Wir brauchen digital mündige Bürger!

Das Phä­no­men der Fake News wird sich in Zukunft noch ver­stär­ken. Ändern lässt sich das kaum. Deshalb sind Kam­pa­gnen zur digi­ta­len Mün­dig­keit min­des­tens so not­wen­dig wie einst jene zur Alpha­be­ti­sie­rung.

Für die­je­ni­gen, die mit der rasan­ten Ver­brei­tung von „Fake News“ das Ende der Demo­kra­tie her­an­na­hen sehen, dürfte 2020 ein beun­ru­hi­gen­des Jahr werden. Die Wahlen in den USA und ein Amts­ent­he­bungs­ver­fah­ren gegen den amtie­ren­den Prä­si­den­ten Donald Trump stehen an, beides wird das Land weiter pola­ri­sie­ren und die Bürger eher emp­fäng­li­cher für Lügen und aller­lei Ver­schwö­rungs­theo­rien machen. Erfah­rungs­ge­mäß schwap­pen die Debat­ten darüber unge­bremst über den Atlan­tik. In Groß­bri­tan­nien wurde schon gewählt, und wenn­gleich selbst hart­ge­sot­tene Digital-Pes­si­mis­ten sich schwer damit tun sollten, das klare Votum für Premier Boris Johnson und gegen Labour-Her­aus­for­de­rer Jeremy Corbyn der Akti­vi­tät von Troll­fa­bri­ken oder ähn­li­chem zuzu­schrei­ben, gehör­ten Falsch­in­for­ma­tio­nen und die Debatte darum im Wahl­kampf zum per­ma­nen­ten Grund­rau­schen. Wie sehr müssen wir uns also fürch­ten?

Man könnte sagen: sehr. Und genau darin liegt eine Chance. Die Ver­brei­tung von „Fake News“ und die Debatte darüber müssen ein Anlass dafür sein, Bürger im großen Stil fit für die neue Kom­mu­ni­ka­ti­ons-Welt zu machen. Kam­pa­gnen zur digi­ta­len Mün­dig­keit sind min­des­tens so not­wen­dig wie einst jene zur Alpha­be­ti­sie­rung, die die Men­schen fit für die Welt des gedruck­ten Wortes und die Demo­kra­ti­sie­rung möglich gemacht haben.

Gleich vorweg: Das Phä­no­men der Falsch­in­for­ma­tion als solches wird nicht nur bleiben, es wird sich ver­stär­ken. Künst­li­che Intel­li­genz ermög­licht es schon jetzt selbst Laien, für wenig Geld soge­nannte deep fakes zu kre­ieren, also zum Bei­spiel täu­schend echt wir­kende Videos von Poli­ti­kern mit ent­spre­chen­den Ton­spu­ren zu basteln. Und die tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten dafür ver­bes­sern sich schnel­ler als die Werk­zeuge, um den Ver­ur­sa­chern das Hand­werk zu legen. Hacker und Geheim­dienste in aller Welt werden dies aus ver­schie­dens­ten Motiven heraus zu nutzen wissen. Die Pro­duk­ti­ons­seite lässt sich also kaum in den Griff bekom­men.

Algo­rith­men anpas­sen

Etwas besser stehen die Chancen dafür, das Übel auf Seiten der Ver­tei­ler zu bekämp­fen. Die Platt­form-Kon­zerne haben die Infor­ma­tio­nen bislang weit­ge­hend unge­prüft und nur nach kom­mer­zi­el­len Kri­te­rien gewich­tet in die Welt gebla­sen. Sie könnten eben diese Gewich­tung ändern, sprich, ihre Algo­rith­men anpas­sen und Nach­rich­ten von ver­trau­ens­wür­di­gen Quellen höher bewer­ten als jene von unbe­kann­ten oder gar erwie­se­ner­ma­ßen zwei­fel­haf­ten. Der Müll würde so zwar nicht aus dem Netz ver­schwin­den aber weniger sicht­bar und damit auch sel­te­ner geteilt werden.

Die Jour­na­lism Trust Initia­tive, initi­iert und getra­gen von der Orga­ni­sa­tion Repor­ter ohne Grenzen, der European Broad­cas­ting Union und anderen nam­haf­ten Medien-Insti­tu­tio­nen, hat hier wich­tige Vor­ar­beit geleis­tet. Nun müssen die Kon­zerne das Übel auch anpa­cken wollen, not­falls unter mehr oder weniger sanftem Druck von Regu­lie­rung­be­hör­den. Hier liegt zuge­ge­ben ein Risiko, denn Regu­lie­rer könnten sich auf diese Weise auch dem Ein­fluss kri­ti­scher Stimmen ent­le­di­gen. Man möchte weder einem Donald Trump noch einem Viktor Orban das Pri­vi­leg zubil­li­gen, über die Qua­li­tät von Jour­na­lis­mus zu urtei­len. Dies sollte Gremien über­las­sen bleiben, die sich der Neu­tra­li­tät und Fak­ten­treue ver­schrie­ben haben.

Am wich­tigs­ten ist es aller­dings, bei den Emp­fän­gern anzu­set­zen. Bislang wissen nur die wenigs­ten Bürger, nach welchen Kri­te­rien Inhalte im Netz ver­teilt werden und an ihre Adres­sa­ten gelan­gen, wer Zugang zu diesen Kanälen hat und wie leicht sich erlo­gene aber täu­schend echt wir­kende Infor­ma­tio­nen erstel­len lassen. Auch über die Besitz­ver­hält­nisse der digi­ta­len Infra­struk­tur sind eher nur die Fach­leute infor­miert. Zumin­dest kann nicht vor­aus­ge­setzt werden, dass jedem Nutzer klar ist, dass hinter der Kurz­vi­deo-Platt­form TikTok ein chi­ne­si­scher Konzern steckt. Davon abge­se­hen, dass auch die­je­ni­gen, die es wissen, mit TikTok arbei­ten oder es nutzen – aus Spaß, oder weil man damit eben viele Kunden erreicht.

„Finn­land ist winning the war“

Noch am ehesten kann vor­aus­ge­setzt werden, dass das Publi­kum zumin­dest Grund­kennt­nisse darüber hat, wie Jour­na­lis­mus funk­tio­niert. Dass sich Repor­ter und Redak­teure im Nor­mal­fall an ethi­sche und hand­werk­li­che Regeln gebun­den fühlen – Bei­spiele sind das Vier-Augen-Prinzip und das Ein­ho­len meh­re­rer Quellen – haben viele Bürger schon gehört, auch wenn sie es nicht immer glauben. Und ein Groß­teil der Bevöl­ke­rung ver­lässt sich eher auf eta­blierte Marken wie die „Tages­schau“, Sender wie die BBC oder auf ihre Lokal­zei­tung als auf zwei­fel­hafte „Exper­ten“, die manch ein Face­book-Beitrag nach oben schwemmt. Das lässt sich aus Medi­en­kon­sum-Studien wie dem Digital News Report ablesen.

Aber all das ist keine Selbst­ver­ständ­lich­keit. Auf­klä­rung tut also Not. Bislang funk­tio­niert das am besten in der jungen Genera­tion. Junge Leute betrach­ten „Fake News“ eher als Beläs­ti­gung denn als echte Gefahr. Viele von ihnen haben gelernt, sich durch die Abgründe des Inter­nets zu navi­gie­ren – um den Preis, dass sie allen Infor­ma­tio­nen mit grö­ße­rer Skepsis begeg­nen als die älteren Genera­tio­nen, inklu­sive dem Qua­li­täts­jour­na­lis­mus. Sie bringen sich das gegen­sei­tig bei oder lernen es in der Schule, wo es natür­lich die beste Infra­struk­tur für digi­tale Bildung gibt.

Anders geht es den Älteren. Sie sind einer­seits anfäl­li­ger für Falsch­mel­dun­gen, weil sie weniger über die Online-Welt wissen, ande­rer­seits aber auch ver­letz­li­cher, weil sie gezielt von Algo­rith­men als mut­maß­lich leichte Beute ange­steu­ert werden. Es ist erwie­sen, dass Senio­ren sehr viel häu­fi­ger Falsch­mel­dun­gen bekom­men und teilen als ihre Enkel. Bil­dungs­pro­gramme für die­je­ni­gen, die Schule und Uni­ver­si­tät bereits ver­las­sen haben, sind also exis­ten­ti­ell, wenn einem der auf­ge­klärte Umgang der Bevöl­ke­rung mit der Kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Infor­ma­ti­ons­in­fra­struk­tur am Herzen liegt. Dies sollte und muss in allen Demo­kra­tien der Fall sein. Am Bei­spiel Finn­land lässt sich ablesen, dass das recht ordent­lich funk­tio­nie­ren kann. Eine 2014 begon­nene Auf­klä­rungs­kam­pa­gne über „Fake News“ war so erfolg­reich, dass CNN in einem Feature bereits tri­um­phierte: „Finn­land is winning the war on fake news“. Selbst aus Sin­ga­pur seien Regie­rungs­ver­tre­ter ange­reist, um das Erfolgs­re­zept zu kopie­ren. Aber auch anderswo gibt es gute Initia­ti­ven für genera­tio­nen­über­grei­fende digi­tale Bildung, zum Bei­spiel in Tsche­chien.

Dort, wo diese Auf­klä­rung nicht exis­tiert, ist die Wahr­schein­lich­keit groß, dass Regie­run­gen gar kein Inter­esse an der digi­ta­len Mün­dig­keit ihrer Bürger haben. Eine ver­wirrte Öffent­lich­keit ist anfäl­li­ger für ein­fa­che, popu­lis­ti­sche Inter­pre­ta­tio­nen der Lage, eine kri­ti­sche Presse und unan­ge­nehme Fakten stören so manch einen Amts­trä­ger nur. Digi­tale Bildung darf deshalb nicht nur in der öffent­li­chen Hand liegen. Wer dazu bei­trägt, dient der Demo­kra­tie. Unab­hän­gige Medien zum Bei­spiel können gar nicht genug dafür tun.

Diese Kolumne erschien am 20. Dezember 2020 bei Zentrum Liberale Moderne