Die KI-Revolution: Darauf müssen Redaktionen aufpassen

Man muss nicht von Technik besoffen sein, um sich all die Potenziale auszumalen, die in der Entwicklung von Bots wie ChatGPT stecken – auch für den Journalismus. Der in dieser Woche erschienene Trend-Report des Reuters Institutes for the Study of Journalism erwartet gar ein „Jahr des Durchbruchs“ für den Einsatz Künstlicher Intelligenz in Redaktionen. Schon länger setzen viele von ihnen KI ein, vor allem für Leseempfehlungen, aber auch für automatisierte Textproduktion. Nun könnte der „Roboterjournalismus“ aber ein neues Level erreichen. 

Der im November gelaunchte Bot von Open AI beantwortet in Windeseile Fragen und hilft sogar bei der Erstellung von Interviewfragen. Er fasst Texte zusammen oder redigiert sie, er spuckt Literaturlisten aus und komponiert sogar Cartoons. Die Möglichkeiten sind grenzenlos. Der Bot von Open AI ist das, was man auf Englisch einen Game Changer nennt. Nimmt man dazu noch die Möglichkeiten, auf Basis von Recherchen animierte Filme zu produzieren, wie das zum Beispiel die Redaktion von Semafor ausprobiert, drängt sich der Eindruck auf: Bald ist alles möglich. 

Und genau hier liegt eine riesige Herausforderung für den Journalismus. Denn schon heute fehlt es in den meisten Medienhäusern vor allem an Fokus und an Klasse, keinesfalls an Masse. Je mehr möglich ist, umso wichtiger wird es zu entscheiden, was man tut, und was man lieber lässt. Einer Branche, die ohnehin lieber mit Bauchgefühl arbeitet als mit Strategie, wird genau das besonders schwerfallen. 

Die Chancen

Unter dem Strich dürfte KI dem Journalismus deutlich mehr nützen, als dass sie ihm schadet. Das JournalismAI Project an der London School of Economics ist ein Fundus entsprechender Innovationen, inklusive Trainingsprogramm. Gerade kleine Redaktionen profitieren von KI, weil sie kleineren Teams mehr leisten können. Software wird Routinearbeiten erledigen, während Reporter tiefer recherchieren – und auch das mit Hilfe von KI. Der Faktencheck wird einfacher, hyperlokale Berichterstattung möglich, Personalisierung von Inhalten und Kundenbindung leichter zu automatisieren.

Vielfalt und Inklusivität lassen sich besser erreichen, wenn Algorithmen dies kontrollieren oder gar steuern. Bei der kanadischen Globe and Mail zum Beispiel bestückt die Software Sophi die Homepage und stellt unter anderem sicher, dass ethnische Minderheiten inhaltlich repräsentiert sind. Anderswo machen automatisierte Übersetzungen auch in seltene Sprachen Beiträge neuen Zielgruppen zugänglich. Für diejenigen, die schlecht lesen können, gibt es Text-to-speech- Software, für solche mit Gehörproblemen maschinelle Transkription. Avatare können dieselbe Nachricht je nach Zielgruppe im entsprechenden Look, Stil, und Komplexitätsgrad vermitteln. Software wie Dall-E hilft dabei, komplexe Inhalte in Bilder zu pressen. Das bedeutet auch, dass verschiedene Audiences präziser bedient werden können. Die Hoffnung besteht, mit neuen Mitteln einen größeren Teil derjenigen zu erreichen, die das Nachrichtengeschehen bislang ignoriert haben – womöglich, weil sie sich nicht angesprochen fühlten.

Die Risiken

Natürlich bestehen auch Risiken. Die Gefahr wächst, auf manipulierte Inhalte hereinzufallen, denn davon wird es reichlich geben. Journalisten werden ihre Rolle als Gatekeeper neu ausfüllen müssen. Bislang sind die Bots darauf trainiert, plausible Inhalte abzuliefern, nicht 100 Prozent Faktentreue. Fachleute sagen, die Lernkurve der KI sei steil, die Fehlerquote sinke rasant. Aber derzeit kann vermutlich niemand mit Sicherheit sagen, ob die maschinellen Möglichkeiten zu mehr Lügengeschichten oder akkuraterer Qualitätskontrolle führen werden. Und natürlich fragen sich Journalisten, wie ihre Aufgaben und Arbeitsperspektiven sich entwickeln werden in einer Welt, in der Maschinen schneller und womöglich verständlicher schreiben und produzieren, als sie das je könnten.

Die Sorgen sind berechtigt. Vor allem jene Kolleg:innen, denen es an Lust, Zeit, Ressourcen und Energie zum Lernen fehlt, könnten am Ende leer ausgehen. Viele Jobs werden sich verändern. Viele Fähigkeiten, die früher nachgefragt waren, stellt die Technik über Nacht in den Schatten. Aber der Einzug von KI in Redaktionen birgt auch Gutes für den Arbeitsmarkt. Gelten Verlagshäuser zum Beispiel heute für Tech-Talente noch als angestaubt, könnten sie zu verlockenden Arbeitgebern werden, wenn KI-Versiertheit künftig zum Job-Profil gehört. Entsprechendes Know-how macht Journalisten auch für andere Branchen attraktiv und damit leichter vermittelbar. Redaktionsarbeit dürfte interessanter werden, wenn Roboter die Routine-Jobs erledigen. 

KI werde Medienunternehmen dabei helfen, „mehr mit weniger zu erreichen und Möglichkeiten in der Produktion und Verteilung besserer Inhalte zu eröffnen“, schreibt Nic Newman im Trend-Report des Reuters Institutes, der auf einer nicht-repräsentativen Umfrage unter Top-Führungskräften in Medienhäusern weltweit beruht. „Aber sie wird auch zu neuen Dilemmata führen, wie diese machtvollen Technologien ethisch und transparent genutzt werden können“, so Newman weiter. 

Eine Frage der Ethik

Wenn sich Journalisten künftig mehr mit Ethik beschäftigen müssen, um nicht von KI überrumpelt zu werden, ist das zunächst einmal eine gute Sache. Tatsächlich ist es zwingend überall dort, wo lernende Software Menschen ersetzt, denn werden Fehler und Vorurteile maschinell skaliert, sind die Schäden potenziell immens. Genauso wichtig wird es aber sein, dass Medienhäuser und Redaktionen ihre Ziele und die dazu passende Strategie penibel entwickeln. Schon bei der digitalen Transformation haben das viele versäumt. Etliches, was nach Innovation klang, wurde gemacht, ohne vorher zu überlegen, auf welche Weise es zum Erfolg von Produkten, Marken oder Missionen beitragen könnte. Man pilgerte lieber zur New York Times, als sich mit den Bedürfnissen der potenziellen Nutzer in der Nachbarschaft zu beschäftigen. So wurde viel Geld und Energie verbrannt. Diese Fehler gilt es zu vermeiden.

Die Versuchung, immer noch mehr zu produzieren, schlicht, weil es möglich ist, könnte eines der größten Probleme des Journalismus noch verschärfen. Laut dem Trend-Report macht die wachsende Nachrichtenmüdigkeit ihres Publikums schon jetzt 71 Prozent der befragten Führungskräfte Sorgen. Dieser kann man nicht mit mehr Masse begegnen, sondern mit Angeboten, die relevant und bedürfnisgerecht sind. Ob sie mit oder ohne KI erstellt werden sollten, das müssen Menschen entscheiden. 

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 11. Januar 2023

Wenn der Jury-Liebling beim Publikum floppt: Wir müssen über Wertschätzung reden

Die Versuchung, diesen Text mit Claas Relotius zu beginnen, ist groß. Der als Reporter getarnte Geschichtenerfinder hatte etliche Journalistenpreise abgeräumt, bevor seine Lügen 2018 aufflogen. Dies hatte nicht nur seinen Arbeitgeber Der Spiegel einiges an Energie und Ansehen gekostet, sondern die Scheinwerfer direkt auf die Belohnungssysteme der Branche gelenkt. Ist schön auch immer gut, fragte man sich damals? Erfahrene Juror:innen hatten sich blenden lassen, weil sie auf starkes Erzählen schauten. Sie bewerteten Sprache und Dramaturgie höher als Plausibilität. Das war peinlich, aber offenbar nicht peinlich genug. Schnell ging man zur Tagesordnung über. Die Sache war ja aufgeklärt.   

Nun muss man wegen eines Skandals nicht alle Journalistenpreise in Frage stellen. Tausende Reporter:innen verdienen ihre Auszeichnungen, weil sie hartnäckig und unter großem Einsatz recherchieren, akribisch an Text, Ton- oder Bildschnitt arbeiten, begeisternde und bewegende Geschichten abliefern. Man darf annehmen, dass sich nur sehr wenige mit Lügen durchs Berufsleben schummeln. Viele Journalistenjobs sind mäßig bezahlt, man gönnt jedem und jeder Einzelnen ein paar Euro extra. Und doch kann man – ja, muss man – ab und an fragen, ob die in einer Branche herrschenden Anreizsysteme das bewirken, was sie erreichen sollten. 

Was guten Journalismus auszeichnet

Moderner Journalismus denkt vom Nutzer her, heißt es. Er hört Menschen zu, begegnet ihnen mit Respekt, spricht sie in ihrer Sprache an. So betrachtet, definiert sich erfolgreicher Journalismus also auch über seine Wirkung beim Publikum. Und da fängt die Schwierigkeit an. Denn viele Preise – wenn sie nicht ohnehin kommerziellen Logiken folgen – reflektieren eher das, was Journalist:innen unter starkem Journalismus verstehen.

Seitdem Datenanalysen Nutzungsgewohnheiten bis ins Detail offenlegen können, zweifeln einige Praktiker:innen jedoch zunehmend an dieser Definition von Qualität. Da ist zum Beispiel Ritu Kapur, Gründerin und Chefin des indischen Nachrichtenportals The Quint. In einem Gespräch zum Thema Klimajournalismus merkte sie kürzlich an, dass diejenigen Formate, auf die ihre Redaktion besonders stolz sei, oft auf wenig Resonanz stießen. Liebevoll gebaute, preiswürdige Multimedia-Geschichten aus fernen Landesteilen floppten beim Publikum. Dagegen würden weniger aufwändige, dafür aber alltagsnahe Stücke reichlich geteilt und kommentiert. 

Ähnlich erlebt das Adrian Monck. Der ehemalige Journalist und Journalismus-Professor leitet die Kommunikation beim World Economic Forum und damit auch eine Redaktion, die auf verschiedenen Social-Media-Kanälen einen bemerkenswert konstruktiven Ansatz betreibt. In kurzen Kacheln oder Videos werden Lösungen präsentiert, mit denen Menschen und Organisationen aus aller Welt drängende Umweltprobleme angehen. Mangels Etats würden die Beiträge hocheffizient produziert; nichts davon sei das, was Monck „Faberge Egg Journalism“ nennt, also kunstvoll erstellte Einzelstücke. Und doch seien die Zugriffe enorm. Vor allem junge, bildungsaffine Menschen aus aller Welt begeisterten sich für die simplen Beispiele dessen, was möglich sei. In einem normalen Medienhaus, wo Karrieren und Identitäten entlang von preiswürdigem Journalismus entstünden, hätte sich so ein Angebot nie etablieren können, sagt Monck. Läuft da also etwas Grundlegendes falsch? 

Was die Branche macht, ist eine Sache. Das können Preise sein, bei denen man sich selbst feiert oder Listen, in denen Fachmagazine die Kolleg:innen des Jahres krönen – was beiden Seiten Aufmerksamkeit verschafft und sich auf diese Weise in Euro auszahlen kann. Für die einen ist es ein Geschäftsmodell, für die anderen ein Marketingmittel. Wichtiger ist aber, wie Medienhäuser intern Lob und Wertschätzung verteilen. Denn daraus entsteht die Zukunft des Journalismus. Und die wird man wohl eher in dem vom BBC-Journalisten Ros Atkins entwickelten Explainer Format finden als bei Snowfall, dem einst in der Branche weithin bewunderten Multimedia-Projekt der New York Times, das nur einen Schönheitsfehler hatte: Die Nutzer ließ es einigermaßen kalt.

Eine Checkliste für Wertschätzung      

Deshalb ist es wichtig, dass Verlage und Redaktionen ihre internen Anreizsysteme regelmäßig auf ihre Wirkung hin überprüfen. Dabei geht es um Beförderungen und Prämien ebenso wie um simples Lob in offener Runde, das bekanntermaßen den Ton setzt und in die eine oder andere Richtung motivieren kann. 

Das wichtigste Signal ist: Wer macht Karriere? Die Kolleg:innen werden genau beobachten, ob der recherchestarke Politikreporter, die Wissenschaftsjournalistin mit Spezialgebiet Klima, der kreative Produktmanager oder die versierte Strategin in die Chefetage aufsteigen. All das gibt Hinweise darauf: Habe ich mit meinem Produkt, meinen Talenten, meinem Spezialgebiet Chancen, gesehen und gehört zu werden? 

Eine kleine Checkliste kann abklopfen, ob die Redaktion in Sachen Wertschätzung auf einem guten Weg ist: 

► Wird Nutzungsintensität ausgewertet und anerkannt? Immerhin kann Journalismus noch so beeindruckend sein – er wird wenig Wirkung erzielen, wenn ihn niemand bemerkt. 

►  Werden immer wieder dieselben Kolleg:innen oder Leistungen gelobt? Das sagt zuweilen mehr über Vorlieben von Chefredakteur:innen aus als über die Verteilung tatsächlicher Qualität. 

► Man kann auch überlegen: Wer oder welche Gruppe wird nie gelobt? Gibt es nie einen Anlass, ein Team oder eine Leistung zu würdigen, besteht Handlungsbedarf. Womöglich passen Mitarbeiter:innen und Aufgabe nicht zusammen oder die Aufgabe selbst hat sich überlebt. 

► Wichtig ist auch: Werden Experimente gelobt, auch wenn sie nicht das erhoffte Ergebnis gebracht haben? Wer Kolleg:innen dazu ermutigt, Dinge auszuprobieren, wird schneller Erfolge ernten als diejenigen, die sich an Vertrautes klammern. 

► Und schließlich: Ist Anerkennung inklusiv und schließt alle an Projekten Beteiligten ein, oder reicht das Lob nur für ein paar Stars? So manch eine Geschichte wird erst durch die Verkaufe stark oder dadurch, dass sie jemand im richtigen Moment aus den Archiven zieht. 

► Mitdenken und Kundenorientierung verdienen ebenso Belohnung wie intensive Recherche und sprachliche Meisterschaft. Jeder, der sich um redaktionelle Qualität bemüht, wird diesen Fragenkatalog mühelos ergänzen können. 

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Unternehmen müssen nicht zu Lob-Maschinen werden, auch Redaktionen nicht. Die meisten Journalist:innen arbeiten aus eigenem Antrieb, weil sie etwas bewirken möchten: informieren, erklären, aufklären, unterhalten. Die wenigsten erwarten dafür Preise. Aber Lob ist ein Stoff, aus dem Unternehmenskultur gemacht wird. Führungskräfte, die dies ignorieren, geben ein kraftvolles Werkzeug aus der Hand. Wer spürt, dass seine Arbeit gesehen wird, wird sich auch künftig ins Zeug legen. Wenn dann noch ein Preis dazukommt, ist das umso schöner.

Diese Kolumne erschien unter anderem Titel bei Medieninsider am 6. Dezember 2022.

Sind Audiences schon wieder News von gestern?

Kürzlich erreichte die Medienbranche mal wieder eine Nachricht aus der alten Welt. Es sei ein „Mythos“, hieß es in einer Meldung des Beratungsunternehmens Schickler, dass online nur kurze Texte gelesen würden. 1400 Wörter seien die optimale Länge, bei der Leserinnen und Leser am Bildschirm hängenblieben, erst danach falle die durchschnittliche Lesezeit ab. Politik-Stories sollten etwas kürzer sein, bei Geschichten über Menschen dagegen könne man ruhig in die Vollen gehen. Diese Empfehlung basiert auf der Analyse von 750.000 Artikeln regionaler Newsportale und stammt aus dem uneingeschränkt verdienstvollen Projekt „Drive“, bei dem dutzende Verlage unter Leitung von Schickler und der DPA ihre Nutzerdaten bündeln und auswerten. Und doch reflektiert sie eine überholte Denke. Denn solche „one size fits all“-Aussagen helfen nicht, sie gehen schlimmstenfalls nach hinten los. Noch mehr Texte mit Überlänge braucht niemand. 

Praktiker können ohnehin aus langjähriger Erfahrung berichten: Wenn Länge funktioniert, liegt das einzig und allein an der Qualität des Textes, Videos oder Podcasts. Beim Vergleich von Textlängen mit Nutzungsintensität ergibt sich üblicherweise eine U-förmige Kurve. Sehr kurze Stücke werden viel abgerufen, sehr lange Stücke auch. Dazwischen liegt das in der Branche als „Tal des Todes“ bezeichnete Territorium, der berüchtigte 80-Zeiler, der selten seinen Zweck erfüllt. Dumm nur, dass die Kurve des Angebots oft eher die Form eines Torbogens hat.   

Dennoch werden sich die Schickler-Analyse viele anschauen, die verzweifelt nach Patentrezepten suchen, um ihr (digitales) Angebot an die Leser zu bringen, ihnen Loyalität und im besten Fall ein Abo zu entlocken. Doch dies ist die überkommene Annahme, die von einem allgemeinen Publikum, einer geduldig konsumierenden Öffentlichkeit ausgeht, an die sich der Journalismus richtet. Nur: Diese Rezepte gibt es nicht. In einer Welt des Überangebots an Informationen, Nachrichten und Ablenkung hilft es nur, sich intensiv mit den verschiedenen Bedürfnissen potenzieller Nutzer zu beschäftigen und ihnen einen Mehrwert zu bieten. Im Fachjargon heißt dieses Konzept gemeinhin „Audiences first“.

Dieses Werte-Versprechen muss man aber auch einlösen können. Wer zum Beispiel eine Redaktion mit überwiegend handwerklich guten, aber nur einzelnen brillanten Autoren führt, sollte sich gut überlegen, die 1400-Wörter-Botschaft zu verbreiten. Natürlich kann man Schreibkünstler oder Investigativ-Talente einkaufen. Für die meisten ist es aber die realistische Option, penibel an Überschriften zu arbeiten, thematische Schwerpunkte aufzubauen, welche die Kompetenzen im Team spiegeln, mit bestimmten Nutzergruppen intensiv zu interagieren oder Produkte zu entwickeln, mit deren Hilfe sich Menschen schnell informieren können. Es lohnt sich, als Beispiel den britischen Economist zu studieren; er gehört zu den Publikationen, die sich verschiedenen Bedürfnissen von den Formaten und Produkten her besonders gekonnt annähern. 

Jedes Medium ist anders 

Jede Medienorganisation sollte sich über ihre ganz speziellen Qualitäten, ihren Platz im allgemeinen Angebot im Klaren sein und ihre Strategie entsprechend ausrichten. Wer sich fragt, ob es sich lohnt, eine bestimmte Nutzergruppe gezielt zu bedienen, kann sich an folgenden Fragen entlanghangeln: Ist sie groß genug, haben wir genug Leidenschaft und Kompetenz dafür, konkurrieren wir mit einem starken externen Angebot und – wichtig mit dem Blick auf Digital-Abos – sind die Nutzer potenziell zahlungsbereit? Hat man ein paar Antworten, hilft nur austesten. Dazu muss man nicht die New York Times sein. Gerade Lokalzeitungen können sich mit einem auf verschiedene Nutzergruppen in der Region abgestimmten Profil unverzichtbar machen. 

Es lassen sich einige Gründe identifizieren, warum sich viele Verlage in Deutschland mit dem Audience-Konzept so schwer tun. 

► Ein Grund ist, dass sich das Print-Geschäft hierzulande noch einigermaßen rentiert. Etliche leitende Manager setzen nach wie vor auf das Papier- (oder PDF-)affine Publikum und hoffen, dass das reicht, bis sie selbst in Rente gehen. Steigende Energie- und Logistikkosten machen das Aussitzen allerdings zu einer gefährlichen Strategie. 

► Der zweite Grund ist Ignoranz. Wie früher betrachtet man das Geschäft allein aus der Perspektive des Produzenten (der Journalisten) und Verkäufers heraus und beschäftigt sich zu wenig mit den Nutzern und deren recht unterschiedlichen Bedürfnissen. 30 Jahre Digitalisierung scheinen noch nicht auszureichen, um zu verdeutlichen, dass sich die Dynamiken zwischen Herstellern und Kunden entschieden geändert haben.  

Audience-Management: Stilgruppen statt Zielgruppen

Für das englische Wort Audiences gibt es leider keine wirklich gute Übersetzung – Vorschläge sind hier willkommen. Einige Redaktionen arbeiten mittlerweile mit „Themen-Teams“ aus der mit Daten belegten Erkenntnis heraus, dass zum Beispiel Angebote rund um Familie und Partnerschaft, private Finanzen oder Kriminalfälle überdurchschnittlich viele Abos generieren. Das Audience-Konzept geht aber über das inhaltliche Angebot hinaus. Audiences sind Bedürfnis- oder Wertegemeinschaften, die bestimmte Gewohnheiten oder Vorlieben teilen – zum Beispiel frühmorgens bedrucktes Papier aus dem Briefkasten zu fischen. Auch die Print-Audience ist eine Audience, aber eben nur noch eine von vielen. Diese Gemeinschaften schätzen es, in einem bestimmten Ton, zu bestimmten Zeiten mit bestimmten Produkten angesprochen zu werden. Die Themen können dagegen sehr variieren.

Aus diesem Grund stößt auch das Persona-Konzept schnell an seine Grenzen, auf das einige – tendenziell eher fortschrittliche – Verlage ihre Produktion ausgerichtet haben. Toan Nguyen, Geschäftsführer von Jung von Matt Nerd, Top-Werber und Spezialist im Aufspüren neuer Trends, warnte kürzlich in einem Vortrag davor, zum Beispiel das Alter als verbindendes Merkmal zu überschätzen. Eine 31-Jährige in Yoga-Pants, die im Bio-Laden am Mandelmus-Regal auf eine 51-Jährige mit Yoga-Matte unter dem Arm treffe, habe womöglich mehr mit ihr gemeinsam als eine 31-Jährige, die sich im Drogeriemarkt nebenan mit L’Oreal Shampoo und Maybelline New York Lipgloss eingedeckt habe. „Alter hat eine statistische Wahrscheinlichkeit auf Gemeinsamkeiten, mehr nicht“, sagte Nguyen. 

Werte-Gemeinschaften seien deutlich wichtiger. Er empfiehlt, von Stilgruppen zu sprechen statt von Zielgruppen. Den Begriff Audiences kann Nguyen übrigens überhaupt nicht leiden. Dies reflektiere die alte Denke vom Bespielen eines passiven Publikums. In der neuen, digitalen Welt gehe es eher darum, Communities aufzubauen und zu pflegen. Das signalisiere immerhin, dass es da einen Rückkanal gebe, weil gegenseitige Wertschätzung zentral sei. Das Gefühl von Zugehörigkeit ließen sich viele Menschen einiges kosten. 

Ist „Audiences first?“ also schon wieder die News von gestern? Über passende Begriffe kann man lange diskutieren. Wichtig ist, dass sie treffend, aber auch so klar sind, dass sie zur Sprache der jeweiligen Redaktion passen. Am schlichtesten hat es vermutlich Clayton Christensen ausgedrückt, der leider früh verstorbene Erfinder des Konzepts „Disruptive Innovation“. In jeder Branche müsse man sich damit auseinandersetzen, welche Jobs man für seine Kunden zu erledigen habe, schrieb er schon in den Neunzigerjahren. In seinem Aufsatz „Breaking News“, der sich speziell mit der Medienbranche beschäftigt, formulierte er das 2012 so:

 „Menschen laufen nicht herum und schauen nach Produkten, die sie kaufen können. Sie leben ihr Leben, und wenn sie auf ein Problem treffen, suchen sie eine Lösung – und an diesem Punkt bestellen sie ein Produkt oder eine Dienstleistung. (…) Es ist der Job, nicht der Kunde oder das Produkt, das die fundamentale Einheit der Analyse sein sollte.“ 

Was immer dieser Job ist, er wird sich nicht in der Anzahl der Wörter messen lassen.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 10. November 2022.

Die Transparenz-Illusion: Wie Journalisten wirklich Vertrauen schaffen

Vertrauen ist ein großes Wort – und ein ebenso schwammiges Konzept. Was bedeutet das, wenn Menschen in Umfragen die Frage verneinen, ob sie Medien vertrauen? Kann man tatsächlich von einer Vertrauenskrise in den Journalismus sprechen, wie das beide Seiten gerne tun: diejenigen, die Alarm schlagen, um sich davon Unterstützung zu erhoffen, sowie auch die anderen, die nicht viel von der Zunft und ihren Praktiken halten? 

Es gibt eine ganze Reihe von Studien, die versuchen, dem auf den Grund zu gehen. Die wohl umfangreichste Arbeit dazu leistet das Reuters Institute for the Study of Journalism in Oxford. Es legt mit dem Digital News Report nicht nur seit zehn Jahren die weltweit größte, überwiegend quantitative Studie über Mediennutzungsverhalten vor – der Deutschland-Teil wird vom Hans Bredow Institut betreut –, sondern leitet auch ein tiefgreifendes Forschungsprojekt zu Vertrauen in Medien. In Deutschland befasst sich seit 2015 auch die Johannes Gutenberg Universität in der Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen mit dem Thema. An der TU Dortmund gibt es seit 2018 im Forschungsprojekt Journalismus und Demokratie Erkenntnisse zur Glaubwürdigkeit des Journalismus und Vertrauen in die Medien.   

Auf den ersten Blick mögen sich ein paar Erkenntnisse der verschiedenen Studien widersprechen. Zum Beispiel hatten die Dortmunder im Frühjahr gemeldet, dass die Glaubwürdigkeit des Journalismus während der Pandemie gelitten habe, während sowohl der Digital News Report als auch die Uni Mainz zumindest für 2020 und 2021 einen deutlichen Zuwachs an Vertrauen in die Medien registriert hatten. Steigt man aber etwas tiefer in das Material ein, ergeben sich Gemeinsamkeiten – ganz unabhängig von der immer gültigen Erkenntnis, dass der Wortlaut der Fragestellung die Antworten prägt, weshalb sich die verschiedenen Untersuchungen im Detail schwer miteinander vergleichen lassen. Was sich ableiten lässt:

Erstens: Journalisten verstehen unter Vertrauen in Medien überwiegend etwas anderes, als dies die Konsumenten von Journalismus tun

Journalisten meinten oft, Transparenz über ihre Arbeit oder der Austausch mit den Lesern, Hörern oder Zuschauern prägten Vertrauen, so Rasmus Nielsen, Direktor des Reuters Institutes, kürzlich auf dem World News Media Congress. Das Publikum hingegen sei viel pragmatischer. „Die Menschen wollen wissen, ob die Medien für sie da sind“, sagte er. Ihnen sei wichtig, dass sich Journalisten mit den Themen beschäftigten, die für sie und ihr tägliches Leben relevant seien (s. Word Cloud). Nutzer stünden dem Journalismus zu großen Teilen nicht etwa feindselig, sondern eher gleichgültig gegenüber. Nielsen: „Sie glauben, dass sie Journalismus nicht brauchen oder finden ihn deprimierend.“ Aus diesem Grund ist die leider erst in diesem Jahr so populär gewordene Debatte über Nachrichtenmüdigkeit so wichtig. Denn wer keinen Journalismus mehr konsumiert, kann auch kein Vertrauen zu entsprechenden Marken aufbauen.  

Zweitens: Die Menschen sind überwiegend nicht anti Journalismus, oft aber anti Journalisten

Journalismus ist wichtig für das Funktionieren der Demokratie – dies bestätigten in der Dortmunder Studie vom April 87 Prozent, also etwa neun von zehn Befragten. Damit lässt sich arbeiten. Allerdings äußerten sie viel Kritik daran, wie Journalismus oft betrieben werde: der Einfluss von Politik und Wirtschaft sei zu stark, die Themen zu wenig relevant (siehe oben), die Sensationslust zu ausgeprägt. 43 Prozent bestätigten die Aussage, der Journalismus sei in den vergangenen Jahren schlechter geworden. Das Gleiche sagen übrigens viele Journalisten über die eigene Branche.

Niederschmetternd fiel das Urteil der Nutzer in der jüngsten Studie des Vertrauens-Projekts des Reuters Institutes aus: Viele Journalisten seien Manipulatoren, die vor allem selbst groß herauskommen oder die Botschaften von bestimmten Politikern verstärken wollten, hieß es dort auf der Basis von Nutzer-Interviews in den USA, Großbritannien, Indien und Brasilien. Hier befinden sich die Verlage und Sender im Zwiespalt: Bauen sie bestimmte Kolleginnen und Kollegen als starke Einzelmarken auf, die auch in den Talkshows und in den sozialen Netzwerken funktionieren, kann dies zwar vertrauensbildend (und lukrativ) sein. Dieser Effekt verkehrt sich aber schnell ins Gegenteil, wenn die Person als zu eitel wahrgenommen wird, sich mit den „falschen“ Experten oder Politikern assoziiert oder gar selbst in eine Affäre verstrickt ist. Es bleibt deshalb wichtig, allen Personalisierungstendenzen zum Trotz auch die Medienmarke selbst zu pflegen, die den einen oder anderen personellen Abgang hoffentlich unbeschädigt übersteht.      

Drittens: Das geringe Vertrauen in digitale Plattformen prägt das angeknackste Vertrauen in den Journalismus

Von einem „Trust Gap“, einer Vertrauenslücke, sprechen die Forscher des Reuters Institutes, und sie meinen damit den unterschiedlichen Vertrauensvorschuss, den die Nutzer den traditionellen Medien einerseits und den digitalen Plattformen andererseits entgegenbringen. Den etablierten Medienmarken vertrauen laut Digital News Report im Schnitt gut 40 Prozent der Menschen, für die Suchmaschinen und sozialen Netzwerke gibt dies dagegen nur jeder Vierte zu Protokoll. Das sind zunächst einmal gute Nachrichten für jene, die ihre Kunden direkt auf ihre Homepage locken oder an ein gedrucktes Produkt, eine linear ausgestrahlte Sendung binden können. Da nun aber vor allem jüngere Generationen ihren Journalismus hauptsächlich aus den Netzwerken beziehen, nimmt das Vertrauen in Medienmarken schon strukturell bedingt ab. Oft wissen die Konsumenten von Nachrichten schließlich nicht einmal, wer der Urheber eines Beitrags war, den sie im Netz gefunden haben. 

Nach Ansicht von Nic Newman, Hauptautor des Digital News Reports, ist dies einer der Gründe, warum jüngere Nutzer mit Journalismus oft nichts anfangen können. Früher erklärten sich viele Stücke aus dem Zusammenhang einer Zeitungsseite oder einer Sendung heraus, heute erscheinen sie digital oft ohne Einordnung im Strom von anderen Inhalten. Redaktionen müssen deshalb darauf achten, dass jedes Stück für sich stehen kann, ausreichend gekennzeichnet ist und klar für die Marke steht. Sinkendes Vertrauen kann übrigens auch ein unbeabsichtigter Effekt von digitaler Bildung sein: Immerhin wird die jüngere Generation zurecht dazu angehalten, Inhalten im Netz mit Skepsis zu begegnen – sie könnten schließlich manipuliert sein. So betrachtet wäre der kritische Blick des Publikums ein gutes Zeichen.          

Viertens: Das Vertrauen in den Journalismus wird unmittelbar vom Vertrauen in die Politik beeinflusst 

Im Digital News Report ist dies Jahr um Jahr belegt: Dort, wo es polarisierende Wahlen, Entscheidungen wie den Brexit oder Bewegungen wie die Gelbwesten-Proteste in Frankreich gibt, leidet das Vertrauen in die Medien massiv. Journalisten werden dafür bestraft, dass sie sich in die Tiefen des politischen Streits hineinbegeben. Man verortet sie allzu oft auf der Seite der Mächtigen, statt sie als Verbündete wahrzunehmen. Hier hilft es, mehr auf Themen als auf Zitat-Schlachten zu setzen, Distanz zu wahren und zu akzeptieren, dass der Journalismus oft eben auch nicht besser sein kann als die Welt, die er abbildet. 

Dies könnte auch den negativen Ton in der Dortmunder Studie erklären, deren Befragte sich deutlich skeptischer zur Corona-Berichterstattung äußern als beispielsweise jene der Untersuchung, die von der Münchner LMU und der Universität Mainz im Auftrag der Augstein-Stiftung erarbeitet wurde. Die Dortmunder hatten ihre Stichprobe im Februar dieses Jahres erheben lassen, der Regel-Flickenteppich und die Impfpflicht wurden da kontrovers diskutiert. Die Augstein-Studie, in der die Menschen den Medien ein recht gutes Zeugnis ausstellten, basierte dagegen auf Befragungen im April 2020 und Februar 2021, als eine Mehrheit noch der Meinung war, die Regierung gehe mit der Pandemie vergleichsweise vernünftig um. Auch die Hoffnung auf eine Impfung mag zu dem Zeitpunkt eine Rolle gespielt haben.  

Fünftens: Mehr Transparenz führt nicht unbedingt zu mehr Vertrauen – sie dient aber der Qualität 

Es ist ein landläufiger Irrtum, der auch in der Branche kursiert, dass die Offenlegung aller Arbeitsweisen und vor allem Fehler mehr Vertrauen schafft. Für die genauen Arbeitsweisen interessieren sich die meisten Menschen genauso wenig wie dafür, wie genau der Fernseher funktioniert oder mit welchem Werkzeug der Installateur die Heizung repariert – beide sollen nur ihren Job erledigen. Legt man jeden Fehler offen, kann dies sogar nach hinten losgehen. Man stelle sich ein Krankenhaus vor, das auf einem Monitor am Eingang exakt alle Fehldiagnosen der vergangenen Monate protokolliert. Womöglich würde sich niemand mehr dort operieren lassen. Transparenz ist dennoch wichtig. Erstens ist sie die Voraussetzung für eine gute Fehlerkultur, die dafür sorgen sollte, dass permanent aus Fehlern gelernt wird. Zweitens diszipliniert sie. Müssen Journalisten die Quellen aller Studien angeben, die sie zitieren, werden sie sich überlegen, ob sie für ein Zitat zum zehnten Mal auf denselben Studienkumpel zurückgreifen oder doch mal nach aktuellen Veröffentlichungen suchen. Transparenz steigert also die Qualität – und sollte auf diese Weise indirekt zu mehr Vertrauen beitragen. 

Ohnehin ist dies womöglich die wichtigste Botschaft, die sich Redaktion immer wieder vergegenwärtigen sollten: In einer Zeit, in der – zurecht und aus Notwendigkeit heraus – viel Energie darauf verwendet wird, Überschriften für Suchmaschinen zu optimieren, Nutzer gezielt und unablässig mit Botschaften zu füttern, um ihre Aufmerksamkeit zu halten, Preismodelle zu optimieren und Verkaufspakete zu schnüren, bleiben die Relevanz, Tiefe und Faktentreue der Inhalte überragend wichtig. Ohne journalistische Qualität ist alles nichts. 

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 12. Oktober 2022. 

Wo die wirklichen Probleme öffentlich-rechtlicher Medien liegen

Wer deutschen Medien Behäbigkeit vorwirft, täte etlichen von ihnen Unrecht – außer, es beträfe die Reflexion über die eigene Branche. Die Debatte um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist ein Beleg dafür. Man kann loben, dass Reporter der Sender daran arbeiten, Missstände in ihren eigenen Häusern aufzudecken. Damit belegen sie die redaktionelle Unabhängigkeit. Unglücklich ist aber, dass dazu erst ein Skandal wie der Machtmissbrauch beim RBB gebraucht wurde. Ohne nachrichtlichen Aufhänger fehlt vielen Journalisten offenbar der Anreiz, eine Debatte in Gang zu setzen. Die Tendenz, stets nur zu reagieren, statt Themen zu setzen, gehört zu den großen Problemen des gegenwärtigen Journalismus. Nicht nur führt dies zu der latenten, oft gescholtenen Kurzatmigkeit der Berichterstattung. Es bedeutet auch, dass andere den Rahmen für die Diskussion definieren – gerne wird dafür das Wort „Framing“ genutzt.

Die Debatte über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wabert deshalb nun als Diskussion um überzogene Gehälter, falsch verstandene Privilegien und politische Einflussnahme durchs Land. Das ist angesichts der Einzelfälle nötig, verdrängt aber eine Auseinandersetzung, die viel wichtiger wäre: Jene darüber, wie sich die Medien, die von den Bürgern finanziert werden und allen Menschen im Land dienen sollen, in der modernen Informations- und Unterhaltungslandschaft weiterhin unverzichtbar machen können.

Angriffe auf die Öffentlich-Rechtlichen kommen nämlich nicht nur von der politischen Rechten. Auch marktliberale Kräfte und so manch kommerziell geführtes Medienhaus sprechen den großen Sendern gerne ihre Existenzberechtigung ab. Sie argumentieren, dass private Anbieter in der digitalen Welt ausreichend entsprechende Angebote bereitstellen. Aber dies stimmt eben nur teilweise. Privat finanzierte Medien haben schließlich nur eine Metrik: kommerziellen Erfolg. Sie müssen weder alle gesellschaftlichen Gruppen ansprechen noch in der Fläche präsent sein. Auch können sie nicht dazu verpflichtet werden, heikle oder gar überlebenswichtige Themen anzusprechen, wie den Umgang mit dem Klimawandel. All diese Aufgaben fallen den Öffentlich-Rechtlichen zu. 

In der Regel honorieren die Bürger das. Wenn es um Medienvertrauen geht, attestieren Studien wie der Digital News Report des Reuters Instituts in Oxford den großen Sendern international Jahr um Jahr die höchsten Werte aller Anbieter, zumindest dort, wo sie vom Publikum als unabhängig wahrgenommen werden. In der Pandemie informierten sie sich besonders häufig bei den public service media – so der englische Begriff – , das Vertrauen stieg vielerorts deutlich. Und selbst junge Menschen, die sich überwiegend über die sozialen Netzwerke auf dem Laufenden halten, tun dies in Deutschland häufig beim Instagram- oder TikTok-Kanal der Tagesschau, weil sie dort Verlässlichkeit vermuten. Bislang zahlen die Bürger auch weit überwiegend ohne Murren die entsprechenden Gebühren oder Steuern, mit denen sich die Sender finanzieren. In der Schweiz sprachen sich 2018 in einem Referendum mehr als 70 Prozent der Abstimmenden für eine Beibehaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aus – die Sender hatten davor einige Reformen versprochen und nach eigenem Bekunden auch umgesetzt. 

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk braucht eine Vision

Mit so einem Vertrauensvorschuss lässt es sich leben. Wenn deutsche Journalisten wegen der RBB-Affäre nun ständig von der Krise des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sprechen, ist das verfrüht und eine Art Selbstgeißelung, die sich bei aller berechtigten Kritik nicht dazu eignet, den Tatendrang in Richtung Reformen auf Dauer anzuheizen. Dazu wird eine deutlich konkretere und engagierte Debatte gebraucht, die selbstbewusst thematisiert, welche Rolle der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Demokratien einnehmen und welche Aufgaben dazu dringend angepackt werden sollten. Gefragt ist eine Vision für ein öffentliches Medienangebot in der modernen, fragmentierten und zum Teil überversorgten Informationslandschaft. 

Am drängendsten werden Strategien dafür gebraucht, wie sich die Öffentlich-Rechtlichen auch für junge Generationen unverzichtbar machen. Sonst verlieren sie ihre Daseinsberechtigung und früher oder später auch die gesellschaftliche Unterstützung. Dafür müssen sie, es hilft nichts, in den sozialen Netzwerken sichtbar und attraktiv sein. Das ärgert die Verlage. Allerdings geben die meisten zu, dass junge Menschen unter 25 für sie einigermaßen uninteressant sind, weil sie eher selten Digital-Abos abschließen. Aber sie sind die Mediennutzer der Zukunft. Gewöhnt man sie nicht an guten Journalismus, werden sie die traditionellen Publikationen auch später links liegen lassen.

Ran an Mediennutzer von morgen

Außerdem müssen die Sender in jeglicher Beziehung mehr Vielfalt bieten. Deutschland ist bunter geworden in den vergangenen Jahrzehnten, aber es gibt immer noch genügend gesellschaftliche Gruppen, die sich in den Angeboten der Medien nicht wiederfinden. Dazu müssen die Öffentlich-Rechtlichen Vielfalt nicht nur aus der Beobachterperspektive abbilden, sie müssen sie auch leben – und zwar bis hinauf in die Chefetagen. Diversität ist dabei vielschichtig zu verstehen. Sie reicht von Geschlechtergerechtigkeit und der Repräsentation verschiedener Gruppen bis zur politischen Vielfalt. Die Sender müssen vor allem auch dort präsent sein, wo es sich für private Anbieter nicht lohnt. Das trifft auch auf Regionen zu, die von Lokalzeitungen vernachlässigt werden. Deutschland hat zwar eine deutlich gesündere Regionalpresse als so manch anderes Land. Das könnte sich aber bei fehlender Innovationsfreude und unter wachsendem Kostendruck schnell ändern.

Öffentlich-rechtliche Medien müssen zudem ihre Erfolgskontrolle deutlich ausbauen. Während die meisten Verlage sich mittlerweile daran gewöhnt haben, den Gewohnheiten ihrer Nutzer nachzuspüren, messen die Sender viel seltener, ob sie ihre Ziele erreichen – wenn sie sich überhaupt welche setzen. Was der Öffentlich-Rechtliche gerne mit seinem journalistischen Auftrag begründet, ist oft nur Nachlässigkeit. In der Privatwirtschaft hat man eines viel früher verstanden (wenngleich nicht überall): Veränderungen geschehen nicht von selbst, man muss sie managen. 

Mehr Erfolgskontrolle

Solch eine Erfolgskontrolle ist vor allem dann wichtig, wenn es um die Frage geht, welche Angebote man getrost einstellen könnte. Beim „Stop doing“ gibt es allerdings immer drei Möglichkeiten: Dinge gar nicht mehr machen, Dinge anders machen, Dinge mit anderen gemeinsam machen. Vor allem letzteres geschieht bei den Öffentlich-Rechtlichen noch viel zu selten. Es ließe sich viel erreichen, wenn man Kräfte nicht nur national, sondern auch international bündeln würde. Es ist zum Beispiel unsinnig, wenn jeder kleine Sender jedes Format gänzlich neu entwickelt. Oft genügt es, Ideen anderer dem kulturellen Kontext anzupassen.

Gerade in Deutschland sollten die Sender und ihre Aufsichtsgremien Strukturreformen in Angriff nehmen statt im ewigen „Weiter so“ zu verharren. Sonst besteht die Gefahr, dass andere definieren, wie solche Reformen auszusehen haben. Dort, wo Macht und Einfluss verteilt werden, wird es individuelles Fehlverhalten immer geben. Die perfekte Aufsichtsstruktur, die jeden Fehltritt beleuchtet, kann es nicht geben. Aber je komplexer Hierarchien und Gremien sind, umso mehr Schlupflöcher gibt es und umso schwerer lassen sie sich kontrollieren. Schlanke Strukturen erleichtern Transparenz.

Die Sender werden aber nur dann stark bleiben, wenn sie auf Erfolge verweisen können. Dazu müssen sie Verbündete ihres Publikums bleiben und werden. Ob es um die Zukunft der Demokratie, die Lebensgrundlagen auf diesem Planeten, die öffentliche Gesundheit oder Krieg und Frieden geht: Es gibt ausreichend Themen, bei denen nur diejenigen Medien punkten können, die über Ressourcen, Werte und den festen Willen verfügen, im Dienst der Gesellschaft zu erklären, aufzuklären und zu debattieren – und dies nicht nur mit Wissen und Information, sondern auch mit Herz und Humor.  

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 14. September 2022. 

Management mangelhaft: Wo Führungskräfte in den Medien nacharbeiten müssen

Journalisten klagen über Qualitätsverlust im Journalismus – ach, bitte nicht. Noch nie waren die Formate und Ausspielwege so vielfältig, die Erkenntnisse über Kundenbedürfnisse so detailliert, die Technik so simpel zu nutzen. Und Reportern, Redakteuren und deren Chefs fällt nichts weiter ein, als zu jammern. Auch so könnte man eine neue Studie der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung interpretieren. Tenor: „Die Digitalisierung macht alles schlimmer“. Für den knapp 100 Seiten umfassenden Report „Arbeitsdruck – Anpassung – Ausstieg: Wie Journalist:innen die Transformation der Medien erleben“ haben die Autoren Burkhard Schmidt, Rainer Nübel, Simon Mack und Daniel Rölle 20 Journalisten verschiedener Medien ausführlich zu Themen wie Arbeitsbelastung, Qualität und Wertschätzung interviewt und zusätzlich eine nicht repräsentative Online-Befragung mit 161 Teilnehmern ausgewertet. 

Überfliegt man den Report nur, kann einem um den deutschen Journalismus angst und bange werden: Die Arbeitsbelastung wachse, die Zeit für Recherchen schrumpfe und die öffentlichen Anfeindungen nähmen zu. Wer sich nicht demnächst in die Rente retten könne, erwäge regelmäßig den Ausstieg aus dem Beruf, heißt es dort. Die detaillierte Lektüre lohnt sich trotzdem. Denn viele der Befragten zeichnen ein sehr reflektiertes und realistisches Bild der Situation in deutschen Medienhäusern und des Verhältnisses zwischen Journalisten und ihrem Publikum. Eigentlich berge der digitale Journalismus Chancen, man komme nur nicht dazu, sie zu nutzen, klingt dabei durch. Der Jammerlappen-Vorwurf greift also zu kurz. 

Deshalb ist die Studie vor allem das: ein desaströses Zeugnis für das Management in deutschen Medienhäusern. Strapaziert man das Bild, könnte man sagen, das Aufrücken in das Zeitalter des digitalen Journalismus ist gefährdet.

Die Note mangelhaft gibt es gleich in mehreren Fächern.

Fachgebiet Storytelling

Führungskräfte versäumen es vielerorts, eine Erfolgsstory zu entwickeln und zu vermitteln. Der moderne Journalismus bietet unendlich viele Möglichkeiten, die Erzähl- und Informationsqualität zu steigern und damit in der Theorie weitaus mehr Menschen zu erreichen als früher. Visualisierung, direkte Ansprache auf verschiedenen Plattformen, einfache Möglichkeiten zur Kooperation und Interaktion – die Liste der Chancen ist lang. Dennoch schaffen es viele Führungskräfte offensichtlich nicht, ihre Mitarbeitenden dafür ausreichend zu begeistern. Stattdessen wird reflexhaft gespart.

Fachgebiet Ressourcen schaffen

Führungskräfte helfen ihren Mitarbeitenden zu wenig dabei, sich freizuschwimmen. Jeder, der sich ernsthaft mit Nutzungsdaten beschäftigt, kennt das massive Missverhältnis zwischen redaktionellem Angebot und Nachfrage. Redakteure und Reporter produzieren ein Übermaß an schlichter Nachrichtenkost, während die Kunden auf ganz andere, verschiedene Formen Appetit haben: Erklärstücke, Inspiration, Beratung, Unterhaltung und Trends – um nur einige zu nennen. Dies führt dazu, dass etliche Texte und Inhalte so gut wie gar keine Aufmerksamkeit bekommen, während es an den Stoffen mangelt, die Leser zu regelmäßigen, im Idealfall begeisterten Nutzern machen. Der unabhängige Berater und frühere BBC Journalist Dmitry Shishkin hat für den BBC World Service das „User Needs Modell“ mitentwickelt, mit dem sich jeder auseinandersetzen sollte, der sein Publikum ernst nimmt. 

Der Job der Chefetage ist es, den Arbeitseinsatz der Redaktion entsprechend zu kanalisieren. Die Leitenden müssen Daten zur Verfügung stellen, die jeder verstehen kann, und jeder muss wissen, was daraus folgt. Dazu gehört auch radikales Weglassen. Dies gefällt nicht jedem. So manch einer zieht seine Befriedigung aus Arbeiten, die bei ehrlicher Betrachtung niemandem nutzen. Führungskräfte neigen dazu, das stillschweigend zu dulden und die neuen Aufgaben oben drauf zu packen. Sie müssen aber sicherstellen, dass Arbeitsenergie effektiv eingesetzt und nicht verplempert wird. Nur so lassen sich Belastungen begrenzen.

Fachgebiet Fürsorge

Führungskräfte stehen ihren Mitarbeitenden zu wenig bei, wenn sie angegriffen werden. In der Otto-Brenner-Studie gaben etliche der Interviewten an, unter dem wachsenden Misstrauen eines Teils des Publikums zu leiden. In diesem Fall dürfte die Realität noch trauriger sein als in der Stichprobe erfasst. Anfeindungen online und zunehmend auch physische Angriffe gehören in wachsendem Maße zum Alltag von Reportern und Kommentatoren, vor allem den weiblichen und jenen, die ethnischen Minderheiten angehören. Zu viele Chefredaktionen haben ihre Redaktionen bislang mit dieser Belastung allein gelassen, den Kollegen weder psychische noch juristische Unterstützung angeboten. Das trägt in hohem Maße zur Burnout-Gefahr bei. 

Fachgebiet Konfliktmanagement

Die meisten Führungskräfte in den Medien versäumen es, den Generationenkonflikt zu managen. Während die Älteren in den Redaktionen häufig klagen, die Jungen hätten von Qualitätsjournalismus im Allgemeinen und von Recherche im Besonderen keine Ahnung, bemängeln viele der Jungen das fehlende Verständnis der Vorgängergenerationen für digitale Formate und eine gewisse Bequemlichkeit nach dem Motto, „bis ich in Rente gehe, komme ich auch so durch“. Dabei existiert auf beiden Seiten Knowhow, von dem die jeweils anderen stark profitieren könnten – würden die Führenden denn eine Kultur der Offenheit und des Lernens etablieren. Abfindungsprogramme, die teure Platzhirsche zum Gehen animieren sollen, damit junge (billigere), „digitale“ Fachkräfte nachrücken können, sind eher kontraproduktiv – als erstes gehen zudem häufig diejenigen, die man eigentlich gerne gehalten hätte. 

Fachgebiet Werkzeugkunde

Viele Führungskräfte verstehen zu wenig von Change Management. Deshalb vermitteln sie auch keine entsprechenden Strategien. Vor allem auf Redaktions- aber auch auf Verlagsseite sind viele Chefs in ihre Rolle hineingestolpert, ohne das Führen jemals gelernt zu haben. Wie man Veränderungsprozesse systematisch aufsetzt und vorantreibt haben sie bestenfalls gelesen, meistens agieren sie nach Bauchgefühl. Das verunsichert die Mitarbeitenden. Man schwört sie zwar auf Konzepte wie „digital first“ oder „audiences first“ ein, man enthält ihnen aber das Knowhow vor, wie sie beides in stark von Routinen und Hierarchien beherrschten Redaktionen umsetzen können. Das ist, als würde man jemandem einen Ikea-Karton ohne Aufbauanleitung hinstellen. Dabei ist Veränderungsmanagement Handwerk, und je öfter alle die Werkzeuge benutzen, umso sicherer werden sie in deren Gebrauch. Allgemein gilt: mit den Willigen beginnen, die Aufgeschlossenen mitnehmen und die Gegner so lange wie möglich ignorieren. Viele von denen folgen nämlich dann ganz gerne, wenn sich erste Erfolge abzeichnen. Den anderen hilft tatsächlich nur noch das Abfindungsprogramm.    

Führungskräfte, die in all diesen Disziplinen nicht an sich arbeiten, schaden der gesamten Branche. Denn in einem Beruf, in dem es an Perspektive, Wertschätzung und Entlohnung mangelt, möchte irgendwann niemand mehr arbeiten – schon gar nicht die Top-Talente, auf die alle so scharf sind. Es liegt an den Leitenden, eine Story des Wandels zu erzählen und möglich zu machen. Viele in Redaktionen und Verlagen sehnen sich danach. Denn, wie die Brenner-Studie einen der Befragten zitiert: Journalismus sei immer noch „der geilste Job, den es gibt“.  

Diese Kolumne erschien am 16. August 2022 bei Medieninsider. Alexandra schreibt dort jeden Monat zu aktuellen Themen, Medieninsider ist ein Paid Content Angebot. 

 

Achtung, Chefredaktionen, jetzt geht es um Wirtschaft

Die Frage ist offen, ob der Wirtschaftsjournalismus die Welt je vor Schlimmem bewahrt hat. Schließlich konnte er weder die Dotcom-Blase zur Jahrtausendwende verhindern noch die Immobilienblase vom Platzen abhalten, die 2008 zur größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren geführt hatte. Auch der deutschen Wirtschaftsjournalismus hat stets vor allem in der Rückschau brilliert. Man bekam im Nachhinein ausführlich erklärt, warum Subprime-Immobilienkredite Teufelszeug sind, warum das mit dem Investment in die T-Aktie nichts werden konnte und wie der Betrügerkonzern Wirecard systematisch alle hinters Licht geführt und unzählige Menschen um Jobs und Ersparnisse gebracht hat. In diesem Fall war das besonders peinlich, weil sich die hiesige Zunft vor dessen Pleite mit breiter Brust vor den im Dax gelisteten Konzern und gegen einen einsamen Rechercheur der britischen Financial Times gestellt hatte. Sollte es so etwas wie Sternstunden des Journalismus geben, war dies eine besonders wolkenverhangene Nacht. 

Aber all das ist Zeug von gestern und sollte Ansporn sein, es besser zu machen. Denn – Achtung Chefredaktionen – was während der Pandemie der Wissenschaftsjournalismus war, wird demnächst der Wirtschaftsjournalismus sein. Der bedrohte Weltfrieden mit seinen Energie- und Verteilungskonflikten, die Inflation, der Klimawandel – all dies verlangt wirtschaftspolitischen und betriebswirtschaftlichen Sachverstand in Redaktionen. Anders gesagt: Eine neue Talente- und Investitionslücke tut sich auf. Jedes Medienhaus sollte hier nachlegen, für Gründer ergeben sich neue Chancen.

Aber was wird jetzt wichtig? In Deutschland hat der Wirtschaftsjournalismus mehrere Phasen durchlaufen.

Servierten Wirtschaftsteile jahrzehntelang vor allem gepflegte Langeweile für Eingeweihte, läuteten Zeitschriften wie das Manager Magazin in den 90ern die Zeit der Heldenverehrung ein (von Heldinnen erfuhr man lange nichts). Konzernchefs waren deren Rockstars, ihre Aufstiege und Niederlagen wurden gefeiert beziehungsweise genüsslich zelebriert. Was sie sagten, bedeutete Wahrheit.

Mit der New Economy traten um die Jahrtausendwende die jungen, ebenso männlichen Wilden auf die Bühnen, denen man ihre Stories nur zu gerne abkaufte. Auch Deutschland kann gründen, war die Botschaft – und viele Journalisten wurden gebraucht, um sie zu vermitteln. Wer damals als Reporter keinen Job fand, war selbst schuld. Allerdings stellte man fest, dass der frische Wind zwar viele Redaktionsbüros, noch nicht aber die Leser erreicht hatte.

In der Folge machte sich der Nutzwert-Journalismus in den Wirtschaftsteilen und -sendungen breit. Mit dem Einzug der Millennials in Unternehmen, Organisationen und Redaktionen begann eine neue Phase, die sich mit „meine Karriere und ich“ umschreiben ließe. Der Wirtschaftsjournalismus verbreiterte sich noch einmal, es ging um „New Work“, mobbende Chefs und allgemeine Lebensberatung, zunehmend kamen auch Frauen vor. 

In den sozialen Netzwerken, in denen sich die Ressorts bekanntlich auflösen, lassen sich heute die Reste von all dem besichtigen (mit Ausnahme der Langeweile, da reagieren Algorithmen allergisch). Nutzwert schreibt Abos, gutes Storytelling erhöht die Lesezeit, die Alpha-Männer kommen immer noch zu Wort, aber jetzt dürfen auch Expertinnen reden. Ergänzt wird das Ganze durch investigativen Wirtschaftsjournalismus, der oft in der Parallelwelt der Investigativ-Ressorts entsteht, und den Erklär- und Einordnungsjournalismus a la Brand Eins, der interdisziplinär und konzeptionell denkt. In der digitalen Häppchen-Welt ist das eine Herausforderung. Aber wie kann der Wirtschaftsjournalismus sich zum unverzichtbaren Begleiter in Krisenzeiten mausern? Hier sind sieben Strategien:

Der Funktionärsjournalismus gehört aufs Altenteil 

Schlagzeilen à la „So eine Katastrophe hat Deutschland noch nie gesehen“, die einen Verbands- oder Konzernchef wiedergeben, sollten kritisch überprüft werden. In Zeiten knapper Ressourcen ist schließlich jeder, der Verantwortung trägt, ein Chef-Lobbyist, der das Beste für den eigenen Laden herausholen muss. Das weckt – womöglich berechtigte – Ängste beim Publikum, lässt es aber damit allein. Auch im Wirtschaftsjournalismus ist viel mehr konstruktiver Journalismus gefragt, der erklärt und in Szenarien denkt. 

Erklärung und historische Einordnung ist Pflicht 

Hier fehlt es Wirtschaftsredaktionen jedoch zunehmend an Fachkräften. In den Redaktionen sind die Volks- und Betriebswirtschaftler oder Wirtschaftshistoriker den Allroundern gewichen, die schnell ein ordentliches Nutzwert-Stück zusammenschreiben können, denen aber oft Hintergrundwissen und Erfahrung fehlen. In Krisenzeiten wird es kniffelig, da werden Spezialisten gebraucht, die Fachliches übersetzen können. Das können entsprechend ausgebildete junge Talente sein aber auch Kollegen, die sich längst in den Ruhestand verabschiedet haben. Es empfiehlt sich, für den Ernstfall ein paar Telefonnummern bereitzuhalten.

Service-Journalismus bleibt, Investigativ-Journalismus muss (wieder-)kommen

Journalisten beider Ausprägungen betrachten sich häufig mit einer gewissen Distanz. Während sich die auf Service spezialisierten Kollegen zuweilen verkannt fühlen, weil ihre Beiträge zwar erfolgreich sind, aber redaktionsintern wenig geliebt werden, fühlen sich die Investigativ-Kollegen missachtet, weil ihre Stücke zwar Journalistenpreise, aber kaum Abos abräumen. Richtig ist, dass beide Dienstleister für Bürgerinnen und Bürger sind. Beide klären auf, in beide muss investiert werden. So manch eine Service-Geschichte ändert sich nach einer investigativen Recherche (siehe Geldanlage), so manch eine investigative Recherche wird aus einer Service-Geschichte geboren (wer profitiert von der Masken-Pflicht?). Kommunikation und gegenseitige Wertschätzung hilft. 

Helden-Erzählungen aller Art sind mit Vorsicht zu transportieren

Eine empathisch erzählte Story über einen coolen Typen mag inspirieren, aber der Held von heute kann die beleidigte Leberwurst von morgen sein – Fynn Kliemann lässt grüßen. Und selbstverständlich ist es Pflicht, jedes noch so gehypte Start-up kritisch abzuklopfen: Braucht man das, oder kann das wegbleiben? Ist das Mehrwert oder nur Marketing, ethisch oder nur egomanisch? Distanz bleibt Journalisten-Gebot, so sehr die Szene der Gründer auch jammern mag.  

Vielfalt der Formate wird zentral, vor allem Visualisierungen 

Zwar hat der jüngste Digital News Report ergeben, dass Text immer noch die beliebteste Vermittlungsform für Journalismus ist. Es gibt aber etliche Zielgruppen, die sich durch Videos, Grafiken, Datenjournalismus oder andere Visualisierungen stärker angesprochen fühlen und komplexe Zusammenhänge so leichter verstehen. Eine Generation, die mit YouTube-Tutorials lernt, quält sich nicht gerne durch Wortwüsten. Andere brauchen einen entspannten Podcast mit einer Expertin, der sie vertrauen oder womöglich ein Comedy-Format. Die Pandemie hat gezeigt, was im Wissenschaftsjournalismus möglich ist, das kann auch der Wirtschaftsjournalismus schaffen. Preisfrage: Wer wird der Christian Drosten der Inflation?

Wirtschaftsjournalismus braucht noch sehr viel mehr Vielfalt 

Früher haben die meisten Wirtschaftspublikationen nicht viel dabei gefunden, dass 90 Prozent ihrer Leser Männer waren. Das war, als die Einnahmeseite noch stimmte. Aus dem Blickwinkel von Demokratie und Aufklärung war diese Strategie schon immer zweifelhaft. Heute kann es sich kein Haus mehr leisten, auf potenzielle Nutzergruppen zu verzichten, schon gar nicht auf Nutzerinnen. Und angesichts der Bedrohung von Wohlstand, Ernährung und Frieden sollte es im Interesse aller Medien liegen, auch Menschen zu erreichen, die sich durch die gegenwärtige Informationslandschaft nicht repräsentiert fühlen oder Ehrfurcht vor komplexen Themen haben. Das wird sich nicht für alle Häuser lohnen, aber wer den Titel der vierten Gewalt für sich in Anspruch nimmt, darf sich schon mal etwas reinhängen. 

Jeder Journalismus muss Klimajournalismus werden – der Wirtschaftsjournalismus ganz besonders

Welche Prozesse und Produkte können wir uns in Zukunft noch leisten, wer macht mit Blick auf den Klimawandel seine Hausaufgaben, wer duckt sich weg, und was kostet das alles? Diese Fragen sollten alle Journalisten stellen, ganz gleich, um welches Ressort es geht. Jetzt, wo die wissenschaftlichen Grundlagen einigermaßen etabliert sind, kommt dem Wirtschaftsjournalismus eine besondere Rolle zu. Es geht um wirksame Strategien gegen den Klimawandel, um effektive und gerechte Politik, darum, wie sich Unternehmen und Verbraucher verhalten können. Es wächst eine Generation von Nutzern heran, die ahnt, dass sie morgen ausbaden muss, was heute versäumt wird. Diese Generation braucht Unterstützung. Guter Wirtschaftsjournalismus kann Klimapolitik auf ihre wirtschaftlichen Folgen und Wirtschaftspolitik auf ihre Folgen fürs Klima abklopfen. In der Pandemie galt und gilt: Ein krankes Volk schafft keine gesunde Wirtschaft. Beim Klimaschutz ist das ähnlich. Ohne funktionierende Lebensgrundlagen ist alles Wachstum nichts. Guter Wirtschaftsjournalismus muss deshalb nachhaltiger Wirtschaftsjournalismus werden. 

Diese Kolumne erschien am 18. Juli 2022 bei Medieninsider. Zum Lesen neuer Kolumnen ist ein Abo nötig.   


Klimajournalismus, der wirkt – Was Redaktionen tun können

In vielen Redaktionen gilt der Ausbau des Klimajournalismus als Pflicht, nicht aber als Chance. Dies dürfte ein Grund dafür sein, dass so wenige Medienhäuser eine Klimastrategie haben. Auf dem Constructive Journalism Day 2022 von NDR Info und Hamburg Media School habe ich darüber gesprochen, warum der Klimajournalismus große Potenziale birgt, den Journalismus insgesamt in die Zukunft zu bringen.  

Viele Menschen haben gerade wieder eine große Dosis Klimajournalismus zu sich genommen. Für manch einen fühlte es sich womöglich wie eine Überdosis an. Der Klimagipfel in Sharm-El-Sheik beherrschte tagelang die Schlagzeilen. Und wir lernten aus den Medien: Es war eine Katastrophe. Es sei „weniger als nichts“ erreicht worden, so der Titel eines Kommentars in der Süddeutschen Zeitung. Hinzu kommen die Proteste junger Menschen, die sich in ihrer Wut an Straßen festkleben oder Kunstwerke zerstören. Auch darüber wurde in allen Facetten berichtet. Ist das gut?

Es ist wichtig, ja. Aber die Debatten über die Proteste oder auch der große Aufschlag bei Events wie COP27 verschleiern, dass es viele Gründe gibt, beim Thema Klima auch zuversichtlich zu sein.

  • Forscher sagen, die Energiewende ist kein technisches Problem mehr und auch kein Preis-Problem. Es ist ein politisches Problem – immerhin.

  • Es werden praktisch täglich neue Lösungen erfunden, eine lebendige Start-up-Szene ist rund um grüne Technologien, Produkte und Dienstleistungen entstanden.

  • Die meisten Branchen beschäftigen sich intensiv mit Klima-Innovationen, Fonds schichten ihre Portfolios um, Verschmutzer steigen auf klimaschonende Techniken um, selbst Flugzeugturbinen-Hersteller haben eine Klimastrategie.

Nur der Journalismus nicht. Für den EBU News Report der European Broadcasting Union – der weltweit größten Vereinigung öffentlich-rechtlicher Medienhäuser – recherchieren wir seit Monaten in Redaktionen, interviewen Chefredakteure, Forscher, anderen Experten. Unsere Erkenntnis ist: Gerade mal eine Handvoll Redaktionen hat sich strategisch mit dem Thema beschäftigt.

Wenn man so argumentiert, hört man hier und dort: Was andere Branchen machen, das sei doch oft nur Greenwashing. Das mag in einigen Fällenstimmen. Aber wer böse sein will, könnte sagen: Journalismus bekommt oft nicht einmal Greenwashing hin.

Der Journalismus hinkt beim Thema Klima anderen Branchen hinterher. Warum ist das so?

  • Im Journalismus hat man Angst, als parteiisch, aktivistisch wahrgenommen zu werden. Eine kleine, lautstarke Minderheit der Skeptiker gibt den Ton an. Man unterschätzt sein Publikum. Die Mehrheit ist nämlich längst weiter, wie Umfragen belegen. Die meisten Menschen kennen das Problem – zumindest intuitiv – und wollen, dass etwas passiert.

  • Der Druck ist gering. Viele Verlage sind mittelständisch, Sender sind öffentlich-rechtlich strukturiert. Redaktionen sind nicht an der Börse notiert, Pensionsfonds können keine Gelder abziehen, wenn beim Thema Nachhaltigkeit geschlafen wird. Anderes hat Priorität, der Kostendruck tut ein übriges.

  • Klimajournalismus wird als ein Thema unter vielen missverstanden. Dabei muss der Schutz der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten eine Haltung sein, der sich Journalismus verpflichtet – so wie auch der Demokratie oder den Menschenrechten. Das Klima darf nicht nur Objekt sein, dass man beobachtet und beschreibt. Es muss die Kulisse sein, vor der das Leben spielt. Es sollte jedes Storytelling definieren.

Das Thema Klima ist eine Chance für den Journalismus, denn es deckt seine großen Defizite auf:

 

  • Klima ist ein Zukunftsthema. Der Journalismus klebt am Jetzt. Der Fokus liegt auf der schnellen Nachricht, dem Tagesgeschäft. Umfragen zeigen: Es wird zu viel gemeldet, zu wenig erklärt.

  • Klimaschutz braucht Hoffnung. Der Journalismus von heute legt den Fokus auf Drama, Versäumnisse, Misserfolge. Das drückt sich auch in der Sprache aus. Journalismus warnt, droht, macht Angst.

  • Im Klimaschutz zählt, was getan wird. Der Journalismus von heute fokussiert auf das, was gesagt wird. Die Überproduktion beim „Er hat gesagt, sie hat gesagt“ Journalismus lässt die Menschen oft verwirrt, leer, gelangweilt zurück.

  • Journalismus, der wirkt, nähert sich den Menschen auf Augenhöhe an in einer Sprache, die sie verstehen. Der Journalismus von heute erhebt sich oft besserwisserisch über sie – vor allem, wenn er sich Qualitätsjournalismus nennt.

  • Journalismus, der wirken möchte, respektiert sein Gegenüber und setzt auf Vielfalt, auch in der Ansprache des Publikums. Der Journalismus von heute kommt oft aus dem Zeitalter der Massenmedien, wo ein Format alles erschlagen musste.

  • Journalismus, der wirken möchte, reflektiert eigene Praktiken und macht sich Forschung zunutze. Heute sind viele Redaktionen fast noch stolz darauf, akademisches Wissen zu ignorieren. Dabei gibt es viel Wissen darüber, wie Kommunikation auf Menschen wirkt.

Aber kann Journalismus, der nicht wirkt, starker Journalismus sein?

Um eine Wirkung zu erzielen, muss man sich mit seinem Publikum beschäftigen. Spannend ist: Die Formate, die Journalistenpreise gewinnen, kommen nicht unbedingt beim Publikum an – und umgekehrt. Die wirkungsvollen Formate gewinnen keine Preise.

Was nun ist wirkungsvoller Klimajournalismus, was wissen wir aus der Forschung?

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus konzentriert sich aufs Jetzt und Hier konzentriert statt auf die ferne Zukunft, wenn er das Problem beschreibt. Er verankert das Thema da, wo die Menschen leben.

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus malt auch die Möglichkeiten einer guten Zukunft aus, zeigt: Was wird gewonnen, statt immer nur zu betonen, was verloren wird, was zu opfern ist. Es geht um die Entwicklung eines nachhaltigen Wirtschaftssystems. Der Klimajournalismus-Experte Wolfgang Blau nennt es den größten Umbau seit dem Zweiten Weltkrieg.

  • Klimajournalismus wirkt, wenn er konstruktiv und lösungsorientiert ist, statt immer nur die Apokalypse an die Wand zu malen. Wenn man Menschen ins Gespräch bringen und nicht in die Flucht schlagen will, funktioniert sogar Humor besser als ständiger Alarm. Wissenschaftler beschäftigen sich bereits mit der Wirkung von Comedy in der Klimakommunikation.

  • Klimajournalismus kann wirken, wenn er Menschen Wirkmacht verleiht, statt sie zu Opfern oder zumindest Betroffenen zu machen, wie das fast durchweg in den Nachrichten geschieht. „Agency“ ist das englische Wort dafür.

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus bedient verschiedene Zielgruppen so, dass sie zuhören. Er nimmt zur Kenntnis, dass der Botschafter oft wichtiger ist als die Botschaft selbst. Der Botschafter ist im besten Fall eine Person mit hohen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitswerten. Er berücksichtigt auch, dass Faktenfülle die Empathie nicht ersetzt.

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus ist starker Journalismus. Redaktionen sollten sich dabei nicht zu sehr mit nebensächlichen Details beschäftigen. Ein Sprachkorsett wird nicht gebraucht. Was wichtig ist: Tiefe, Recherche, Faktentreue, starke Bilder – vor allem auch starke Bilder von Lösungen. Was nie wirkt: Bilder von „Männern in Anzügen“, wie eine norwegische Chefredakteurin sagte.

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus braucht eine glaubwürdige Basis. Medienhäuser sollten ihre Hausaufgaben machen, an ihrer CO2 Neutralität arbeiten. Und das ist womöglich die größte Herausforderung. Aber wer flammende Kommentare verfasst aber Klimaschutz nicht erkennbar lebt, wird schnell als Heuchler enttarnt.

Mark Hertsgaard, Mit-Gründer der Plattform „Covering Climate Now“ an der New Yorker Columbia University, sagte: „Wenn wir die Medienbranche nicht transformieren, wird keine andere Branche transformiert werden.“ Man mag da eine gewisse Hybris heraushören. Aber wahr ist, dass nur stetiger öffentlicher Druck alle Beteiligten anspornt, das Thema endlich anzupacken.

Klimajournalismus hat das Zeug dazu, den Journalismus in die Zukunft zu bringen. Es ist allerhöchste Zeit dafür, diese Chance zu nutzen – für das Klima und den Journalismus.

Der mediale Graben: Das Internet vergrößert die Kluft zwischen Informierten und weniger Gebildeten

Journalismus wird zunehmend eine Sache für Oldies, auch der digitale. Das wird in der Analyse des Digital News Report 2022 (DNR) deutlich. Das liegt nicht daran, dass jungen Leuten das Nachrichtengeschehen egal ist. Nur konsumieren die allermeisten von ihnen eher solche Formate, die sich perspektivisch nicht zu Geld machen lassen. Gleichzeitig sind die Verlage auch angesichts der Inflation darauf angewiesen, vor allem ein weniger preissensibles Publikum zu bedienen, das durchaus bereit ist, das eine oder andere zusätzliche Digital-Abo abzuschließen, wenn die Qualität stimmt. Medienmanager und Redaktionsleiter mögen sich wortreich zum Journalismus als vierte Gewalt bekennen; dennoch wird die Konzentration auf zahlungskräftige Zielgruppen zumindest bei den kommerziellen Anbietern Investitionen und Inhalte prägen. 

Die neuen Daten zeigen: Der digitale Graben wächst, und er ist auch ein medialer Graben. Dieser verläuft nicht mehr wie früher nur zwischen mehr und weniger Gebildeten, sondern auch zwischen alt und jung. Nur mit einer gesellschaftlichen Kraftanstrengung wird es gelingen, alle Generationen weiterhin für die Demokratie fit zu machen.

Fünf Beobachtungen, die auf mediale Gräben hinweisen

Der Trend zur journalistischen Klassengesellschaft ist nicht neu, aber er lässt sich anhand des im Juni 2022 erschienenen Zahlenwerks belegen. (Der Report ist die weltweit größte fortlaufende Untersuchung des Medienkonsums, die in diesem Jahr auf einer Online-Befragung von 93 000 Menschen in 46 Ländern beziehungsweise Märkten basiert.) Folgende Erkenntnisse sprechen für die oben dargestellte Interpretation:

Erstens: Die Reichweite von digitalem Journalismus stagniert bestenfalls, der Konsum über Fernsehen, Radio und Zeitung sinkt

Allein in Deutschland ist der Anteil derjenigen, die angaben, in der zurückliegenden Woche eine Zeitung genutzt zu haben, in den vergangenen zehn Jahren von 63 auf 26 Prozent gefallen. Im Fernsehen schauten nur noch 65 Prozent die Nachrichten, 2013 waren es noch 82 Prozent (der deutsche Teil des Reports stammt vom Hans-Bredow-Institut). Gleichzeitig steigt fast überall der Anteil derjenigen, die zu Protokoll gaben, überhaupt keine Nachrichten gelesen oder gehört zu haben. Das bedeutet, dass durch das Internet nicht mehr, sondern eher weniger Menschen mit Journalismus in Berührung kommen. 

Zweitens: Junge Leute konsumieren Journalismus überwiegend in den sozialen Netzwerken

Das wirkt sich auf drei Weisen negativ aus: Erstens gehen Nachrichten und andere journalistische Leistungen im Überangebot an Information und Unterhaltung oft unter. „Der Überfluss an Wahlmöglichkeiten online mag dazu führen, dass sich einige sehr viel seltener mit Nachrichten beschäftigen als in der Vergangenheit“, schreibt Lead-Autor Nic Newman.

Zweitens verstehen die Nutzer die Nachrichten oft nicht, weil sie in der Online-Umgebung aus dem Zusammenhang gerissen sind. Dies ist besonders für diejenigen ein Problem, denen es an Medienbildung mangelt. Aber zusätzlich belegen die Daten eine deutliche Verständnislücke zwischen jüngeren und älteren Nutzern, die sich 2021 auch schon in der deutschen #usethenews Studie abgezeichnet hatte. Der Journalismus verliert also viele, die ihn besonders nötig brauchen.

Drittens, die Medienhäuser sind auf den Plattformen von Meta, Google oder TikTok auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, wieviel Journalismus diese ihren Nutzern in dem algorithmisch getriebenen Angebot überhaupt zumuten wollen. So begründete Joshua Benton vom Nieman Lab der Harvard University kürzlich, warum Facebook das Nachrichtenangebot im Newsfeed womöglich einstellen werde: Die Nutzer schätzen es nicht, und es schafft Probleme. 

Drittens, immer mehr Menschen vermeiden Journalismus bewusst, besonders junge Leute

Redaktionen reden zwar mittlerweile viel über Nutzerorientierung, sie ziehen daraus aber offenbar keine Konsequenzen. Fast jeder zweite Befragte gab als Grund für die Zurückhaltung an, dass die Medien zu viel über Politik und zu viel über die Pandemie berichteten. 36 Prozent bestätigten, Journalismus mache ihnen schlechte Laune, 29 Prozent beklagten das Überangebot oder fanden die Nachrichten voreingenommen. Die Generationen, die nicht mit regelmäßigem Medienkonsum aufgewachsen sind und viele Möglichkeiten zur Ablenkung haben, wenden sich besonders schnell ab.

Viertens: Zahlungsbereitschaft steigt – vor allem geben aber Ältere das Geld aus

Das Durchschnittsalter derjenigen, die ein digitales Abo oder eine Mitgliedschaft bei einer Medienmarke abgeschlossen haben, liegt bei 47 Jahren. Für Verlagshäuser oder öffentlich-rechtliche Fernsehsender mag dies eine gute Nachricht sein: Haben sie es doch im Durchschnitt mit Print-Abonnenten oder TV-Zuschauern zu tun, die das Renteneintrittsalter schon deutlich überschritten haben. Allerdings zerschlagen sich so auch Hoffnungen aus früheren Reports, dass die Spotify- und Netflix-Generation die Branche retten könnte. Eine gute Nachricht gerade für die hiesigen Regionen ist, dass viele Befragte vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz die Bereitschaft dokumentiert haben, zusätzliche Abos auch unabhängig der Inflationssorgen abzuschließen. Dies ging auch aus Gesprächen in Fokus-Gruppen hervor, die die Oxford-Forscher in ihre Analysen einfließen lassen. Gerade in diesen Zeiten von besonderen Krisen und Belastungen sei es notwendig, gut informiert zu sein, so einige Stimmen. 

Fünftens: Jene Formate, die Loyalität schaffen, wie zum Beispiel E-Mail-Newsletter, werden vor allem von älteren, finanzkräftigen und gebildeten Lesern genutzt, die ohnehin schon ein hohes Interesse an Journalismus haben

Während zum Beispiel in den USA 15  Prozent der über 55-Jährigen angeben, Newsletter seien ihre wichtigste Nachrichtenquelle – allein die New York Times produziert 50 verschiedene, die wöchentlich von 15 Millionen Menschen gelesen werden –, sind es nur drei Prozent der 18- bis 24-Jährigen. Newsletter sind so etwas wie das neue Print statt das erhoffte Wundermittel.   

Die Schlussfolgerung

Ob man das mag oder nicht: Aus all diesen Daten folgt, dass sich die Verlage auf ältere und finanziell besser gestellte Gruppen konzentrieren müssen, wenn sie ihr eigenes Überleben sichern wollen. Von diesen sind die höchste Zahlungsbereitschaft und Loyalität zu erwarten. Fragt man in Medienhäusern nach, wen sie genau meinen, wenn sie von jüngeren Nutzern sprechen, bestätigt sich dieses Bild. Verlage verstehen unter „jung“ eher die Altersgruppe ab 35 Jahren aufwärts. Von noch Jüngeren sei nicht viel zu erwarten, heißt es dann. 

Anders sieht das in den öffentlich-rechtlichen Häusern aus. Ihr Fortbestand ist davon abhängig, dass sie von allen wahlberechtigten Altersgruppen als wichtig und unterstützenswert empfunden werden. Deshalb ist ihre Sorge besonders groß, wenn sie bei den unter 25-Jährigen nicht punkten.

Die Sender haben zwar den Vorteil, dass sie unbeschwerter als die kommerziellen Anbieter digitale Formate für soziale Netzwerke entwickeln können, weil sich nicht jedes ihrer Angebot auf TikTok oder Instagram umgehend in Abos auszahlen muss. Allerdings spüren sie den Reichweiten-Verlust besonders drastisch. Es ist deutlich herausfordernder, auf den von Smartphone-Nutzung dominierten digitalen Plattformen Gewohnheitsonsumenten heranzuziehen, als dies in der alten Welt von Fernsehen und Radio der Fall war. „Die jüngsten Kohorten sind eher gelegentliche und weniger loyale Nachrichtenkonsumenten. Es fällt Medienhäusern sehr schwer, sie zu gewinnen, weil sich die Jungen auf soziale Netzwerke verlassen und nur schwach an Marken gebunden sind“, schreibt die Oxford-Forscherin Kirsten Eddy. 

Was heißt all das für die Demokratie, die aufgeklärte, informierte und engagierte Bürger braucht? Soll der mediale Graben zumindest teilweise überbrückt werden, haben die öffentlich-rechtlichen und alle anderen nicht-kommerziellen Anbieter eine herausragende Verantwortung vor allem jungen Generationen gegenüber. Aber auch diejenigen Redaktionen, die von Abo-Einnahmen abhängig sind, können etwas tun. Sie sollten sich mehr mit den Bedürfnissen potenzieller Nutzer beschäftigen, und zwar auch mit denen jener, die sie früher nur zu gerne ignoriert haben. Das sind zum Beispiel Frauen oder Menschen aus Einwanderer-Familien, die sich in der Standard-Nachrichtenwelt nicht repräsentiert gefühlt haben. Sie sollten die seit vielen Jahren vorliegenden Erkenntnisse zu den Journalismus-Vermeidern endlich ernst nehmen und die traditionelle, Zitate-getriebene Politik-Berichterstattung zugunsten anderer Inhalte produzieren – am besten konstruktiv und investigativ. Und sie sollten ihren gesellschaftlichen Beitrag leisten und leicht verständliche Erklär-Formate entwickeln, die kostenfrei zugänglich und auf den Konsum in sozialen Netzwerken ausgerichtet sind.

Übrigens ahnen die Nutzer, dass dem Journalismus eine weitere Kommerzialisierung bevorsteht. Laut DNR traut nur etwa jeder Fünfte (19 Prozent) den Redaktionen zu, als allererstes im Interesse der Gesellschaft zu arbeiten. 42 Prozent beziehungsweise 40 Prozent gaben dagegen an, die Verlage stellten ihre finanziellen oder politischen Interessen in den Mittelpunkt ihrer Strategie. Es ist an den Medienhäusern, diese Skeptiker vom Gegenteil zu überzeugen.   

Diese Kolumne erschien am 21. Juni 2022 bei Medieninsider. Dort schreibt Alexandra regelmäßig zu aktuellen Branchen-Themen.  

„Kirche und Staat“: Warum wir dringend über journalistische Werte reden müssen

Es klingt zunächst wie ein Widerspruch, wenn sich ausgerechnet ein PR-Mann so eindeutig positioniert: Dass ein Chefredakteur gleichzeitig Geschäftsführer sei, das ginge gar nicht, hatte Karsten Krogmann im Mai 2022 auf dem Forum Lokaljournalismus in Bremerhaven auf einem Podium gesagt. Nun ist Krogmann noch recht neu dort, wo die Branche gemeinhin „die andere Seite“ verortet. Er leitet die Pressearbeit für die Opferschutzorganisation Weißer Ring, bis 2020 war er preisgekrönter Chefreporter der Nordwest-Zeitung. Verlassen habe er den Verlag, weil der Journalismus zunehmend von wirtschaftlichen Zwängen geprägt werde. Das hatte er vor zwei Jahren bereits in einem Interview mit Kress Pro erläutert. 

Nun spielen beim Jobwechsel meist mehrere, auch sehr persönliche Gründe eine Rolle. Wenn man es für höchste Zeit hält, dass sich Journalisten Gedanken über das Geldverdienen machen, hört sich eine solche Klage zudem recht larmoyant an. Ist die Zahlungsbereitschaft für Journalismus nicht der beste Qualitätsausweis? Schließlich beweist doch der Abschluss eines Abos am ehesten, dass das Produktversprechen stimmt. Wahr ist aber auch: Über journalistische Unabhängigkeit, also genau das, was Journalismus von PR unterscheidet, wird in der Branche selten diskutiert.

Zwar gilt es bei den fortschrittlichen Vertretern des Fachs als ausgemacht, dass die strikte Trennung von Redaktion und Verlag in der digitalen Medienwelt nicht mehr funktionieren kann. Aber wo genau die neuen Grenzen verlaufen, was die roten Linien sind zwischen Marketing und inhaltlicher Überzeugungsarbeit, über Angebot und Verkaufe, darüber gibt es kaum Debatten.

Das „Kirche und Staat“-Prinzip stößt auf neue Herausforderungen

Nun war auch die alte Welt von „Kirche und Staat“ keine, in der nur Heilige die Geschäfte verwalteten. Grenzüberschreitungen gab und gibt es immer wieder. Die Konflikte um Dirk Ippen, der die Springer-Recherche seines Investigativ-Teams nicht veröffentlicht haben wollte und Zeit-Herausgeber Josef Joffe, der den befreundeten Banker Max Warburg vor Recherchen warnte, bestätigen das nur. Das alte Prinzip stößt aber auf neue Begebenheiten, die es herausfordern:

► Neu ist, dass Teams aus Marketing, Redaktion und Tech-Abteilung gemeinsam Produkte für bestimmte Zielgruppen entwickeln. 

► Neu ist, dass Redaktionen, die ihre Leser in Leitartikeln vor der Macht der Daten-Konzerne warnen, selbst eifrig Daten über ihre Kunden erheben um, deren Gewohnheiten und Vorlieben besser zu verstehen. 

► Neu ist, dass sich Medienhäuser nicht nur Innovationsprojekte und Weiterbildung von Google und Meta bezahlen lassen, sondern ihre Strukturen zunehmend so ausrichten, dass sie zu den Produkten der Tech-Konzerne passen. Felix Simon vom Oxford Internet Institute hat dies für einen jüngst veröffentlichten wissenschaftlichen Artikel für das Feld Künstliche Intelligenz untersucht (Transparenz-Hinweis: Alexandra hat mit Felix mehrfach publiziert). 

► Neu ist auch, dass eine Generation von Nutzerinnen und Nutzern heranwächst, für die Journalismus nur noch eine Spielart der Informationsvermittlung ist, weil Blogger, Influencer und auch die meisten Organisationen das Geschäft selbst recht professionell betreiben. Bezeichnend ist, dass zum Beispiel auch Karsten Krogmann für sich in Anspruch nimmt, beim Weißen Ring weiterhin Journalismus abzuliefern.  

Was also darf der Journalismus und was muss er sogar, um sich von allerlei Veröffentlichungskanälen abzugrenzen und seine Existenz zu legitimieren?

„Die journalistische Reinheitsrhetorik hat ausgedient.“

Aufklärung könnte man sich vom Pressekodex erhoffen, aber auch der ist in die Jahre gekommen. Zwar haben seine 16 Ziffern weiterhin Gültigkeit, aber der Alltag in modernen Redaktionen, der von all den genannten Konflikten geprägt ist, findet dort nur in Ansätzen Erwähnung. Außerdem war er schon immer ein selten erreichtes Ideal in einer Welt, in der sich Journalisten ihr Handwerk eher von ihren Vorgesetzten oder Kollegen abgeguckt haben, statt es von einer Regelsammlung abzuleiten.

Wichtig für die neue Welt ist: Die journalistische Reinheitsrhetorik hat ausgedient, in der auch immer der Anspruch auf Unfehlbarkeit mitgeschwungen hat. Man recherchiere, weil das Thema wichtig sei und veröffentliche, weil es die Allgemeinheit interessieren müsse – nicht etwa, weil man ein Interview angeboten bekommen oder eine Pressemitteilung gesichtet hatte, von einer Idee begeistert war, Lust auf eine spezielle Recherche oder Pressereise hatte oder einfach nur dem Chefredakteur gefallen wollte. Dass man die Unabhängigkeit der Redaktion von Verlagsinteressen früher mit Stolz vor sich hertragen konnte, hat auch dabei geholfen, so manch einen Beweggrund zu verschleiern. Wer behauptet, dass Clickbait eine Erfindung des Online-Journalismus ist, war nie beim Titeln dabei.   

Anstelle der Unabhängigkeit sollte Transparenz rücken

An die Stelle des mit breiter Brust verkündeten Ideals sollte deshalb größtmögliche Transparenz treten. Was weiß man, was weiß man nicht, welche Interessenkonflikte könnte es geben, wer zahlt für bestimmte Reisen oder Produkte, aber auch welche Nutzerdaten werden erhoben und wofür werden sie verwendet? Wohl kaum ein Leser wird all diese Informationen im Detail studieren, aber sie könnten geeignet sein, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Hier gibt jemand zu, dass er befangen ist und gewissen Zwängen unterliegt, aha. Die meisten Nutzer können Abhängigkeiten durchaus verstehen, wenn man sie ihnen erklärt, so wie sie dann auch verstehen werden, dass man bestimmte Quellen nicht offenlegen kann. 

Eine solche Offenheit würde Medienmarken vor allem von denjenigen abheben, die sie nicht bieten. Das sind zum Beispiel Influencer, die selten darüber Auskunft geben, wo die Produkte herstammen, die sie empfehlen und wie ihre Geschäftsmodelle funktionieren. Sie arbeiten nicht mit erarbeitetem Vertrauen, sondern mit Gefolgschaft. Die Investigativ-Recherche des Teams um  Jan Böhmermann zum Geschäftsgebaren des Influencers Fynn Kliemann dürfte einiges dafür getan haben, jungen Leuten das Prinzip Qualitätsjournalismus näherzubringen. 

Initiativen wie die Journalism Trust Initiative zertifizieren Redaktionen danach, wie sie Qualitätsstandards einhalten. Wer nachweist, das Vier-Augen-Prinzip anzuwenden, Fakten zu checken oder Videos zu verifizieren, macht sich glaubwürdig. Solche unabhängigen Audits sind auch für Medienhäuser empfehlenswert, die öffentlich-rechtlich strukturiert sind. Statt zu viel kommerzieller Nähe wird ihnen oft Staatsnähe vorgeworfen. Vertrauenswürdig ist, wer mit Beweisen dagegenhalten kann.

Aber darf ein Geschäftsführer oder Eigentümer gleichzeitig Geschäftsführer sein? Auch hier ist die Antwort: Es kommt darauf an. So wie es manch einem Chefredakteur an journalistischem Rückgrat mangelt, wirkt manch ein CEO als leidenschaftlicher Verleger. Wichtig ist, dass ethische Standards und die Kontrolle stimmen. Die Debatte über beides ist ausbaufähig. 

Diese Kolumne erschien zuerst bei Medieninsider am 25. Mai 2022. Alexandra schreibt dort monatlich zu aktuellen Themen der Branche.