeit oder der Austausch mit den Lesern, Hörern oder Zuschauern prägten Vertrauen, so Rasmus Nielsen, Direktor des Reuters Institutes, kürzlich auf dem World News Media Congress. Das Publikum hingegen sei viel pragmatischer. „Die Menschen wollen wissen, ob die Medien für sie da sind“, sagte er. Ihnen sei wichtig, dass sich Journalisten mit den Themen beschäftigten, die für sie und ihr tägliches Leben relevant seien (s. Word Cloud). Nutzer stünden dem Journalismus zu großen Teilen nicht etwa feindselig, sondern eher gleichgültig gegenüber. Nielsen: „Sie glauben, dass sie Journalismus nicht brauchen oder finden ihn deprimierend.“ Aus diesem Grund ist die leider erst in diesem Jahr so populär gewordene Debatte über Nachrichtenmüdigkeit so wichtig. Denn wer keinen Journalismus mehr konsumiert, kann auch kein Vertrauen zu entsprechenden Marken aufbauen.  

Zweitens: Die Menschen sind überwiegend nicht anti Journalismus, oft aber anti Journalisten

Journalismus ist wichtig für das Funktionieren der Demokratie – dies bestätigten in der Dortmunder Studie vom April 87 Prozent, also etwa neun von zehn Befragten. Damit lässt sich arbeiten. Allerdings äußerten sie viel Kritik daran, wie Journalismus oft betrieben werde: der Einfluss von Politik und Wirtschaft sei zu stark, die Themen zu wenig relevant (siehe oben), die Sensationslust zu ausgeprägt. 43 Prozent bestätigten die Aussage, der Journalismus sei in den vergangenen Jahren schlechter geworden. Das Gleiche sagen übrigens viele Journalisten über die eigene Branche.

Niederschmetternd fiel das Urteil der Nutzer in der jüngsten Studie des Vertrauens-Projekts des Reuters Institutes aus: Viele Journalisten seien Manipulatoren, die vor allem selbst groß herauskommen oder die Botschaften von bestimmten Politikern verstärken wollten, hieß es dort auf der Basis von Nutzer-Interviews in den USA, Großbritannien, Indien und Brasilien. Hier befinden sich die Verlage und Sender im Zwiespalt: Bauen sie bestimmte Kolleginnen und Kollegen als starke Einzelmarken auf, die auch in den Talkshows und in den sozialen Netzwerken funktionieren, kann dies zwar vertrauensbildend (und lukrativ) sein. Dieser Effekt verkehrt sich aber schnell ins Gegenteil, wenn die Person als zu eitel wahrgenommen wird, sich mit den „falschen“ Experten oder Politikern assoziiert oder gar selbst in eine Affäre verstrickt ist. Es bleibt deshalb wichtig, allen Personalisierungstendenzen zum Trotz auch die Medienmarke selbst zu pflegen, die den einen oder anderen personellen Abgang hoffentlich unbeschädigt übersteht.      

Drittens: Das geringe Vertrauen in digitale Plattformen prägt das angeknackste Vertrauen in den Journalismus

Von einem „Trust Gap“, einer Vertrauenslücke, sprechen die Forscher des Reuters Institutes, und sie meinen damit den unterschiedlichen Vertrauensvorschuss, den die Nutzer den traditionellen Medien einerseits und den digitalen Plattformen andererseits entgegenbringen. Den etablierten Medienmarken vertrauen laut Digital News Report im Schnitt gut 40 Prozent der Menschen, für die Suchmaschinen und sozialen Netzwerke gibt dies dagegen nur jeder Vierte zu Protokoll. Das sind zunächst einmal gute Nachrichten für jene, die ihre Kunden direkt auf ihre Homepage locken oder an ein gedrucktes Produkt, eine linear ausgestrahlte Sendung binden können. Da nun aber vor allem jüngere Generationen ihren Journalismus hauptsächlich aus den Netzwerken beziehen, nimmt das Vertrauen in Medienmarken schon strukturell bedingt ab. Oft wissen die Konsumenten von Nachrichten schließlich nicht einmal, wer der Urheber eines Beitrags war, den sie im Netz gefunden haben. 

Nach Ansicht von Nic Newman, Hauptautor des Digital News Reports, ist dies einer der Gründe, warum jüngere Nutzer mit Journalismus oft nichts anfangen können. Früher erklärten sich viele Stücke aus dem Zusammenhang einer Zeitungsseite oder einer Sendung heraus, heute erscheinen sie digital oft ohne Einordnung im Strom von anderen Inhalten. Redaktionen müssen deshalb darauf achten, dass jedes Stück für sich stehen kann, ausreichend gekennzeichnet ist und klar für die Marke steht. Sinkendes Vertrauen kann übrigens auch ein unbeabsichtigter Effekt von digitaler Bildung sein: Immerhin wird die jüngere Generation zurecht dazu angehalten, Inhalten im Netz mit Skepsis zu begegnen – sie könnten schließlich manipuliert sein. So betrachtet wäre der kritische Blick des Publikums ein gutes Zeichen.          

Viertens: Das Vertrauen in den Journalismus wird unmittelbar vom Vertrauen in die Politik beeinflusst 

Im Digital News Report ist dies Jahr um Jahr belegt: Dort, wo es polarisierende Wahlen, Entscheidungen wie den Brexit oder Bewegungen wie die Gelbwesten-Proteste in Frankreich gibt, leidet das Vertrauen in die Medien massiv. Journalisten werden dafür bestraft, dass sie sich in die Tiefen des politischen Streits hineinbegeben. Man verortet sie allzu oft auf der Seite der Mächtigen, statt sie als Verbündete wahrzunehmen. Hier hilft es, mehr auf Themen als auf Zitat-Schlachten zu setzen, Distanz zu wahren und zu akzeptieren, dass der Journalismus oft eben auch nicht besser sein kann als die Welt, die er abbildet. 

Dies könnte auch den negativen Ton in der Dortmunder Studie erklären, deren Befragte sich deutlich skeptischer zur Corona-Berichterstattung äußern als beispielsweise jene der Untersuchung, die von der Münchner LMU und der Universität Mainz im Auftrag der Augstein-Stiftung erarbeitet wurde. Die Dortmunder hatten ihre Stichprobe im Februar dieses Jahres erheben lassen, der Regel-Flickenteppich und die Impfpflicht wurden da kontrovers diskutiert. Die Augstein-Studie, in der die Menschen den Medien ein recht gutes Zeugnis ausstellten, basierte dagegen auf Befragungen im April 2020 und Februar 2021, als eine Mehrheit noch der Meinung war, die Regierung gehe mit der Pandemie vergleichsweise vernünftig um. Auch die Hoffnung auf eine Impfung mag zu dem Zeitpunkt eine Rolle gespielt haben.  

Fünftens: Mehr Transparenz führt nicht unbedingt zu mehr Vertrauen – sie dient aber der Qualität 

Es ist ein landläufiger Irrtum, der auch in der Branche kursiert, dass die Offenlegung aller Arbeitsweisen und vor allem Fehler mehr Vertrauen schafft. Für die genauen Arbeitsweisen interessieren sich die meisten Menschen genauso wenig wie dafür, wie genau der Fernseher funktioniert oder mit welchem Werkzeug der Installateur die Heizung repariert – beide sollen nur ihren Job erledigen. Legt man jeden Fehler offen, kann dies sogar nach hinten losgehen. Man stelle sich ein Krankenhaus vor, das auf einem Monitor am Eingang exakt alle Fehldiagnosen der vergangenen Monate protokolliert. Womöglich würde sich niemand mehr dort operieren lassen. Transparenz ist dennoch wichtig. Erstens ist sie die Voraussetzung für eine gute Fehlerkultur, die dafür sorgen sollte, dass permanent aus Fehlern gelernt wird. Zweitens diszipliniert sie. Müssen Journalisten die Quellen aller Studien angeben, die sie zitieren, werden sie sich überlegen, ob sie für ein Zitat zum zehnten Mal auf denselben Studienkumpel zurückgreifen oder doch mal nach aktuellen Veröffentlichungen suchen. Transparenz steigert also die Qualität – und sollte auf diese Weise indirekt zu mehr Vertrauen beitragen. 

Ohnehin ist dies womöglich die wichtigste Botschaft, die sich Redaktion immer wieder vergegenwärtigen sollten: In einer Zeit, in der – zurecht und aus Notwendigkeit heraus – viel Energie darauf verwendet wird, Überschriften für Suchmaschinen zu optimieren, Nutzer gezielt und unablässig mit Botschaften zu füttern, um ihre Aufmerksamkeit zu halten, Preismodelle zu optimieren und Verkaufspakete zu schnüren, bleiben die Relevanz, Tiefe und Faktentreue der Inhalte überragend wichtig. Ohne journalistische Qualität ist alles nichts. 

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 12. Oktober 2022. 

Wo die wirklichen Probleme öffentlich-rechtlicher Medien liegen

Wer deutschen Medien Behäbigkeit vorwirft, täte etlichen von ihnen Unrecht – außer, es beträfe die Reflexion über die eigene Branche. Die Debatte um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist ein Beleg dafür. Man kann loben, dass Reporter der Sender daran arbeiten, Missstände in ihren eigenen Häusern aufzudecken. Damit belegen sie die redaktionelle Unabhängigkeit. Unglücklich ist aber, dass dazu erst ein Skandal wie der Machtmissbrauch beim RBB gebraucht wurde. Ohne nachrichtlichen Aufhänger fehlt vielen Journalisten offenbar der Anreiz, eine Debatte in Gang zu setzen. Die Tendenz, stets nur zu reagieren, statt Themen zu setzen, gehört zu den großen Problemen des gegenwärtigen Journalismus. Nicht nur führt dies zu der latenten, oft gescholtenen Kurzatmigkeit der Berichterstattung. Es bedeutet auch, dass andere den Rahmen für die Diskussion definieren – gerne wird dafür das Wort „Framing“ genutzt.

Die Debatte über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wabert deshalb nun als Diskussion um überzogene Gehälter, falsch verstandene Privilegien und politische Einflussnahme durchs Land. Das ist angesichts der Einzelfälle nötig, verdrängt aber eine Auseinandersetzung, die viel wichtiger wäre: Jene darüber, wie sich die Medien, die von den Bürgern finanziert werden und allen Menschen im Land dienen sollen, in der modernen Informations- und Unterhaltungslandschaft weiterhin unverzichtbar machen können.

Angriffe auf die Öffentlich-Rechtlichen kommen nämlich nicht nur von der politischen Rechten. Auch marktliberale Kräfte und so manch kommerziell geführtes Medienhaus sprechen den großen Sendern gerne ihre Existenzberechtigung ab. Sie argumentieren, dass private Anbieter in der digitalen Welt ausreichend entsprechende Angebote bereitstellen. Aber dies stimmt eben nur teilweise. Privat finanzierte Medien haben schließlich nur eine Metrik: kommerziellen Erfolg. Sie müssen weder alle gesellschaftlichen Gruppen ansprechen noch in der Fläche präsent sein. Auch können sie nicht dazu verpflichtet werden, heikle oder gar überlebenswichtige Themen anzusprechen, wie den Umgang mit dem Klimawandel. All diese Aufgaben fallen den Öffentlich-Rechtlichen zu. 

In der Regel honorieren die Bürger das. Wenn es um Medienvertrauen geht, attestieren Studien wie der Digital News Report des Reuters Instituts in Oxford den großen Sendern international Jahr um Jahr die höchsten Werte aller Anbieter, zumindest dort, wo sie vom Publikum als unabhängig wahrgenommen werden. In der Pandemie informierten sie sich besonders häufig bei den public service media – so der englische Begriff – , das Vertrauen stieg vielerorts deutlich. Und selbst junge Menschen, die sich überwiegend über die sozialen Netzwerke auf dem Laufenden halten, tun dies in Deutschland häufig beim Instagram- oder TikTok-Kanal der Tagesschau, weil sie dort Verlässlichkeit vermuten. Bislang zahlen die Bürger auch weit überwiegend ohne Murren die entsprechenden Gebühren oder Steuern, mit denen sich die Sender finanzieren. In der Schweiz sprachen sich 2018 in einem Referendum mehr als 70 Prozent der Abstimmenden für eine Beibehaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aus – die Sender hatten davor einige Reformen versprochen und nach eigenem Bekunden auch umgesetzt. 

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk braucht eine Vision

Mit so einem Vertrauensvorschuss lässt es sich leben. Wenn deutsche Journalisten wegen der RBB-Affäre nun ständig von der Krise des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sprechen, ist das verfrüht und eine Art Selbstgeißelung, die sich bei aller berechtigten Kritik nicht dazu eignet, den Tatendrang in Richtung Reformen auf Dauer anzuheizen. Dazu wird eine deutlich konkretere und engagierte Debatte gebraucht, die selbstbewusst thematisiert, welche Rolle der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Demokratien einnehmen und welche Aufgaben dazu dringend angepackt werden sollten. Gefragt ist eine Vision für ein öffentliches Medienangebot in der modernen, fragmentierten und zum Teil überversorgten Informationslandschaft. 

Am drängendsten werden Strategien dafür gebraucht, wie sich die Öffentlich-Rechtlichen auch für junge Generationen unverzichtbar machen. Sonst verlieren sie ihre Daseinsberechtigung und früher oder später auch die gesellschaftliche Unterstützung. Dafür müssen sie, es hilft nichts, in den sozialen Netzwerken sichtbar und attraktiv sein. Das ärgert die Verlage. Allerdings geben die meisten zu, dass junge Menschen unter 25 für sie einigermaßen uninteressant sind, weil sie eher selten Digital-Abos abschließen. Aber sie sind die Mediennutzer der Zukunft. Gewöhnt man sie nicht an guten Journalismus, werden sie die traditionellen Publikationen auch später links liegen lassen.

Ran an Mediennutzer von morgen

Außerdem müssen die Sender in jeglicher Beziehung mehr Vielfalt bieten. Deutschland ist bunter geworden in den vergangenen Jahrzehnten, aber es gibt immer noch genügend gesellschaftliche Gruppen, die sich in den Angeboten der Medien nicht wiederfinden. Dazu müssen die Öffentlich-Rechtlichen Vielfalt nicht nur aus der Beobachterperspektive abbilden, sie müssen sie auch leben – und zwar bis hinauf in die Chefetagen. Diversität ist dabei vielschichtig zu verstehen. Sie reicht von Geschlechtergerechtigkeit und der Repräsentation verschiedener Gruppen bis zur politischen Vielfalt. Die Sender müssen vor allem auch dort präsent sein, wo es sich für private Anbieter nicht lohnt. Das trifft auch auf Regionen zu, die von Lokalzeitungen vernachlässigt werden. Deutschland hat zwar eine deutlich gesündere Regionalpresse als so manch anderes Land. Das könnte sich aber bei fehlender Innovationsfreude und unter wachsendem Kostendruck schnell ändern.

Öffentlich-rechtliche Medien müssen zudem ihre Erfolgskontrolle deutlich ausbauen. Während die meisten Verlage sich mittlerweile daran gewöhnt haben, den Gewohnheiten ihrer Nutzer nachzuspüren, messen die Sender viel seltener, ob sie ihre Ziele erreichen – wenn sie sich überhaupt welche setzen. Was der Öffentlich-Rechtliche gerne mit seinem journalistischen Auftrag begründet, ist oft nur Nachlässigkeit. In der Privatwirtschaft hat man eines viel früher verstanden (wenngleich nicht überall): Veränderungen geschehen nicht von selbst, man muss sie managen. 

Mehr Erfolgskontrolle

Solch eine Erfolgskontrolle ist vor allem dann wichtig, wenn es um die Frage geht, welche Angebote man getrost einstellen könnte. Beim „Stop doing“ gibt es allerdings immer drei Möglichkeiten: Dinge gar nicht mehr machen, Dinge anders machen, Dinge mit anderen gemeinsam machen. Vor allem letzteres geschieht bei den Öffentlich-Rechtlichen noch viel zu selten. Es ließe sich viel erreichen, wenn man Kräfte nicht nur national, sondern auch international bündeln würde. Es ist zum Beispiel unsinnig, wenn jeder kleine Sender jedes Format gänzlich neu entwickelt. Oft genügt es, Ideen anderer dem kulturellen Kontext anzupassen.

Gerade in Deutschland sollten die Sender und ihre Aufsichtsgremien Strukturreformen in Angriff nehmen statt im ewigen „Weiter so“ zu verharren. Sonst besteht die Gefahr, dass andere definieren, wie solche Reformen auszusehen haben. Dort, wo Macht und Einfluss verteilt werden, wird es individuelles Fehlverhalten immer geben. Die perfekte Aufsichtsstruktur, die jeden Fehltritt beleuchtet, kann es nicht geben. Aber je komplexer Hierarchien und Gremien sind, umso mehr Schlupflöcher gibt es und umso schwerer lassen sie sich kontrollieren. Schlanke Strukturen erleichtern Transparenz.

Die Sender werden aber nur dann stark bleiben, wenn sie auf Erfolge verweisen können. Dazu müssen sie Verbündete ihres Publikums bleiben und werden. Ob es um die Zukunft der Demokratie, die Lebensgrundlagen auf diesem Planeten, die öffentliche Gesundheit oder Krieg und Frieden geht: Es gibt ausreichend Themen, bei denen nur diejenigen Medien punkten können, die über Ressourcen, Werte und den festen Willen verfügen, im Dienst der Gesellschaft zu erklären, aufzuklären und zu debattieren – und dies nicht nur mit Wissen und Information, sondern auch mit Herz und Humor.  

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 14. September 2022. 

„Kirche und Staat“: Warum wir dringend über journalistische Werte reden müssen

Es klingt zunächst wie ein Widerspruch, wenn sich ausgerechnet ein PR-Mann so eindeutig positioniert: Dass ein Chefredakteur gleichzeitig Geschäftsführer sei, das ginge gar nicht, hatte Karsten Krogmann im Mai 2022 auf dem Forum Lokaljournalismus in Bremerhaven auf einem Podium gesagt. Nun ist Krogmann noch recht neu dort, wo die Branche gemeinhin „die andere Seite“ verortet. Er leitet die Pressearbeit für die Opferschutzorganisation Weißer Ring, bis 2020 war er preisgekrönter Chefreporter der Nordwest-Zeitung. Verlassen habe er den Verlag, weil der Journalismus zunehmend von wirtschaftlichen Zwängen geprägt werde. Das hatte er vor zwei Jahren bereits in einem Interview mit Kress Pro erläutert. 

Nun spielen beim Jobwechsel meist mehrere, auch sehr persönliche Gründe eine Rolle. Wenn man es für höchste Zeit hält, dass sich Journalisten Gedanken über das Geldverdienen machen, hört sich eine solche Klage zudem recht larmoyant an. Ist die Zahlungsbereitschaft für Journalismus nicht der beste Qualitätsausweis? Schließlich beweist doch der Abschluss eines Abos am ehesten, dass das Produktversprechen stimmt. Wahr ist aber auch: Über journalistische Unabhängigkeit, also genau das, was Journalismus von PR unterscheidet, wird in der Branche selten diskutiert.

Zwar gilt es bei den fortschrittlichen Vertretern des Fachs als ausgemacht, dass die strikte Trennung von Redaktion und Verlag in der digitalen Medienwelt nicht mehr funktionieren kann. Aber wo genau die neuen Grenzen verlaufen, was die roten Linien sind zwischen Marketing und inhaltlicher Überzeugungsarbeit, über Angebot und Verkaufe, darüber gibt es kaum Debatten.

Das „Kirche und Staat“-Prinzip stößt auf neue Herausforderungen

Nun war auch die alte Welt von „Kirche und Staat“ keine, in der nur Heilige die Geschäfte verwalteten. Grenzüberschreitungen gab und gibt es immer wieder. Die Konflikte um Dirk Ippen, der die Springer-Recherche seines Investigativ-Teams nicht veröffentlicht haben wollte und Zeit-Herausgeber Josef Joffe, der den befreundeten Banker Max Warburg vor Recherchen warnte, bestätigen das nur. Das alte Prinzip stößt aber auf neue Begebenheiten, die es herausfordern:

► Neu ist, dass Teams aus Marketing, Redaktion und Tech-Abteilung gemeinsam Produkte für bestimmte Zielgruppen entwickeln. 

► Neu ist, dass Redaktionen, die ihre Leser in Leitartikeln vor der Macht der Daten-Konzerne warnen, selbst eifrig Daten über ihre Kunden erheben um, deren Gewohnheiten und Vorlieben besser zu verstehen. 

► Neu ist, dass sich Medienhäuser nicht nur Innovationsprojekte und Weiterbildung von Google und Meta bezahlen lassen, sondern ihre Strukturen zunehmend so ausrichten, dass sie zu den Produkten der Tech-Konzerne passen. Felix Simon vom Oxford Internet Institute hat dies für einen jüngst veröffentlichten wissenschaftlichen Artikel für das Feld Künstliche Intelligenz untersucht (Transparenz-Hinweis: Alexandra hat mit Felix mehrfach publiziert). 

► Neu ist auch, dass eine Generation von Nutzerinnen und Nutzern heranwächst, für die Journalismus nur noch eine Spielart der Informationsvermittlung ist, weil Blogger, Influencer und auch die meisten Organisationen das Geschäft selbst recht professionell betreiben. Bezeichnend ist, dass zum Beispiel auch Karsten Krogmann für sich in Anspruch nimmt, beim Weißen Ring weiterhin Journalismus abzuliefern.  

Was also darf der Journalismus und was muss er sogar, um sich von allerlei Veröffentlichungskanälen abzugrenzen und seine Existenz zu legitimieren?

„Die journalistische Reinheitsrhetorik hat ausgedient.“

Aufklärung könnte man sich vom Pressekodex erhoffen, aber auch der ist in die Jahre gekommen. Zwar haben seine 16 Ziffern weiterhin Gültigkeit, aber der Alltag in modernen Redaktionen, der von all den genannten Konflikten geprägt ist, findet dort nur in Ansätzen Erwähnung. Außerdem war er schon immer ein selten erreichtes Ideal in einer Welt, in der sich Journalisten ihr Handwerk eher von ihren Vorgesetzten oder Kollegen abgeguckt haben, statt es von einer Regelsammlung abzuleiten.

Wichtig für die neue Welt ist: Die journalistische Reinheitsrhetorik hat ausgedient, in der auch immer der Anspruch auf Unfehlbarkeit mitgeschwungen hat. Man recherchiere, weil das Thema wichtig sei und veröffentliche, weil es die Allgemeinheit interessieren müsse – nicht etwa, weil man ein Interview angeboten bekommen oder eine Pressemitteilung gesichtet hatte, von einer Idee begeistert war, Lust auf eine spezielle Recherche oder Pressereise hatte oder einfach nur dem Chefredakteur gefallen wollte. Dass man die Unabhängigkeit der Redaktion von Verlagsinteressen früher mit Stolz vor sich hertragen konnte, hat auch dabei geholfen, so manch einen Beweggrund zu verschleiern. Wer behauptet, dass Clickbait eine Erfindung des Online-Journalismus ist, war nie beim Titeln dabei.   

Anstelle der Unabhängigkeit sollte Transparenz rücken

An die Stelle des mit breiter Brust verkündeten Ideals sollte deshalb größtmögliche Transparenz treten. Was weiß man, was weiß man nicht, welche Interessenkonflikte könnte es geben, wer zahlt für bestimmte Reisen oder Produkte, aber auch welche Nutzerdaten werden erhoben und wofür werden sie verwendet? Wohl kaum ein Leser wird all diese Informationen im Detail studieren, aber sie könnten geeignet sein, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Hier gibt jemand zu, dass er befangen ist und gewissen Zwängen unterliegt, aha. Die meisten Nutzer können Abhängigkeiten durchaus verstehen, wenn man sie ihnen erklärt, so wie sie dann auch verstehen werden, dass man bestimmte Quellen nicht offenlegen kann. 

Eine solche Offenheit würde Medienmarken vor allem von denjenigen abheben, die sie nicht bieten. Das sind zum Beispiel Influencer, die selten darüber Auskunft geben, wo die Produkte herstammen, die sie empfehlen und wie ihre Geschäftsmodelle funktionieren. Sie arbeiten nicht mit erarbeitetem Vertrauen, sondern mit Gefolgschaft. Die Investigativ-Recherche des Teams um  Jan Böhmermann zum Geschäftsgebaren des Influencers Fynn Kliemann dürfte einiges dafür getan haben, jungen Leuten das Prinzip Qualitätsjournalismus näherzubringen. 

Initiativen wie die Journalism Trust Initiative zertifizieren Redaktionen danach, wie sie Qualitätsstandards einhalten. Wer nachweist, das Vier-Augen-Prinzip anzuwenden, Fakten zu checken oder Videos zu verifizieren, macht sich glaubwürdig. Solche unabhängigen Audits sind auch für Medienhäuser empfehlenswert, die öffentlich-rechtlich strukturiert sind. Statt zu viel kommerzieller Nähe wird ihnen oft Staatsnähe vorgeworfen. Vertrauenswürdig ist, wer mit Beweisen dagegenhalten kann.

Aber darf ein Geschäftsführer oder Eigentümer gleichzeitig Geschäftsführer sein? Auch hier ist die Antwort: Es kommt darauf an. So wie es manch einem Chefredakteur an journalistischem Rückgrat mangelt, wirkt manch ein CEO als leidenschaftlicher Verleger. Wichtig ist, dass ethische Standards und die Kontrolle stimmen. Die Debatte über beides ist ausbaufähig. 

Diese Kolumne erschien zuerst bei Medieninsider am 25. Mai 2022. Alexandra schreibt dort monatlich zu aktuellen Themen der Branche.

 

Was Medien aus der Corona-Berichterstattung für den Klimajournalismus lernen können

Viele Redaktionen hatten es schon geahnt, denn der große Zuspruch ihres Publikums muss etwas bedeutet haben: Die Medien-Nutzer haben der Corona-Berichterstattung im ersten Jahr der Pandemie ein überwiegend gutes Zeugnis ausgestellt. Dies geht aus einer umfangreichen, gemeinsamen Studie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Ludwig-Maximilians-Universität München hervor, die von der Rudolf-Augstein-Stiftung beauftragt und Ende 2021 vorgestellt wurde.

Verständlich, vollständig, glaubwürdig, sachlich – zwischen 60 und 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger schätzten die Corona-Berichterstattung jeweils so ein, nur maximal 20 Prozent outeten sich in der einen oder anderen Kategorie als unzufrieden. Waren bislang vor allem Kritiker durchgedrungen, die den Medien zu viel Regierungsnähe und Einseitigkeit vorgeworfen hatten, kam die Berichterstattung sogar in Sachen Vielfalt der Perspektiven recht gut weg.

Nach allerlei schlagzeilenträchtigem Getöse („Medien haben in der Pandemie versagt!“) kann man für eine so sachliche Annäherung dankbar sein, die nicht nur auf Befragungen, sondern auch auf einer Inhaltsanalyse der tatsächlichen Berichterstattung basiert und auf 60 Seiten ausgewertet wird. Die Ergebnisse entsprechen auch den deutlich gestiegenen Vertrauenswerten, über die sich Medien weltweit im Vergleich zum Vorjahr freuen konnten. Sowohl der Digital News Report aus Oxford als auch andere Untersuchungen wie das Edelman Trust Barometer hatten dies den Nachrichtenmachern attestiert – allen voran den öffentlich-rechtlichen Sendern und den Regionalmedien. Medienmacher sollten es sich dennoch nicht zu gemütlich machen, denn die Untersuchung legt auch einige Schwächen des Journalismus offen. Gerade mit Blick auf die Berichterstattung zum Klimawandel und dem Ringen um Lösungen wäre es fahrlässig, daran nicht zu arbeiten.

Hier sind fünf Studienerkenntnisse, aus denen Journalisten lernen können

Erstens: Journalismus fokussiert sich zu eng auf bestimmte Funktionsträger

Dass Journalisten im Übermaß Politikern an den Lippen hängen, ist eine altbekannte Schwäche der Branche, die sich aus dem Einfluss der Politik-Redaktionen in der internen Hackordnung der meisten Häuser erklärt. In der Pandemie war das nicht anders. Allerdings hatten sich die Scheinwerfer nun zusätzlich auf Wissenschaftler gerichtet. Wie die Studie ermittelt hat, kamen allerdings vor allem Mediziner zu Wort, seltener – aber dafür im Einzelfall prominent – Virologen. Forscherinnen und Forscher anderer Disziplinen wurden hingegen kaum zu Rate gezogen. Dabei haben sich die Maßnahmen im Kampf gegen die Seuche – vom Ladenschließungen und Fernunterricht bis Ausgangssperren – auf weite Teile des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens ausgewirkt. Hierzu hätte nach der Datenlage durchaus mehr Forschung und weniger Mutmaßung geliefert werden können. Beim Thema Klimawandel läuft die Branche in eine ähnliche Situation hinein. Werden allein Klimaexperten um Einschätzungen gebeten, werden der Bevölkerung viele Fakten vorenthalten, die sich aus der Klimaschutzpolitik ergeben und ergeben werden. Wenn sich Menschen eine Meinung bilden sollen, brauchen sie viele fundierte Perspektiven. Und auch der Klimaschutz wird in praktisch jeden Lebensbereich eingreifen.  

Zweitens: Wenn es zu kompliziert wird, steigen viele Journalisten aus – vor allem bei naturwissenschaftlichen Zusammenhängen

Die Berichterstattung hat sich nach den Erkenntnissen der Forscher relativ wenig darum bemüht zu erklären, wie das Virus wirkt, sich verbreitet und was es im Körper anrichtet, zum Beispiel auch im Vergleich mit dem Grippevirus. Der Auswertung zufolge ging es viel häufiger um Fallzahlen, Handlungsempfehlungen und politische Maßnahmen. Das wundert kaum, denn die wenigsten Journalisten verfügen über ausreichendes naturwissenschaftliches Grundwissen. Sie können Entwicklungen häufig nicht einordnen oder vermeiden es – zumal sich das Wissen über das Virus im Fall Covid auch erst entwickelt hat. Beim Klimaschutz gibt es ein ähnliches Problem. Der Journalist Wolfgang Blau, der jüngst das Oxford Climate Journalism Network mitgegründet hat, betont wieder und wieder, wie wichtig eine Grundbildung zum Thema Klima für Journalisten aller Disziplinen ist. Manch einem Reporter mag das zu kompliziert oder anstrengend sein, aber wer mehr machen möchte als den klassischen „der hat gesagt …, die hat gesagt …“-Journalismus, kommt darum nicht herum.

Drittens, Statistiken werden oft phantasielos aufbereitet

In vielen Redaktionen sind die Kenntnisse in diesem Fach unterentwickelt, und das wirkt sich auf die Aussagekraft und Vielfalt der Berichterstattung aus. Zwar kam kaum ein Medium in der Pandemie ohne die Kurve der Fallzahlen oder Inzidenzen aus, aber vergleichende Analysen gab es der Studie zufolge eher selten. Auch die Folgen zum Beispiel für das Wirtschaftsleben hätte man gut mit Grafiken oder Statistiken aufbereiten können, zum Beispiel in Relation zu anderen Wirtschafts-Schocks wie der Lehman-Brothers-Pleite 2008. Auch beim Thema Klimawandel und den Auswirkungen entsprechender Politik müssen Redaktionen Einordnung bieten, die über das Erwartbare hinaus gehen. Menschen möchten zum Beispiel wissen, welche persönliche Einschränkung wie viel zum Klimaschutz beiträgt, ob der Verzicht auf Fleisch, Autofahrten oder Flüge mehr bringt. Viele Bürgerinnen und Bürger sind durchaus bereit, ihren Teil zu leisten. Nur dazu müssen sie es verstehen. Journalisten sollten dazu nicht nur selbst Statistiken lesen, sondern es anderen auch vermitteln können. Hier ist vor allem die Journalisten Aus- und Weiterbildung gefragt.

Viertens, das Volumen der Berichterstattung hat oft wenig mit der Bedrohungslage zu tun

Es ist eine Stärke und Schwäche des Journalismus, dass er sich stets auf das Neue fokussiert. Dies hat den Daten zufolge in der Corona-Pandemie dazu geführt, dass in der ersten Welle mehr berichtet wurde als in der zweiten, obwohl die Zahlen der Erkrankten und Toten später weit höher lagen. Offenbar hatten Vorwürfe, die Berichterstattung sei hysterisch (in der ersten Welle erhoben von 30 Prozent der Befragten) ihre Spuren hinterlassen. In der zweiten Welle kam nur noch ein Fünftel mit diesem Vorwurf. Die hohe Schlagzahl im April 2020 war allerdings auch davon geprägt, dass in der ersten Welle das gesellschaftliche Leben praktisch zum Erliegen gekommen war. Fast jeder Journalist wurde damals zum Corona-Reporter, wollte er nicht untätig daheim sitzen. Für das Thema Klimaschutz sind Abnutzungseffekte ein noch größeres Problem. Denn weder das Phänomen selbst noch viele der Lösungen haben großen Neuigkeitswert, wenn nicht gerade Brände, Überschwemmungen oder spektakulär schmelzende Gletscher Aufmerksamkeit schaffen. Es wird eine Kunst sein, das Thema dem Ernst der Lage angemessen mit immer neuen, interessanten und lehrreichen Facetten abzudecken. Außerdem gilt, was Kommunikationsstrategen schon immer empfohlen haben: „Sag es, sag es wieder, und sag es dann noch einmal.“ Wiederholungen mögen Journalisten langweilen, das Publikum braucht sie, um Dringlichkeit zu verstehen.

Fünftens, sachlich ist gut, emotional auch

Nahe an den Menschen zu sein, das heißt übrigens vor allem, sie ernst zu Die Studie hat dem Journalismus in der Pandemie eine große Sachlichkeit attestiert. Mit dem Fortschreiten der Seuche habe die Berichterstattung immer stärker auf Statistiken zurückgegriffen als auf Einzelfälle, schreiben die Autoren: „Zu keinem Zeitpunkt überwogen emotionale Beiträge auch nur annähernd die sachlichen.“ Grundsätzlich sind die Medien damit ihrem Auftrag gerecht geworden, vor allem Fakten zu präsentieren. Allerdings brauchen Menschen Emotionen, um Empathie zu bilden. Eine einzige Geschichte über einen besonders geplagten Covid-Patienten bewegt womöglich mehr Menschen dazu, sich impfen zu lassen, als die bestgemachte Grafik zu Risiken und Nebenwirkungen. Redaktionen sollten dies beherzigen, auch für die Berichterstattung über den Zustand von Natur und Umwelt. Die klug aufbereitete Statistik appelliert an den Verstand, die packende Geschichte ans Gefühl. Um tätig zu werden, brauchen Menschen beides.

Diese Kolumne erschien zuerst am 10. November 2021 in Medieninsider. Dort publiziere ich regelmäßig, aktuelle Stücke lassen sich mit Abo lesen.     


Politik-Journalismus: Runter vom Schlachtfeld, rein ins Labor

Der politische Journalismus in Deutschland hat seine Sache im Bundestagswahlkampf gut gemacht. Das heißt auch: Er hätte einiges noch besser machen können. Es ist an der Zeit, rhetorisch ab- und inhaltlich umzurüsten. Denn es geht auch konstruktiv.

Die jüngste Bundestagswahl ist schon eine Weile her, die Medien sind lange weitergezogen. Was die Qualität der Berichterstattung darüber angeht, daran kann sich vermutlich kaum noch jemand erinnern, nur das Wort „Triell“ mag sich nachhaltig im deutschen Sprachgebrauch behaupten. Festhalten sollte man nur, dass der Journalismus insgesamt gut funktioniert hat. Denn trotz einer nach allgemeinem Bekunden wenig überzeugenden Auswahl an Kanzlerkandidaten war die Wahlbeteiligung leicht auf knapp 77 Prozent gestiegen. Man darf vermuten, dass dies ohne eine vielfältige und umfangreiche Medienberichterstattung nicht geschehen wäre.

Wettkampf ist das Salz des politischen Journalismus

Trotzdem kann sich auch der politische Journalismus weiterentwickeln, auch wenn das die Routiniers in den Parlamentsbüros ungerne hören. Denn wieder und wieder werden die alten Rezepte aus dem journalistischen Standard-Kochbuch nachgekocht. Dessen populärstes besagt: Wettkampf ist das Salz des politischen Journalismus. 

Wer liegt in den Umfragen vorn? Vor lauter Begeisterung für diese Frage, die nicht besser wird, je öfter man sie stellt, vergessen Journalistinnen und Journalisten gerne, dass die Antwort morgen schon wieder überholt sein dürfte. Sie unterschätzen auch, dass sie genau damit Ergebnisse beeinflussen. Es ist ein psychologischer Effekt, dass sich viele Menschen gerne auf die Seite der Sieger stellen oder als Unentschlossene eher der gefühlten Mehrheit folgen. Sprich: Ein bisschen weniger Triell hätte es auch getan. 

Der Personen-Themen-Kreisel

Das heißt nicht, jetzt einem anderen Ritual zu folgen: dem Personen-Themen-Kreisel, der sich vor allem in den sozialen Netzwerken oft schwindelerregend dreht. Geht es auf Twitter hart gegen eine Person zur Sache, muss man nur kurz warten, bis die erste fordert: Im Wahlkampf sollte es mal wieder um Themen gehen. Geht es um Themen, werden die natürlich mit Personen verknüpft, was andere wieder nach Themen rufen lässt. Fakt ist, dass Politik in den meisten Demokratien von Koalitionen verabschiedet wird, weshalb viele politische Programme nach der Regierungsbildung nur noch in Umrissen erkennbar sind. Das Wahlvolk hat also recht, wenn es sich im Vorhinein vor allem mit der Glaubwürdigkeit, Integrität und Kompetenz der Personen beschäftigt, denen es die Verantwortung für die Themen in die Hände legt.

Der beste Ausweis für Glaubwürdigkeit sind Taten, weshalb es Kandidatinnen und Kandidaten ohne Regierungserfahrung schwerer haben. Aber selbst dort, wo jemand schon länger gestalten kann oder könnte, schauen Reporterinnen und Reporter viel zu selten hin. Natürlich ist Journalismus der Sorte „der hat gesagt, die hat gesagt“ bequemer und deutlich billiger als Recherche. Großmäuler haben einen Vorteil, und womöglich färbt es sogar auf den Glanz des Korrespondenten ab, wenn er eine Regierungschefin oder einen prominenten Herausforderer vors Mikrofon bekommt.

Großmäuler gibt es schon bei YouTube und Instagram

Hingegen kann es sehr mühselig sein, in Team- und Kleinarbeit Fakten zusammenzutragen, und es fällt schlimmstenfalls noch nicht einmal auf: Trotz starker Recherche-Leistung der beteiligten Kollegen war es vielen Wählenden offenbar zu kompliziert, Olaf Scholz’ Rolle im Cum-Ex-Skandal zu durchdringen. Die durch die Pegasus-Recherche zutage geförderten verdeckten Immobilien-Geschäfte von Tschechiens Premier Andrej Babis waren da wohl leichter zu verstehen. Ihn hat die Arbeit von Journalisten seine Wiederwahl gekostet. Dabei sollte man das politische Personal an seinen Taten messen, was oft leichter ist, als es die Medien in schönster Herdenbewegung glauben machen. Gerade junge Menschen wünschen sich vom Journalismus mehr Perspektiven, Lösungen und Substanz. Großmäuler finden sie bei YouTube und Instagram schon zuhauf. 

Das Constructive Institute in Aarhus* hat kürzlich demonstriert, wie Wahldebatten auch konstruktiv ablaufen könnten. In dem Projekt „guter Kampf“ wurden zunächst 120 Journalisten aus ganz Dänemark darin geschult, wie man Wahlen konstruktiv begleiten könnte. Kandidaten lernten in Bootcamps konstruktive Debatten-Techniken. Der Test kam mit einer Wahlveranstaltung, zu der mit folgendem Text eingeladen wurde: 

„Mögen Sie Politik, aber haben sie das auch so satt, wenn sich Politiker anschreien und die Medien versuchen, immer die Konflikte zu betonen? Sie sind nicht allein. Vielleicht können wir gemeinsam testen, ob das anders gehen kann.“ 

Ulrik Haagerup, Gründer des Instituts und früher Chefredakteur im dänischen Fernsehen, war spürbar überrascht von der Reaktion. Nach nur wenigen Stunden sei die Veranstaltung ausverkauft gewesen. 530 Dänen seien zu einem Abend erschienen, der angefüllt mit Argumenten, Ideen und Heiterkeit gewesen sei. „92 Prozent der Besucher fanden es großartig. Die Kandiaten waren überrascht, dass sie über potenzielle Lösungen reden und Gedanken ihrer Gegner anerkennen konnten, ohne als Verlierer gebrandmarkt zu werden“, sagt Haagerup. Nicht verwunderlich, dass er in solchen Formaten die Zukunft des Journalismus sieht.

Menschen sind mehr als kühle Rechner

Nahe an den Menschen zu sein, das heißt übrigens vor allem, sie ernst zu nehmen und nicht zu unterschätzen. Journalisten versuchen dies oft recht unbeholfen. Die im Wahlkampf ewig wiederholte Frage „Was kostet das den Bürger?“ reduziert die Wählenden auf Gewinn-Maximierer, das wird ihnen nicht gerecht. Menschen sind mehr als kühle Rechner, im Guten wie im Schlechten. Spätestens das Brexit-Referendum hat gezeigt, dass Emotionen auf dem Soll und Haben ebenso viel wiegen können wie Geld auf dem Bankkonto.

Medien könnten nicht nur im sprachlichen Umgang mit Politikern, ähm, abrüsten und dann und wann kontrollieren, wie oft sie in Wahlkämpfen (sic!) Vokabular von Schlachtfeld und Sportplatz borgen statt zum Beispiel welches aus Werkstatt oder Labor. Auch die Kritik an der Konkurrenz fällt oft eine Spur schriller aus als angebracht. Die jeweils anderen hätten Annalena Baerbock ins Amt schreiben wollen, lautete ein häufiger Vorwurf im Bundestagswahlkampf, mit dem sich manch einer als gegen den Strom schwimmend gerieren wollte. 

Nun, spätestens die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten 2016 dürfte gezeigt haben, dass man Politiker nur sehr begrenzt hoch- oder runterschreiben kann. Wenn Menschen beginnen, Journalistinnen und Journalisten als Teil einer Elite zu betrachten, die den Kontakt zum Wahlvolk verloren hat, geht Parteinahme ziemlich sicher nach hinten los. Für jeglichen Journalismus gilt deshalb: Vorher zuhören ist besser als nachher wundern.

*Transparenz-Notiz: Alexandra Borchardt ist Board Mitglied der Constructive Foundation

Diese Kolumne erschien am 12. Oktober bei Medieninsider und wurde hier leicht angepasst. Mit einem Abo lassen sich dort auch aktuelle Kolumnen lesen. 

Was der Journalismus vom Joghurt lernen kann

Die Glaubwürdigkeit des Journalismus ist ein Dauerthema innerhalb der Branche. Ein Rezept für mehr Vertrauen: Transparenz. Doch wie viel davon ist uns wirklich recht? Vor allem im Umgang mit Quellen? Die Angabe von Inhaltsstoffen ist auf jedem Joghurt genauer als in den Medien.

Es wirkte fast so, als wollte sich Rezo noch im Nachhinein für den Nannen-Preis bedanken. Über 140 Quellen steckten in seinem jüngsten Aufschlag, twitterte er nach der Veröffentlichung im August. Das klang wie: Seht her, Leute, ich bin nicht der selbstverliebte Laberkopf, für den ihr mich haltet, meine Stücke sind gut recherchiert. Man erinnert sich: 2020 hatte es in der Branche längliche Diskussionen darüber gegeben, ob der Influencer die begehrte Journalisten-Auszeichnung tatsächlich verdient habe, wo er doch höchstwahrscheinlich noch nicht einmal die 16 Ziffern des Pressekodexes aufzählen könne. Und nun: 140 Quellen. 

Die Anerkennung der Kollegen hätte allerdings großzügiger ausfallen können. Jeder Journalist verwende immer ganz viele Quellen, twitterte einer zurück. Nur stelle man das halt nicht so heraus. Wirklich?

Reporter und Reporterinnen haben im Allgemeinen ein ähnliches Verhältnis zu ihren Quellen wie Annalena Baerbock es zur Verteidigung ihres Bestsellers „Jetzt“ beschrieben hat: Ist ja nur so ein Sachbuch und keine wissenschaftliche Arbeit.

Der Joghurt-Moment

Oft setzt sich auch die Bequemlichkeit gegenüber der mühseligen Recherche durch: Da fragt man für ein schwieriges Thema fix ein paar Leute aus dem Bekanntenkreis, musste halt schnell gehen. Und für die Fach-Auskunft wird der ewig gleiche Kumpel aus Studientagen angerufen. Der nimmt den Call zuverlässig an und ist zudem eloquent, warum also nicht? 

Darum nicht, fanden die Kolleginnen und Kollegen von France Televisions, als sie im Mai dieses Jahres das Projekt nosSources launchten. Chefredakteur Pascal Doucet-Bon hatte es vorangetrieben nach einem Erlebnis, das man einen Joghurt-Moment nennen könnte:

In Frankreich sei vor zwei Jahren diese große öffentliche Debatte über Vertrauen und die Medien geführt worden – die Zustimmungswerte waren im Zuge der Gelbwesten-Proteste drastisch eingebrochen. Eines Tages habe sich dieser Mann gemeldet und angemerkt, man solle sich nicht wundern, wenn Menschen dem Journalismus weniger vertrauten. Beim Einkauf im Supermarkt fände er auf jedem Produkt penibel genau Inhaltsstoffe und Nährwerte aufgelistet. Bei Nachrichten hingegen müsse er sich allein auf die Marke verlassen. „Er sagte mir: Leute, so läuft das nicht mehr“, erinnert sich Doucet-Bon. Wie sollten Leser den Journalisten trauen ohne die Möglichkeit, die Quellen zu überprüfen? „Es war mir etwas peinlich zuzugeben, dass er recht hatte. Jeder Joghurt kommt transparenter daher. Aber damals wusste ich nicht so recht, was wir tun könnten.“ 

Die Idee ließ ihn nicht mehr los. „Wir arbeiten mit dem Geld der Steuerzahler, sie haben ein Recht darauf, unsere Quellen zu kennen und zu beurteilen“, so Doucet-Bon. Aber wie lässt sich ein Joghurt-Label auf das Nachrichtengeschehen übertragen? Es brauchte einen Chefwechsel, viele Diskussionen und einiges an Vorbereitung, bis nosSources starten konnte.

Das Konzept ist simpel: In jedem von France Televisions digital publizierten Stück werden die Leserinnen und Leser nun eingeladen, die Quellen am Ende des Textes zu studieren. Sie finden Hinweise auf Infografiken, Studien und Informationen zu den Experten, die zitiert werden. „Das hat sich vor allem in der Impf-Debatte als wichtig erwiesen“, so Doucet-Bon. Denn gerade Impfgegner würden die Quellen systematisch durchforsten mit dem Hintergedanken, die Kompetenz und Unabhängigkeit von Wissenschaftlern und Ärzten in Frage zu stellen.

Eine klare Einordnung helfe beispielsweise dabei, nachzuvollziehen, wer welche Verbindungen zur Pharmaindustrie habe. „Natürlich geben wir keine vertraulichen Quellen preis. Und bei manchen Reportagen gibt es schlicht keine Quellen, wenn zum Beispiel jemand eine Nacht bei Obdachlosen verbringt“, sagt der Chefredakteur. Aber meistens geht es eben doch. 

Ob die Quellen-Transparenz das Vertrauen der Leserschaft in den französischen Marktführer bei digitalen Nachrichten erhöht, lässt sich noch nicht beurteilen. Tatsache ist: Die wenigsten Nutzerinnen und Nutzer klicken darauf. Für Doucet-Bon geht es aber nicht nur darum, Offenheit nach außen demonstrieren, sagt er: „Wir wollten auch, dass unsere Kollegen und Kolleginnen ihre Quellen bewusster wählen.“ Wie oft hätten Reporter zuvor einfach Umfragen anderer kopiert oder immer dieselben Experten befragt. Der Sender hoffe, seinen Journalismus mit dem Projekt zu verbessern. Selbst die Gewerkschaften schweigen ob des Mehraufwands – in Frankreich ein Zeichen stiller Zustimmung.

Allerdings haben sich noch nicht alle Redakteure, Reporterinnen und Kommentatoren mit den neuen Standards angefreundet. Einer von vier Journalisten mache nicht mit bei nosSources, so Doucet-Bon, „manche hoffen sicher, dass das wieder verschwinden wird“. Es dürften aber eher die sich verweigernden Kolleginnen und Kollegen sein, deren journalistische Sterne irgendwann verblassen werden. Denn in einer datengetriebenen Welt steigt der Anspruch der Konsumentinnen und Konsumenten, eben diesen Daten bei Bedarf auf den Grund gehen zu können. Der Aufschwung des Wissenschaftsjournalismus in der Pandemie hat gezeigt, dass die Nachfrage nach Belegen wächst. Ein beträchtlicher Teil des Publikums nimmt es nicht mehr kommentarlos hin, wenn faktenloses Geschwurbel damit begründet wird, dies sei nun einmal Feuilleton oder ein politischer Kommentar. 

Journalismus darf allerdings auch nicht ins Gegenteil abdriften, wie dies heute manch eine wissenschaftliche Arbeit tut. Aus Angst, eines Plagiats bezichtigt zu werden, belegen Studierende häufig jede noch so simple Aussage. Das Ergebnis wirkt häufig zaghaft und unentschieden.

Starker Journalismus bewahrt den Mut zum eigenen Gedanken. Statt des Joghurts funktioniert als Analogie womöglich eher das Curry: Das kann feurig und gehaltvoll schmecken und dennoch auf einem Rezept basieren, das sich nachkochen ließe – würde man es denn wollen. Vertrauen steigt nicht automatisch mit mehr Transparenz. Dies geschieht nur, wenn die Zutaten stimmen.      

Diese Kolumne erschien zuerst bei Medieninsider am 17. September 2021. Mit einem Abo kann man dort auch aktuelle Kolumnen lesen.   


Journalismus ist ohne Haltung undenkbar – Medien stecken dennoch in einem Dilemma

Neutralität, Haltung, Meinung: Auch wenn die eigentlich klar sind, sind die Übergänge im Journalismus oft fließend. Wie viel Haltung und Meinung braucht Journalismus, und wie neutral kann er sein? Die Fragen zu beantworten ist für keine Redaktion leicht – und die Nutzerschaft alles andere als eine Hilfe.

Man könnte der laufenden Debatte über Journalismus und Haltung einiges abgewinnen, würde sie sich nicht hinziehen wie ein Fußballspiel in der Verlängerung. Unter Medienschaffenden haben sich die Teams positioniert: Die einen klagen, der gute alte Journalismus à la Hanns Joachim Friedrichs (nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht einer guten) sei zum Haltungsjournalismus mutiert. Die anderen – überwiegend Jüngere – quälen ihre Vorgesetzten mit Thesen, die sie auch gerne als Master-Thesis einreichen: „Warum es Objektivität im Journalismus nicht gibt“. 

Die Adressaten der Mühen hingegen sind schwer zu durchschauen. In Umfragen wünscht sich das Publikum von Journalisten Neutralität, Ausgewogenheit und Fakten, als Leserinnen und Leser hingegen demonstrieren sie digital nachvollziehbar, dass sie Meinungsstücke durchaus schätzen. Wie lassen sich diese Widersprüche entwirren? Und wichtiger: Was bedeutet dies für Redaktionen?

Folgt man dem neuen Digital News Report, der vom Reuters Institute in Oxford erstellten weltweit größten fortlaufenden Befragung zum digitalen Nachrichtenkonsum, sieht die Sache zunächst eindeutig aus: 

► Ungefähr drei Viertel der 92.000 Befragten in 46 Ländern gaben zu Protokoll, die Medien sollten verschiedene Standpunkte abbilden und ihren Nutzern die Meinungsbildung selbst überlassen, in Deutschland waren es ähnlich wie im Vorjahr 77 Prozent. 

► Nur 15 Prozent (Deutschland: neun) sagten, Journalisten sollten klar Position beziehen. Auch jüngere Befragte wünschten sich in großer Mehrheit Neutralität. Dies sollte für alle Themen gelten, wenngleich einige Teilnehmende sich für rote Linien aussprachen:

► Wo Menschen- oder Grundrechte tangiert seien – zum Beispiel beim Klimawandel, häuslicher Gewalt oder Rassismus – mache Unparteilichkeit keinen Sinn. 

So argumentierten vor allem jüngere Befragte und jene, die sich politisch eher links verorteten. Allerdings riefen auch sie nicht nach dem flammenden Leitartikel: Journalisten sollten in solchen Fällen eher Experten Raum lassen und nicht selbst argumentieren. 

Die Idealvorstellung vom Journalismus als Schiedsrichter beißt sich mit den Nutzungsgewohnheiten des Publikums. In Fokusgruppen gaben die Teilnehmenden nämlich auch eine heimliche Vorliebe für parteiliche Beiträge zu. Sie fühlten sich davon besser unterhalten und emotional angesprochen. Dies erklärt auch die Begeisterung für Podcasts, die von der Subjektivität und Persönlichkeit ihrer Gastgeber leben und für sehr persönliche Essays, die manch ein gestandener Reporter als Befindlichkeits-Journalismus abtut. 

Die Krux ist: Nach Ansicht der Nutzerinnen und Nutzer sollten sich die klassischen Medien aus diesen Genres eher heraushalten. Persönlich gefärbte Inhalte und Meinungen finden sie schließlich ausreichend in den sozialen Netzwerken, Journalismus brauchen sie für die Fakten.

Das besondere Dilemma der privaten Medien

Vor allem privatwirtschaftlich operierende Medienhäuser befinden sich mitten in einem Dilemma: Sie leben zunehmend vom Verkauf von Digital-Abos. Und jeder mit etwas Verständnis für Marketing und Konsumgewohnheiten weiß: Menschen entscheiden sich eher emotional als rational für einen Kauf. Sie zahlen für ein Erlebnis, für ein Gefühl von Zugehörigkeit oder gutem Gewissen, für ein Produkt, das ihnen Mehrwert liefert. Die nackten, neutralen oft auch unbequemen Fakten verkaufen sich nicht. Laut Digital News Report liegt die Zahlungsbereitschaft für digitalen Journalismus weltweit bei etwa 15 Prozent, in Deutschland mag nicht einmal jeder Zehnte dafür Geld ausgeben.

Sehr oft abonnieren Menschen ein Medienprodukt, weil sie sich politisch damit identifizieren. Sie setzen eine gewissen Parteilichkeit voraus und nehmen „ihrem“ Medium Abweichungen nach der einen oder anderen Seite übel. Redaktionen wissen das. Die Schweizer NZZ zum Beispiel wirbt bei ihrer Deutschland-Expansion zwar mit „nüchtern, sachlich, unabhängig“. Aber man muss nicht lange lesen, um zu erkennen, dass sie den Nutzerinnen und Nutzern unter dem Mantel der Neutralität eine Alternative rechts der gefühlten journalistischen Mehrheitsmeinung bieten will. Ein ordentlicher Schuss Meinung gehört für viele Medienmarken zur Überlebens-, sogar zur Wachstums-Strategie.

Die öffentlich-rechtlichen Sender können dem hehren Ideal der Neutralität zwar eher folgen. So bietet Schwedens Sveriges Radio schlicht keine Kommentare an, Intendantin Cilla Benkö steht für diese harte Linie. Die BBC hat ihre ohnehin seitenfüllenden Grundsätze zur Neutralität noch einmal verschärft. Aber auch bei den Bastionen des überparteilichen Journalismus stößt das Konzept an Grenzen, wenn es um das Binden junger Menschen an die alten Marken geht. 

Für viele junge Leute sind bestimmte Themen nicht verhandelbar. „Both sides journalism“ funktioniere nur dort, wo die andere Seite Positionen vertrete, die mit Grund- und Menschenrechten vereinbar seien, argumentieren sie. Und genau an dieser empfindlichen Stelle fängt die Schwierigkeit an. Wo liegt die Grenze zwischen einer Meinung, die zur Debatte stehen kann, und einer Haltung, die per Definition eine stabile Ausrichtung erfordert? 

Konsens und kleinster gemeinsamer Nenner einer unverrückbaren Haltung sollte das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung inklusive Meinungs- und Pressefreiheit sein. Journalisten, die dies zur Verhandlungsmasse machen und zum Beispiel erklärten Demokratie-Gegnern eine Bühne bieten, sägen an dem Ast, auf dem sie sitzen. Journalismus braucht ein Mindestmaß an Haltung, wenn er sich so nennen möchte. 

Es braucht innerhalb von Redaktionen eine neue Haltungsdebatte

Aber selbst an diesem Punkt fängt das Gezerre an. Wie viel Meinung darf wer wo verbreiten, und hat jeder das Recht auf ein Megafon für jeden Blödsinn? Wie sieht es bei anderen großen Themen wie Klimaschutz oder Rassismus aus? Wo kollidieren Meinungsfreiheit und das unveräußerliche Recht auf Menschenwürde? Die Antworten variieren je nachdem, wen man fragt. Geht es um den Erhalt der Lebensgrundlagen auf dem Planeten, ist das Ob in den meisten Redaktionen erst kürzlich zur unverrückbaren Haltung geworden, das Wie hingegen bleibt verhandelbar. Es hilft nichts, über all das müssen Redaktionen diskutieren.

Jede Journalistin, jeder Journalist braucht eine Haltung: ein Bekenntnis zur Suche nach Fakten, zu Unabhängigkeit, zu Grundrechten, zur Demokratie. Das hat etwas mit Werten zu tun, nicht mit Aktivismus. Wie sollten sie auch sonst einen guten Job machen in einem Umfeld, in dem es vielen Meinungen und Interessen zu widerstehen gilt, sei es aus der Wirtschaft, der Politik oder der eigenen Chefetage. Kolleginnen und Kollegen in Osteuropa hätten derzeit besonders viel zu dieser Debatte beizutragen.

Ganz anders sieht es mit Meinungen aus. Natürlich darf jeder Medienschaffende eine haben. Aber wer sie äußert, sollte das deutlich kennzeichnen. So viel Dienstleistung muss sein. Diejenigen, die Subjektivität zum allgemeinen Credo erheben, sollten bedenken: Journalisten, die den Wunsch des Publikums nach Neutralität missachten, arbeiten kräftig daran, ihren Berufsstand überflüssig zu machen. Menschen brauchen geprüfte Fakten, unabhängige und verständlich aufbereitete Informationen, um gute Entscheidungen zu treffen. Sie suchen danach in den Medien, denn Gefühliges und Meinung finden sie in der großen digitalen Quatschbude überall. Den anderen, die den Untergang des Journalismus wie sie ihn kennen beobachten, sei gesagt, für Panik ist es zu früh. Das Vertrauen in Medien ist während der Pandemie in etlichen Ländern deutlich gestiegen. Der Journalismus hat in diesem langen Jahr gezeigt, was er kann.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 12. Juli 2021. Aktuelle Kolumnen und spannende News aus der Branche gibt es für Abonnenten. 


Warum Menschen Medien meiden – Fünf Gründe für News Avoidance

Medienverdrossenheit hat nicht immer etwas mit dem Glaubwürdigkeitsproblem der Medien zu tun. Es gibt eine Menge anderer Gründe, die beim Publikum zur News Avoidance führen – hier sind fünf davon.

Der Journalismus stecke in einer Vertrauenskrise. Diese Aussage darf in kaum einer Rede zur Lage der Medienbranche fehlen, und doch ist sie mittlerweile mehr Allgemeinplatz als empirisch belegt. Denn gerade während der Pandemie sind die Vertrauenswerte für journalistische Angebote zum Teil deutlich gestiegen, gerade in Deutschland. Etablierte Nachrichten-Marken schlagen dabei insbesondere das um Längen, was sonst auf digitalen Kanälen an Informationen verbreitet wird. Zwar radikalisiert sich eine kleine, medienfeindliche Minderheit erheblich, was das Leben für Reporterinnen und Reporter gefährlicher macht. Aber mit generellem Misstrauen hat das nichts zu tun. 

Was Medienschaffende dagegen wirklich umtreiben sollte, ist die Aufmerksamkeitskrise: Etwa jeder Dritte ignoriert das Nachrichtengeschehen, bei jungen Leuten in Deutschland ist es fast jeder Zweite. Für Redaktionen schlummern hier nicht nur erhebliche Möglichkeiten, zusätzliche Kunden (wieder) zu erreichen, womöglich mit einem veränderten Angebot. Medien müssen sich auch fragen, ob sie ihrer Rolle in der Demokratie noch gerecht werden, wenn sie zu vielen Menschen gar nicht mehr durchdringen.

Geht der Journalismus am Überdruss seines Publikums zugrunde? 

Forscherinnen und Forscher beschäftigen sich seit kurzem verstärkt mit den Gründen der News Avoidance. Auf dem jüngsten Jahrestreffen der International Communication Association, der weltweit wichtigsten Tagung der Kommunikationswissenschaftler, war sie eines der wichtigsten Themen. Aus den Erkenntnissen verschiedener Arbeiten leiten sich wertvolle Hinweise ab, nicht nur für Redaktionen, sondern auch für die Politik. Denn die Ursachen dafür, warum viele Menschen die Beschäftigung mit dem Tagesgeschehen für Zeitverschwendung, ja sogar für kontraproduktiv halten, sind nicht nur inhaltlicher und psychologischer, sondern auch struktureller Art. Hier sind fünf davon:

Erstens: Es gibt einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Qualität des Mediensystems und dem Phänomen der News Avoidance

In Ländern, in denen der Staat oder einflussreiche Personen stärker in Medien hineinregieren, wenden sich mehr Menschen von Journalismus ab. Dies haben Antonis Kalogeropoulos und Bejamin Toff in ihrem Paper „All the news that’s fit to ignore“ belegt und dafür von der ICA den Preis für den besten Fachartikel des Jahres 2020 bekommen. Dieses Nutzer-Verhalten ist nur rational. Denn wer vermutet, dass der Journalismus nicht unabhängig, sondern irgendwie gesteuert ist, wird sich davon wenig Wert und Aufklärung versprechen.

Pressefreiheit und ein gesundes, pluralistisches Mediensystem sind also die beste Voraussetzung dafür, dass sich Bürgerinnen und Bürger mit dem Geschehen in ihrem Land und der Welt beschäftigen.  

Zweitens: Frauen und die jüngeren Generationen vermeiden die Nachrichten überdurchschnittlich häufig

Das kann daran liegen, dass sie die Inhalte als nicht sonderlich relevant für ihr Leben betrachten oder sich vom vorherrschenden Ton nicht angesprochen fühlen. Beides ist nach wie vor von männlich-traditionell dominierten Redaktionen geprägt. Der Digital News Report 2019 hat diese beiden Mängel als größte inhaltliche Herausforderungen für den Journalismus identifiziert, auch unabhängig von Geschlecht oder Alter. Hinzu kommt noch die Masse an Informationen: Mehr ist nicht immer mehr wert. Gerade bei Frauen dürfte aber auch die höhere Arbeitsbelastung in Haus und Familie eine Rolle spielen. Meera Selva und Simge Andi haben dies für das Reuters Institute thematisiert. Für diese These spricht, dass das Geschlechterverhältnis bei der Podcast-Nutzung sehr ausgewogen ist. Hören kann man schließlich auch, während man kocht oder die Waschmaschine leert. Redaktionen sind deshalb gut beraten, sich mit den Lebensgewohnheiten und -verhältnissen verschiedener Zielgruppen auseinanderzusetzen, bevor sie entsprechende Inhalte und deren Ausspielwege und -zeiten planen.     

Drittens: Vielen Menschen macht Journalismus schlechte Laune.

Das gibt jeder Zweite an, der Nachrichten routinemäßig aus dem Weg geht. Die ständige Beschallung mit negativen Meldungen und Geschichten bedrückt viele dermaßen, dass sie sich ausgeliefert und ohnmächtig fühlen, sie wenden sich ab. Gerade in der Pandemie sollten sich Redaktionen deshalb überlegen, wieviel Raum sie den Details des politischen Streits einräumen. Konstruktiver und lösungsorientierter Journalismus scheinen dazu beizutragen, dass sich Menschen ihrer Möglichkeiten stärker bewusst werden, den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Diese Spielarten des Journalismus sind besonders in der jüngeren Generation beliebt, auch bei den Produzenten. Beim von der EU finanzierten Innovationswettbewerb Stars4Media – die Kolumnistin ist Jury-Mitglied – hatte ein großer Teil der eingereichten Projekte einen solchen Ansatz als Kern. 

Viertens: Bei den Inhalten existiert ein Missverhältnis zwischen Bedürfnissen und Interessen des Publikums und dem journalistischen Output

Journalismus definiert sich in erster Linie über den Politik-Journalismus, er ist die Königsklasse. Dies prägt die klassischen Nachrichtensendungen, die Qualitätsmedien und selbst den Boulevard. Wer im Journalismus Karriere machen will, orientiert sich daran. Politik ist „hard news“. Fragt man Nachrichtenmuffel danach, was sie trotzdem manchmal mögen, stehen andere Themen oben in der Präferenzen-Liste: Gesundheit, Lokales und Wissenschaft zum Beispiel. Stephanie Edgerly von der Northwestern University hat dies in ihrem kürzlich erschienenen Fachartikel „The head and heart of news avoidance” dargelegt. Sie hat außerdem herausgefunden, das Journalismus-Verweigerer oft weniger politisch interessiert aber auch weniger kompetent darin sind, journalistische Angebote zu nutzen. Redaktionen sollten also nicht nur ihre inhaltlichen Schwerpunkte überdenken, sondern auch die Nutzerfreundlichkeit erhöhen. Die Unterscheidung zwischen „hard news“ und „soft news“ sagt womöglich mehr über diejenigen aus, die sie geprägt haben als über journalistische Qualität. Oder möchte jemand ernsthaft behaupten, die x-te Politiker-Aussage im Streit um FFP2-Masken sei wichtiger als die Unwetter-Warnung für das Wochenende? Letztere hat vermutlich nicht nur eine höhere Einschaltquote, sondern auch konkreten Einfluss auf Verhalten und damit die Gefahrenlage.  

Fünftens: Menschen vermeiden Journalismus aus ganz unterschiedlichen Gründen, manche lassen sich beeinflussen, andere nicht

Kiki de Bruin und Kollegen von der Universität Amsterdam haben eine Typologie der Nachrichten-Muffel entwickelt. Sie kamen auf acht Charaktere: die Sensiblen, die unter schlechten Nachrichten leiden; die Misstrauischen, die Medien skeptisch gegenüber stehen; die Uninteressierten, die das Tagesgeschehen kalt lässt; die Spezialisten, die sich außerhalb ihres Hobbys für nichts interessieren; die Achtsamkeits-Anhänger, denen es vor allem um mentale Balance geht; die Eingespannten, die mit Job, Kindern und Haushalt genug anderes zu tun haben; die Hedonisten, die vor allem eigenen Genuss und Wohlbefinden im Sinn haben; und diejenigen, die Mediennutzung weder zuhause noch in der Schule gelernt haben.

Manche dieser Typen lassen sich mit bestimmten Angeboten locken, andere nicht, oder zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Allen darf man unterstellen, gute Gründe für ihre Ablehnung zu haben. Für Redaktionen empfiehlt es sich, erst einmal in ihrem eigenen Angebot nach den Ursachen zu suchen, statt über diejenigen zu urteilen, die dem Journalismus partout nichts abgewinnen können. Davon könnten tatsächlich beide Seiten profitieren. 

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 14. Juni 2021. Ich schreibe dort jeden Monat. Aktuelle Kolumnen und spannende News aus der Branche gibt es für Abonnenten. 


Keine Angst vor Fake News! – Warum Desinformation real ist aber Information trotzdem gewinnen wird

Zum Glück ist das Publikum nicht so dumm, wie manch ein Politiker denkt. Mehr als 50 Regierungschefs und Staatspräsidenten hätten innerhalb von fünf Jahren den Begriff „Fake News“ genutzt, um Pressefreiheit einzuschränken, hatte der Herausgeber der New York Times, A.G. Sulzberger, 2019 in einer Rede vor Studierenden gewettert. Die Medien lügen, behaupten jene Regierenden, nur: Die Bürgerinnen und Bürger glauben ihnen nicht. 40 Prozent der Befragten im Digital News Report von 2020, der weltweit größten fortlaufenden Studie zum Medienkonsum, gaben stattdessen ihre Einschätzung zu Protokoll, dass Politiker den meisten Unsinn erzählen. Nur etwa jeder zehnte denkt das über Journalisten. Zu einem ähnlichen Schluss kommt eine Studie der Misinformation Review der Harvard Kennedy School. In Europa befragte Teilnehmer nennen darin Politiker und Wirtschaftsgrößen als wichtigste Urheber von falschen Behauptungen, nicht etwa Troll-Farmen, Privatleute oder eben Medien. In Deutschland bescheinigte die Universität Mainz den Medien für das erste Corona-Jahr sogar den höchsten Vertrauenswert seit langem.

All dies offenbart: Seitdem Ex-US-Präsident Donald Trump und Konsorten „Fake News“ zum Kampfbegriff gemacht haben, enthält die Debatte darüber zuweilen mehr Sprengkraft als das Phänomen an sich. Einige Forscher warnen sogar vor „moralischer Panikmache“. Die Verbreitung falscher Behauptungen sei kein Massenphänomen. Wenige Akteure streuten viel davon, die Lügen hätten begrenzte Reichweite. Misinformation sei real, aber nicht so gefährlich für Demokratien, wie dies oft suggeriert werde, so Andreas Jungherr und Ralph Schroeder in einem Artikel für die Fachzeitschrift „Social Media + Society“.

Ein Grund zur Entwarnung ist dies nicht. Immerhin bieten die sozialen Netzwerke gewaltige Möglichkeiten, Lügen, verzerrte oder aus dem Zusammenhang gerissene Inhalte, falsche Behauptungen oder gefälschte Bild- und Ton-Dokumente zu skalieren. Außerdem reicht es, wenn sich eine kleine Minderheit um falsche Behauptungen herum radikalisiert oder ihnen folgt, wie beim Sturm auf das US-Parlament im Januar 2021 oder allerlei Anweisungen zum Umgang mit Covid 19. „Fake News“ können sehr reale und gefährliche Folgen haben. Die Angriffe auf Journalisten nehmen trotz guter Vertrauenswerte auch in Deutschland zu.

Traditionelle Medien sind allerdings nicht nur Opfer dieser Entwicklung, sie beteiligen sich auch daran. Gerne greifen sie besonders skurrile Inhalte auf und geben ihnen so Auftrieb, selbst wenn sie sie kritisieren oder richtigstellen. Eine Studie des Berkman Klein Centers für Internet und Gesellschaft in Harvard hat diesen Effekt eindrucksvoll belegt. Dabei haben Qualitätsmedien besondere Macht, denn die Algorithmen der Plattform-Konzerne priorisieren ihre Beiträge. Die richtige Balance zwischen Berichten und Weglassen zu finden, verlangt Redaktionen einiges ab.

Journalistinnen und Journalisten waren schon immer Fact Checker. Zu recherchieren, ob das, was Menschen und Institutionen mit Macht und Einfluss von sich geben, auch den Realitätstest besteht, gehört zu ihrem Handwerk wie die Suche nach der zweiten Quelle oder der Anruf bei beiden Parteien in einem Konflikt. Wittern Reporter PR oder Propaganda, machten sie sich vor Ort ein Bild, oft sprichwörtlich an der Front. Die Kamera kann ein gnadenloser Fakten-Kontrolleur sein.

Dank neuer Technik und Künstlicher Intelligenz haben viele Redaktionen beim Überprüfen ordentlich zugelegt. Nicht nur die Manipulatoren rüsten auf, auch die Kontrolleure. Medien tun das nicht nur für die eigenen Kunden. Selbst Konzerne wie Facebook oder Google sind angewiesen auf ihre Arbeit. Es gilt, Lügen so schnell wie möglich zu entlarven, um sie per Algorithmus zu dimmen, zu kennzeichnen oder bei Gefahr für Leib und Leben ganz zu sperren.       

Wissenschaftler debattiere allerdings darüber, ob Menschen ihre Annahmen ändern, wenn Lügen als solche ausgewiesen werden. Studien beobachten sogar einen „backfire effect“, bei dem Teilnehmer sich erst recht hinter ihren Positionen verschanzen, konfrontiert man sie mit gegenteiligen Aussagen. Forscher wie Brendan Nyhan widersprechen dem. Faktenchecks beeinflussten Menschen durchaus, aber der Effekt halte nicht lange, argumentiert er in einem Artikel für die US Akademie der Wissenschaften. Eine wirkungsvolle Strategie müsse deshalb bei den Eliten ansetzen, die Falschinformationen verbreiten.

Fakten zu checken war und ist eine zentrale Aufgabe des Journalismus, und die Vielzahl der Quellen und Verbreitungswege macht die Arbeit anspruchsvoller denn je. Aber es wäre ein Fehler, würden Redaktionen, ihre gesamte Energie in das Überprüfen von Inhalten anderer stecken. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, mit guten Recherchen zu relevanten Themen selbst die Agenda zu setzen, statt sich von Lügnern in abseitige Debatten treiben zu lassen. Sie machen diese damit nur größer, als es ihnen gebührt.

Dieser Text erschien in leicht verkürzter Form als Editorial eines Whitepapers der Deutschen Presse-Agentur dpa am 6. Juli 2021. 

Eine Checkliste für starken Journalismus

Die Frage, wie Qualitätsjournalismus definiert wird, ist keine einfache – schon gar nicht in Zeiten des digitalen Wandels. Genauso schwierig gestaltet sich dann die Kontrolle. Das sollte Redaktionen aber nicht davon abhalten, über Kriterien und Kontrollstandards zu diskutieren. Zehn Impulse, mit denen das gelingen kann.

Sicher, auch über die Substanz von Autos, Mänteln oder Möbelstücken kann man streiten: Ist das nun Qualität, oder doch eher nur gute Verpackung? Wer sich allerdings daran versucht, Qualitätsjournalismus zu definieren, sollte Zeit und Lust auf eine erhitzte Debatte mitbringen. Denn was die einen als große publizistische Leistung empfinden, ist für die anderen nichts als abgehobene Schwurbelei. Werden Inhalte mit einem Qualitätssiegel versehen, sagt so ein Prädikat oft mehr über die Bewertenden aus als über das Produkt. Manche betrachten es gar als Einfallstor für Zensur: Gelobt wird das, was politisch erwünscht ist.

Alternativ kann man den Prozess unter die Lupe zu nehmen, mit dem Journalismus erstellt wird. Werden Fakten überprüft, mehrere Quellen konsultiert, wie wird redigiert, wie wird Unabhängigkeit gewahrt? All das lässt sich leichter beurteilen als Faktoren wie Sprache, Themenwahl oder Ausgestaltung. Aber bei der Herangehensweise haben starke Medienmarken zwangsläufig die Nase vorn. Kurz: Es ist kompliziert.

Die Debatte um Qualität ist dennoch zentral, schon gar in einer Medienwelt, in der Algorithmen Inhalte auf- und abwerten und damit vorselektieren, wie viel Aufmerksamkeit ein Stück bekommt. Redaktionen tun deshalb gut daran, immer wieder Inventur zu machen: Wie stark ist unser Journalismus? Eine Checkliste mit zehn Punkten dürfte helfen:

1. Haben wir genug erklärt?

Wer sich informiert, will nicht nur Bescheid wissen. Er möchte wissen, warum er Bescheid wissen sollte. Journalismus muss immer einordnen, und er muss das immer wieder tun. Laut Digital News Report 2019 findet nur jeder zweite Nutzer, dass die Medien einen guten Job dabei machen, das aktuelle Geschehen zu erklären. Da ist Luft nach oben.

2. Setzen wir die Agenda?

Im täglichen Feuerwerk der Informationen und Zitate ist es allzu leicht, sich von anderen treiben zu lassen. Stimmt das, was dieser Politiker, jene CEO behauptet, oder ist das eine Falschinformation? Verifizieren ist wichtig, aber wer nur noch überprüft, was andere sagen, kann es leicht versäumen, eigene Themen zu setzen. Da gilt das in der Branche gerne genutzte Wort: Journalismus ist, über etwas zu berichten, das andere gerne verbergen würden.

3. Begeistern wir Nutzer mit Produkten, die ihnen helfen?

Die Erfolge von Apple, Amazon, Netflix und Co. sind nicht die Ergebnisse von klugem Marketing. Die Produkte und Plattformen überzeugen, weil sie einen Mehrwert bieten. Sie helfen dabei, alltägliche Probleme zu lösen. Welche Produkte können Medienhäuser entwickeln, die ihren Kundinnen und Kunden im Alltag helfen? Die Denke vom Nutzer her ist zentral, wenn man sich unverzichtbar machen will. 

4. Begeistern wir unsere Nutzer mit Themen, die sie berühren?

In der Welt der Überinformation dringen diejenigen durch, die Emotionen wecken, Menschen in ihrem Alltag abholen, bei ihren Sorgen, Freuden, Hoffnungen. Es ist ein schwerer Fehler, das Feld der Emotionen den Populisten zu überlassen, die bevorzugt in Schwarz oder Weiß malen. Menschen sind komplex und sie begreifen Komplexität – wenn man sie denn lässt.

5. Lassen wir andere zu Wort kommen?

Der Trend geht zum Kommentar, denn er ist billig. Recherche hingegen kostet Geld. Aber Kommentare gibt es überall. Beobachtung, Beschreibung, Einordnung, Gespräch, echte Analyse führen weiter. Zuhören ist der Schlüssel, oder genau hinschauen. Wenig überzeugt so schnell wie eine gute Datenreihe – und wenig macht so viel Mühe.  

6. Suchen wir Vielfalt und lassen sie zu?

Es ist ein Reflex, der nicht nur beim Besetzen von Talk-Shows funktioniert: Journalisten greifen bei der Recherche wieder und wieder auf dieselben Experten zurück. Ein Grund dafür ist, dass es funktioniert. Ein Christian Drosten schafft Vertrauen, die Medienmarke profitiert. Aber die Welt ist weit, die Perspektiven vielfältig. Das 50:50 Projekt der BBC hat gezeigt, wie ein bewussterer Umgang mit Quellen nicht nur Geschlechtergerechtigkeit vorantreiben, sondern auch das Publikum begeistern kann.

7. Bieten wir Perspektiven an?

Etwa ein Drittel aller Bürgeren vermeidet den Kontakt mit Nachrichten mittlerweile bewusst, die Tendenz ist steigend. Der Hauptgrund: Journalismus sei zu negativ, mache schlechte Laune, wecke Ohnmachtsgefühle. Die Alternative ist keine Weichzeichner-PR. Aber Menschen brauchen Perspektiven und Lösungen, das Stückchen Inspiration. Wie sind andere aus einem Dilemma gekommen, was funktioniert? Die Ansätze des Konstruktiven Journalismus können helfen. Wer seine Nutzeren in dunkle Szenarien hineinführt, muss sie auch wieder hinausbegleiten. 

8. Gehen wir transparent mit Wissen, Quellen und Meinung um?

Manchmal weiß man, dass man (noch) nicht viel weiß – die Pandemie erinnert einen täglich daran. Aber weiß unser Publikum auch, wo unsere Erkenntnisse enden und das informierte Raten beginnt? Je mehr wir die Menschen mitnehmen auf die Forschungsreise, umso weniger peinlich wird es, wenn wir uns korrigieren müssen. Ähnliches gilt für den Umgang mit Quellen und deren Interessen. Journalismus wäre unmöglich in kompletter Transparenz, es gelten Fürsorgepflicht und Quellenschutz. Aber unsere Nutzeren haben Klarheit darüber verdient, wie wir arbeiten und warum. 

9. Erheben wir Daten und lernen daraus?

Oft ist es die bequemere Lösung, den Journalismus in die Nähe von Kunst zu rücken, die vor allem im Auge des Betrachters wirkt. Oder man argumentiert mit der Mission, dem öffentlichen Interesse, der Wächterfunktion, wenn man ein Stück verteidigen möchte, das beim Publikum „nicht funktioniert“. Man kann aber auch nach Gründen forschen. Dabei helfen Daten. Daten können niemals alles belegen und schon gar nicht erklären. Aber es wäre fahrlässig, sie nicht zu nutzen, um die Bedürfnisse des Publikums zu ergründen. Der A/B-Test sollte eine geläufige Vokabel in jeder Redaktion sein.

10. Begegnen wir den Menschen auf Augenhöhe?

Noch nicht einmal ein Fünftel aller Nutzer findet, dass die Medien den richtigen Ton treffen. 39 Prozent gaben im Digital News Report 2019 sogar explizit zu Protokoll, dass sie dieser Aussage überhaupt nicht zustimmen. Zu negativ, zu belehrend, zu stark politisch eingefärbt – Beschwerden gibt es viele. Das Verhältnis zwischen Journalisten und ihrem Publikum ist komplex, auch weil das Bild auf beiden Seiten häufig von denjenigen dominiert wird, die sich selbst besonders wichtig nehmen. Mehr Gespräch und mehr Begegnungen bilden Vertrauen und stärken den Journalismus. Zugegeben, in Pandemie-Zeiten ist das noch leichter gesagt als getan. Aber auch ohne physischen Kontakt kann man Fragen stellen – und das in Frage stellen, was man schon immer unter Qualität verstanden hat. Es mögen sich daraus sogar ein paar neue Antworten ergeben.     

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 22. März 2021. Aktuelle Kolumnen und Neues aus der Branche sind mit einem Abo zu lesen.