Wiedervorlage für Chefredaktionen: ein Merkzettel (nicht nur zu Jahresbeginn)

Sich zum neuen Jahr eine Liste an Dingen vorzunehmen, ist zurecht etwas aus der Mode gekommen. Schließlich lehrt die Erfahrung, dass die wenigsten dieser Projekte den Januar überleben – und hätte man sie nicht längst in Angriff genommen, wenn sie einem wirklich wichtig wären? Eine Kolumne über Vorsätze zu schreiben, ist erst recht gewagt, denn Journalisten wollen in der Regel noch weniger belehrt werden, als sie das von ihrem Publikum annehmen. Deshalb veröffentlichen die meisten Branchen-Publikationen lieber Prognosen. Das klingt nach intellektuellem Mut, Weitblick und Fachkenntnis, und wenn es dann nicht klappt wie vorhergesagt, hat man sich halt geirrt. 

Anders als verpuffende Vorsätze hat das Irren keinen Beigeschmack von mangelnder Willenskraft. Allerdings gibt es ein paar Dauerbrenner in der Medienbranche, die – wenn schon nicht auf eine Vorsätze-Liste – wenigstens auf einen Merkzettel gehören, den leitende und leiten wollende Menschen in Redaktionen und Verlagen 2024 ab und an mit der Wirklichkeit abgleichen können. Hier sind ein paar Vorschläge:

Erstens: Immer an die Strategie denken

Egal ob es um künstliche Intelligenz geht, um inhaltliche Schwerpunkte, um Investitionen in Technik, Personal oder Plattformen: Die Zahl der Möglichkeiten übersteigt grundsätzlich jene der Projekte, die mit Blick auf die Ressourcen möglich und mit Blick auf die Zielgruppen nötig sind. Nur wer eine Strategie hat, kann sinnvoll sortieren und steuern. Eine solche Strategie beantwortet mindestens diese Fragen: Warum existiert meine Organisation? Für wen existiert sie? Wie erreichen wir ihre Ziele? Und: Wie messen wir Erfolg? 

Alle neuen Vorhaben sollten die Strategie stützen. Wer keine hat, läuft Gefahr, sich von Beratern oder selbsternannten Innovatoren sinnlose Investitionen aufschwatzen zu lassen, Erfolgsrezepte anderer ohne Blick auf die eigenen Besonderheiten zu kopieren, stets dem nächsten shiny new thing nachzujagen und damit alle an den Rand des Wahnsinns oder in die Kündigung zu treiben. 

Zweitens: Der KI-Hype ist real, aber KI ist es auch

Was künstliche Intelligenz angeht, kristallisieren sich derzeit grob gesagt drei Gruppen heraus: Die einen reiten auf der Höhe der Hype-Welle und prognostizieren das Ende des Journalismus, wie wir ihn kennen. Die vom anderen Extrem betrachten KI als Werkzeug zur Effizienzsteigerung, mehr nicht. Dazwischen gibt es jene pragmatischen Optimisten, die hoffnungsvoll, engagiert und dennoch besonnen experimentieren, das Ende des Hypes herbeisehnen und dabei heimlich hoffen, dass alles nicht so schlimm kommt, wie es Gruppe eins prognostiziert. 

In dem im Dezember erschienenen Reuters-Report Changing Newsrooms 2023, der auf einer nicht repräsentativen, internationalen Umfrage unter Medien-Führungskräften beruht, gab nur ein Fünftel der Befragten an, dass generative KI die Prozesse im Journalismus fundamental verändern wird, etwa drei Viertel prognostizierten keinen grundlegenden Wandel. Da erfahrungsgemäß nur besonders engagierte Manager auf solche Umfragen antworten, lässt sich aus diesem Ergebnis eine gewisse Lethargie ableiten, von der auf den entsprechenden Konferenzen, bei denen sich immer dieselben Spezialisten treffen, wenig ankommt. 

All jenen, die schon zu viele Hypes haben kommen und gehen sehen und erst einmal abwarten wollen, sei jedoch ans Herz gelegt, dass die auf großen Sprachmodellen (LLMs) basierende KI tatsächlich eine strukturverändernde Umwälzung ist. 

Überschwang hin oder her, wer jetzt nicht an Regeln zu Transparenz, Datenschutz, Copyright oder Bildbearbeitung arbeitet, bekommt die Geister, die sich gerade entwickeln, irgendwann nicht mehr in die Flasche zurück. Nach gegenwärtiger Faktenlage wird generative KI den Journalismus grundlegend verändern. 

Drittens: Weiterbildung kostet, keine Weiterbildung kostet mehr 

Die Digitalisierung und der damit verbundene Wandel von Verhalten und Präferenzen haben Redaktionen und Verlagen reihenweise Veränderungen abverlangt. Dennoch gibt es immer noch Kollegen, die diese Herausforderungen weiträumig umfahren. Spätestens der Einzug der KI wird dies unmöglich machen. Von der Investigativ-Reporterin bis zum Desk-Redakteur: Alle werden anders arbeiten müssen. Weiterbildung wird deshalb wichtiger denn je (dazu auch meine 2024 Prognose für das Nieman Lab). Der digitale Graben innerhalb von Redaktionen müsse geschlossen werden, sagt Anne Lagercrantz, Vize-Intendantin des schwedischen Fernsehens. Dabei geht es um mehr als um formelle Trainingsangebote. Ein Kulturwandel ist nötig. Medienhäuser müssen lernende Organisationen werden. Das klappt nicht per Anordnung von oben, als „Change a la Chef“. Es geht um ständiges Ausprobieren, Messen von Erfolgen, Reflektion, Nachsteuern. Kommen interdisziplinäre Teams in den Veränderungs-Rhythmus, kann das Spaß machen. Und sind die Selbsthilfe-Techniken erlernt, lassen sich teure Berater sparen.

Viertens: Mit Vielfalt allein lässt sich nicht viel erreichen

Es ist beschämend, aber nach Jahren der Diskussion gehört das Thema Vielfalt auch in diesem Jahr auf Wiedervorlage. Klar, es gibt erhebliche Fortschritte, vor allem bei den Karrierechancen für Frauen in Medienhäusern. In der bereits oben zitierten Studie des Reuters Institutes geben neun von zehn Medienmanagern an, ihr Haus mache bei der Gleichstellung der Geschlechter einen guten oder sehr guten Job. Etwas weniger Selbstbewusstsein zeigten die Führungskräfte, wenn es um andere Vielfaltskriterien geht, zum Beispiel ethnische, soziale oder politische Diversität. Aber in Wahrheit hat sich in vielen traditionellen Häusern noch nicht allzu viel gedreht, weder bei der Vielfalt in wichtigen Positionen noch bei der Ansprache des Publikums. Dabei ist die Breite und Tiefe der Perspektiven Voraussetzung für eine gelungene digitale Transformation, die Zielgruppen passgenau bedient. 

In Abgründe blicken lässt ein – zugegeben etwas beleidigter – im Dezember erschienener Essay des ehemaligen Meinungschefs der New York Times im Economist. Nach seiner Einschätzung hat die Unfähigkeit des Hauses, Vielfalt in der Führungsetage durchzusetzen, zu einer internen Polarisierung geführt, die ein breites Meinungsspektrum nicht mehr zulasse. Vielfalt kann eben nur nach außen wirken, wenn unterschiedliche Menschen intern wertschätzend miteinander umgehen, sich gegenseitig zuhören und einfach mal machen lassen.

Fünftens: Alle reden von Nutzerbedürfnissen, aber Schablonen funktionieren selten

Nachdem Kundenorientierung in anderen Branchen seit der Geburt der Marktwirtschaft Erfolg verspricht, haben das neuerdings auch Redaktionen verstanden. Nutzerbedürfnis-Modelle, maßgeblich entwickelt und vorangetrieben vom ehemaligen BBC-Mann Dmitry Shishkin, der künftig das internationale Geschäft von Ringier als CEO anführt, sind in Deutschland nicht zuletzt wegen des Drive Projekts der DPA und der Unternehmensberatung Schickler populär geworden. Es fällt allerdings auf, dass sich viele Redaktionen, die nun versuchen, ihr Angebot an den Bedürfnissen der Nutzenden auszurichten, immer noch streng am ursprünglichen BBC-Modell orientieren. Das ist in Ordnung, um von der Fixierung auf das mit Breaking News assoziierte Update me-Bedürfnis wegzukommen. Aber tatsächlich hat nicht nur jedes Medium eine ganz eigene Nutzerstruktur, sondern jede Zielgruppe tickt anders, jedes Ressort bedient verschiedene Bedürfnisse. 

Shishkin hat das Modell deshalb längst weiterentwickelt – und das sollten Redaktionen auch tun. Was brauchen die Leser, Hörer, Zuschauer wirklich von einer bestimmten Marke? Man könnte sie mal fragen – oder einfach im Alltag beim Lösen ihrer Probleme beobachten, wie dies der leider verstorbene Clayton Christensen schon 2012 vorgeschlagen hatte. Er hätte sich zum Beispiel kaum darüber gewundert, dass die NYT einen Teil ihres digitalen Erfolgs dem Verkauf von Kochrezepten verdankt.

Sechstens: Wer Klimajournalismus kann, kann Journalismus

Im Journalismus ist wohl wenig herausfordernder, als spannend, faktentreu, gut verständlich und anschaulich über alle Facetten des Klimawandels und die Lösung der damit verbundenen Probleme so zu berichten, dass das Publikum dabei bleibt. Dies liegt daran, dass das Thema sich langsam entwickelt, polarisiert, in vielen Menschen Schuldgefühle und deshalb Verdrängungsmechanismen auslöst. Das heißt aber auch: Wer dieses schwierige Fach beherrscht, dem kann man praktisch alle journalistischen Aufgaben zutrauen. So zumindest lautet das Fazit des EBU News Reports Climate Journalism That Works – Between Knowledge and Impact, der 2023 veröffentlicht wurde (ich war Lead Autorin). Der Klimajournalismus ist als Spielfeld geeignet, um sich mit Nutzerbedürfnissen zu befassen, Strategie zu entwickeln, mit neuen Formaten für diverse Zielgruppen zu experimentieren und aus Fehlern zu lernen. Aus diesem Grund lohnt sich die Investition. Am Ende des voraussichtlich wärmsten Jahres seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen kann man sagen: starker Klimajournalismus und Nachhaltigkeitsstrategien sind ein Muss für Medienhäuser und Filmproduktionen. Auch das Publikum erwartet das.                   

Siebtens: Dinge sein zu lassen ist ein Muss – immer 

Wer sich in diesem Text bis hierher vorgearbeitet hat, kann jetzt Erleichterung empfinden – oder das Gegenteil. Die Coaching- und Beratungspraxis zeigt: Stop doing, das strategische Ausmisten, Seinlassen, Herunterfahren von Aktivitäten gehört zu den größten Herausforderungen für viele Redaktionen und Verlage. Das liegt daran, dass überall Ideen und Innovationen gefeiert werden, das Abschaffen von liebgewonnenen Routinen und Praktiken aber eher Widerstand hervorruft oder schlechte Laune macht – die dann den Überbringer der Botschaft trifft. Denn viele Menschen beziehen ihren Status und damit ihre Sicherheit aus Aktivitäten, die streng genommen niemand mehr braucht. Deshalb lässt man sie stillschweigend weitermachen. Dabei ist Stop Doing wichtig. Es setzt Energien und Ressourcen frei, verleiht der Arbeit Fokus und stützt damit die Strategie. Strukturiertes Ausmisten verlangt, dass man die entsprechenden Mitarbeitenden und ihre Rollen versteht, um sie idealerweise in neue Aufgaben zu coachen. Preise gewinnt damit niemand. Aber nur wer Stop Doing beherrscht, kann beim Doing richtig glänzen.   

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 5. Januar 2024.

Zurück in die 90er: Warum sich auch Entscheider-Briefings mit Nutzerbedürfnissen beschäftigen sollten

Der Entscheider muss ein seltsames Wesen sein. Seine Diät ist einseitig, dafür aber reichhaltig. Er ist ein Mensch der Wörter, ja, er liebt das digital gewordene Blei. Er schätzt Verlässlichkeit, Überraschungen sind nicht sein Ding. Bescheid wissen über das Berufliche scheint sein Leben zu sein. Vermutlich ist er ein Mann. 

Dieser Eindruck kann beim Blick auf jene journalistischen Produkte entstehen, die speziell für die so genannten Entscheider aufgelegt sind und sich derzeit rasant verbreiten. Ihre Schöpfer treibt eine gemeinsame Motivation an: Sie betrachten den Entscheider als ein Wesen mit Geld.  

Das Newsletter-Menü von Table Media, das Hauptstadt Briefing von Pioneer Media, das neue Dossier der Süddeutschen Zeitung und das erwartete deutsche Politico: Es sind einige der einheimischen Kreationen, in denen Menschen wie Table-Gründer Sebastian Turner das womöglich einzige aus sich selbst heraus profitable Geschäftsmodell für Journalismus sehen: Fachleute erklären Fachleuten die Welt. Domänenkompetenz oder Deep Journalism nennt Turner das. Gemeinsam mit dem Journalistikprofessor Stephan Russ-Mohl hat der ehemalige Herausgeber des Tagesspiegels sogar ein Buch mit diesem Titel herausgegeben*. Gegen dessen Kernbotschaft, dass Journalisten etwas von der ihnen anvertrauten Materie verstehen sollten, kann man definitiv nichts einwenden. Aber es geht nicht um Einnahmen allein.

Problemfall Politikjournalist

Vor allem die um Berlin, Brüssel oder andere Machtzentren kreisenden Briefings werden erstellt von einer Spezies an Politikjournalisten, die zunehmend ungehalten auf kaum noch überhörbare Botschaften aus ihren Redaktionen reagieren. Deren Tenor: Viele ihrer Geschichten aus dem Inneren des Apparats begeistern zwar deren Protagonisten, bei gewöhnlichen Lesern lösen sie aber den gefürchteten Scroll-Reflex aus. Das heißt: Sie hangeln sich so lange an den Teasern entlang, bis sie etwas finden, das sie wirklich interessiert. Der Einzug der Metriken in die Inhalte-Steuerung hat vor allem eine Erkenntnis hervorgebracht: Der traditionelle politische Journalismus, vor allem jener der „die hat gesagt, der hat gesagt“-Variante interessiert das Publikum so wenig wie Ostereier im Advent. Er bringt selten Klicks und Abos ohnehin nicht. 

Neuerdings führen viele Häuser zudem so genannte User-Needs-Modelle ein. Und auch da kann der klassisch-informationsschwangere Politikjournalismus wenig glänzen. Erspart uns eure ewigen Updates, heißt es plötzlich vom Desk. Unsere Nutzer wollen mehr Erklärung, Unterhaltung, Inspiration, Emotion. Spätestens, wenn die Redaktionsleitung dann noch ein Seminar zum konstruktiven Journalismus besucht hat und gerne mehr Perspektive, Lösungen, gar Hoffnung herbeirecherchiert haben will, versteht der in Polarisierung geübte Politikjournalist die Welt nicht mehr. War er gestern noch die Nummer eins, segelte auch mal durch bis in die Chefredaktion, gilt er heute vielerorts als Problemfall, der umlernen muss.

Kein Wunder, dass die neuen Briefings Magnete für jene geworden sind, die sich in ihren Haupthäusern seltsam heimatlos vorkommen. Bei den Spezial-Newslettern darf man wieder „richtigen Journalismus“ machen. So sehen das wohl viele. Und so wirkt auch so manch ein Briefing wie eine Rolle rückwärts in den Journalismus der Neunzigerjahre. Man könnte auch sagen: Endlich wieder mehr FAZ wagen. 

Spätestens hier muss ein Disclaimer kommen: Natürlich ist es vollkommen richtig, sich über Zielgruppen Gedanken zu machen, es ist sogar zwingend. Und umso besser, wenn die angepeilten Zielgruppen auch zahlen können. Und selbstverständlich hat jedes der Briefings seine ganz eigenen Stärken und Schwächen. Aber der Journalismus hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weiterentwickelt, und das hat Gründe.

Ja, da war diese Digitalisierung. Aber damit einher ging auch die Erkenntnis, dass nicht alle (erfolgreichen) Menschen weiße, gebildete Männer sind. Und dass selbst weiße, gebildete Männer auch andere Bedürfnisse haben, als tagein, tagaus an den Lippen ihrer politischen Repräsentanten, CEOs, oder als solchen ausgewiesenen großen Denkern zu hängen. Sie sind Väter, Liebespartner, Hobby-Köche, Mountainbike-Fans und dabei umgeben von Frauen, deren Lebenswirklichkeit als Managerinnen, Richterinnen und Ingenieurinnen sie durchaus interessiert. Hinzu kommen all jene Kollegen mit Einwanderungsgeschichte, verschiedener sexueller Orientierung, körperlichen Beeinträchtigungen, die sich in dem tatsächlich schon früher an finanzkräftige Entscheider gerichteten Einheitsjournalismus nur höchst selten wiederfanden. All das hatte zur Folge, dass Medien vielfältiger geworden sind – nach innen und immer häufiger auch sichtbar nach außen.

Auch nicht der Entscheider lebt allein von Information

Nicht jedes Briefing hält da mit. Das ist nur konsequent, denn sein Ziel ist nicht Vielfalt sondern die Bubble. In der möchte man Wortführer werden, wie dies lange Zeit nur die Großen vom Schlage Financial Times oder FAZ gewesen sind. Man kennt sich, und man schreibt für diejenigen, die man kennt über das, was sie eigentlich schon kennen – nur vielleicht nicht im Detail. So ein Briefing wird dann zu einer Art Heimathafen, ein vertrauter Ort, an dem alles seinen Platz hat, wie früher in der Tageszeitung, als deren Welt noch in Ordnung war. Das kann ein Geschäftsmodell sein, auch wenn es zunehmend lebhaft werden dürfte im Hafen-Wettbewerb.

Doch Konzepte wie jenes der Domänenkompetenz verkennen: Der Mensch lebt nicht von Information allein – nicht einmal der Entscheider. Was das User-Needs-Modell für den allgemeinen Nutzer feststellt, gilt schließlich auch für jenen mit Bubble-Nähe. Er möchte Nachrichten, das schon. Aber womöglich plagen ihn Fragen, für die er Erklärungen sucht, Probleme, die gemanagt oder gelöst werden wollen. Und an dieser Stelle sind Journalisten nicht nur als Fakten-Rechercheure, sondern auch als Bedürfnis-Forscher gefragt. 

Brauchen die Adressaten wirklich den x-ten Terminkalender der Woche, oder interessiert sie womöglich mehr, wie sich ein Shitstorm verkraften, das Amt mit Familienaufgaben vereinbaren oder eine klare Wahlkampf-Botschaft formulieren lässt? Enthält der Newsletter genug frische Luft, sprich Ideen von außen, Köpfe jenseits des eingeschwungenen Zirkels? Ist er, ja, vielfältig genug? Schaut er auch mal über die Grenzen hinweg, beleuchtet Erfolgsgeschichten aus anderen Teilen der Welt? Gerade diejenigen, die neue Produkte entwickeln, müssen sich all den Themen stellen, die den Veränderungsgeist in Redaktionen beflügelt und so manch eine Verwerfung ausgelöst haben. Wer sich in alte Rituale flüchtet, wird irgendwann nur noch alt aussehen. Und das ist garantiert kein Geschäftsmodell.  

*Sebastian Turner, Stephan Russ-Mohl (Hrsg.) 2023, Deep Journalism – Domänenkompetenz als redaktioneller
Erfolgsfaktor, Herbert von Halem Verlag. Alexandra Borchardt hat einen Essay dazu beigetragen.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 28. November 2023

Vielfalt fordern, Einfalt meinen: Wenn Journalismus-Kritiker aneinander vorbeireden

Eines lässt sich mit ziemlicher Sicherheit behaupten: Das Angebot an Journalismus war noch nie so vielfältig wie heute. Man kann sich einerseits wie früher bei den großen oder lokalen Medienmarken informieren. Deren Inhalte gibt es aber nicht länger nur als lineare Sendung oder auf Papier, sondern auch auf Websites, manchmal bei YouTube, Instagram, TikTok, bei Spotify oder in der Mediathek. Zudem handeln die etablierten Nachrichtenmarken heute in einer Breite Themen ab, die es noch vor zehn Jahren an keinem Chefredakteur vorbei geschafft hätten. Vermutlich kommen heute selbst in der FAZ mehr Paartherapeuten als Parteiforscher zu Wort. Andererseits existieren unzählige Spezial-Angebote für diejenigen, die sich als Teil einer Gruppe oder mit einem Interessengebiet identifizieren – ob das junge Frauen sind, People of Colour, die queere Community, Politik-Junkies oder Menschen, die sich im Detail über Klima-Themen oder Geldanlage auf dem Laufenden halten wollen. Das Gründen im Journalismus ist einfach geworden (was nicht für das wirtschaftliche Überleben gilt). Und dennoch beklagen sich mindestens zwei Lager darüber, dass es den Medien an Vielfalt mangelt. 

Der Streit um die Vielfalt und seine beiden Lager 

Das ist einerseits die Fraktion, die Harald Welzer und Richard David Precht (Die Vierte Gewalt) applaudiert. Sie unterstellt insbesondere dem politischen Journalismus eine ideologische Einfalt, die sie irgendwo links von der Mitte und auf jeden Fall im grünen Milieu verortet. Sie beklagen: Die angebliche „Mehrheits-Meinung“ (nämlich ihre eigene) komme in den Medien nicht vor. Sie greifen vor allem den öffentlich-rechtlichen Rundfunk an, was man befremdlich finden kann, denn anders als bei kommerziellen Anbietern wird gerade dort penibel auf angemessene Redezeiten aller in den Parlamenten vertretenen Parteien geachtet. 

Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die etwas Ähnliches behaupten, aber etwas anderes meinen. Sie sagen: Redaktionelle Inhalte und Entscheidungen seien nach wie vor von einer Mehrheit weißer, gut ausgebildeter Männer, vielleicht auch ein paar Frauen geprägt. Menschen wie sie – schwarz, muslimisch, transsexuell, Arbeiterkinder, man ergänze – seien weder optisch noch inhaltlich so repräsentiert, dass es die Gesellschaft abbilde. Sie kämen höchstens als Objekte vor, die es zu sezieren gelte. Praktisch ist, dass auf diese Weise so gut wie jeder in den Chor der nach Vielfalt Rufenden einstimmen kann, was dem Anliegen eine gewisse Lautstärke verleiht. Allerdings ist es schon jetzt absehbar, dass kein Ergebnis alle zufriedenstellen wird. 

Was sind also die Fakten?

Eine Tagung des Instituts für Journalistik der Universität Dortmund um Michael Steinbrecher und Tobias Gostomzyk hatte im Sommer 2023 den Spagat versucht, die Debatte in ihrer gesamten Breite abzubilden und dazu einige Fachleute samt Forschung aufgefahren. Es ging sowohl um inhaltliche Vielfalt als auch um Vielfalt in Redaktionen und Gremien. 

Eine wichtige Erkenntnis in Sachen politische Vielfalt lieferte die Uni selbst in einer Studie aus ihrem Projekt Journalismus und Demokratie: Anhänger verschiedener Parteien finden, dass jeweils das andere politische Lager in den Medien überrepräsentiert ist. Im Kontrast dazu sehen sie sich und ihre Positionen zu wenig gespiegelt. Man könnte das als Hinweis auf eine gewisse Vielfalt deuten, denn schon als Journalist ahnt man, wenn sich gegensätzliche Seiten beklagen, hat man wohl etwas richtig gemacht. Trotzdem attestierten die Anhänger fast aller Parteien dem Journalismus eine verhältnismäßig hohe Glaubwürdigkeit. Allein diejenigen, die sich in der forsa-Umfrage als AFD-Sympathisanten bekannten, vertrauen den traditionellen Medien kaum, weshalb sie ihre Informationen eher aus anderen Quellen beziehen. 

38 Prozent der befragten Journalisten stehen den Grünen nahe 

Die Dortmund-Studie legt allerdings die Interpretation nahe, dass der politische Journalismus eine gewisse Schlagseite Richtung grüne Positionen haben könnte. Laut Michael Steinbrecher gaben 38 Prozent von 750 befragten Journalisten an, den Grünen nahezustehen. Es ist jedoch nicht belegt, ob und wie sich Parteipräferenzen in der Berichterstattung niederschlagen. Jeder vierte Befragte hatte zu Protokoll gegeben, sich mit keiner politischen Partei zu identifizieren.           

Die Journalismusforscherin Birgit Stark von der Johannes Gutenberg Universität Mainz präsentierte zudem eine Studie aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, in der sich die befragten Nutzer recht zufrieden mit der Vielfalt in den Medien äußerten. Die Forscher:innen hatten Themenvielfalt, Meinungsvielfalt und Akteursvielfalt in den öffentlich-rechtlichen Medien der drei Länder untersucht. Vor allem bei Themen und Meinungen sahen die Angesprochenen kaum Defizite in der Vielfalt. Wo also liegen die Probleme wirklich?

Die erdrückende Dominanz des politischen Journalismus 

Ein Grund, warum Menschen Journalismus oft als einseitig wahrnehmen, dürfte in der erdrückenden Dominanz des traditionellen politischen Journalismus liegen, der insbesondere die wichtigen Nachrichtensendungen prägt. Hier geht es häufiger um Zitate und Konflikte als um Fakten und Nutzwert, zu Wort kommen in erster Linie Funktionäre. Harald Welzer sprach bei der Tagung von „Politik-Politik-Journalismus“, also einer selbstreferentiellen Spielart des Fachs. Auch der Digital News Report von 2023 sieht Anzeichen dafür, dass diese Art von Journalismus Menschen in den Nachrichten-Überdruss treibt. „Das Nachrichten-Interesse rutscht ab“, bestätigte Juliane Leopold, Chefredakteurin Digital von ARD Aktuell auf der Tagung. Wer sich aber generell vom Journalismus abwendet, nimmt die gesamte Breite und Vielfalt des journalistischen Angebots nicht mehr wahr und verpasst wichtige Informationen und Debatten. 

Der Kommunikationswissenschaftler Christoph Neuberger von der FU Berlin warnte auf der Konferenz davor, nur auf die Angebotsvielfalt zu schauen. Es komme auf die Nutzungsvielfalt an, also darauf, dass der Journalismus auch die Breite der Gesellschaft erreicht. Hier haben viele Redaktionen Nachholbedarf, denn traditionell beschäftigen sich Journalisten viel mit ihren Inhalten, aber wenig oder gar nicht mit deren Wirkung auf diejenigen, für die sie gedacht sind. Es reicht nicht, Vielfalt zu produzieren, wenn sie die potenziellen Adressaten nicht erreicht. 

„News Outsider“ – wem der Journalismus nichts bedeutet 

Die Gründerin des Schibsted-Innovation Labs, Agnes Stenbom, hat den Begriff „News Outsider“ geprägt. Er beschreibt diejenigen, denen Journalismus nichts bedeutet. Sie finden, er sei für ihr Leben nicht relevant. Insbesondere junge Menschen aus sozialen Brennpunkten zählen dazu. Für sie sind Angebote auf den (Social Media-)Plattformen wichtig, auf denen sie sich bewegen. Und darin müssen natürlich Menschen vorkommen, mit denen sich diese Zielgruppen identifizieren können. Der Haken ist: Genau solche Formate, wie sie zum Beispiel bei Funk von ARD und ZDF zu finden sind, ärgern wiederum diejenigen, die in Talkshows gerne von mangelnder Medienvielfalt sprechen. Man könnte unterstellen, dass sich so manch einer dieser Kritiker eher eine Rückkehr zur Medienwelt von früher wünscht – als es so ein breiteres Angebot eben nicht gab.

Man sollte nicht vergessen, dass einige derjenigen, die den Medien einen Mangel an Meinungsvielfalt attestieren, politische Interessen damit verfolgen. Nicht erst seit den „Fake News Media“-Tiraden von Donald Trump ist klar, dass sich Politiker gerne Kritiker vom Hals schaffen, indem sie die gesamte Branche als unglaubwürdig diskreditieren. Wie Craig Robertson im Digital News Report belegt, setzen Politiker Medienkritik weltweit als Instrument ein, um Widerspruch zu ersticken und Rechercheure einzuschüchtern. Genau aus diesem Grund wird Forschung gebraucht, die Fakten zur Medienvielfalt liefert. Wer nur Gefühlslagen abbildet, dient damit gewollt oder ungewollt Interessen, die den unabhängigen Journalismus gezielt schwächen wollen.      

Durch tägliches Erleben wie auch durch Forschung nachgewiesen ist hingegen der Mangel an Vielfalt innerhalb der Redaktionen. Zahlreiche Publikationen zum Beispiel von den Neuen deutschen Medienmacher*innen oder dem Reuters Institute for the Study of Journalism in Oxford belegen, dass hier noch viel getan werden muss. Das reicht von der Einstellung und Förderung entsprechender Kandidat:innen über die Sensibilisierung von Führungskräften bis hin zum Kulturwandel. Nur in einer Umgebung, in der sich vielfältige Mitarbeiter:innen sicher fühlen, in der sie ihre Ideen als willkommen wahrnehmen, werden entsprechende Projekte gedeihen. 

Dabei geht es auch um Bedürfnisse von Menschen, die sich in keiner Statistik potenziell benachteiligter Gruppen finden. Schließlich stecken die urban und bildungsbürgerlich geprägten Redaktionen großer Medienmarken die Themenfelder entsprechend ab. Sven Gösmann, Chefredakteur der DPA,  gab auf der Konferenz zu bedenken, dass zum Beispiel die Berufsschule in der Berichterstattung deutscher Medien kaum stattfinde. Dafür habe man sich zeitweise überproportional mit Elektro-Rollern beschäftigt. Redaktionen, die die Gesellschaft nicht abbilden, werden dies auch in ihren Inhalten kaum schaffen. Damit riskieren sie aber nicht nur ihre Glaubwürdigkeit, sie verschenken auch wirtschaftliches Potenzial. Letztlich gefährden sie die Rolle des Journalismus in der Demokratie.

Diese Kolumne erschien zuerst bei Medieninsider am 27. Juli 2023. Aktuelle Kolumnen lesen Sie dort mit einem Abo.

Wo die wirklichen Probleme öffentlich-rechtlicher Medien liegen

Wer deutschen Medien Behäbigkeit vorwirft, täte etlichen von ihnen Unrecht – außer, es beträfe die Reflexion über die eigene Branche. Die Debatte um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist ein Beleg dafür. Man kann loben, dass Reporter der Sender daran arbeiten, Missstände in ihren eigenen Häusern aufzudecken. Damit belegen sie die redaktionelle Unabhängigkeit. Unglücklich ist aber, dass dazu erst ein Skandal wie der Machtmissbrauch beim RBB gebraucht wurde. Ohne nachrichtlichen Aufhänger fehlt vielen Journalisten offenbar der Anreiz, eine Debatte in Gang zu setzen. Die Tendenz, stets nur zu reagieren, statt Themen zu setzen, gehört zu den großen Problemen des gegenwärtigen Journalismus. Nicht nur führt dies zu der latenten, oft gescholtenen Kurzatmigkeit der Berichterstattung. Es bedeutet auch, dass andere den Rahmen für die Diskussion definieren – gerne wird dafür das Wort „Framing“ genutzt.

Die Debatte über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wabert deshalb nun als Diskussion um überzogene Gehälter, falsch verstandene Privilegien und politische Einflussnahme durchs Land. Das ist angesichts der Einzelfälle nötig, verdrängt aber eine Auseinandersetzung, die viel wichtiger wäre: Jene darüber, wie sich die Medien, die von den Bürgern finanziert werden und allen Menschen im Land dienen sollen, in der modernen Informations- und Unterhaltungslandschaft weiterhin unverzichtbar machen können.

Angriffe auf die Öffentlich-Rechtlichen kommen nämlich nicht nur von der politischen Rechten. Auch marktliberale Kräfte und so manch kommerziell geführtes Medienhaus sprechen den großen Sendern gerne ihre Existenzberechtigung ab. Sie argumentieren, dass private Anbieter in der digitalen Welt ausreichend entsprechende Angebote bereitstellen. Aber dies stimmt eben nur teilweise. Privat finanzierte Medien haben schließlich nur eine Metrik: kommerziellen Erfolg. Sie müssen weder alle gesellschaftlichen Gruppen ansprechen noch in der Fläche präsent sein. Auch können sie nicht dazu verpflichtet werden, heikle oder gar überlebenswichtige Themen anzusprechen, wie den Umgang mit dem Klimawandel. All diese Aufgaben fallen den Öffentlich-Rechtlichen zu. 

In der Regel honorieren die Bürger das. Wenn es um Medienvertrauen geht, attestieren Studien wie der Digital News Report des Reuters Instituts in Oxford den großen Sendern international Jahr um Jahr die höchsten Werte aller Anbieter, zumindest dort, wo sie vom Publikum als unabhängig wahrgenommen werden. In der Pandemie informierten sie sich besonders häufig bei den public service media – so der englische Begriff – , das Vertrauen stieg vielerorts deutlich. Und selbst junge Menschen, die sich überwiegend über die sozialen Netzwerke auf dem Laufenden halten, tun dies in Deutschland häufig beim Instagram- oder TikTok-Kanal der Tagesschau, weil sie dort Verlässlichkeit vermuten. Bislang zahlen die Bürger auch weit überwiegend ohne Murren die entsprechenden Gebühren oder Steuern, mit denen sich die Sender finanzieren. In der Schweiz sprachen sich 2018 in einem Referendum mehr als 70 Prozent der Abstimmenden für eine Beibehaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aus – die Sender hatten davor einige Reformen versprochen und nach eigenem Bekunden auch umgesetzt. 

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk braucht eine Vision

Mit so einem Vertrauensvorschuss lässt es sich leben. Wenn deutsche Journalisten wegen der RBB-Affäre nun ständig von der Krise des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sprechen, ist das verfrüht und eine Art Selbstgeißelung, die sich bei aller berechtigten Kritik nicht dazu eignet, den Tatendrang in Richtung Reformen auf Dauer anzuheizen. Dazu wird eine deutlich konkretere und engagierte Debatte gebraucht, die selbstbewusst thematisiert, welche Rolle der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Demokratien einnehmen und welche Aufgaben dazu dringend angepackt werden sollten. Gefragt ist eine Vision für ein öffentliches Medienangebot in der modernen, fragmentierten und zum Teil überversorgten Informationslandschaft. 

Am drängendsten werden Strategien dafür gebraucht, wie sich die Öffentlich-Rechtlichen auch für junge Generationen unverzichtbar machen. Sonst verlieren sie ihre Daseinsberechtigung und früher oder später auch die gesellschaftliche Unterstützung. Dafür müssen sie, es hilft nichts, in den sozialen Netzwerken sichtbar und attraktiv sein. Das ärgert die Verlage. Allerdings geben die meisten zu, dass junge Menschen unter 25 für sie einigermaßen uninteressant sind, weil sie eher selten Digital-Abos abschließen. Aber sie sind die Mediennutzer der Zukunft. Gewöhnt man sie nicht an guten Journalismus, werden sie die traditionellen Publikationen auch später links liegen lassen.

Ran an Mediennutzer von morgen

Außerdem müssen die Sender in jeglicher Beziehung mehr Vielfalt bieten. Deutschland ist bunter geworden in den vergangenen Jahrzehnten, aber es gibt immer noch genügend gesellschaftliche Gruppen, die sich in den Angeboten der Medien nicht wiederfinden. Dazu müssen die Öffentlich-Rechtlichen Vielfalt nicht nur aus der Beobachterperspektive abbilden, sie müssen sie auch leben – und zwar bis hinauf in die Chefetagen. Diversität ist dabei vielschichtig zu verstehen. Sie reicht von Geschlechtergerechtigkeit und der Repräsentation verschiedener Gruppen bis zur politischen Vielfalt. Die Sender müssen vor allem auch dort präsent sein, wo es sich für private Anbieter nicht lohnt. Das trifft auch auf Regionen zu, die von Lokalzeitungen vernachlässigt werden. Deutschland hat zwar eine deutlich gesündere Regionalpresse als so manch anderes Land. Das könnte sich aber bei fehlender Innovationsfreude und unter wachsendem Kostendruck schnell ändern.

Öffentlich-rechtliche Medien müssen zudem ihre Erfolgskontrolle deutlich ausbauen. Während die meisten Verlage sich mittlerweile daran gewöhnt haben, den Gewohnheiten ihrer Nutzer nachzuspüren, messen die Sender viel seltener, ob sie ihre Ziele erreichen – wenn sie sich überhaupt welche setzen. Was der Öffentlich-Rechtliche gerne mit seinem journalistischen Auftrag begründet, ist oft nur Nachlässigkeit. In der Privatwirtschaft hat man eines viel früher verstanden (wenngleich nicht überall): Veränderungen geschehen nicht von selbst, man muss sie managen. 

Mehr Erfolgskontrolle

Solch eine Erfolgskontrolle ist vor allem dann wichtig, wenn es um die Frage geht, welche Angebote man getrost einstellen könnte. Beim „Stop doing“ gibt es allerdings immer drei Möglichkeiten: Dinge gar nicht mehr machen, Dinge anders machen, Dinge mit anderen gemeinsam machen. Vor allem letzteres geschieht bei den Öffentlich-Rechtlichen noch viel zu selten. Es ließe sich viel erreichen, wenn man Kräfte nicht nur national, sondern auch international bündeln würde. Es ist zum Beispiel unsinnig, wenn jeder kleine Sender jedes Format gänzlich neu entwickelt. Oft genügt es, Ideen anderer dem kulturellen Kontext anzupassen.

Gerade in Deutschland sollten die Sender und ihre Aufsichtsgremien Strukturreformen in Angriff nehmen statt im ewigen „Weiter so“ zu verharren. Sonst besteht die Gefahr, dass andere definieren, wie solche Reformen auszusehen haben. Dort, wo Macht und Einfluss verteilt werden, wird es individuelles Fehlverhalten immer geben. Die perfekte Aufsichtsstruktur, die jeden Fehltritt beleuchtet, kann es nicht geben. Aber je komplexer Hierarchien und Gremien sind, umso mehr Schlupflöcher gibt es und umso schwerer lassen sie sich kontrollieren. Schlanke Strukturen erleichtern Transparenz.

Die Sender werden aber nur dann stark bleiben, wenn sie auf Erfolge verweisen können. Dazu müssen sie Verbündete ihres Publikums bleiben und werden. Ob es um die Zukunft der Demokratie, die Lebensgrundlagen auf diesem Planeten, die öffentliche Gesundheit oder Krieg und Frieden geht: Es gibt ausreichend Themen, bei denen nur diejenigen Medien punkten können, die über Ressourcen, Werte und den festen Willen verfügen, im Dienst der Gesellschaft zu erklären, aufzuklären und zu debattieren – und dies nicht nur mit Wissen und Information, sondern auch mit Herz und Humor.  

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 14. September 2022. 

Achtung, Chefredaktionen, jetzt geht es um Wirtschaft

Die Frage ist offen, ob der Wirtschaftsjournalismus die Welt je vor Schlimmem bewahrt hat. Schließlich konnte er weder die Dotcom-Blase zur Jahrtausendwende verhindern noch die Immobilienblase vom Platzen abhalten, die 2008 zur größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren geführt hatte. Auch der deutschen Wirtschaftsjournalismus hat stets vor allem in der Rückschau brilliert. Man bekam im Nachhinein ausführlich erklärt, warum Subprime-Immobilienkredite Teufelszeug sind, warum das mit dem Investment in die T-Aktie nichts werden konnte und wie der Betrügerkonzern Wirecard systematisch alle hinters Licht geführt und unzählige Menschen um Jobs und Ersparnisse gebracht hat. In diesem Fall war das besonders peinlich, weil sich die hiesige Zunft vor dessen Pleite mit breiter Brust vor den im Dax gelisteten Konzern und gegen einen einsamen Rechercheur der britischen Financial Times gestellt hatte. Sollte es so etwas wie Sternstunden des Journalismus geben, war dies eine besonders wolkenverhangene Nacht. 

Aber all das ist Zeug von gestern und sollte Ansporn sein, es besser zu machen. Denn – Achtung Chefredaktionen – was während der Pandemie der Wissenschaftsjournalismus war, wird demnächst der Wirtschaftsjournalismus sein. Der bedrohte Weltfrieden mit seinen Energie- und Verteilungskonflikten, die Inflation, der Klimawandel – all dies verlangt wirtschaftspolitischen und betriebswirtschaftlichen Sachverstand in Redaktionen. Anders gesagt: Eine neue Talente- und Investitionslücke tut sich auf. Jedes Medienhaus sollte hier nachlegen, für Gründer ergeben sich neue Chancen.

Aber was wird jetzt wichtig? In Deutschland hat der Wirtschaftsjournalismus mehrere Phasen durchlaufen.

Servierten Wirtschaftsteile jahrzehntelang vor allem gepflegte Langeweile für Eingeweihte, läuteten Zeitschriften wie das Manager Magazin in den 90ern die Zeit der Heldenverehrung ein (von Heldinnen erfuhr man lange nichts). Konzernchefs waren deren Rockstars, ihre Aufstiege und Niederlagen wurden gefeiert beziehungsweise genüsslich zelebriert. Was sie sagten, bedeutete Wahrheit.

Mit der New Economy traten um die Jahrtausendwende die jungen, ebenso männlichen Wilden auf die Bühnen, denen man ihre Stories nur zu gerne abkaufte. Auch Deutschland kann gründen, war die Botschaft – und viele Journalisten wurden gebraucht, um sie zu vermitteln. Wer damals als Reporter keinen Job fand, war selbst schuld. Allerdings stellte man fest, dass der frische Wind zwar viele Redaktionsbüros, noch nicht aber die Leser erreicht hatte.

In der Folge machte sich der Nutzwert-Journalismus in den Wirtschaftsteilen und -sendungen breit. Mit dem Einzug der Millennials in Unternehmen, Organisationen und Redaktionen begann eine neue Phase, die sich mit „meine Karriere und ich“ umschreiben ließe. Der Wirtschaftsjournalismus verbreiterte sich noch einmal, es ging um „New Work“, mobbende Chefs und allgemeine Lebensberatung, zunehmend kamen auch Frauen vor. 

In den sozialen Netzwerken, in denen sich die Ressorts bekanntlich auflösen, lassen sich heute die Reste von all dem besichtigen (mit Ausnahme der Langeweile, da reagieren Algorithmen allergisch). Nutzwert schreibt Abos, gutes Storytelling erhöht die Lesezeit, die Alpha-Männer kommen immer noch zu Wort, aber jetzt dürfen auch Expertinnen reden. Ergänzt wird das Ganze durch investigativen Wirtschaftsjournalismus, der oft in der Parallelwelt der Investigativ-Ressorts entsteht, und den Erklär- und Einordnungsjournalismus a la Brand Eins, der interdisziplinär und konzeptionell denkt. In der digitalen Häppchen-Welt ist das eine Herausforderung. Aber wie kann der Wirtschaftsjournalismus sich zum unverzichtbaren Begleiter in Krisenzeiten mausern? Hier sind sieben Strategien:

Der Funktionärsjournalismus gehört aufs Altenteil 

Schlagzeilen à la „So eine Katastrophe hat Deutschland noch nie gesehen“, die einen Verbands- oder Konzernchef wiedergeben, sollten kritisch überprüft werden. In Zeiten knapper Ressourcen ist schließlich jeder, der Verantwortung trägt, ein Chef-Lobbyist, der das Beste für den eigenen Laden herausholen muss. Das weckt – womöglich berechtigte – Ängste beim Publikum, lässt es aber damit allein. Auch im Wirtschaftsjournalismus ist viel mehr konstruktiver Journalismus gefragt, der erklärt und in Szenarien denkt. 

Erklärung und historische Einordnung ist Pflicht 

Hier fehlt es Wirtschaftsredaktionen jedoch zunehmend an Fachkräften. In den Redaktionen sind die Volks- und Betriebswirtschaftler oder Wirtschaftshistoriker den Allroundern gewichen, die schnell ein ordentliches Nutzwert-Stück zusammenschreiben können, denen aber oft Hintergrundwissen und Erfahrung fehlen. In Krisenzeiten wird es kniffelig, da werden Spezialisten gebraucht, die Fachliches übersetzen können. Das können entsprechend ausgebildete junge Talente sein aber auch Kollegen, die sich längst in den Ruhestand verabschiedet haben. Es empfiehlt sich, für den Ernstfall ein paar Telefonnummern bereitzuhalten.

Service-Journalismus bleibt, Investigativ-Journalismus muss (wieder-)kommen

Journalisten beider Ausprägungen betrachten sich häufig mit einer gewissen Distanz. Während sich die auf Service spezialisierten Kollegen zuweilen verkannt fühlen, weil ihre Beiträge zwar erfolgreich sind, aber redaktionsintern wenig geliebt werden, fühlen sich die Investigativ-Kollegen missachtet, weil ihre Stücke zwar Journalistenpreise, aber kaum Abos abräumen. Richtig ist, dass beide Dienstleister für Bürgerinnen und Bürger sind. Beide klären auf, in beide muss investiert werden. So manch eine Service-Geschichte ändert sich nach einer investigativen Recherche (siehe Geldanlage), so manch eine investigative Recherche wird aus einer Service-Geschichte geboren (wer profitiert von der Masken-Pflicht?). Kommunikation und gegenseitige Wertschätzung hilft. 

Helden-Erzählungen aller Art sind mit Vorsicht zu transportieren

Eine empathisch erzählte Story über einen coolen Typen mag inspirieren, aber der Held von heute kann die beleidigte Leberwurst von morgen sein – Fynn Kliemann lässt grüßen. Und selbstverständlich ist es Pflicht, jedes noch so gehypte Start-up kritisch abzuklopfen: Braucht man das, oder kann das wegbleiben? Ist das Mehrwert oder nur Marketing, ethisch oder nur egomanisch? Distanz bleibt Journalisten-Gebot, so sehr die Szene der Gründer auch jammern mag.  

Vielfalt der Formate wird zentral, vor allem Visualisierungen 

Zwar hat der jüngste Digital News Report ergeben, dass Text immer noch die beliebteste Vermittlungsform für Journalismus ist. Es gibt aber etliche Zielgruppen, die sich durch Videos, Grafiken, Datenjournalismus oder andere Visualisierungen stärker angesprochen fühlen und komplexe Zusammenhänge so leichter verstehen. Eine Generation, die mit YouTube-Tutorials lernt, quält sich nicht gerne durch Wortwüsten. Andere brauchen einen entspannten Podcast mit einer Expertin, der sie vertrauen oder womöglich ein Comedy-Format. Die Pandemie hat gezeigt, was im Wissenschaftsjournalismus möglich ist, das kann auch der Wirtschaftsjournalismus schaffen. Preisfrage: Wer wird der Christian Drosten der Inflation?

Wirtschaftsjournalismus braucht noch sehr viel mehr Vielfalt 

Früher haben die meisten Wirtschaftspublikationen nicht viel dabei gefunden, dass 90 Prozent ihrer Leser Männer waren. Das war, als die Einnahmeseite noch stimmte. Aus dem Blickwinkel von Demokratie und Aufklärung war diese Strategie schon immer zweifelhaft. Heute kann es sich kein Haus mehr leisten, auf potenzielle Nutzergruppen zu verzichten, schon gar nicht auf Nutzerinnen. Und angesichts der Bedrohung von Wohlstand, Ernährung und Frieden sollte es im Interesse aller Medien liegen, auch Menschen zu erreichen, die sich durch die gegenwärtige Informationslandschaft nicht repräsentiert fühlen oder Ehrfurcht vor komplexen Themen haben. Das wird sich nicht für alle Häuser lohnen, aber wer den Titel der vierten Gewalt für sich in Anspruch nimmt, darf sich schon mal etwas reinhängen. 

Jeder Journalismus muss Klimajournalismus werden – der Wirtschaftsjournalismus ganz besonders

Welche Prozesse und Produkte können wir uns in Zukunft noch leisten, wer macht mit Blick auf den Klimawandel seine Hausaufgaben, wer duckt sich weg, und was kostet das alles? Diese Fragen sollten alle Journalisten stellen, ganz gleich, um welches Ressort es geht. Jetzt, wo die wissenschaftlichen Grundlagen einigermaßen etabliert sind, kommt dem Wirtschaftsjournalismus eine besondere Rolle zu. Es geht um wirksame Strategien gegen den Klimawandel, um effektive und gerechte Politik, darum, wie sich Unternehmen und Verbraucher verhalten können. Es wächst eine Generation von Nutzern heran, die ahnt, dass sie morgen ausbaden muss, was heute versäumt wird. Diese Generation braucht Unterstützung. Guter Wirtschaftsjournalismus kann Klimapolitik auf ihre wirtschaftlichen Folgen und Wirtschaftspolitik auf ihre Folgen fürs Klima abklopfen. In der Pandemie galt und gilt: Ein krankes Volk schafft keine gesunde Wirtschaft. Beim Klimaschutz ist das ähnlich. Ohne funktionierende Lebensgrundlagen ist alles Wachstum nichts. Guter Wirtschaftsjournalismus muss deshalb nachhaltiger Wirtschaftsjournalismus werden. 

Diese Kolumne erschien am 18. Juli 2022 bei Medieninsider. Zum Lesen neuer Kolumnen ist ein Abo nötig.   


Junge Nutzer verzweifelt gesucht – sieben Erkenntnisse über eine anspruchsvolle Zielgruppe

Man kennt diesen Satz aus der Redaktionskonferenz. Themenplanung ist dran, und irgendein Chef wirft ihn in die Runde: „Wir müssen mal wieder was für die Jungen machen.“ Ratlosigkeit entweicht den Blicken der Älteren. Vielleicht was über Tik Tok? Über angesagte Musik oder das nahende Abitur? Alle unter 30 gehen vorsichtshalber in Deckung. Besteht doch ihr wichtigster Job darin, ihre Ü40-Vorgesetzten mit klugen Vorschlägen zu beeindrucken, die dann vor allem bei der Ü60-Kundschaft gut ankommen. Sie wollen ja ernst genommen werden.  

Etablierte Medienhäuser und das junge Publikum haben es schwer miteinander. Während die einen nicht ohne die anderen können, weil dies ihren wirtschaftlichen Hungertod zur Folge haben würde, können die anderen sehr wohl ohne vieles, was den Verlagen und Sendern ihr Auskommen sichert: Abos, Apps und Abendprogramm im Fernsehen zum Beispiel. Selbst mit dem Digitalen ist das so eine Sache. Laut Digital News Report 2020 gehen 84 Prozent der unter 25-Jährigen nicht direkt auf die Website einer Medienmarke, sondern informieren sich über das, was Soziale Netzwerke, Suchmaschinen oder Nachrichten-Aggregatoren in ihre Timelines oder per Push-Nachricht auf ihre Bildschirme spülen. In den Strategie-Sitzungen etablierter Medienmarken steht deshalb auf Wiedervorlage: Junge Nutzer verzweifelt gesucht.

Aber wie steht es um den Medienkonsum junger Menschen, was mögen sie, was ignorieren sie, wann schalten sie ein und wann wieder ab? Gemessen daran, wie stark und wie lange das Thema Redaktionen schon beschäftigt, ist die Forschung dazu einigermaßen dünn. Für den deutschen Markt gibt es wichtige neue Erkenntnisse. 

Nachzulesen sind sie in der im April 2021 veröffentlichten Studie „#usethenews“ des Leibniz-Instituts für Medienforschung Hans-Bredow Institut und der Studie zur Medienkompetenz in Deutschland, die im März bei der Stiftung Neue Verantwortung erschienen ist. Daraus und aus zahllosen Gesprächen mit Studierenden verschiedener Fachrichtungen leiten sich ein paar Dinge ab, die Redaktionsstrategen wissen sollten.

Erstens: Tatsächlich brennt bei diesem Thema die Hütte, nicht nur, was die Zukunft der Verlage angeht, sondern auch mit Blick auf bürgerliches Engagement in der Demokratie. Etwa jeder zweite Jugendliche hält es nicht für wichtig, sich über aktuelle Ereignisse zu informieren, so das Forscherteam des Hans-Bredow-Instituts. Die Erklärung liefern es gleich mit: „Bei journalistischen Nachrichten fehlt ihnen oft der Bezug zu ihrem Alltag.“ Es reicht also nicht, schulterzuckend auf den allgemein steigenden Anteil der Nachrichten-Vermeider zu verweisen, der laut Digital News Report international bei etwa einem Drittel liegt. In der jungen Generation ist die News-Abstinenz deutlich ausgeprägter. Wer es ernst meint mit dem Journalismus als Säule der Demokratie, sollte also dringend tätig werden. 

Zweitens: Die Schere zwischen denjenigen, die top informiert und kompetent sind und denjenigen, die sich kaum in der neuen Informationslandschaft zurechtfinden, geht weit auseinander. Waren diejenigen mit niedrigem Schulabschluss früher noch einigermaßen informiert, weil vielleicht hier und da mal eine Zeitung herumlag, man aus Langeweile die Fernseh-Nachrichten schaute oder beim Autofahren stündlich mit Radio-News zwangsgefüttert wurde, lässt sich all das im Zeitalter der maximalen Ablenkungsmöglichkeiten komplett vermeiden. Die Informationslücke, die das Internet eigentlich schließen sollte, tut sich als digitaler Graben zwischen den Gesellschaftsschichten immer weiter auf – wenn nichts geschieht. Die öffentlich-rechtlichen Sender mit ihrem Auftrag, Journalismus für alle anzubieten, haben hier eine besondere Verpflichtung. 

Drittens: Zum Glück interessieren sich viele junge Leute doch für die Welt um sie herum – nur nicht immer für das, was gereifte Politik- und Feuilleton-Redakteure und -Redakteurinnen spannend finden. Diejenigen, die Journalismus mögen, schauen gerne mal bei den Lokalnachrichten rein. Alles, was mit Umweltschutz und Wissenschaft zu tun hat, ist zumindest für die Gebildeteren ein Hingucker. In einer neuen amerikanischen Studie zum Thema Journalismus-Vermeider („The head and heart of news avoidance“) waren es übrigens auch die Themen Gesundheit, Wissenschaft, Umwelt und Lokales, die Nachrichtenmuffel aller Generationen am ehesten interessierten. Redaktionen, in deren informeller Hackordnung nach Innen- und Außenpolitik erst einmal lange gar nichts kommt, werden sich umstellen müssen.  

Viertens: Was alle Nutzer der jüngeren Generationen vereint, ist die Vorliebe fürs leichte Fach. „Lustiges und Sonderbares“ kommt laut der Leibniz-Studie durchweg gut an. Ohnehin ist Humor ein ziemlich sicherer Weg, um bei den Generationen Y und Z Gehör zu finden, das belegen nicht nur Böhmermann und Co.. Aber Achtung, es ist nicht unbedingt die Art von Humor, den eben jene gereiften Führungskräfte mögen. Witzeln auf Kosten von Schwächeren geht gar nicht. Wer austeilt, muss sich zumindest selbst auch mal einen mitgeben. In der Abteilung Humor im Journalismus gilt deshalb das Gleiche wie bei unsicherer Quellenlage: Im Zweifel lieber lassen.

Fünftens: An Influencern führt kein Weg vorbei, aber es müssen keine Instagram-Vertriebshelden sein. Als die schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter im vergangenen Jahr Greta Thunberg für einen Tag das Blatt machen ließ, rauschten die Digital-Abos nur so rein, mehrere Tausend waren es an einem Tag. Prominenz erhöht die Reichweite und hilft dabei, Botschaften zu vermitteln. Faustregel: Promis sollten als Menschen rüberkommen, nicht als Funktionäre. Den Filmstar über Politik reden lassen und die Politikerin über Filme kann beide glaubwürdiger machen, wenn sie es denn ehrlich meinen. Junge Leute sind geübt darin, zwischen echter Authentizität und inszenierter Nahbarkeit zu unterscheiden.  

Sechstens: Vielfalt zählt – und zwar nicht nur als Ankreuz-Übung. Junge Leute erwarten, dass ein Programm oder eine Marke die Welt so abbildet, wie sie sie erleben. Sie mögen sich mit Protagonisten identifizieren können und vielleicht sogar selbst etwas beitragen. Dazu gehören eine Sprache, die ebenso locker wie respektvoll ist und Inhalte, die – siehe oben – etwas mit ihrem Alltag zu tun haben. Nachrichten sollten nützlich sein und Spaß machen, lautete das Fazit einer Studie über junge Journalismus-Nutzer, die der Marktforscher Flamingo gemeinsam mit dem Reuters Institute 2019 veröffentlicht hatte. Konstruktiver Journalismus, der die Welt mit Perspektiven weit öffnet, kommt bei der jungen Generation deshalb besonders gut an. Faustregel: Man darf dem Publikum ruhig etwas zutrauen. Der Erfolg von wissenschaftsgetriebenen Formaten wie Brainstorm des irischen öffentlich-rechtlichen Senders RTE oder des Magazins Katapult sind Belege dafür. Dumm für Kostenkiller, dass hintergründiges Berichten meist aufwändiger ist als das fixe Wegmelden nach Methode Copy and Paste. Aber die schnelle Nachricht gibt’s eben heute überall. Man könnte sagen: Junge Leute sind Journalismus-Gourmets.  

Siebtens: Journalismus muss leicht zugänglich und gut aufbereitet sein. Die Digitalisierung trainiert alle Generationen auf Bequemlichkeit, Amazon, PayPal, Spotify und Co. haben den Gold-Standard für Nutzerfreundlichkeit gesetzt. Die alte Welt, in der man noch Gebrauchsanleitungen las, sich Telefonnummern notierte und zum Kiosk an der Ecke ging, verschwindet. Für den Journalismus heißt das: Er muss dahin, wo die Nutzer sind und es ihnen leicht machen. Die oben erwähnte amerikanische Studie sagt: Verständnishürden und mangelndes Selbstbewusstsein im Umgang mit Medien seien die Hauptgründe, warum Menschen um Nachrichten einen Bogen machen. Im Zweifel schlägt die interaktive Infografik mit drei Bullet-Points den 200-Zeilen-Leitartikel. Das ist bitter für manche Autorinnen und Autoren. War Komplexität früher ein Ausweis von Qualität, muss sie heute gut begründet sein. Leider kaschiert sie allzu oft nur Dünkel oder schiere Bequemlichkeit.

Diese Kolumne erschien am 17. Mai 2021 bei Medieninsider, wo ich monatlich zu Medienthemen schreibe.  


Eine Checkliste für starken Journalismus

Die Frage, wie Qualitätsjournalismus definiert wird, ist keine einfache – schon gar nicht in Zeiten des digitalen Wandels. Genauso schwierig gestaltet sich dann die Kontrolle. Das sollte Redaktionen aber nicht davon abhalten, über Kriterien und Kontrollstandards zu diskutieren. Zehn Impulse, mit denen das gelingen kann.

Sicher, auch über die Substanz von Autos, Mänteln oder Möbelstücken kann man streiten: Ist das nun Qualität, oder doch eher nur gute Verpackung? Wer sich allerdings daran versucht, Qualitätsjournalismus zu definieren, sollte Zeit und Lust auf eine erhitzte Debatte mitbringen. Denn was die einen als große publizistische Leistung empfinden, ist für die anderen nichts als abgehobene Schwurbelei. Werden Inhalte mit einem Qualitätssiegel versehen, sagt so ein Prädikat oft mehr über die Bewertenden aus als über das Produkt. Manche betrachten es gar als Einfallstor für Zensur: Gelobt wird das, was politisch erwünscht ist.

Alternativ kann man den Prozess unter die Lupe zu nehmen, mit dem Journalismus erstellt wird. Werden Fakten überprüft, mehrere Quellen konsultiert, wie wird redigiert, wie wird Unabhängigkeit gewahrt? All das lässt sich leichter beurteilen als Faktoren wie Sprache, Themenwahl oder Ausgestaltung. Aber bei der Herangehensweise haben starke Medienmarken zwangsläufig die Nase vorn. Kurz: Es ist kompliziert.

Die Debatte um Qualität ist dennoch zentral, schon gar in einer Medienwelt, in der Algorithmen Inhalte auf- und abwerten und damit vorselektieren, wie viel Aufmerksamkeit ein Stück bekommt. Redaktionen tun deshalb gut daran, immer wieder Inventur zu machen: Wie stark ist unser Journalismus? Eine Checkliste mit zehn Punkten dürfte helfen:

1. Haben wir genug erklärt?

Wer sich informiert, will nicht nur Bescheid wissen. Er möchte wissen, warum er Bescheid wissen sollte. Journalismus muss immer einordnen, und er muss das immer wieder tun. Laut Digital News Report 2019 findet nur jeder zweite Nutzer, dass die Medien einen guten Job dabei machen, das aktuelle Geschehen zu erklären. Da ist Luft nach oben.

2. Setzen wir die Agenda?

Im täglichen Feuerwerk der Informationen und Zitate ist es allzu leicht, sich von anderen treiben zu lassen. Stimmt das, was dieser Politiker, jene CEO behauptet, oder ist das eine Falschinformation? Verifizieren ist wichtig, aber wer nur noch überprüft, was andere sagen, kann es leicht versäumen, eigene Themen zu setzen. Da gilt das in der Branche gerne genutzte Wort: Journalismus ist, über etwas zu berichten, das andere gerne verbergen würden.

3. Begeistern wir Nutzer mit Produkten, die ihnen helfen?

Die Erfolge von Apple, Amazon, Netflix und Co. sind nicht die Ergebnisse von klugem Marketing. Die Produkte und Plattformen überzeugen, weil sie einen Mehrwert bieten. Sie helfen dabei, alltägliche Probleme zu lösen. Welche Produkte können Medienhäuser entwickeln, die ihren Kundinnen und Kunden im Alltag helfen? Die Denke vom Nutzer her ist zentral, wenn man sich unverzichtbar machen will. 

4. Begeistern wir unsere Nutzer mit Themen, die sie berühren?

In der Welt der Überinformation dringen diejenigen durch, die Emotionen wecken, Menschen in ihrem Alltag abholen, bei ihren Sorgen, Freuden, Hoffnungen. Es ist ein schwerer Fehler, das Feld der Emotionen den Populisten zu überlassen, die bevorzugt in Schwarz oder Weiß malen. Menschen sind komplex und sie begreifen Komplexität – wenn man sie denn lässt.

5. Lassen wir andere zu Wort kommen?

Der Trend geht zum Kommentar, denn er ist billig. Recherche hingegen kostet Geld. Aber Kommentare gibt es überall. Beobachtung, Beschreibung, Einordnung, Gespräch, echte Analyse führen weiter. Zuhören ist der Schlüssel, oder genau hinschauen. Wenig überzeugt so schnell wie eine gute Datenreihe – und wenig macht so viel Mühe.  

6. Suchen wir Vielfalt und lassen sie zu?

Es ist ein Reflex, der nicht nur beim Besetzen von Talk-Shows funktioniert: Journalisten greifen bei der Recherche wieder und wieder auf dieselben Experten zurück. Ein Grund dafür ist, dass es funktioniert. Ein Christian Drosten schafft Vertrauen, die Medienmarke profitiert. Aber die Welt ist weit, die Perspektiven vielfältig. Das 50:50 Projekt der BBC hat gezeigt, wie ein bewussterer Umgang mit Quellen nicht nur Geschlechtergerechtigkeit vorantreiben, sondern auch das Publikum begeistern kann.

7. Bieten wir Perspektiven an?

Etwa ein Drittel aller Bürgeren vermeidet den Kontakt mit Nachrichten mittlerweile bewusst, die Tendenz ist steigend. Der Hauptgrund: Journalismus sei zu negativ, mache schlechte Laune, wecke Ohnmachtsgefühle. Die Alternative ist keine Weichzeichner-PR. Aber Menschen brauchen Perspektiven und Lösungen, das Stückchen Inspiration. Wie sind andere aus einem Dilemma gekommen, was funktioniert? Die Ansätze des Konstruktiven Journalismus können helfen. Wer seine Nutzeren in dunkle Szenarien hineinführt, muss sie auch wieder hinausbegleiten. 

8. Gehen wir transparent mit Wissen, Quellen und Meinung um?

Manchmal weiß man, dass man (noch) nicht viel weiß – die Pandemie erinnert einen täglich daran. Aber weiß unser Publikum auch, wo unsere Erkenntnisse enden und das informierte Raten beginnt? Je mehr wir die Menschen mitnehmen auf die Forschungsreise, umso weniger peinlich wird es, wenn wir uns korrigieren müssen. Ähnliches gilt für den Umgang mit Quellen und deren Interessen. Journalismus wäre unmöglich in kompletter Transparenz, es gelten Fürsorgepflicht und Quellenschutz. Aber unsere Nutzeren haben Klarheit darüber verdient, wie wir arbeiten und warum. 

9. Erheben wir Daten und lernen daraus?

Oft ist es die bequemere Lösung, den Journalismus in die Nähe von Kunst zu rücken, die vor allem im Auge des Betrachters wirkt. Oder man argumentiert mit der Mission, dem öffentlichen Interesse, der Wächterfunktion, wenn man ein Stück verteidigen möchte, das beim Publikum „nicht funktioniert“. Man kann aber auch nach Gründen forschen. Dabei helfen Daten. Daten können niemals alles belegen und schon gar nicht erklären. Aber es wäre fahrlässig, sie nicht zu nutzen, um die Bedürfnisse des Publikums zu ergründen. Der A/B-Test sollte eine geläufige Vokabel in jeder Redaktion sein.

10. Begegnen wir den Menschen auf Augenhöhe?

Noch nicht einmal ein Fünftel aller Nutzer findet, dass die Medien den richtigen Ton treffen. 39 Prozent gaben im Digital News Report 2019 sogar explizit zu Protokoll, dass sie dieser Aussage überhaupt nicht zustimmen. Zu negativ, zu belehrend, zu stark politisch eingefärbt – Beschwerden gibt es viele. Das Verhältnis zwischen Journalisten und ihrem Publikum ist komplex, auch weil das Bild auf beiden Seiten häufig von denjenigen dominiert wird, die sich selbst besonders wichtig nehmen. Mehr Gespräch und mehr Begegnungen bilden Vertrauen und stärken den Journalismus. Zugegeben, in Pandemie-Zeiten ist das noch leichter gesagt als getan. Aber auch ohne physischen Kontakt kann man Fragen stellen – und das in Frage stellen, was man schon immer unter Qualität verstanden hat. Es mögen sich daraus sogar ein paar neue Antworten ergeben.     

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 22. März 2021. Aktuelle Kolumnen und Neues aus der Branche sind mit einem Abo zu lesen. 


Wer hat Angst bei der New York Times? – Vielfalt in Redaktionen bringt nichts, wenn sie nicht gelebt wird

Wenn Journalist*innen kritisch über den Zustand des Journalismus schreiben, holen sie sprachlich gerne mal die große Keule raus. Über „Haltungsjournalismus“ wird dann gewettert, und dass die Meinungsfreiheit in Gefahr sei, weil sich Kolleg*innen in vielen Redaktionen gar nicht mehr trauen würden zu sagen oder gar zu schreiben, was sie wirklich denken. „Cancel Culture“ sei überall. Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo hat seiner Zeitung kürzlich mit einem viel beachteten Text zum 75. Geburtstag gratuliert, der schon in der Überschrift von einer solchen Bedrohung sprach. Zwar ist das Stück in seinem Kern recht differenziert. In den sozialen Netzwerken applaudierten ihm allerdings besonders lautstark diejenigen, die sich in ihrer eigenen Position bestätigt sahen: Der Journalismus werde an „Political Correctness“ zugrunde gehen.

Als Beispiel für seine These hatte Lorenzo die New York Times (NYT) herangezogen, in deren Redaktion viele Beobachter*innen von außen ein Klima der Angst vermuten. Zum Beleg werden immer dieselben Fälle von Journalist*innen angeführt, die aus inhaltlichen Gründen das Haus verlassen mussten oder zumindest sanktioniert wurden. Nun müsste jede*r Chefredakteur*in wissen, dass es für Außenstehende fast unmöglich ist, interne Personalentscheidungen fachkundig zu beurteilen. Bei unfreundlichen Trennungen spielen meist Dinge eine Rolle, die sich keiner Twitter-Gemeinde erschließen. Fakt ist aber, dass in der New York Times tatsächlich ein ungutes Klima herrscht. Die Zeitung selbst hat dies jüngst unter Beteiligung des Top-Managements in einer großen Untersuchung zum Thema „Diversity and Inclusion“ zutage gefördert und veröffentlicht.

In einem Zeitraum von acht Monaten wurden 400 Kolleg*innen interviewt. Das Ergebnis ist ebenso niederschmetternd wie beachtlich. Niederschmetternd, weil es der Zeitung bislang offenbar nicht gelungen ist, ihren vielfältigen Journalist*innen eine Heimat zu sein, in der sie sich beachtet und wertgeschätzt fühlen. Das gilt insbesondere für Schwarze, Latinos und für Frauen mit asiatischen Wurzeln, die zuweilen den Eindruck haben, sie seien unsichtbar – regelmäßig würden sie mit falschen Namen angesprochen. Beachtlich, weil das Team um Herausgeber A.G. Sulzberger, CEO Meredith Kopit Levien und Chefredakteur Dean Baquet der Transformation der Unternehmenskultur nun zumindest qua Bekenntnis eine ebensolche Bedeutung beimisst wie dem Umbau zu „digital first“ und „subscription first“, der die NYT zu einem digitalen Medien-Weltstar gemacht hat. Ein entsprechender Aktionsplan hängt dran. Wer von dieser Seite des Atlantiks aus über ein „Klima der Angst“ bei der NYT philosophiert, sollte den Bericht zumindest lesen. Wer leidet, und wer ist nur beleidigt?

Eine wichtige Lehre aus der Untersuchung: Vielfalt alleine genügt nicht, sie muss gelebt werden. Vielfältige Perspektiven können nur Wert schaffen, wenn sie auch beachtet und geschätzt werden, der Fachbegriff dafür lautet „Inclusion“. Und die Techniken dafür müssen entwickelt werden. Steht die herrschende Kultur dagegen nicht infrage, kann Diversität auch destruktiv wirken. Denn wenn Menschen sehr unterschiedlicher Perspektiven und Herkunft in einer Organisation zusammensperrt werden, produziert das automatisch Reibung, sprich: Konflikte. Diese Reibung führt idealerweise zu Kreativität und guten Ideen. Aber sie fordert immer die bisherigen Macht- und Einflussverhältnisse heraus, konfrontiert Nutznießer*innen der geltenden Kultur mit ihren Privilegien und treibt sie deshalb häufig in Abwehrhaltung. Vielfalt bereichert eine Organisation also nur, wenn sie bewusst gemanagt wird. Das ist vielen zu anstrengend und einer der Gründe für den Frauenanteil „Zielgröße null“, wie sie viele deutsche Unternehmen nach dem regelmäßig erscheinenden Allbright-Bericht aufweisen.

Diversity und Inclusion gehören also zusammen wie Kaffee und Milch, wenn das Ziel ein Cappuccino ist. Möchte man im Bild bleiben, tut man sich in Deutschland allerdings schon mit dem Kaffee schwer. In hiesigen Regionalverlagen sind gerade einmal zehn Prozent der Führungspositionen mit Frauen besetzt, von Kolleg*innen anderer Hautfarbe ganz zu schweigen. Etwa zeitgleich mit der New York Times hat die Organisation Pro Quote eine qualitative Untersuchung veröffentlicht, die einen ähnlichen Frust offenbart. Sie beschäftigt sich damit, wie Lokaljournalistinnen die Redaktionskulturen in ihren Häusern empfinden. Angenehm ist anders. Von einem „sich selbst stabilisierenden System“ leitender Männer ist die Rede, einem Chefredakteurs-Karussell, das Frauen keinen Einstieg gewährt, von mangelndem Zutrauen, nicht vorhandenen Chancen und Sexismus. Die Branche braucht keine Studie, um all das zu wissen, ein Blick auf die Zusammensetzung entsprechender Verbände genügt. Tatsächlich ist „Cancel Culture“ schon lange Realität in Redaktionen, nur traf sie bislang eher jene, die lieber geschwiegen haben, statt Aufrufe zu verbreiten. Leidensdruck ist immer dann geringer, wenn es um das Leiden der anderen geht.

Dem Journalismus schadet das. Moderner, digitaler Journalismus sollte die Kundenbedürfnisse so ins Zentrum stellen, wie Amazon oder Spotify das vormachen. Und Kund*innen sind nun einmal sehr unterschiedlich. In der Medienbranche gehört Vielfalt deshalb zum Kern der digitalen Transformation, und Vielfalt wirkt nur, wenn man ihr Potenzial ausschöpft. Bei der New York Times hat man das verstanden und sich auf eine anspruchsvolle, ganz sicher konfliktreiche Reise gemacht. Die Branche täte gut daran, dem großen Vorbild auch in diesem Fall nachzueifern.

Diese Kolumne erschien zuerst im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 5. März 2021.

Von KI zu EthI – Wie Künstliche Intelligenz mehr Ethische Intelligenz in Redaktionen bringen kann

Wie Künstliche Intelligenz funktioniert, das kennt man ja – zumindest glaubt man es. „Kunden, die xy gekauft haben, mochten auch yz.“ Zumindest ist das die Art von KI, auf die man als Nutzer*in von Amazon, Spotify und allerlei digital ausgespielter Werbung trainiert ist. Heraus kommt immer mehr vom Ähnlichen, so dass man sich irgendwann fragt, welche Art Welt an einem wohl vorbeiziehen mag, während man so vermeintlich gut versorgt durch seine Konsument*innen-Blase schwebt. In Erinnerung bleibt die Anekdote, die eine Medien-Forscherin erzählte. Wie die Managerin eines Plattform-Unternehmens aus dem Silicon Valley sie verständnislos angeschaut habe, als sie von einem Chefredakteur*innen-Workshop sprach. Wozu man diese Rolle denn künftig noch brauche, das übernehme doch alles die Software?

Vor einem Journalismus, der so verstanden werden würde, kann es einem nur grausen. Aber nach anfänglichen Berührungsängsten („nichts geht über uns und unser Bauchgefühl“) hat sich die Debatte unter Medienschaffenden und -Wissenschaftlern, die sich ernsthaft mit den Potentialen von KI für die Branche beschäftigen, in eine gänzlich andere Richtung entwickelt. Mittlerweile geht es darum, wie man den Journalismus mithilfe von Software nicht nur stärken, sondern insbesondere ethischer machen kann. So wie die Emotionale Intelligenz (EI) den Begriff der Intelligenz erweitert hat, sollte also eine Ethische Intelligenz die KI ergänzen, man könnte sie EthI nennen.

Der erste Schritt dahin ist, es zu wollen. Der Bayerische Rundfunk ist dabei kürzlich vorgeprescht: Er hat sich Richtlinien für eine ethische KI verordnet, zehn Prinzipien, auf deren Grundlage entsprechende Software im eigenen Haus entwickelt und angewandt werden soll. Es lohnt sich, die Grundsätze zu lesen, denn sie lassen sich auch auf den Journalismus insgesamt anwenden. Es geht um den verantwortungsvollen Einsatz von Ressourcen, bestmögliche Transparenz und Debatte, Kooperationen und begleitende Evaluation. Anders als bei den von Facebook und Co. verordneten Black Boxes, die nur sehr wenig preisgeben über die Algorithmen, nach denen sie funktionieren, möchte der BR wissen, mit welchen stereotypischen Annahmen Software möglicherweise gespickt ist. Und die Kolleg*innen wollen die Spielregeln selbst bestimmen, im Verbund mit anderen. Ziel ist ein Journalismus, der endlich die Standards erfüllt, die sich Redaktionen oft selbst gesetzt haben, an denen sie aber ebenso oft gescheitert sind. Es geht um Vielfalt und Repräsentation. Der Mehrwert für die Nutzer*innen muss im Mittelpunkt stehen.

Diese Grundprinzipien sind – ganz im Geist der Kollaboration – nicht in einem Chefbüro entstanden. Uli Köppen, Teamleiterin beim BR, arbeitet im Journalism and AI Project der London School of Economics mit, einer internationalen Kooperation von klugen Köpfen aus dem Journalismus, die sich medienübergreifend mit den Potenzialen und Risiken von KI für die Branche auseinandersetzen. Man lernt dort gemeinsam und voneinander, probiert aus, trägt zusammen, verwirft Nutzloses und feiert Erfolge. Das hat den Vorteil, dass nicht jede Organisation die gleichen Fehler machen und Erfolgsgeschichten entwickeln muss. Den bitteren Konkurrenzkampf, den sich Medienhäuser und einzelne Titel jahrzehntelang geliefert haben und noch liefern, haben die Weitblickenden unter den Journalist*innen und Medienmanager*innen hinter sich gelassen. Sie wissen: Die größte Konkurrenz sitzt überall dort, wo man sich bewusst und unbewusst längst angeschickt hat, Qualitätsjournalismus feindlich zu übernehmen.

Beim „Journalism and AI Festival“ mit seinen 15 Panels wurde kürzlich deutlich, welche vielfältigen Möglichkeiten in der KI für den Journalismus stecken, aber auch, dass die Entwicklung noch ziemlich am Anfang steht (alle Panels lassen sich hier
nachhören). Auch das ist gut. Noch lässt sich vieles gestalten. Redaktionen, die sich jetzt nicht mit dem Thema beschäftigen, sollten später nicht sagen, ein Trend habe sie überrollt.

Natürlich birgt die KI auch Gefahren. Verleger*innen unter Kostendruck könnten deren Potenziale nicht für den Journalismus sondern allein als Sparprogramm nutzen. Das Abschöpfen und Interpretieren von Daten könnte aus dem Ruder laufen, exzessive Personalisierung dazu führen, dass Journalismus trennt, statt Gemeinschaft zu stiften. Sehr real ist die Gefahr eines neuen Überangebots. Vor lauter Freude an dem, was technisch möglich ist, mag so manche Redaktion über das Ziel hinausschießen und Nutzer*innen mit allem bombardieren, was sie schon gestern nicht wollten. Dabei muss Journalismus vor allem das: Orientierung bieten. Wäre doch erstaunlich, wenn KI dabei nicht helfen könnte. Allerdings nach Regeln, die von Journalist*innen gestaltet werden.

Dieser Text erschien am 18. Dezember 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School. 

Gar nicht mal so uncool – Warum die öffentlich-rechtlichen Sender in ihrer Innovationskraft unterschätzt werden

Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eins mitzugeben, gehört in manchen Kreisen zum guten Ton, selbst wenn sie nicht der AFD nahestehen. Das Publikum: überaltert. Das Programm: nur Krimis und Volksmusik. Die Strukturen: behäbig. Die Kultur: Anzugträger mit Direktorentitel. Die Politik: links-grün. Das Digitale: ach ja, die Tagesschau ist auf Tik Tok. Gleich sieben krankhafte Befunde diagnostizierte kürzlich Media-Pioneer Gabor Steingart in seinem Morning Briefing. Die Sender schmissen zu viel Geld für Fußball raus, kommentierten zu einseitig und böten kaum etwas für junge Leute. Sein Fazit: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk brauche nicht mehr Geld, sondern eine Reform.

Das Bundesverfassungsgericht wird den Teil mit dem Geld wohl anders sehen. Dorthin wendeten sich die Anstalten, nachdem Sachsen-Anhalt die für Januar geplante Erhöhung der Haushaltsabgabe um monatlich 86 Cent blockiert hatte (das klingt nach wenig, beläuft sich aber auf rund 400 Millionen Euro im Jahr). Und wer würde sich schon gegen Reformen aussprechen? Schließlich steckt in jedem der Vorwürfe ein wenig Wahrheit. Aber es ist eben nicht die ganze.

Vor lauter Musikantenstadl, Tatort und Fußball-Bundesliga lässt sich leicht übersehen, dass es in den großen Sendern durchaus Inseln der Innovationskraft gibt, von denen Mitarbeiter*innen anderer Medienhäuser nur träumen können. Man findet sie nur nicht im Hauptprogramm – also dort, wo auch die Kritiker*innen reflexhaft hinschauen, wenn sie sich mal wieder über den Stand der Dinge bei den ÖRs informieren wollen. Das mag übrigens daran liegen, dass sie selbst oft zur von ihnen geschmähten älteren Zielgruppe gehören, die gar nicht mitbekommt, was sich auf anderen Plattformen so tut.

Fragt man die angeblich wegbleibenden jungen Leute selbst, sind viele nämlich gar nicht so unzufrieden mit dem, was ARD und ZDF im Angebot haben, zum Beispiel auf Instagram, YouTube oder, ja, Tik Tok. Sie folgen der Tagesschau, die Nachrichten simpel erklärt, der „News WG“ des Bayerischen Rundfunks, wo politische Themen besprochen werden wie am Küchentisch. Sie schauen Videos auf Funk, dem Content-Netzwerk von ARD und ZDF, oder hören Podcasts wie „Mal angenommen“ oder „180 Grad: Geschichten gegen den Hass“, die im konstruktiven Journalismus zuhause sind, mit dem sich die jüngere Generation tendenziell wohler fühlt, als mit ständiger Alarmstimmung. Und Christian Drosten punktet auch bei den Jungen, die sich gerne mal die Welt erklären lassen, wenn es sie nicht an Schule erinnert.

Hinzu kommen Abteilungen in den Sendern, die sich dem Datenjournalismus und der Anwendung von Künstlicher Intelligenz verschrieben haben. Der Bayerische Rundfunk macht zum Beispiel beim Journalism and AI Projekt der London School of Economics mit, wo Journalist*innen aus aller Welt Anwendungen von KI für den Journalismus entwickeln. Der Südwestfunk hat der Süddeutschen Zeitung Vanessa Wormer abgeworben, die Datenjournalistin, die aus den Panama Papers Sinn machte.

Außerdem stehen die Öffentlich-Rechtlichen auch in Sachen Vielfalt der Belegschaften gar nicht so schlecht da, wie das oft vermutet wird. Immerhin gibt es dort Frauenbeauftragte und eine Debatte über Repräsentation, die in der Privatwirtschaft gar nicht geführt wird. Da geht man einfach davon aus, dass die Netflix-Welt bunt und vielfältig ist – belegt ist das nicht. Und gemessen an der Zahl der verfügbaren Chefposten gibt es deutlich mehr Intendantinnen als Chefredakteurinnen bei deutschen Regionalzeitungen.

Eine gewisse Einseitigkeit bei den politischen Kommentaren mag man beklagen – obwohl die Grundlage derartigen Gejammers empirisch zu belegen wäre. Allerdings sollte man dann auch anerkennen, dass Meinungsstücke bei den Sendern letztlich Minimalprogramm sind. Der weitaus größere Teil besteht aus anderen journalistischen und Bildungs-Formaten und gar nicht zu vergessen: Kultur und Musik. Ohne die Rundfunkchöre und Symphonie-Orchester sähe die deutsche Konzertlandschaft um einiges ärmer aus. Wer ein feuriges Plädoyer für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk hören will, sollte sich die Keynote anhören, die Björn Ulvaeus im April 2018 auf dem Mediengipfel der European Broadcasting Union gehalten hatte – ja, dem Björn von ABBA. Besser kann man den Zusammenhang zwischen den Sendern und der Demokratie in Europa kaum erklären, man schaut den European Song Contest danach mit anderen Augen.

Das heißt nicht, dass bei ARD und ZDF alles so bleiben sollte, wie es ist. Wie alle anderen Medienhäuser müssen die Sender heute nicht mehr Vollsortimenter sein. Auch das Kaufhaus von einst hat seine Bedeutung eingebüßt, mancherorts sogar seine Daseinsberechtigung verloren. Manch ein Angebot ans Publikum können andere womöglich besser und günstiger auflegen. Und journalistisch sollten die Öffentlichen dort hingehen, wo es sich für private Medien nicht mehr lohnt, zum Beispiel in die Fläche. Unabhängiger Journalismus ist die Grundlage der Demokratie. Anders, als zum Beispiel in den USA, dürfen keine Nachrichtenwüsten entstehen, in denen Bürger*innen sich dann zweifelhaften Portalen zuwenden (müssen). Unabhängigkeit heißt aber auch, dass sich die Anstalten nicht von politischen Querelen in Geiselhaft nehmen lassen dürfen, wie jüngst in Magdeburg geschehen. Die Sache ist zu groß für politisches Klein-Klein.

Dieser Text erschien am 11. Dezember 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School.