Beruf mit Risiken und Nebenwirkungen – Journalisten im Burnout

Man kann diese Bilder schwer ertragen, vor allem, wenn man die USA kennt und den großartigen Journalismus amerikanischer Medienhäuser schätzt: Polizisten, die Reporter*innen und Fernsehteams gezielt mit Tränengas und Gummigeschossen attackieren, sogar festnehmen, weil sie von den landesweiten Protesten gegen Polizeigewalt und Rassismus berichten. Etwa 120 solcher Angriffe hatte es allein in der ersten Woche nach dem Tod von George Floyd gegeben, der unter dem Knie eines Polizisten erstickte. Der Journalistenberuf ist selbst im Kernland der Meinungs- und Pressefreiheit gefährlich geworden. Das wird Folgen haben. Noch schweißen die Attacken von außen die Redaktionen zusammen, verleihen ihrer Arbeit Sinn und eine extra Portion Legitimation. Aber irgendwann wird die große Erschöpfung eintreten. Im Journalismus ist Burnout ein erhebliches Berufsrisiko.

Doch während Journalisten gerne emphatisch über psychische Belastungen, Verletzungen und Traumata anderer berichten, werden sie beim Blick in die eigene Branche schmallippig. Natürlich kennt man den einen oder die andere Kollegin, die es „nicht mehr gepackt“ hat, längere Auszeiten nehmen musste oder plötzlich vom riskanten Auslandsposten in die Zentrale zurückversetzt wurde. Aber die längste Zeit über wurden solche Fälle eher unter der Decke chefredaktioneller Fürsorge gehalten. Und das hatte nicht nur mit dem Schutz der Privatsphäre zu tun. Es war – und ist – ein Tabu-Thema in einer Branche, in der Stressresistenz und Zähigkeit zum Berufsbild gehören.

Der Psychiater Anthony Feinstein von der Universität Toronto beschäftigt sich seit 20 Jahren mit psychisch belasteten und traumatisierten Journalist*innen. Begonnen hatte er damit 1999, als sich eine Reporterin an ihn wandte. Zur Vorbereitung des Gesprächs hatte er eine Literatur-Recherche gestartet – und zu seiner Überraschung keine einzige Studie zu dem Thema gefunden. Die Journalistin klärte ihn auf: „Sie verstehen meinen Beruf nicht.“ So erzählte es Feinstein kürzlich in einem Webinar. In einer ersten Untersuchung zum Thema schrieb er 180 Journalist*innen großer Medienhäuser an, 80 Prozent antworteten. Das ist für eine sozialwissenschaftliche Studie eine überwältigende Resonanz. Seitdem hat ihn das Thema nicht mehr losgelassen. Post-traumatische Belastungsstörungen seien gut behandelbar, sagt er, wenn man sie denn identifiziere. Aber viele Journalist*innen fühlten sich damit allein gelassen. 

Kein Wunder, denn gerade in kleineren Redaktionen gilt noch immer, was ein gestandener Ressortleiter in einem Seminar am Reuters Institute in Oxford einmal etwas verlegen mit einer englischen Redensart beschrieb: „If you can’t stand the heat, get out of the kitchen.“ Anders gesagt: Wenn du Journalist wirst, musst du das abkönnen. In der Session ging es um Burnout. Das Thema war ins Programm genommen worden, weil es leitende und Chef-Redakteur*innen in den vertraulichen Runden immer wieder als eine der größten Herausforderungen für ihre Redaktionen genannt hatten – und zwar nicht in erster Linie mit Blick auf riskante Einsätze im In- und Ausland.

Die Belastungen durch die digitale Transformation seien extrem hoch, argumentierten sie. „Wie können wir 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche digitalen Journalismus und Veränderungsprozesse managen, ohne das Team dem Burnout auszuliefern?“ So hatte es die Geschäftsführende Redakteurin einer renommierten britischen Tageszeitung einmal formuliert. In einer 2019 veröffentlichten Umfrage des Reuters-Institutes gaben 62 Prozent der Medien-Führungskräfte an, dass Burnout in ihren Teams für sie ein wichtiges Thema sei.

Einerseits ist das eine gute Nachricht, denn sie zeigt, dass Chefinnen und Chefs das Problem zunehmend sehen und ernst nehmen. Andererseits ist es das: ein ernstes Problem. Im Journalismus musste man schon immer schnell und gleichzeitig akkurat sein, war dem Wettbewerb ausgesetzt, brachte sich zuweilen in Gefahr, musste schlimme Bilder verarbeiten und konnte sich die Arbeit nicht besonders frei einteilen. Wenn es brannte, brannte es halt. Aber heute ist das, was einst guten Journalismus ausmachte, oft nicht mehr gut genug. Gute Schreiber*innen müssen nun auch Videos oder Tonspuren liefern, sich ständig neuen Workflows anpassen und für verschiedene Plattformen produzieren. Außerdem sind etliche dem Dauerfeuer von Hasskommentaren ausgesetzt. Neuerdings erschwert die Bedrohung durch das Corona-Virus die Arbeit und erhöht das Risiko.

Gleichzeitig überfordert das Veränderungsmanagement Führungskräfte, die nie fürs Führen ausgebildet wurden. Lucy Küng, Journalismusforscherin und Beraterin, erlebt bei ihren Recherchen vor allem im mittleren Management eine große Verunsicherung. Führungskräfte, die im Tagesgeschäft agieren, müssen den Wandel vorantreiben, ihre Teams motivieren und gleichzeitig vor Überlastung schützen. Gerade die Leistungsträger, die alles besonders gut machen wollten, seien vom Burnout bedroht, sagt Küng. Viele Talente verließen deshalb die Branche.

Es ist deshalb wichtig, auch in der Medienbranche Führungskräfte entsprechend auszubilden. Sie müssen lernen, die Zeichen von Überlastung zu lesen – bei ihren Mitarbeiter*innen und sich selbst. Professionelle Hilfe muss systematischer angeboten werden. Dazu verdient das Thema mehr Öffentlichkeit. Im Zuge der Me-Too-Debatte hatten sich viele Journalistinnen gewagt, erstmals über sexuelle Belästigung und Gewalt zu sprechen, die sie im Job erlebt hatten. Das war ein wichtiger Schritt. Auch für Kolleg*innen, denen andere Aspekte ihrer Arbeit Albträume machen, muss es akzeptabel werden, dies zu offenbaren. Journalist*innen ziehen viel Energie aus ihrer Mission, sie halten sich für etwas Besonderes. Aber im Angesicht des Hasses sind sie auch nur Menschen.

#Dieser Text erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 5. Juni 2020. 

 

Mit Vielfalt zur Fülle – Die digitale Transformation ist beileibe kein Tech-Problem

Man erlebt sie jetzt schon. Die Manager und Managerinnen, die sich – wenn der Corona-Schock so einigermaßen verarbeitet ist – zufrieden auf die Schulter klopfen und dann ihre Power Points renovieren: Hey, haben wir das nicht ordentlich hingekriegt mit der digitalen Transformation? All die Abläufe aus all diesen Home Offices gemanagt, uns kann keiner mehr was vormachen. Neue Welt, wir sind da!

Aber sind wir das wirklich? Tatsächlich wird der Begriff „digitale Transformation“ mit vielen unterschiedlichen Bedeutungen gefüllt. Die einen meinen damit das gelungene gemeinsame Arbeiten über das Internet. Andere bezeichnen jegliche kluge Software-Entwicklung als digitale Transformation, die Dritten denken zuerst an künstliche Intelligenz. Wieder andere sehen darin das Internet der Dinge, also die digitale Vernetzung von Gegenständen, die sich über Daten selbst steuern. Es eint sie, dass ihnen bei dem Begriff zuallererst Technologie und IT in den Sinn kommen. Dabei sind Tech und Tools nur Mittel zum Zweck. Tatsächlich geht es um einen Kulturwandel.

Digitale Transformation heißt etwas anderes, als Server-Kapazitäten aufzurüsten und eine Zoom-Konferenz einigermaßen unfallfrei durchzubringen. Es bedeutet, Geschäftsmodelle und Prozesse radikal vom Nutzer her zu denken. Besessenheit mit dem Kunden statt Besessenheit mit der Konkurrenz, so hat es Amazon-Gründer Jeff Bezos formuliert und als erste der 14 Führungsprinzipien des Konzerns für alle Mitarbeiter verpflichtend gemacht. Und das kann, ja man sollte es weiterdenken. Nutzer sind vielfältig. Deshalb muss Vielfalt im Zentrum des digitalen Wandels stehen.

Ein Beispiel aus der Medienbranche: Bekanntlich punkten die meisten Redaktionen trotz ihres journalistischen Auftrags nicht unbedingt mit Vielfalt. Chefredakteure und Ressortleiter sind noch immer eher männlich, Reporterinnen und Redakteure meistens Hochschulabsolventen, ethnische Minderheiten selbst dort nicht ausreichend repräsentiert, wo es keine Sprachbarriere gibt. Dies prägt Themen und Recherchen. Viele Teile des Publikums fühlen sich von den Medien deshalb nicht repräsentiert. Der lokale Radiosender WFAE in Charlotte, US-Staat North Carolina, hatte eine Idee. Womöglich ließe sich das Vertrauen der Hörer mit einem Podcast-Wettbewerb zurückgewinnen. Die Resonanz war so gewaltig, dass der Server zusammenbrach. 360 Ideen für Podcasts wurden eingereicht, über 33 000 Bürger stimmten über die Vorschläge ab. Vom Schüler bis zur Rentnerin wollten alle Altergruppen zu Wort kommen, die Themen reichten vom selbstgebrauten Bier bis hin zu Erfahrungen mit dem Gesundheitswesen. Die Aktion hat das Verhältnis des Senders zu seinen „Kunden“ auf den Kopf gestellt. Was gute Themen sind, entscheiden sie. 

Aber müssen für so etwas auch Führungsteams und Belegschaften vielfältig sein? Viele Manager bezweifeln das. Schließlich gebe es dieser Tage ausreichend Daten, aus denen man Kundenwünsche herauslesen könne. Und gerade Tech-Konzerne wie Amazon seien ja nicht für Vielfalt im Management bekannt. Aber hier liegt ein Denkfehler. Denn Daten hat man immer nur von den Kunden, die schon bei einem kaufen. Die Vorlieben derjenigen, die einen ignorieren, die man aber mit etwas Mühe gewinnen könnte, liegen im Dunkeln. Der im Januar verstorbene Harvard-Professor Clayton Christensen, Erfinder des Konzepts der Disruption, hatte schon in seinem Buch „The Innovator’s Dilemma“ (1997) beschrieben, warum erfolgreiche Unternehmen bei der Innovation oft scheitern: Weil sie sich zu sehr darum bemühen, lukrative Bestandskunden zufriedenzustellen und diejenigen nicht im Blick haben, die es werden könnten. Von digitaler Transformation und Diversität war damals noch nicht so sehr die Rede.

Verborgene potenzielle Kunden entdeckt man nicht mit Datenanalyse allein. Hier gilt es, einfach mal auszuprobieren, Ideen zu testen, ein Grundprinzip der Agilität. Und Ideen können nur Menschen haben, keine Algorithmen. Die sind oft erstaunlich wenig lernfähig und schlagen einem – Beispiel Amazon – auch dann noch „Die schönsten Schlaflieder“ vor, wenn die Kinder schon längst fürs Abitur lernen oder sie platzieren Werbung für den Paris-Flug, wenn die Reise lange hinter einem liegt.    

Andere Manager bekräftigen den Zusammenhang zwischen Vielfalt und Geschäftserfolg in der Theorie, handeln aber nicht danach. Irgendeinen Grund gibt es schließlich immer, das Thema Diversität auf bessere Zeiten zu verschieben. Man müsse zunächst die Krise bewältigen, das neue Produkt auf den Markt bringen oder eben – die digitale Transformation managen.

Janina Kugel, bis vor kurzem Vorständin bei Siemens und leidenschaftliche Verfechterin des Vielfalts-Gedankens, kennt diese Denke nur zu gut. „Es gibt leider ganz wenige Manager, die gezielt auf Diversity setzen, weil sie verstanden haben, dass nur so neue Ideen generiert werden. Oft sind Innovationen eher Zufallsergebnisse“, sagt sie.

Und womöglich sind es gerade Krisen, die Manager – in diesem Fall bewusst im Maskulinum – in alte Muster zurückfallen lassen. Sie setzen dann lieber auf Befehl und Kontrolle statt aufs Testen, Lernen, Anpassen. Wie überschlugen sich doch in den ersten Tagen des Ausnahmezustands die Berichte stolzer C-Ebenen-Bewohner von der Home Office „Front“: noch effizienter könne man jetzt führen, das Wort „durchregieren“ hätte auch gepasst. Allerorten waren die Bildschirme so voll mit Männern, dass sich die Vorstandsvorsitzende des Verlagshauses Gruner + Jahr, Julia Jäkel, in einem Gastbeitrag für Die Zeit fragte, wohin denn alle die Chefinnen verschwunden seien – und ob das mit den Fortschritten bei der Gleichstellung nur ein netter Traum gewesen sei. Sechs Wochen hatte sie sich das angeschaut, bevor sie sich mit der Beobachtung an die Öffentlichkeit wagte.

Es fällt auf: Manch eine Organisation möchte das Neue haben, aber dann doch lieber nicht so nah an sich herankommen lassen. Vielfalt in plakative Projekte wie zum Beispiel in einen Hackathon auszulagern ist da sicherer. So hatte die Staatsministerin für Digitales im Bundeskanzleramt, Dorothee Bär, an einem Wochenende im März zum Corona-Hack „WirVsVirus“ geladen. 28 000 Bürger beteiligten sich, 1500 Projekte entstanden. Oft allerdings bleibt es bei solchen Aktionen. Für die Krise ist dann wieder der Krisenstab, für die Strategie das Management zuständig. Diversität spielt keine Rolle.

Führung und Teams gemischt zu besetzen, kann allerdings nur ein erster Schritt sein. Diejenigen, die es in einer hierarchisch geprägten Unternehmenswelt bis nach oben schaffen, sind häufig besonders talentiert darin, die herrschende Kultur zu verstehen und sich ihr anzupassen. „Zu viele Unternehmen betrachten Diversität als die Aufgabe, die gelöst werden muss“, sagt Alison Maitland. Sie hat zusammen mit Rebekah Steele das Buch „Indivisible: Radically Rethinking Inclusion for Sustainable Business Results“ geschrieben (Young and Joseph, 2020). Stimme dann die Statistik, hakten sie die Sache ab. Dabei fange da die Arbeit erst an. Vielfalt müsse im Design von Prozessen und Produkten mitgedacht werden, sagt Maitland: „Diversität ohne inklusive Unternehmenskultur ist unausgeschöpftes Potential.“ Und Inklusivität bedeutet, vielfältige Stimmen einzuholen und deren Ideen zu testen.

Dies gelte insbesondere, wenn künstliche Intelligenz im Spiel sei, sagt Maitland, denn Software-Entwickler bauten bestimmte Annahmen in die Algorithmen ein. Die Autorinnen beschreiben den Fall einer kanadischen Firma. Sie hatte sich auf Produkte spezialisiert, die Körpersprache und Gesten elektronisch analysieren. Die Designer hatten zwar die Software getestet, aber versäumt, dies an Linkshändern und Menschen mit kleineren Händen zu tun, Frauenhände sind tendenziell kleiner. Maitland: „Sie haben auf die harte Tour gelernt, dass man Inklusivität von Anfang an mitdenken und einbauen muss, wenn man auf einen großen Marktanteil aus ist.“

Sarah Kaplan, Professorin und Direktorin des „Institute for Gender and the Economy“ an der Rotman School of Management der Universität Toronto rät sogar, sich von dem Gedanken zu verabschieden, Vielfalt allein trage zum Geschäftserfolg bei. Man solle sie einfach umsetzen, weil es das Richtige sei. „Diversität verursacht Friktionen, weil sie Gruppendenken aufbricht. Nur Organisationen, die darin investieren, ihre Inklusivitäts-Muskeln auszubilden, werden von Diversität profitieren“, schreibt sie für das Magazin Fast Company („Why the ‚business case‘ for diversity isn’t working“). Dazu müsse viel Energie in den Kulturwandel gesteckt werden.

Ana-Cristina Grohnert, Vorstandsvorsitzende der Charta der Vielfalt, sagt, es liege auf der Hand, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Handlungsalternativen entwickeln. „Optionen zu haben ist ökonomisch, womöglich ist es überlebenswichtig.“ Die ehemalige Personalvorständin der Allianz Deutschland unterstützt die Plattform Staffbook. Das Startup der Gründer Axel Hildebrandt und Sven Lorenzen ist eine Art Job-Tinder für die Gastronomie und andere Dienstleistungsbetriebe. Sie soll Bewerber und Arbeitgeber in Branchen matchen, in denen es oft mehr auf persönliche Qualitäten wie Ausstrahlung, Geschick und Drive als auf die formale Ausbildung ankommt. Das ist Vielfalt in Angebot und Nachfrage.

Auch Produktvielfalt kann überlebenswichtig sein. Dann, wenn man zum Beispiel die Sicherheit von Autos nicht mehr nur an Dummys testet, die standardmäßig 1,80 Meter groß und 78 Kilogramm schwer sind. Die US-Firma Humanetics zum Beispiel baut seit einiger Zeit Dutzende Varianten, von der Puppe im Seniorinnen-Format bis hin zu jener mit Übergewicht ist alles dabei. Oder Vielfalt drückt Wertschätzung aus und verhilft Menschen zu mehr Selbstvertrauen. Wenn sie sich zum Beispiel ein Pflaster in ihrer Hautfarbe auf den blutenden Finger kleben können, wie sie die britische Supermarkt-Kette Tesco hat entwickeln lassen – als Reaktion auf den berührenden Tweet eines Kunden hin. „Wir haben die Verantwortung sicherzustellen, dass unsere Produkte die Vielfalt unserer Kunden und Kollegen abbilden“, zitierte die BBC Nicola Robinson, Tescos Leiterin für Gesundheits- und Kosmetikprodukte. Lange hieß es, der Kunde sei König. In der neuen Wirtschaftswelt gibt es unzählige Könige. Und sie dürfen endlich auch Königin, Königin-Mutter oder Königskind sein – und womöglich sogar mit links schreiben.

Die vielen Video-Konferenzen haben übrigens mindestens einen wichtigen Beitrag geleistet: Bücherregale, verzierte Kühlschränke und neugierige Kleinkinder im Hintergrund haben allen buchstäblich die Vielfalt der Lebensumstände vor Augen geführt, aus denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter täglich die Fahrt ins standardisierte Büro antreten. Die amerikanische Management-Vordenkerin Nilofer Merchant hat dafür den Begriff der „Onlyness“ geprägt, die spezielle Erfahrung, die jeden einzelnen Menschen prägt und mit der er oder sie etwas zur Gesellschaft beitragen kann. Würde jeder etwas davon in die Arbeitswelt mitbringen können, wäre das mehr als eine Bereicherung. Man könnte es digitale Transformation nennen.

Dieser Text erschien zuerst in gekürzter Form am 29. Mai 2020 in ada 02/2020

Nicht nur die Lufthansa ist systemrelevant – Wie die Pressefreiheit unter Druck gerät

Nicht alle ver­wen­den die Methode Holz­ham­mer so wie die alba­ni­sche Regie­rung. Als es ernst wurde mit Covid-19, ver­schickte sie an sämt­li­che Nutzer von Mobil­te­le­fo­nen lan­des­weit eine Sprach­nach­richt, die drei Bot­schaf­ten ent­hielt: „Waschen Sie sich die Hände! Bleiben Sie zuhause! Miss­trauen sie den Medien!“ Bong. So viel Dreis­tig­keit muss man erst einmal ver­dauen. Aber ähnlich plump oder sub­ti­ler nutzen diverse Regie­run­gen rund um die Welt die Corona-Krise dazu, den Medien das Leben im All­ge­mei­nen und die Recher­che im Beson­de­ren zu erschwe­ren. Covid-19 wirke wie ein Brand­be­schleu­ni­ger auf die ver­schie­de­nen Krisen, die dem Jour­na­lis­mus ohnehin schon zu schaf­fen machten, resü­mierte die Orga­ni­sa­tion Repor­ter ohne Grenzen in ihrem jüngst ver­öf­fent­lich­ten World Press Freedom Index.

Man kann solche Sprach­bil­der leicht über­stra­pa­zie­ren, aber unter all den Pan­de­mie-beding­ten Ein­schrän­kun­gen und Ver­lus­ten kommt so manch eine Redak­tion in Atemnot, wirt­schaft­lich und ope­ra­tiv. Das Virus testet das Immun­sys­tem des unab­hän­gi­gen Jour­na­lis­mus und all der Insti­tu­tio­nen, die ihn unter­stüt­zen.

Es gibt in diesen Tagen viel­fäl­tige Metho­den, die Arbeit von Repor­te­rin­nen und Repor­tern konkret zu behin­dern. Repor­ter ohne Grenzen doku­men­tiert ent­spre­chende Not­stands­ge­setze, Ver­haf­tun­gen und andere dras­ti­sche Frei­heits­be­schrän­kun­gen für Medien in ihrem „Tracker 19“, Mitte Mai umfasste der News­feed schon mehr als 80 Ein­träge.

Aber es gibt auch weniger absichts­volle Zwänge. So werden zu manch einer Pres­se­kon­fe­renz wegen der Hygiene-Vor­schrif­ten nur hand­ver­le­sene Repor­ter zuge­las­sen, andere finden aus­schließ­lich online statt. Für infor­melle Gesprä­che am Rande und Nach­fra­gen bleibt keine Zeit, und bei unan­ge­neh­men Themen bricht womög­lich die Ver­bin­dung ab – zu sehen in einem viel­fach geteil­ten Video, in dem eine Repor­te­rin einen WHO-Offi­zi­el­len zu Taiwan befragt, er möchte partout nicht ant­wor­ten. Manche Regie­run­gen ver­ste­cken sich hinter Exper­ten, die sie zu All­wis­sen­den sti­li­sie­ren. Eine Dis­kus­sion ver­schie­de­ner Argu­mente ist dann uner­wünscht, die Medien werden allein als Laut­spre­cher gebraucht.

Außer­dem bindet die Corona-Krise Auf­merk­sam­keit, die der Jour­na­lis­ten und die des Publi­kums. Manch anderer Skandal wird mangels Kapa­zi­tä­ten nicht nach­re­cher­chiert, und wird dann doch etwas publi­ziert, ver­sinkt es im Covid-19-Getöse. Wer unlau­tere Absich­ten hat, kann sich derzeit relativ unbe­ob­ach­tet fühlen.

Am gefähr­lichs­ten ist aller­dings die Methode Alba­nien: wenn Regie­run­gen den Jour­na­lis­mus als Ganzes her­ab­wür­di­gen und Jour­na­lis­ten lächer­lich machen. Denn starker Jour­na­lis­mus baut darauf, dass Bürger die Medien als ihre Ver­bün­de­ten betrach­ten. Dazu gehört Ver­trauen. Und wenn dies brö­ckelt, wird dem Jour­na­lis­mus die Daseins­grund­lage ent­zo­gen.

Das wussten Poten­ta­ten schon immer, aber auch popu­lis­tisch agie­rende Demo­kra­ten finden immer wieder Gefal­len daran, sich der läs­ti­gen Nach­fra­gen von Pres­se­ver­tre­tern zu ent­zie­hen. Schließ­lich ist es deut­lich anstren­gen­der, sich mit ein­zel­nen Fakten zu beschäf­ti­gen, als die Glaub­wür­dig­keit ihrer Ver­brei­ter als solches in Frage zu stellen. Donald Trump hat den Begriff „Fake News Press“ nicht erfun­den, ihn aber wie kein anderer zu einer Pro­pa­ganda-Waffe gemacht. Und was sich der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent her­aus­nimmt, schauen sich andere ab. Mehr als 50 Regie­rungs­chefs auf fünf Kon­ti­nen­ten hätten den Begriff in den ver­gan­ge­nen Jahren ent­spre­chend ver­wen­det, schrieb der Her­aus­ge­ber der New York Times, A.G. Sulz­ber­ger, im Sep­tem­ber 2019 in einem Edi­to­rial nach einer Rede an der Brown Uni­ver­sity zur bedroh­ten Pres­se­frei­heit – das war noch vor Corona.

In diesen Tagen kann es lebens­ge­fähr­lich sein, auf seinen Prä­si­den­ten zu hören statt auf Jour­na­lis­ten, die das beste gerade ver­füg­bare Exper­ten­wis­sen zusam­men­tra­gen. Zum Glück spüren dies viele. Bür­ge­rin­nen und Bürger haben den Wert des unab­hän­gi­gen Jour­na­lis­mus wieder neu schät­zen gelernt. Zumin­dest in den ersten Kri­sen­wo­chen ist das Ver­trauen in tra­di­tio­nelle Medien gewach­sen wie seit langem nicht, sogar junge Men­schen schauen wieder ver­mehrt nach Nach­rich­ten-Marken, denen schon ihre Eltern trauten.

Aber die Freude in den Redak­tio­nen könnte kurz­le­big sein. Vor lauter Unge­duld mögen manche Men­schen lieber „Exper­ten“ glauben, deren Aus­sa­gen ihre eigenen Hoff­nun­gen spie­geln. Und es gibt Anzei­chen für einen mas­si­ven Über­druss an Nach­rich­ten, zumal allem, was mit Covid-19 zusam­men­hängt. Eine neue Studie des Reuters Insti­tu­tes belegt das für Groß­bri­tan­nien.

Es geht deshalb um viel. Redak­tio­nen müssen am Ver­trauen zu ihrem Publi­kum arbei­ten: erklä­ren, beob­ach­ten, abbil­den, ver­su­chen, Fragen zu beant­wor­ten, trans­pa­rent mit Fehlern umgehen. Lese­rin­nen, Zuschauer und Zuhö­re­rin­nen schät­zen das mehr als das übliche Rat­ten­ren­nen um den besten Scoop, das inter­es­san­teste Zitat. Jour­na­lis­mus nahe an den Men­schen zu pro­du­zie­ren – selten war das wich­ti­ger und selten schwe­rer als dieser Tage, wenn man Nähe phy­sisch ver­steht.

Regie­run­gen müssen zur Insti­tu­tion der freien Presse stehen, und zwar in Worten und Tat. Nicht nur die Luft­hansa, auch Medi­en­viel­falt ist sys­tem­re­le­vant für die Demo­kra­tie. Platt­form-Kon­zerne wie Google und Face­book können Qua­li­täts­jour­na­lis­mus fördern, nicht nur mit den in der Branche will­kom­me­nen Mil­lio­nen, sondern auch, indem sie ihn auf ihren Seiten und in ihren Feeds sicht­bar machen. Und Bür­ge­rin­nen und Bürger können zeigen, was ihnen unab­hän­gi­ger Jour­na­lis­mus wert ist, indem sie zum Bei­spiel ein Abo abschlie­ßen. Sie sichern damit mehr als Arbeits­plätze. Es geht um die Qua­li­tät der Gesell­schaft, in der sie leben. Und manch­mal auch ums Über­le­ben.

Diese Kolumne erschien zuerst am 27. Mai 2020 bei Zentrum Liberale Moderne

Die gläsernen Reporter kommen – Auf der Suche nach den richtigen Daten

Früher hatte ein Chefredakteur definitiv die Lacher auf seiner Seite, wenn er öffentlich über „Käi Pi Eis“ witzelte. So ein Zeug wie Key Performance Indicators (KPIs), also Kennzahlen, die Leistung mess- und vergleichbar machen sollen, war definitiv etwas für die von der anderen Seite. Gemeint waren damit die Typen aus dem Verlag oder aus anderen Branchen und Unternehmen, wo man Management lernen musste und nicht einfach nur so managte. Mochten sich Journalisten an manchen Tagen wie Handwerker fühlen, nur dass sie elektronische Flächen mit Zeilen füllten statt Ziegel zu schichten, in dem Punkt waren sie ganz Künstler: Der Wert ihrer Werke lasse sich keinesfalls in Excel-Tabellen abbilden, fanden sie.   

Ein paar Lacher würden Redaktionsleiter mit dem KPI-Gag heute vermutlich immer noch kassieren, aber den meisten ist das Witzeln vergangen. Stattdessen überlegen sie, wie sie ihre Journalisten behutsam dafür erwärmen können, die Wirksamkeit ihrer Arbeit mit Daten abzubilden. Denn nur so lassen sich knappe Ressourcen besser steuern. Welche Texte, Podcasts und Videos fesseln Kund*innen für wie lange, wie sieht der typische Leser*innen-Weg in den Wochen vor dem Abschluss eines Abos aus, mit welchen Inhalten hält man Abonnent*innen besonders bei Laune? Besser wär’s, man wüsste es. 

Fakt ist, moderne Redaktionen erfreuen sich durchaus daran, Daten aller Arten zu erheben, zu analysieren und zu nutzen – nur dann nicht, wenn es um individuelle Leistungen und gar Ziele geht. Ist es in anderen Branchen selbstverständlich, Mitarbeiter*innen nach Output, Geschwindigkeit oder Verkäufen zu bewerten, haben Journalist*innen – zumindest in Deutschland – eher Schwierigkeiten damit. Journalismus könne man nicht auf diese Weise kategorisieren, argumentieren sie dann, und wissen damit Betriebsrat und Gewerkschaften auf ihrer Seite. Denn den meisten Arbeitnehmervertretern ist jegliche Art individueller Leistungskontrolle suspekt.

Einerseits haben sie zuweilen recht. Denn auch rund um redaktionelle Angebote gibt es eine Menge Daten, die wenig oder das Falsche aussagen, verwirren oder in die Irre leiten. Der Weg zu sinnvollen Kennzahlen ist oft lang und von Versuch und Irrtum geprägt. Andererseits spüren manche, dass sie mit ihrer Opposition falsch liegen, pflegen sie aber trotzdem – aus Eigeninteresse.

Dahinter steckt Angst, und auch die ist berechtigt. Früher konnte man noch die Reichweite des Mediums stolz vor sich hertragen, selbst wenn man ahnte, dass nicht jeder eigene Text ein Kracher war. „Die FAZ lesen vielleicht ein paar Hunderttausend, aber uns liest ganz Deutschland!“, belehrte der ältere dpa-Kollege die junge Kollegin, was damals aufmunternd gemeint war. Das ist ein Vierteljahrhundert her, das Selbstverständnis hat aber überlebt. Heute allerdings zeigen redaktionelle Analytics sehr individuell, ob tatsächlich ganz Deutschland liest, oder ob der scharf durchdachte Essay die Leser*innen komplett kalt lässt oder sie nach durchschnittlich zehn Zeilen rauswirft. Und offene Dashboards machen das im Zweifel auch für die Kolleg*innen transparent. Die Sorge ist groß, dass solche Angaben als Leistungsanalyse missbraucht und bei der nächsten Sparrunde gegen einzelne Reporter*innen und Redakteur*innen genutzt werden.

Wie gehen Führungskräfte mit diesem Dilemma um? Denn natürlich ist es wichtig, solche Daten zu erheben, um Mitarbeiter*innen sanft in die strategisch gewünschte Richtung oder entlang ihrer eigenen Stärken zu steuern. Schließlich kommt es darauf an, mit schrumpfenden Kapazitäten mehr zu erreichen. Und das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Ein Stück, dass kaum jemand sieht, hört, liest, kann nichts bewegen, so gut es auch gemeint sein mag. Journalismus rechtfertigt sich über seine Wirkung, weniger denn je ist er reine Chronistenpflicht.

Gefragt sind also Metriken zum Mögen. Und da kommt es auf ein paar Dinge an. Zunächst einmal sollten es die richtigen sein. Zahlen, die nur die Eitelkeit befriedigen, weil sie in ein Chart gepackt hohes Wachstum suggerieren und sich deshalb bei der Präsentation im Führungskreis gut machen, werden zurecht keine Akzeptanz finden. Klicks und Seitenaufrufe zum Beispiel mögen zwar beeindruckend sein, sagen aber nichts darüber aus, ob Inhalte wirklich Kunden binden und am Ende Einnahmen generieren. Sie fördern höchstens die Art Journalismus, für die sich selbst außerhalb der Branche das Wort Clickbait durchgesetzt hat.

Außerdem müssen die Zahlen die Strategie abbilden. Wer auf digitale Abos abzielt, braucht andere Kennwerte als derjenige, dem Reichweite wichtig ist, wer viele Abo-Abschlüsse aber eine hohe Kündigerquote hat, muss wieder anderes messen. Gewöhnlich dauert es eine Weile, bis Redaktionen ihre „North Star“ Metrik gefunden haben, also ein meist aus mehreren Zahlen kombinierter Wert, der aussagt, ob man sich in die richtige Richtung bewegt. Erst wenn das gelungen ist, lohnt es sich, auch die Mitarbeiter*innen darauf einzuschwören.

Darüber hinaus müssen die Zahlen verständlich und einfach zu kommunizieren sein. Philipp Ostrop, Mitglied der Chefredaktion bei Lensing Media, berichtet von den Erfahrungen bei den Ruhr Nachrichten: „Wir haben am Anfang unserer Digital-Abo-Reise den Fehler gemacht, die Newsrooms auf den schönen neuen Dashboards mit zu vielen und zu wenig relevanten Daten und Metriken zu nerven. Das war zu kompliziert und vor allem nicht handlungsorientiert.“ Die Leitfrage müsse lauten: Wer benötige welche Zahlen, um davon abzuleiten, was nun zu tun sei.

Ideal ist ein einziger Wert, der aussagt, ob ein Text zum gewünschten Ziel beiträgt oder nicht. Das kann die Anzahl der Abonnenten sein, die ein Stück lesen, was ein Hinweis auf Loyalität und Kundenbindung ist. Bei Lensing sind es die Daily Active Subscribers. Andere Redaktionen kombinieren mehrere Metriken zu einem Wert. Wieder andere kommunizieren allein die Zahl der Digital-Abo-Abschlüsse. Allerdings setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass selten nur eine einzige Geschichte zum Griff nach der Kreditkarte motiviert. Einige Redaktionen, zum Beispiel schauen sich deshalb das Leseverhalten in den Wochen vor dem Abo-Abschluss an. Alle Texte, die in dieser Zeitspanne auftauchen, werden als wirksam eingestuft.

Hierzulande zögern die meisten Redaktionen noch, solche Messwerte zu nutzen, um damit Kolleg*innen zu bewerten oder ihnen Ziele zu setzen. Man hofft, dass sie aus eigenem Antrieb gut abschneiden wollen. In amerikanischen Newsrooms wird Leistung mit höherer Selbstverständlichkeit bewertet. Die Seattle Times hat dabei eine interessante Strategie entwickelt: Die Kolleg*innen treten im Wettbewerb gegen sich selbst an. Sie müssen ihren Vorjahreswert an wirksamen Texten – gemessen an der Nähe zu Abo-Abschlüssen – jeweils um 15 Prozent übertreffen. Auf diese Weise stehe Qualität im Zentrum, sagt der geschäftsführende Redakteur Danny Gawlowski. „Wenn ich die Opern-Kritikerin mit dem Kollegen vergleiche, der über Fußball schreibt, ist das Unsinn.“ Allerdings habe es ein paar Jahre und etliche Diskussionen inklusive Verwirrung gekostet, bis man sich auf die gegenwärtige Metrik verständigt habe – und natürlich suche man nach immer noch besseren Messmethoden.

Ganz wichtig dabei sind Transparenz und eine offene Diskussionskultur. So erlebt es zumindest der geschäftsführende Redakteur der schwedischen Zeitung Dagens Nyheter, Caspar Opitz. Die meisten Kolleginnen und Kollegen fänden es gut, dass sie wüssten, wie ihre Geschichten abschnitten, sie wollten ja gelesen werden. Man nutze die Erkenntnisse aber vor allem, um daraus zu lernen, nicht für Sanktionen. „Mitarbeiter sollen sich sicher fühlen“, ist der Leitsatz von Dagens Nyheters Chefredakteur Peter Wolodarski. Er findet es wichtig, Arbeitnehmervertreter frühzeitig in alle Prozesse einzubinden. Der Journalistenberuf sei schon fordernd genug.

Mitarbeitern Sicherheit bieten, das ist Kern guter Führung. Das bedeutet aber nicht, das Team im wohlig-warmen Gefühl zu baden, dass alles so bleiben kann, wie es ist – denn das wird es nicht. In Zeiten rasanten Wandels heißt Sicherheit bieten vor allem, Mitarbeiter*innen auf dem Weg in die Ungewissheit zu begleiten. Zahlen und Ziele helfen dabei, Erwartungen klar zu formulieren, zu kommunizieren und wenn nötig gemeinsam anzupassen. Das ist zumindest ein Gerüst, an dem man sich entlanghangeln kann. Auch wenn es manchmal ins Schwanken gerät.  

Dieser Text erschien zuerst am 29. Mai 2020 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School.

Journalismus muss schlechte Laune machen – aber bitte nicht immer!

Manchmal hilft offenbar nur noch abschalten. Menschen, die Nachrichten und anderen journalistischen Produkten bewusst aus dem Weg gehen, nennen dafür in Umfragen durchweg vor allem einen Grund: Journalismus mache ihnen schlechte Laune. Und in der Corona-Krise, wen wundert’s, wandert die Stimmung offenbar besonders häufig in den Keller. Nach einem anfänglichen Run auf Nachrichtenangebote aller Art steige der Anteil derer massiv, die Nachrichten vermeiden, meldete das Reuters Institute der Universität Oxford in einem jüngst veröffentlichten Factsheet aus einem Forschungsprojekt zum Nachrichtenkonsum der Briten in der Covid-19 Lage. Fast 60 Prozent der Befragten gaben in der Erhebung aus der zweiten Maiwoche an, den Nachrichtenfluss zumindest manchmal zu ignorieren. Jeder Fünfte mag gar nicht mehr hinschauen – und dies in fast neun von zehn Fällen wegen der Corona-Berichterstattung.

Zwei Drittel begründeten die Enthaltsamkeit mit dem Effekt auf die Psyche, andere störten das Überangebot, Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit der Medien und ein Gefühl der Ohnmacht, das sich beim Lesen, Schauen oder Hören häufig einstelle. Man könne ja doch nichts ändern.

In anderen Ländern dürften diese Zahlen nicht viel anders ausfallen. Und von der Tendenz her ähneln sie Erhebungen aus weniger angespannten Zeiten. Der Digital News Report, die ebenfalls vom Reuters Institute publizierte größte weltweite Erhebung zum online Medienkonsum, taxiert den Anteil der Journalismus-Vermeider Jahr um Jahr im Schnitt auf ungefähr ein Drittel – Tendenz steigend, hieß es 2019.

Das sollte Redaktionen aus mehreren Gründen zu denken geben. Erstens schöpfen schlecht informierte Bürger ihr Potenzial nicht aus, in der Demokratie Entscheidungen zu beeinflussen. Zweitens, und das gilt insbesondere für Krisenzeiten, bringen sie aus Unwissen womöglich sich selbst und andere in Gefahr. Drittens sind sie anfälliger für Falschinformationen oder gar Verschwörungstheorien, die sie zum Beispiel aus dem Bekanntenkreis erreichen. Viertens, und das ist in Zeiten gefährdeter Geschäftsmodelle für die Medien wichtig, schöpfen auch die Redaktionen ihr Potenzial nicht aus. Wenn sie die Nachrichten-Vermeider verloren geben, ist das eine Entscheidung gegen ein potenzielles Publikum – mit allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen.

Redaktionen beschäftigen sich allerdings eher selten mit denjenigen, die einen Bogen um ihre Produkte machen, man könnte sagen: zu selten. Das liegt in der Natur modernen Audience-Managements. Denn eine noch so ausgeklügelte Datenanalyse wertet nur die Präferenzen und Gewohnheiten derjenigen Leserinnen und Leser aus, die man schon hat. Auch das beste Analytics-Tool kann diejenigen nicht erfassen, die gar nicht erst vorbeischauen. An die kommt man nur heran, wenn man mit neuen Angeboten zum Beispiel auf anderen Plattformen oder eben mit einer anderen inhaltlichen Grundstimmung experimentiert.  

Journalistinnen und Journalisten reagieren oft ungehalten, wenn man sie mit dem Schlechte-Laune-Argument konfrontiert. Sie sagen dann, es sei schließlich ihr Job, Missstände aufzudecken, Entscheidern auf die Finger zu schauen oder über Risiken aufzuklären. Man könne die Welt nicht rosarot malen, wenn sie in Wahrheit eher gegen dunkelgrau tendiere.

Einerseits haben sie recht. Journalismus muss schlechte Laune machen, aus all den genannten Gründen. Jeder, der sich schon mal mit Veränderungs-Management beschäftigt hat, weiß, dass ohne einen gewissen Leidensdruck gar nichts funktioniert, weder in der Politik noch sonst irgendwo. Zum Beispiel hat die aktuelle Berichterstattung über Risiken wesentlich dazu beigetragen, dass sich die Menschen in der akuten Bedrohung auch freiwillig vernünftig verhalten haben.  

Andererseits liegt dieser fast reflexhaften Abwehr von Kritik am Miesepeter-Journalismus ein großes Missverständnis zugrunde. Den Bürgerinnen und Bürgern geht es gar nicht um ein Feuerwerk an Wohlfühl-Inhalten. Sie vermissen nur zuweilen etwas Perspektive. In der Krise möchten sie wissen, was funktioniert, wie Menschen Probleme kreativ angehen, welche Politik Effekte zeigt. Wenn Nachrichten wie ein kalter Wasserstrahl auf sie niedergehen, sehnen sie sich nicht unbedingt nach einem plötzlichen Switch zu Badewassertemperatur. Sie wollen den Hahn erkennen, mit dem man das Ganze abdrehen oder zumindest regulieren kann. Denn nur das gibt ihnen das Gefühl, dass sich etwas bewegen und gestalten lässt. Der Variante des Journalismus, die sich konstruktiv nennt, kommt es deshalb weniger auf „positiven“ als auf lösungsorientierten Journalismus an.

Hier gibt es übrigens einen Zusammenhang mit Erkenntnissen über die gesellschaftlichen Gruppen, die eher zu den Nachrichten-Vermeidern gehören. Es sind eher Frauen als Männer und eher Menschen im mittleren Alter, also der Rush-Hour des Lebens, in der das Zeitbudget für alles außerhalb der Organisation von Job und Familie knapp bemessen ist. In der Corona-Krise scheint dieser Effekt besonders ausgeprägt zu sein. Die Mehrfach-Belastung insbesondere von Frauen schlägt sich auch in den Daten des Reuters Instituts nieder.

Es geht aber nicht allein um Zeitmangel. Frauen begeistern sich nach allem, was man weiß, generell weniger für einen Journalismus, in dem es nur um Sieger und Verlierer, Helden und Verbrecher und Machtkämpfe im Allgemeinen geht. Sie interessieren sich eher für das alltägliche Auf und Ab des Lebens, und wenn es Vorbilder für ein Auf gibt, dann umso besser. Vor allem aber haben Leserinnen und Leser ein gutes Gespür dafür, wann alles schon mal irgendwo gesagt wurde, nur noch nicht von jedem. Konkurrenz der Medienhäuser oder einzelner Journalisten untereinander, Besserwissertum, Rechthaberei oder Prahlerei („Das haben wir exklusiv“) lassen sie meistens ziemlich kalt.

Das Publikum mag Journalismus mit Nutzwert, selbst wenn der Nutzen nur in Unterhaltung oder Überraschung liegt. Und manchmal tut es den Nachrichten-KonsumentInnen sogar gut, wenn sie sich so richtig über etwas ärgern können. Schlechte-Laune-Journalismus hat seinen Platz. Aber der muss ja nicht immer in der ersten Reihe sein. 

Diese Kolumne erschien zuerst im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 22. Mai 2020           

 

                   

Braucht der digitale Journalismus Stars?

Der bislang größte Scoop in der Corona-Krise ist womöglich dem NDR gelungen. Mit dem Charité-Virologen Christian Drosten hatte der Sender recht früh in der Pandemie einen Experten aufgetan, der so kundig, verständlich und sympathisch über Aerosole, Inkubationszeiten und Antikörper-Tests erzählen konnte, dass ihm schon nach kurzer Zeit halb Deutschland lauschte. Am 26. Februar gab es den ersten Podcast Coronavirus-Update, seitdem hält das Format im NDR reichlich Kolleginnen und Kollegen auf Trab. N-Joy Programmdirektor Norbert Grundei, der Drosten „entdeckt“ hatte, erzählt davon in einem – was auch sonst? – Podcast für das Digital Journalism Fellowship. Drosten jedenfalls wurde zum Star mit allen Risiken und Nebenwirkungen, Liebeserklärungen und Hassmails inklusive. Was nicht nur zu der Frage führt: Braucht der Journalismus Stars? Sondern zu einer weiteren: Braucht der digitale Journalismus sie noch nötiger?

Natürlich haben Promis Redaktionen schon immer gutgetan, und das gilt für beide Seiten: die der Protagonisten und die der Journalisten. Nicht ohne Grund gibt es einen von PR-Abteilungen mühsam und zunehmend restriktiv orchestrierten Wettbewerb um Interviews mit besonders bekannten Gesichtern. Klar: ein Gespräch mit Menschen, die zur Marke geworden sind, hebt das Profil der eigenen Medienmarke, selbst wenn der Inhalt zuweilen Wünsche offen lässt. Ähnliches gilt für jene Groß-KommentatorInnen, -ModeratorInnen oder -ReporterInnen, die nicht nur das Ansehen eines Hauses heben, sondern auch manch einen Nutzer dazu bewegen, ein Abo abzuschließen oder einen Sender einzuschalten. Stars bringen Geld. Dies hat sich im digitalen Journalismus nicht geändert.

Was anders geworden ist, sind die Anforderungen an Redaktionen. Früher fanden ganze Generationen von Journalistinnen und Journalisten in den Beruf, weil sie entweder davon träumten, eine Art Hanns Joachim Friedrichs oder Antonia Rados zu werden, oder weil sie hofften, womöglich irgendwann auch mal eine Tina Turner, Angela Merkel oder einen Oliver Kahn interviewen zu dürfen. Auch früher ist das vielen nicht gelungen. Aber immerhin konnten sie vielleicht mit dem örtlichen Bürgermeister, der Landesmeisterin im Biathlon oder dem Regisseur des Stadttheaters interessante Gespräche führen.

Im digitalen Journalismus hingegen gibt es unendlich viele wichtige Rollen und Aufgaben, die wenig Potenzial dazu haben, einen in Star-Nähe zu bringen oder gar selbst zum Star zu machen. Gesucht werden deutlich mehr Funnel-ManagerInnen, Suchmaschinen-OptimiererInnen, Community-ManagerInnen oder ProduktentwicklerInnen. Wer kluge Instagram-Formate entwickeln kann oder sich ein wenig mit Software auskennt und die Automatisierung von Redaktionsaufgaben vorantreiben kann, wird ganz sicher sehnsüchtiger erwartet als noch jemand, der den Nahost-Konflikt zu kommentieren weiß. Die Journalistinnen und Journalisten von morgen müssen sich als erstes als Dienstleister verstehen (was manch einem Journalisten von gestern auch nicht geschadet hätte). Das aber erfordert ein vollkommen anderes BewerberInnen-Profil. Die Ausbildung von JournalistInnen hat sich noch nicht überall darauf eingestellt.

Und was ist mit den Stars?  Im digitalen Journalismus können sie Gewinnbringer sein mit ihrer Expertise, ihrem Stil, ihrer Strahlkraft und Persönlichkeit. Um ExpertInnen mit vielen Followern lassen sich wunderbar Produkte bauen: Newsletter, Podcasts, Service-Angebote, Bühnen-Auftritte, in der Zeit vor Corona sogar Leserreisen. Stars binden Nutzer. Solange man ihnen Zeit dafür lässt, ihre Expertise zu entwickeln, kann das gut funktionieren.

Dafür müssen sie allerdings noch nicht einmal Journalisten sein. Dass der Youtuber Rezo in diesem Jahr einen Nannen-Preis gewonnen hat, steht als Sinnbild für diese Entwicklung. Nicht allen in der Branche hat das gefallen, ein Kollege kommentierte die Empörung der Platzhirsche auf Meedia mit den Worten, dies zeige „ein Grundproblem des alten Journalismus“. Im diesem alten Journalismus blieb man gerne unter sich. Aus Konkurrenz, Neid und Missgunst wurde so manch ein Star geboren, manch anderer aus dem Rennen geworfen. Juan Moreno beschreibt diese Welt in seinem Buch „Tausend Zeilen Lüge“ zum Fall Relotius.

Auch im neuen Journalismus ist Platz für Stars. Aber Branchenkrise und Vertrauensdebatte haben die Demut zurückgebracht, die Corona-Krise mit ihrer Unsicherheit den Respekt vor der Aufgabe. Es ist die Zeit der kleinen Erkenntnisse, nicht die der großen Worte. Und vor allem geht es um den Dienst am Publikum. Der Star darf dann ruhig auch mal ein Virologe sein.   

Dieser Text erschien zuerst als Beitrag zum Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School am 15. Mai 2020, er erschien auch bei journalist.de.

   

Quote, sportlich genommen – Was Redaktionen vom 50:50 Projekt der BBC lernen können

Dürfte man sich noch so unbeschwert ins Gesicht fassen wie früher, hätte man sich womöglich die Augen gerieben. Julia Jäkel, Vorstandsvorsitzende von Gruner + Jahr, eröffnete kürzlich einen Gastbeitrag in Die Zeit mit den Worten, dass seit Tagen etwas in ihr arbeite: „Ich möchte etwas dazu schreiben, aber ich traue mich nicht.“ Bitte? Die Chefin eines der größten Verlagshäuser Europas traut sich nicht, etwas zu schreiben?

Nun, viele Journalistinnen dürften sich nicht so arg gewundert haben. Über dem Stück stand schließlich: „Zurück in der Männerwelt“. Und Reporterinnen und Redakteurinnen hierzulande wissen, dass man über so ein Thema nur so offen schreibt, wenn man Hass-Kommentare im Netz und Kollegen (und Kolleginnen) mit genervten Blicken gut aushalten kann. Wollen sie im eigenen Laden, der üblicherweise von Männern geführt wird, noch etwas werden, verkneifen es sich die meisten übrigens auch. Jäkel allerdings ist schon etwas, und deshalb kann sie sich solch ein öffentliches Nachdenken eher leisten als andere. Aber selbst ihr fällt es offenbar schwer.

Jäkel wundert sich in dem Stück lautstark und mit einem Anflug von Resignation, wo denn in der Coronakrise all die Führungsfrauen geblieben seien, auch im eigenen Haus. In Video-Konferenzen begegne sie ihnen jedenfalls nicht. „Homeoffice bedeutet für Tausende Frauen gerade vor allem home und wenig office. Und das ist besonders bitter, weil jetzt Karrieren gemacht werden“, schreibt sie. Und endet mit: „Frauen sind so viel weniger weit, als wir es dachten.“

Kurz zur Erinnerung: Deutschland, das ist das Land, in dem jüngst die erste weibliche Vorstandsvorsitzende eine Dax-Konzerns nach einem halben Jahr abtreten musste, weil man ihr den Job ohnehin nur in einer Doppelspitze zugetraut hatte und in der Krise nun entschlossenes Handeln nötig sei – so die offizielle Begründung des Software-Konzerns SAP bei der Trennung von Jennifer Morgan. Es ist auch das Land, in dem 2019 nur acht von 110 Regionalzeitungen Chefredakteurinnen hatten und die Redaktion keines großen Titels alleine von einer Frau geführt wird, wie zum Beispiel die der Financial Times, des Guardian, des Economist oder der Sunday Times, nur um mal über den Kanal zu schauen.

In einer Studie zu Vielfalt in Redaktionen, die Deutschland, Großbritannien und Schweden verglichen hat, kamen das Reuters Instituts aus Oxford und das Publizistische Seminar der Universität Mainz zu dem Ergebnis: Im Vereinigten Königreich zeigt sich ein Mangel an Vielfalt vor allem beim Thema soziale Herkunft, in Schweden bei der ethnischen Diversität und dem Stadt-Land-Gefüge, in Deutschland geht es – immer noch, muss man sagen – um die Geschlechterfrage. Wobei man nach Führungspersonal aus Einwanderer-Familien noch vergeblicher sucht, wie eine jüngst veröffentlichte Studie der Neuen Deutschen Medienmacher ergeben hat. 

Im Journalismus ist das besonders verstörend, denn gemessen an den Zahlen und der Qualifikation der Absolventinnen ist der Beruf ausgesprochen weiblich. In den Redaktionen schaffen es im Verhältnis dazu wenige Frauen nach oben, und selbst wenn schlägt sich das noch nicht zwangsläufig in den Inhalten nieder. Während Medienmarken wie die Financial Times oder die schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter seit längerem Gender Bots einsetzen und damit kontrollieren, wie sich das Verhältnis von männlichen und weiblichen Protagonisten in Bild und Wort darstellt, ist das Thema Geschlechter-Repräsentation in Deutschland offenbar immer noch so heikel, dass man Vorstandschefin oder karrieremüde sein muss, um darüber zu schreiben. Das geschieht in einer Branche, die sich von Berufswegen dazu verpflichtet, die Gesellschaft zu repräsentieren, wie sie ist.

Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist die Lage etwas besser. Und richtig lernen können alle, wirklich alle von der BBC und ihrem 50:50 Projekt. Der Erfolg von 50:50 ist ein Knaller, es handelt sich um „das größte kollektive Vorhaben für gleiche Repräsentation im BBC Programm“, wie es auf der Projektseite heißt. Vor drei Jahren hatte der charismatische Moderator Ros Atkins in seiner Redaktion die Idee entwickelt, in einer Art internem Wettbewerb zu zeigen, dass eine 50:50 Präsenz von Frauen und Männern im Programm leicht zu schaffen ist.

Es gab keine Vorgabe von oben, nur Mund-zu-Mund-Propaganda und ansteckende Begeisterung. Immer mehr Redaktionen wollten zeigen, dass auch sie es hinkriegen. Irgendwann fing Intendant Tony Hall Feuer und feierte die Idee. Schon bei der ersten großen Bestandsaufnahme im Mai 2019 hatte der größte Teil der Beteiligten die Vorgabe erreicht, selbst in „schwierigen“ Ressorts wie Sport oder im arabischen Raum. Mittlerweile machen innerhalb der BBC etwa 600 Teams mit – und nicht nur das. Das Vorhaben hat Nachahmer in 20 Ländern gefunden, weltweit haben 60 Organisationen das Konzept übernommen. Man könnte jetzt erwähnen, dass man auf der Landkarte vergeblich nach deutschen Unternehmen schaut.

Ah, halt, die sind ja derzeit mit der Digitalisierung beschäftigt – und dazu mit dem von Jäkel beobachteten ziemlich männlichen Krisenmanagement. Aber das Ringen um Diversität auf später zu vertagen ist auch mit Blick darauf ein schwerer Fehler. Digitalisierung bedeutet im Journalismus „Audience first“, also von den Bedürfnissen und Nutzergewohnheiten des Publikums her nicht nur denken, sondern auch handeln. Auf diese Weise begeistert man loyale Kunden, sichert sich also die Zukunft. Und das potenzielle Publikum ist jung, alt, audio-, video- oder print-affin, einheimisch und zugewandert und, ja, männlich, weiblich – vielfältig eben. Nur gut gemischte Teams werden es schaffen, in dieser Vielfalt zu denken und entsprechende Produkte zu entwickeln. Die BBC nimmt übrigens für ihre 50:50 Challenge weiterhin Bewerbungen entgegen. 

Dieser Beitrag entstand für den Newsletter zum Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School, dort veröffentlicht am 8. Mai 2020.              

Diskriminierende Datenfresser: Tracing Apps schaden womöglich mehr als sie nutzen

Wenn die Corona-Pan­de­mie eines zeigt, ist es das: Frei­heit wirkt. Man mag geteil­ter Meinung darüber sein, ob das überall und für jeden gilt, oder ob man über­haupt noch von Frei­heit reden kann, wenn unter der viralen Bedro­hung die meisten Abwei­chun­gen von ver­nünf­ti­gen Ver­hal­tens­wei­sen mit Ver­bo­ten belegt sind. Aber im Großen und Ganzen halten sich Men­schen über­wie­gend auch dort mit erstaun­li­chem Gleich­mut an die fast überall gel­ten­den Kon­takt­ver­bots­re­geln, wo sie nicht Gefahr laufen, mit Kon­trolle und emp­find­li­chen Strafen rechnen zu müssen.

Süd­ko­rea zum Bei­spiel gilt als ein Mus­ter­land beim Ein­däm­men der Seuche, ver­bo­ten wurde dort wenig. Auch aus Schwe­den, wo die Regie­rung stark auf Appelle setzt, sind noch keine ita­lie­ni­schen Bilder durch­ge­drun­gen, wenngleich die Sterberaten über denen der Nachbarländer liegen. Das Virus als unsicht­ba­rer gemein­sa­mer Feind ist dis­zi­pli­nie­ren­der als vie­ler­lei Staats­ge­walt. Braucht man also wirk­lich soge­nannte Tracing Apps, die jeden Bürger, jede Bür­ge­rin auf Schritt und Tritt beglei­ten, um die Aus­brei­tung der Covid-19 Krank­heit zu ver­lang­sa­men?

 

Nun gut, kommen werden sie ohnehin. Derzeit sind sie in der Design­phase, die Debatte um die ver­schie­de­nen Systeme wird noch im Detail aus­ge­foch­ten. Sie dreht sich vor allem darum, welche Pri­vat­sphäre-Stan­dards ein­ge­baut werden müssen. Auf der Zielgeraden ist für Deutschland nun eine dezentrale Lösung, bei der die Daten nicht auf einem zentralen Server gespeichert werden. 

Tat­säch­lich wäre es fahr­läs­sig, Ver­su­che von vor­ne­her­ein zu ver­dam­men, die sozia­les und wirt­schaft­li­ches Leben wieder ermög­li­chen könnten, egal ob High- oder No-Tech. Und es sollte EU-Bürgern lieber sein, dass die EU-Kom­mis­sion die Initia­tive ergreift, als wenn sich jeder zwangs­läu­fig ame­ri­ka­ni­sche Stan­dard-Lösun­gen aufs Mobil­te­le­fon lädt. Aber Skepsis und Nach­den­ken sind aus vie­ler­lei Gründen ange­bracht.

Ver­nach­läs­si­gen App­nut­zer Hygie­ne­re­geln?

Zunächst einmal: Tech­ni­sche Lösun­gen ver­spre­chen oft mehr, als sie halten können. Ihre Nutzer wiegen sich dann in fal­scher Sicher­heit und neigen zu ris­kan­tem Ver­hal­ten. Manch ein Lawi­nen­op­fer zum Bei­spiel könnte noch leben, wäre es nach dem Blick auf den Schnee­be­richt oder in den Himmel daheim geblie­ben, statt auf die neu­es­ten Berg-Gadgets zu ver­trauen. Im Falle von Seuchen, die jeden treffen können, wirken Sozi­al­tech­ni­ken allemal effek­ti­ver als Tech­no­lo­gie. Ver­hal­tens­re­geln wie Hän­de­wa­schen, Masken tragen oder phy­si­sche Distanz zu anderen Men­schen halten, sind simpel, leicht zu lernen und senken das Risiko. Apps können also maximal eine Ergän­zung im Krisen-Mil­de­rungs-Bau­kas­ten sein, die nur dann sinn­voll sind, wenn sie mehr nützen als schaden.

Wis­sen­schaft­ler ver­schie­de­ner Fach­ge­biete zwei­feln genau daran. Ent­we­der, die Apps seien nicht effek­tiv, dann brauche man sie nicht, oder sie seien effek­tiv, dann müsse man sich trotz­dem fragen, ob es auch Instru­mente gebe, die weniger stark in die Pri­vat­sphäre ein­grei­fen, zitiert die BBC Jen­ni­fer Cobbe, Infor­ma­ti­ke­rin an der Uni­ver­si­tät Cam­bridge, in einem großen Feature zum Thema. Auch Natali Hel­ber­ger, Jura-Pro­fes­so­rin aus Ams­ter­dam ist skep­tisch: „Wir kennen die Neben­wir­kun­gen nicht und wir wissen, Apps alleine sind keine Lösung.“

Abzu­wä­gen ist auch, ob das elek­tro­ni­sche Tracing mehr nutzt, als dass es Ver­wir­rung stiftet. Die Anwen­dun­gen, die derzeit ent­wi­ckelt werden, regis­trie­ren über Blue­tooth, wer sich in wessen Nähe auf­ge­hal­ten hat. Wird jemand positiv auf das Virus getes­tet, lässt sich so leich­ter und schnel­ler iden­ti­fi­zie­ren, wer sich poten­zi­ell ange­steckt haben könnte. Im Fall Corona heißt das, fal­scher Alarm und damit ver­bun­dene Ängste und Sorgen aller Orten sind wahr­schein­lich. Solange die Iden­ti­fi­zier­ten schnell getes­tet werden können und Ent­war­nung möglich ist, mag das zu ver­schmer­zen sein. Aber das ist nicht überall gewähr­leis­tet. Und es gibt prak­ti­sche Pro­bleme. Was ist zum Bei­spiel mit medi­zi­ni­schem Per­so­nal, das sich ständig im Umfeld von Kranken und Infi­zier­ten bewegt? Für sie wären solche Kon­takt­mel­der sinnlos. Die Welle an Büro­kra­tie und unnüt­zen Tests, die ein Tracking im schlech­ten Fall nach sich ziehen könnte, wäre gewal­tig, von Dis­kri­mi­nie­rung ganz zu schwei­gen.

Kommt nun etwa der Zwang zum Smart­phone?

Außer­dem offen­bart sich der digi­tale Graben hier beson­ders deut­lich. Cathy O’Neill, kri­ti­sche Mathe­ma­ti­ke­rin und Best­sel­ler-Autorin („Weapons of Math Dest­ruc­tion“), schreibt in einem Kom­men­tar für Bloom­berg: „Um etwas zu bewir­ken, muss die App den­je­ni­gen helfen, die am ver­letz­lichs­ten sind – Men­schen, die wegen Merk­ma­len wie Rasse, Ein­kom­men, Alters oder Beruf über­durch­schnitt­lich gefähr­det sind und an dem Virus sterben. Aber viele von ihnen haben keine Smart­pho­nes. Sie sind obdach­los, in Pfle­ge­hei­men, in Gefäng­nis­sen.“ Zumin­dest in Amerika mit seinem maroden Gesund­heits­sys­tem werde die App nicht funk­tio­nie­ren, argu­men­tiert sie, denn viele Men­schen ließen sich nicht testen oder behan­deln und seien zudem auf ris­kante Jobs ange­wie­sen. Die Lehre daraus: Tracing Apps sind immer nur so wirksam wie das Gesund­heits­sys­tem dahin­ter. Man kann das noch weiter fassen: Tech­no­lo­gie ist immer nur so gut wie die Gesell­schaft dahin­ter.

In einem frei­heit­li­chen Staat kann ohnehin niemand dazu gezwun­gen werden, stets ein Mobil­te­le­fon bei sich zu tragen – ja noch nicht einmal dazu, eines zu besit­zen. Im Fall des Corona-Virus ist das ein beson­ders gewich­ti­ges Argu­ment. Denn gerade unter den Alten, die ein beson­ders hohes Risiko für schwere Krank­heits­ver­läufe haben, ist das Handy – wenn vor­han­den – eher Telefon als wei­te­res Kör­per­teil. Und auch unter den Jün­ge­ren sollte es Men­schen geben, die das Gerät daheim­las­sen, wenn sie nur mal schnell ein­kau­fen oder eine Runde zum Laufen gehen. Ganz abge­se­hen davon, dass der eine oder die andere das Telefon bewusst zuhause lassen könnte, um der Nach­ver­fol­gung zu ent­ge­hen. Selbst im viel­fach als Vorbild zitier­ten Sin­ga­pur hat nur jeder sechste Bürger die App her­un­ter­ge­la­den. Nen­nens­werte Effekte hat sie aber womög­lich nur, wenn sie etwa von 60 Prozent der Bevöl­ke­rung genutzt wird, so eine Modell­rech­nung von Wis­sen­schaft­lern ver­öf­fent­licht in Science.

Coro­na­krise als Gegen­stand einer Libe­ra­lis­mus­de­batte

Um eine Debatte kommt aller­dings in der Corona-Pan­de­mie keine Gesell­schaft herum: Was bedeu­tet Frei­heit? Das Konzept ist ohnehin ange­zählt in einer durch­di­gi­ta­li­sier­ten Welt, in der alles mit allem ver­netzt und von Algo­rith­men beein­flusst ist. Bislang ging es aber vor allem darum, Pri­vat­sphäre und Bequem­lich­keit ins Ver­hält­nis zu setzen. Und schon da halten es die meisten Kon­su­men­ten eher mit der Bequem­lich­keit: elek­tro­nisch bestel­len, zahlen, kom­mu­ni­zie­ren und navi­gie­ren – wer ver­zich­tet darauf schon gerne allein für den Gewinn, unbe­ob­ach­tet zu sein?

Aber was ist, wenn Pri­vat­sphäre mit Gesund­heit oder gar Leben abge­wo­gen werden muss, womög­lich auch „nur“ mit wirt­schaft­li­chem Über­le­ben? Ist die Frei­heit, die Tech­no­lo­gie da poten­zi­ell ermög­li­chen kann, mit ein paar per­sön­li­chen Daten nicht sogar günstig erwor­ben? Solche Fragen haben keine ein­fa­chen Ant­wor­ten. Die Frei­heit des einen hört immer dort auf wo die des anderen beginnt, in einer libe­ra­len Gesell­schaft müssen die Grenzen demo­kra­tisch aus­ge­han­delt werden.

Den Wert der Bür­ger­rechte kann aller­dings oft erst der­je­nige ermes­sen, dem sie genom­men wurden. Jene chi­ne­si­schen Ärzte, die früh vor Corona warnten und dafür sank­tio­niert wurden, hätten gerne mehr davon gehabt. Der Welt wäre das gut bekom­men.

Alex­an­dra Bor­chardt hat sich in ihrem Buch „Mensch 4.0 – Frei bleiben in einer digi­ta­len Welt“ (Güters­lo­her Ver­lags­haus, 2018) damit beschäf­tigt, wie sich Frei­heit und Digi­ta­li­sie­rung ver­ein­ba­ren lassen. Die Brisanz des Themas hatte sie sich in dem Ausmaß nicht vor­stel­len können.

Diese Kolumne erschien zuerst am 20. April 2020 bei Zentrum Liberale Moderne, sie wurde hier aktualisiert.

Der Journalismus und seine Gegner: Mehr Optimismus wagen

Bei der Lektüre des jährlichen World Press Freedom Index der Organisation Reporter Ohne Grenzen (RSF) musste man sich schon immer auf die Portion Optimismus besinnen, die man braucht, um für eine bessere Medienzukunft zu streiten. In diesem Jahr fällt das noch schwerer als sonst. Für die Forscher von RSF entscheidet sich in diesem Jahrzehnt das Schicksal des Journalismus, und als würde das Corona-Virus nicht nur innere Organe sondern auch die der öffentlichen Meinungsbildung befallen, titeln sie: „Entering a decisive decade for Journalism, exacerbated by coronavirus“. Man kann sagen, dass die Pandemie auf einen vorgeschädigten Patienten trifft.

Große Überraschungen birgt das im April 2020 veröffentlichte Dokument der Verfolgung, Unterdrückung und Missachtung journalistischer Arbeit überall auf der Welt nicht. Norwegen, Finnland, Dänemark und Schweden besetzen die Spitzenplätze in Sachen Pressefreiheit, während sich die üblichen Verdächtigen auf den hinteren Rängen anstellen. Regierungswechsel nach demokratischen Wahlen sind von jeher das einzige erprobte Mittel für einen nennenswerten Aufstieg im Ranking – was in diesem Jahr zum Beispiel Malaysia, den Malediven und dem Sudan gelang.

Das Fazit der Organisation ist allerdings drastisch. Der Analyse zufolge sind eine Vielzahl der gegenwärtigen Entwicklungen dazu geeignet, den Journalismus oder wenigstens Teile davon lebendig zu begraben. So identifizieren die RSF-Experten gleich vier Krisen: eine geopolitische, eine technologische, einer demokratische, eine ökonomische und eine Vertrauenskrise.

In der Tat benutzen viele Regierungen von Ungarn bis Irak das Virus dazu, die Pressefreiheit einzuschränken und die Bedingungen zu verschärfen, unter denen Journalisten arbeiten. Und der Einbruch der Weltwirtschaft und damit des Anzeigengeschäfts führt dazu, dass sich in diesem Fall nicht einmal die Klassenbesten sicher fühlen können.

Woher also in diesem Jahr den Optimismus nehmen? Tatsächlich gibt es ein paar Lichtblicke, aus denen Perspektiven werden könnten. Zunächst einmal: Das Vertrauen in vertraute Medienmarken wächst. Öffentlich-rechtliche Sender und Qualitätsmedien verzeichnen Zugriffe wie lange nicht – wenngleich sich abzeichnet, dass das Interesse mit der Dauer des Ausnahmezustands nachlässt. Viele Leser und Leserinnen schließen Digital-Abos ab, selbst wenn die Corona-Berichterstattung frei zugänglich gemacht wurde. Die Zahlungsbereitschaft für Journalismus steigt (auf niedrigem Niveau) auch in Ländern, wo man das nicht für möglich gehalten hätte. Viele Bürger begreifen, dass ihnen Journalismus etwas wert sein muss.

Auch diejenigen mit tieferen und ganz tiefen Taschen haben das erkannt. Namhafte Stiftungen sowie die von den Verlegern überlicherweise in einer Art Hassliebe geschmähten Tech-Konzerne Google und Facebook bekennen sich mit Not- und Projekthilfe in Millionenhöhe zum Qualitätsjournalismus. Das Reuters Institute an der Universität Oxford hat als Chair der Indpendent News Emergency Relief Coordination die Aufgabe übernommen, Förderer zu beraten, wo ihre Hilfe am meisten ausrichtet. Stiftungen wie Luminate und die McArthur Foundation und Organisationen wie Wan-Ifra sind beteiligt.     

Jetzt also gilt es: Nun können Journalisten zeigen, was sie draufhaben. Eine publikumsorientierte Redaktion – Stichwort: Audience first – beschäftigt sich mit den verschiedenen Interessenlagen, die sich in dieser Krise ausgebildet haben. Eltern mit kleinen und schulpflichtigen Kindern zum Beispiel, Geschäftsleute und Kleingewerbetreibende, diejenigen, die sich zu Hause langweilen und Inspiration suchen, diejenigen, die sich einsam fühlen und vielleicht von vergangenen Zeiten träumen möchten, diejenigen, die kranke oder pflegebedürftige Angehörige haben und sich insgesamt für Gesundheitsthemen interessieren oder diejenigen, für die es eine Herausforderung ist, täglich Mahlzeiten auf den Tisch zu bringen. Jetzt gilt es, all diese Gruppen zu identifizieren und bestmöglich zu bedienen – zur Not mit Lesestoff aus dem Archiv, wenn die Redaktionskapazität wegen Kurzarbeit zusammengeschrumpft ist.  

Die nächste Lektion: Die virtuelle Redaktion ist möglich. Sie sei sogar eine Überlebensstrategie für diejenigen Medienunternehmen, die sich das traditionelle Pressehaus mit seinen Desktop-gespickten Großraumbüros nicht mehr leisten können, schreibt der Journalist und Gründer Tom Trewinnard für das Nieman Lab. Tatsächlich könnte die nun in Tausenden Home Offices geprobte Dezentralisierung Journalisten ermöglichen, wieder viel näher an ihr Publikum heranzurücken.

Neben dem Wissenschaftsjournalismus hat der Lokaljournalismus gerade in der Krise eine herausragende Bedeutung bekommen. Die Vertrauenslücke zwischen Journalisten und ihren Lesern/Hörern/Zuschauern entstand schließlich oft auch, weil die Lebenswelten der Redakteure in den Metropolen sich stark von denen weiter Teile ihres Publikums unterschieden haben, das Unverständnis dafür, was Menschen auf dem Land bewegt, hat schon zu so mancher Überraschung am Wahltag geführt. Wahr ist aber auch, dass in zentralisierten Redaktionen viel Energie in Macht- und Profilierungskämpfe statt in den Journalismus und neue strategische Ideen fließt. Wenn es Medienmarken schaffen, solche virtuellen Verbünde aufzubauen, könnten beide Seiten profitieren: der Journalismus und sein Publikum.

Und eine weitere Tatsache könnte Anstoß für einen Wandel sein: Regierungen nutzen die Krise zunehmend als Vorwand, Journalisten den Zugang zu offiziellen Informationen zu erschweren. Das muss man beklagen. Aber man kann auch darüber nachdenken, ob die Wiedergabe offizieller Verlautbarungen nicht schon längst den Dingen gehört, die man getrost den Verlautbarungsabteilungen überlassen kann. In den USA führen die Journalismus-Professoren Jay Rosen und Jeff Jarvis seit einiger Zeit eine Debatte darüber, wie viel Bühne man einem Präsidenten wie Donald Trump geben darf, dem es nie auf Argumente sondern lediglich darauf ankommt, bei seinen Unterstützern zu punkten. Weniger Nähe zu Funktionären, mehr zu den Bürgern und den Fakten – das bekommt dem Journalismus gut. Dort, wo sich Journalisten mit ihrem Publikum verbünden, haben sie die besten Chancen, die Krise zu überstehen. Den Medienhäusern in ihrer bisherigen Form wird das nicht in jedem Fall gelingen.

Dieser Text entstand für den Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School im April 2020.

„Fake News“ und die Corona-Krise: Das Problem sind die „Real News“

Es war am 2. Februar 2020. Weltweit hatten Behörden gerade einmal knapp 15 000 an Covid-19 erkrankte Patienten registriert. Noch schlummerten die Karnevalskostüme in den Schränken, die Skier für die Ferien in Wolkenstein oder Ischgl warteten auf ihren Schliff. Für Reisen empfahl die Weltgesundheitsorganisation keine besonderen Vorkehrungen. Auch von einer Pandemie sprachen die WHO-Experten zu jenem Zeitpunkt nicht, den man jetzt getrost mit „damals“ bezeichnen darf. Allerdings fürchteten sie eine massive “Infodemic“. Eine Flut an Informationen mache es den Menschen schwer, richtig und vertrauenswürdig von falsch und manipuliert zu unterscheiden und sich entsprechend zu verhalten, hieß es in der entsprechenden Präsentation.

Nun regiert die Pandemie, und die Menge an Falschmeldungen dürfte mindestens proportional zu den Fallzahlen gewachsen sein. Aber wie schlimm ist das Problem der „Fake News“ im Zusammenhang mit Covid-19 wirklich? Und muss man es ebenso fürchten wie das Virus? Oder verhält es sich damit wie mit dem gesamten Komplex der „Misinformation“: dass die Berichterstattung darüber oft massiver ist als das Problem selbst?

Forscher des Reuters Institute for the Study of Journalism und des Internet Institute an der Universität Oxford haben die Lage kürzlich in einem Kurzreport beleuchtet. Er basiert auf einer Analyse von 225 Stücken an englischsprachigen Falschinformationen, die zwischen Januar und März publiziert und von der Fact-Checking-Organisation First Draft untersucht wurden. Die Stichprobe hat den Nachteil, dass sie keine Meldungen aus privater Kommunikation wie WhatsApp oder anderen Messenger-Diensten erfasst und sich nur auf den englischen Sprachraum konzentriert. Dennoch untermauert das Ergebnis einige Erkenntnisse, die auch frühere Studien zum Komplex „Fake News“ zutage gefördert haben.

Die wichtigsten: Bei den meisten als falsch klassifizierten Nachrichten handelt es sich nicht um komplett erfundene Inhalte, sondern um Informationen, die verfälscht oder in einem anderen Zusammenhang weiterverbreitet wurden (59 Prozent). Berücksichtigt man die Masse der Interaktionen, hat dieser Typus der Falschinformation sogar einen Anteil von 87 Prozent. „Deep Fakes“, also Inhalte, die mit aufwändigen technischen Mitteln manipuliert wurden, fanden die Forscher überhaupt nicht. Schon frühere Forschung hatte ergeben, dass es beim Problem „Fake News“ überwiegend nicht um jene Troll-Fabriken geht, die eigens gebastelte Inhalte massenhaft um die Welt verbreiten. Viel häufiger handelt es sich um Informations-Schnipsel, die nach dem Prinzip „Stille Post“ bewusst oder unbewusst falsch wiedergegeben werden.

Zudem fanden die Forscher Bestätigung dafür, dass Misinformation häufig „von oben“ kommt, insbesondere, was ihre Verbreitung angeht. Wurden falsche Inhalte wie in einem Fünftel der untersuchten Fälle von Prominenten geteilt, also zum Beispiel von Spitzenpolitikern oder Schauspielern, hatten sie eine weit höhere Durchschlagkraft (69 Prozent) als Posts von Menschen ohne Funktion und Bekanntheit. Als US-Präsident Donald Trump beispielsweise das Malaria-Mittel Hydroxychloroquine im Zusammenhang mit Covid-19 erwähnte, waren die Leidtragenden nicht etwa nur Fox-News-hörige Amerikaner. Nein, Kranke in Nigeria erlitten Vergiftungen. Die Falschmeldung, die das Mittel als vermeintlich wirksam gegen Covid-19 erwähnt hatte, war übrigens zunächst mit dem Absender Stanford University in der Tech-Szene des Silicon Valley zirkuliert und unter anderem von Elon Musk weiterverbreitet worden, wie Joan Donovan für das Wissenschaftsmagazin Nature nachzeichnete. Sie sieht die Verantwortung, gegen Falschinformationen vorzugehen, vor allem bei den Tech-Unternehmen. „Social media companies must flatten the curve of misinformation“, schreibt sie. Falschmeldungen gehörten früh „in Quarantäne“, und dafür sollten die Social Media Unternehmen mit Wissenschaftlern zusammenarbeiten. Seien „Fake News“ erst einmal großflächig verbreitet, könne man sie kaum zurückholen.       

Felix Simon war einer der an dem Oxford-Report beteiligten Forscher des Internet Institute. Er sagt: „Was mich am meisten beeindruckt hat, ist die schiere Vielfalt an Misinformation rund um das Corona-Virus und die Pandemie. Von Verschwörungstheorien bis hin zur Behauptung, die Simpsons hätten die Pandemie vorhergesagt, ist so ziemlich alles dabei.“ Die wichtige Botschaft ist aber: An der Menschheit zweifeln muss man deshalb nicht. „Vorhandensein bedeutet nicht Effekt“, so Simon, „die Mehrheit der Menschen scheint sich vernünftig zu verhalten und diesen Dingen nicht auf den Leim zu gehen“.

Ein weiterer, aktuellerer Report des Reuters Institute legt nahe, dass in der Corona-Krise zwar viele Falschinformationen kursieren und gesehen werden, dies aber vor allem an der Vertrauenswürdigkeit der Plattform-Unternehmen kratzt. Die Krise hat offenbar dazu geführt, dass sich viele Bürger wieder den traditionellen Medien oder Wissenschaftlern und Behörden direkt zuwenden, wenn sie verlässliche Informationen suchen. Das, was Bekannte und Verwandte über Facebook teilen, wird offenbar nicht so ernst genommen.    

Tatsächlich ist das Phänomen „Fake News“ meist weniger dramatisch, als es die Berichterstattung darüber suggeriert, dies hatten auch schon frühere Ausgaben des Digital News Report ergeben. Generell kann man sagen, dass gewöhnlich nur ein kleiner Teil der Bevölkerung damit in Berührung kommt und ein noch kleinerer Teil anfällig dafür ist und sie weiterverbreitet, darunter überdurchschnittlich viele ältere Menschen. Für die Medienbranche heißt das: Es ist zwar wichtig, Lügen zu entlarven. Nur sollten Redaktionen ihre Energien nicht gänzlich darauf verschwenden. Weitaus wichtiger ist es, Fakten zu recherchieren und entsprechende Erkenntnisse zu verbreiten. Und gerade das ist die Herausforderung in der Corona-Krise. Es gibt wenige gesicherte Fakten und Zusammenhänge. Forscher sind in einem ständigen Dialog und versuchen, sich der Wahrheit anzunähern, studieren und verwerfen wieder. So geht Wissenschaft.

Für Journalisten und Politiker ist genau das eine Herausforderung. Politiker müssen jetzt entscheiden, Journalisten müssen jetzt Empfehlungen geben und die Seriosität ihrer Politiker bewerten. Es bleibt keine Zeit, auf die Ergebnisse aller Studien zu warten. So manch eine Infografik erweist sich da als Design-Friedhof, so manch eine Empfehlung als überholt. Galt zum Beispiel vor ein paar Wochen noch die Ansage, Maskenpflicht für Gesunde im öffentlichen Raum sei Unsinn, wird sie in manchen Ländern jetzt umgesetzt.

In einem Artikel für das US-Portal Recode hat sich Peter Kafka mit der Berichterstattung amerikanischer Medien über das Virus beschäftig: „What went wrong with the media’s coronavirus coverage?“, fragt er darin und schlussfolgert, aktueller Journalismus sei sehr schlecht darin, Risiken angemessen zu kommunizieren. Das gilt zumal dann, wenn Risiken so schwer abzuschätzen sind wie im Fall Corona, weil es noch keine Vergangenheit gibt, die man ordentlich ausmessen kann. Eine Münchner Regional-Zeitung, die auf der Titelseite mit dem „großen Corona-Faktencheck“ wirbt, mag man deshalb zwar für ihre erzieherischen Verdienste loben. Doch wer weiß schon, ob morgen noch gilt, was heute als „richtig“ angekreuzt wurde? Den Medien bleibt deshalb nur das, was den besseren Journalismus schon immer ausgezeichnet hat: dranbleiben. Denn selbst die WHO kann sich irren.

Dieser Text entstand für den Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School im April 2020