Darum ist der Journalismus heute objektiver als früher

Für die einen hat die Debatte um Objektivität im Journalismus gerade erst begonnen, für die anderen ist sie längst abgehakt. Allein das zeigt, wie dringend sie geführt werden muss. Denn es geht um nicht weniger als die Arbeitsgrundlage, aus der die Branche ihre Existenzberechtigung ableitet. 

Anlass dieser Feststellung ist ein Gastbeitrag in der Washington Postvom Januar 2023 samt Reaktionen darauf. Der Titel lautete: „Redaktionen, die Objektivität hinter sich lassen, können Vertrauen schaffen“. Was den Text brisant macht, ist die Autorenschaft: Leonard Downie Jr. Er ist ehemaliger Chefredakteur des Blattes und als Redakteur in den Siebzigerjahren mit den Watergate-Recherchen befasst gewesen. Heute ist er Journalismus-Professor an der Walter Cronkite School of Journalism der Arizona State University. Gemeinsam mit einem ebenso dekorierten Kollegen, Andrew Heyward, ehemals Präsident von CBS News, hat er mehr als 75 (amerikanische) Nachrichtenmacher:innen für eine Studie zum Thema befragt, deren wichtigste Erkenntnis viele in der Branche kaum verwundern dürfte: dass die vermeintliche Objektivität des (US-)Journalismus vor allem die Sichtweise derjenigen reflektiert, die in Redaktionen lange Zeit und oft nach wie vor das Sagen hatten und haben.

Die Reaktionen in der journalistischen Twitter-Blase waren gemischt. Als ein „Erdbeben“ für die Medienbranche bezeichnete ein ebenfalls langgedienter Post-Redakteur den Beitrag. Ein jüngerer Kollege aus Großbritannien hingegen bemerkte, wohl wissend, mit seiner Wortwahl zu überzeichnen: „Ich bin froh, dass zwei weiße Männer von einer Stiftung Geld dafür bekommen haben, um herauszufinden, was viele von uns schon sehr lange wissen.“ 

Ende der Geschichte? Eher nicht. Denn was die Debatte so wichtig macht, ist genau die Tatsache, dass sich die Frage nicht mit einem einfachen Daumen hoch oder Daumen runter beantworten lässt. Man kann sie mit einem „es gibt keine Objektivität“ genauso wenig beenden wie mit „es geht um nichts als die Fakten“. Dennoch stehen sich die Verfechter beider Positionen zumindest in der Außenwirkung unversöhnlich gegenüber. Dies reicht bis weit in den redaktionellen Alltag hinein. 

Bei der Recherche für einen Report zum Thema Klimajournalismus* erzählten viele Redaktionsleiter:innen von einem Generationenkonflikt. Junge Leute wollten zwar gerne über Klimathemen berichten, sie verstünden sich aber als Aktivist:innen, klagten Interview-Partner:innen aus verschiedenen Ländern und Mediengattungen. Wer so voreingenommen an die Sache herangehe, den könne man nicht mit so einer Aufgabe betrauen. „Wir müssen die jungen Leute immer wieder daran erinnern, wer wir sind“, so der Außenpolitikchef einer Nachrichtenagentur. Viele Frauen, Kolleg:innen aus Einwandererfamilien und/oder solche mit anderer Hautfarbe bemängeln hingegen auch hierzulande zurecht, dass die dominante Perspektive des Journalismus, die von der Ressortaufteilung und Bildauswahl bis hin zu Kommentaren praktisch alles prägt, der Vielfalt von Realität und Lebenserfahrungen der potenziell Angesprochenen nicht gerecht wird. 

Für die Branche verknüpft sich damit nicht nur ein Legitimitäts-, sondern auch ein Wirtschaftlichkeitsproblem. Weite – und wachsende – Teile des Publikums werden Journalismus schlicht ignorieren, wenn sie sich von dessen Inhalten und Formaten nicht angesprochen fühlen. Verlagen fehlen dann die Einnahmen, den gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Anbietern ihre gesamte Daseinsberechtigung. Es gilt aber auch: Ein Journalismus, der sich den Nutzer:innen anbiedert, in dem er allein ihre Perspektive bedient, hat seinen Namen nicht verdient. Guter Journalismus überrascht und macht neugierig, er sollte nicht erwartbar sein. 

Wie sich Widersprüche auflösen lassen

Vermeintlich steckt da ein Widerspruch, wie ließe er sich auflösen? Zunächst einmal durch Begrifflichkeiten. Das Wort Objektivität gehört ins Museum journalistischer Selbstbeschreibungen. Über Themen und Fakten zu berichten hat schon immer bedeutet, Themen und Fakten auszuwählen und zu gewichten. Viel öfter noch als heute, wo Daten beim Priorisieren helfen, wurde dazu früher vor allem das Bauchgefühl bemüht – und dann das Gespräch mit Kolleg:innen und Vorgesetzten, die ähnlich tickten. Auch am Beginn einer jeden investigativen Recherche stand und steht die Entscheidung: ist das ein Thema, lohnt sich die Investition? Es ist kein Zufall, dass es bei großen Investigativ-Projekten bislang viel häufiger um Korruption und Steuerhinterziehung ging als um andere Arten von Machtmissbrauch – die Recherchen zum Fall Harvey Weinstein waren auch aus diesem Grund ein wichtiger Schritt zu mehr Vielfalt. 

Ähnlich angeschlagen ist der im britischen Englisch eher verwendete Begriff „impartiality“, die Unparteilichkeit. Diese Vorgabe hatte zum Beispiel im Klimajournalismus viel zu lange dazu geführt, dass Leugner des Klimawandels Sendezeit bekamen, obwohl die Fakten sie längst widerlegt hatten. Die für die BBC zuständige britische Regulierungsbehörde Ofcom hat deshalb den Begriff um „due impartiality“ – angemessene Unparteilichkeit – erweitert und in ihre Statuten geschrieben. Darin verbirgt sich der Auftrag, das zu ignorieren oder zumindest richtigzustellen, was aus Sicht der Wissenschaft Blödsinn ist – was sich in manchen Fällen leider erst im Nachhinein beurteilen lässt. 

Dies alles bedeutet aber keinesfalls, dass Journalist:innen damit von der Pflicht entbunden sind, sich ein möglichst objektives Bild zu verschaffen. Ihr Job ist es, eigene Befindlichkeiten zurückzustellen, eine Position der Distanz einzunehmen und auf der Grundlage von Fakten Vorgänge von möglichst vielen Seiten zu beleuchten. Schon frühere Generationen von Reporter:innen und Redakteur:innen hätten dies tun sollen, dann wäre ihnen aufgefallen, dass in ihren Publikationen viele Themen und Perspektiven schlicht fehlten. So gesehen könnte man sagen, dass der Journalismus von heute objektiver ist als früher, weil er immer besser darin wird, Vielfalt zu sehen, zu schätzen, abzubilden und sich seiner blinden Flecken bewusst zu werden. 

Die Datenjournalistin Julia Angwien schrieb in ihrem Essay „Journalistic Lessons for the Algorithmic Age“ in der vergangenen Woche, statt von Objektivität oder Fairness zu sprechen, betrachte sie es als Aufgabe von Journalisten, eine Hypothese zu erstellen und dann Beweise dafür zu sammeln. Die Betonung liegt auf dem Wort Beweis, und das hat etwas mit Fakten zu tun. Denn auch das ist Realität in der Branche: Manch einer, der sich auf Subjektivität beruft, war nur zu bequem zum Recherchieren. 

Natürlich haben auch sehr subjektive Beiträge einen Platz im Journalismus. Erfahrungsberichte, die frische Einblicke bringen, gehören zu den stark nachgefragten und wirkungsstarken Stücken, sei es im Text-, Video- oder Podcast-Format. Nur muss dann – wie auch beim Kommentar – die Perspektive deutlich gemacht werden. Die Ich-Geschichte funktioniert nur, wenn sie handwerklich exzellent und wohl dosiert daherkommt.

Allerdings gibt es ohnehin keine Lösung, die für alle passt, so auch das Fazit des oben zitierten Gastbeitrags der Washington Post. Jedes Medienhaus muss seine eigenen Regeln entwickeln, auch dazu, wie sich Redakteur:innen in den sozialen Netzwerken verhalten sollten. Was nicht geht: Wolkig von Objektivität reden – und dann schweigen.    

Was der Journalismus nicht in Frage stellen darf

Journalist:innen sollten sich aber sehr klar darüber sein, was ihre Aufgabe und spezielle Rolle in der Gesellschaft ist. Subjektivität lässt sich in der weiten Welt der digitalen Plattformen überall besichtigen. Die Suche nach der „bestmöglichen Version der Wahrheit“ hingegen, wie es die Watergate-Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein einst formuliert hatten, ist ein Alleinstellungsmerkmal des Journalismus. Stellte er dieses Prinzip in Frage, würde er an seinem eigenen Untergang arbeiten. 

Dass die Ergebnisse dieser Suche oft unbefriedigend, unausgewogen, so gut wie immer unvollständig sind, liegt in der Natur der Sache. Auch Wissenschaftler:innen tasten sich nur mühsam von Erkenntnis zu Erkenntnis voran. Gerichte müssen urteilen, wenn noch nicht alle Fakten vorliegen. Trotz aller Datenfülle ist selbst Künstliche Intelligenz fehlbar, weil sie nur Wahrscheinlichkeiten aber nicht die Wahrheit berechnen kann. Alle können falsch liegen. Aber Journalist:in sein heißt zuhören, hinschauen, nachbohren, fragen – und die Scheinwerfer auf andere richten, nicht auf sich selbst. Dass dazu Journalist:innen unterschiedlichster Perspektiven gebraucht werden, versteht sich. Nur manch eine Redaktion muss das noch begreifen.       

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 8. Februar 2023. Alexandra schreibt dort jeden Monat, zum Lesen aktueller Kolumnen braucht man ein Medieninsider-Abo. 

Optimismus wird unterschätzt – Was von Marty Baron bleibt

Auf dieser Seite des Atlantiks dürfte Marty Baron einigen auch außerhalb des journalistischen Mikrokosmos ein Begriff sein, der Grund dafür ist „Spotlight“. In dem 2015 mit einem Oscar gekrönten Film treibt ein junger, neuer Chefredakteur ein Recherche-Team bei der Tageszeitung Boston Globe zu Höchstleistungen an. Den Reporter*innen gelingt es schließlich, einen riesigen Missbrauchs-Skandal in der Katholischen Kirche aufzudecken. Der Chefredakteur heißt im wirklichen Leben Martin Baron, und der Schauspieler Liev Schreiber, der ihn spielte, sah ihm im Film tatsächlich ziemlich ähnlich. Zu der Zeit war Baron allerdings schon zur Washington Post (WaPo) abgeschwirrt, wo er 2013 Chefredakteur wurde, kurz bevor Amazon-Chef Jeff Bezos die Zeitung kaufte. Dort hat der @PostBaron, wie er sich auf Twitter nennt, nun genug. 66 Jahre alt ist er, in dieser Woche gab er bekannt, er werde Ende Februar seinen Posten aufgeben.

In mancher Redaktion dürften sich Reporter*innen darüber gerangelt haben, wer Baron zum Abschied würdigen darf. Klar, mit einem solchen gestandenen Journalisten, der in seiner Zeit als Chefredakteur die Redaktion von 500 auf 1.000 Leute vergrößerte, mit ihnen zehn Pulitzer-Preise hereinholte und das mit der Digitalisierung trotzdem erstklassig hinbekam, macht sich jeder gerne gemein. „Democracy dies in darkness“ – der Claim der WaPo wird in kaum einem Artikel fehlen. Und wer es lustiger mag, integriert den Ausdruck „swashbuckling“ in seinen Englisch-Wortschatz. Den benutzte Jeff Bezos, um seinem Geschäftspartner zum Abschied zuzurufen: „Du bist verwegen (swashbuckling) und vorsichtig, du bist diszipliniert und empathisch.“ Anstrengend sei es mit ihm allerdings auch oft gewesen, gab Bezos zu.

Man könnte also viel sagen über diesen Marty, der sich seiner Bedeutung durchaus bewusst war. Allerdings nicht so bewusst, dass er nicht auch immer wieder im kleinen Kreis jungen und erfahrenen Journalist*innen von seiner Arbeit erzählt hätte, wie er das regelmäßig am Reuters Institute for the Study of Journalism getan hat, wo er im Beirat sitzt. Er machte das gerne, auch in der Hoffnung, dass ein paar seiner Botschaften den Weg zurück über den Atlantik finden würden. Erst, wenn er etwas öffentlich gesagt habe, nehme seine Redaktion ihm ab, dass ihm die Sache ernst sei, sagte er einmal. Eines war ihm offenbar ernst, denn er wiederholte das, und es ist hängengeblieben: „Ich stelle nur Optimisten ein.“ Ein Gespür für diejenigen Kolleg*innen, die mit Hartnäckigkeit und Erfolgsglauben Dinge vorantreiben, ob investigative Recherchen oder Produktentwicklung, könnte ein Teil seines Erfolgsrezepts für die digitale Transformation gewesen sein (das andere trug den Vornamen Jeff).

Als pragmatisch-zuversichtliche Optimistin kann man dem nur folgen. Wie schön ist es doch auch als Chefin, Alltag und gerne Bürofluchten mit Kolleginnen und Kollegen zu teilen, die bei jeder kleinen und größeren Krise einmal tief durchatmen und einem dann mit verzweifelt-hoffnungsvollem Lächeln versichern: „Das kriegen wir schon hin.“ Wie schätzt man sie, diejenigen, die immer wieder experimentieren, nachhaken, durchrechnen und letztlich mit der Botschaft um die Ecke biegen: „Das klappt.“

In der Medienbranche allgemein ist der Optimismus als Konzept dagegen wenig beliebt. Das liegt einerseits an den Kennzahlen und den bröckelnden Geschäftsmodellen. Andererseits steht dem aber auch das Selbstverständnis eines Berufsstands entgegen, der oft dem Reflex erliegt, jeder Aufgabe das Wort Krise anzuhängen und sie damit noch ein wenig unlösbarer erscheinen zu lassen, man denke an Corona-Krise, Flüchtlings-Krise, Klima-Krise, Impfstoff-Krise und, ja, Medien-Krise. Optimismus wird in dieser Lesart oft als Schönfärberei missverstanden. Journalisten sollen schließlich kritisch sein und Schweinereien aufklären. Die Welt in Zuversicht zu tauchen, das möge bitte die PR übernehmen. Aus diesem Grund hat auch derjenige Journalismus zuweilen kommunikativ einen schweren Stand, der sich konstruktiv oder lösungsorientiert nennt.

Das Publikum allerdings ist davon zunehmend genervt. Mehr als ein Drittel der Nutzer*innen finden Journalismus zu negativ und schalten deshalb immer wieder mal ab, wie im Digital News Report ein ums andere Jahr zu lesen ist. Nicht unbedingt, weil sie keine schlechten Nachrichten mehr hören mögen, sondern weil viele die Welt um sie herum ganz anders wahrnehmen – zumindest, wenn nicht gerade Pandemie herrscht. Sie machen oft ziemlich positive Erfahrungen mit Kolleg*innen, Freund*innen, Nachbar*innen und wildfremden Menschen im Supermarkt oder am Bahnhof, und haben deshalb das Gefühl, selbst etwas erreichen zu können, wenn sie sich zusammentun und die Dinge anpacken. Herausforderungen müssen bewältigt werden, hilft ja nichts.

Und das ist tatsächlich der Kern des Optimismus: nicht etwa ein rosarotes Weltbild, ein Verleugnen der Tatsachen, ein von Euphorie getränktes Aufspringen auf jeden noch so durchsichtigen Trend. Aber die Zuversicht, dass man mit ordentlichem Einsatz von Gehirnzellen, Fleiß und Kooperation schon irgendwie weiterkommt auf dem Weg zu einer besseren Zukunft, so weit das Ziel auch noch entfernt sein mag. Es geht nicht immer für alle gut aus, manch eine Generation trägt Lasten, die kaum zu schultern sind. Aber wer Max Rosers Langzeit-Datenreihen in Ourworldindata.org folgt, weiß, dass Fortschritt Realität und keine Fiktion ist.

Nun wäre es falsch zu behaupten, dass Fortschritt allein von Optimist*innen gebaut wird. In jedem Team muss es Zweifler*innen geben, die Details und Nuancen sehen, auf Risiken und Gefahren hinweisen und sich nicht von Chef*innen zum Schweigen bringen lassen, die die Welt in „Trouble Shooter und Trouble Maker“ einteilen, auf Deutsch wird das Wort Bedenkenträger sehr abfällig verwendet. So manch ein Unglück hätte verhindert, manch eine Gefahr abgewendet werden können, hätte man rechtzeitig Bedenkenträger*innen Gehör geschenkt. Aber die Kraft steckt im Optimismus, dem Glauben, dass etwas Gutes entstehen kann, wenn man die Sorgen und Zweifel nur ernst genug nimmt.

Ganz sicher haben sie auch Martin Baron beschwert, den großen Investigativ-Journalisten, als er sich vor acht Jahren mit Jeff Bezos traf, um über die Zukunft der WaPo zu sprechen. Werde die Redaktion unabhängig bleiben können unter den Augen eines Mannes, für den die WaPo eher Spielzeug als Berufung zu sein schien, und dessen Unternehmens-Imperium in der Abteilung Menschlichkeit deutlich weniger Sterne verdient als in der Kategorie „Customer Obsession“? Der Chefredakteur war jedenfalls zufrieden mit dem Eigentümer, das hat er eins ums andere Mal betont. Womöglich hätte sich Marty Baron sogar selbst eingestellt.

Dieser Beitrag erschien für den Newsletter des Digital Journalism Fellowship am 28. Januar im Blog der Hamburg Media School