Eine Frage der Macht – Was die Digitalisierung Frauen bringt

Es ist einfach, die Digitalisierung als Erfolgsgeschichte zu erzählen. Hält sie doch all dies bereit: unendliche Möglichkeiten, sich mit Menschen zu verbinden, sich die Welt zu erschließen, Probleme per Datenauswertung zu lösen, sich vielfältiger Mühen des Alltags zu entledigen und sich damit eine nie da gewesene Bequemlichkeit leisten zu können. Es ist ebenso einfach, die Digitalisierung als Geschichte der Bedrohung zu erzählen. Ermöglicht sie doch all das: allumfassende Überwachung, Fremdbestimmung durch Algorithmen, Ökonomisierung aller Lebensbereiche und damit einen nie da gewesenen Druck.

Ob die Digitalisierung einer Gruppe nutzt oder schadet, zum Beispiel Frauen, lässt sich deshalb kaum beantworten. Entscheidend ist, wie wir sie gestalten. Allerdings prägen ein paar Mechanismen die digitale Welt, die sich auf Männer und Frauen tatsächlich unterschiedlich auswirken. Zunächst ist da die komplette Ökonomisierung des Lebens. Was in der westlichen Digital-Debatte als Hyper-Kapitalismus kritisiert wird, kann für Menschen, die bislang nichts haben, ein Segen sein. Denn theoretisch kann sich jeder Bürger, der ein Smartphone besitzt, in den weltweiten Wirtschaftskreislauf einklinken, dort lernen, Waren und Dienstleistungen anbieten, verhandeln, Teams koordinieren, Geschäfte abwickeln.

 

In den Mittelschichten der entwickelten Länder fallen die Vorteile für Frauen geringer aus. Der sichere Arbeitsplatz verschwindet zunehmend zugunsten einer On-Demand-Wirtschaft, in der Leistung auf Abruf bestellt und pro Einheit bezahlt wird. Die Digitalisierung führt dazu, dass die Einkommen aus Arbeit sinken und die aus Kapital steigen. Frauen haben oft das Nachsehen, weil sie davon weniger besitzen und deutlich seltener Firmen gründen. Während viele stolz darauf sind, wie effizient sie als Arbeitsbienen der digitalen Welt Job und Familie vereinbaren, machen diejenigen das Geschäft, die als Unternehmer erfolgreich sind – überwiegend Männer.

Allerdings setzt der ebenfalls bestehende Zwang zur Individualisierung gerade Frauen unter Druck. Die Leistungs- und Vergleichskultur, die vor allem in den sozialen Medien gepflegt wird, macht speziell Mädchen zu schaffen. Einer neuen Studie zufolge leiden sie deshalb besonders häufig unter Depressionen.

Auch die Transparenz, die in den digitalen Netzwerken herrscht, nützt Frauen nicht nur. Klar, sie können sich gegenseitig stärken, Gleichgesinnte finden und ihr Netzwerk ausbauen. Manchmal kann eine Kampagne, die digital angestoßen wird, die Welt verändern. Aber in den digitalen Räumen herrscht eine Ellbogenkultur, die den Lautesten belohnt. Algorithmen setzen jene Beiträge in der Rangfolge an die Spitze, die besonders viele Klicks versprechen. Die also besonders kontrovers, witzig, gewalttätig oder auf andere Weise marktschreierisch sind – die Hingucker eben. Digitale Geschäftsmodelle belohnen Reichweite.

Auf Frauen prasseln in den sozialen Netzwerken außerdem deutlich häufiger Hasstiraden nieder als auf Männer. Die Öffentlichkeit macht sie verletzlich, und sie geraten leicht in die klassische Opferrolle.

Viele haben gehofft, dass Algorithmen zu mehr Gerechtigkeit in zahlreichen Sphären führen. Diese Rechenoperationen, so die Theorie, könnten zum Beispiel wichtige Prozesse wie Bewerbungsverfahren objektiver machen. Wenn eine Software Lebensläufe vorsortiert und nicht ein vorurteilsbeladener Manager, hätten es Bewerber, die nicht seinem Ideal entsprechen, erheblich leichter, in die Endrunde zu gelangen. Was dabei häufig vergessen wird: Algorithmen sind kondensierte Vergangenheit. Sie errechnen aus den verfügbaren Daten das ideale Ergebnis – wenn man sie nicht anders programmiert. Haben sich also bislang vor allem Männer auf einer bestimmten Position bewährt, wird die Software keine Frau vorschlagen. Es kommt darauf an, wie man den Algorithmus füttert.

Und hier liegt der Kern des Problems: Die digitale Welt wird weitgehend von Männern gestaltet. Sie bauen die Geschäftsmodelle der „Winner takes all“-Wirtschaft, die deshalb so genannt wird, weil sie wenige massiv belohnt. Sie programmieren Algorithmen, die von der Job- über die Immobilien- bis hin zur Partnersuche immer stärker die Lebenswege vieler Menschen bestimmen. Frauen hingegen kämpfen um Positionen in der Tech-Branche. Sie fühlen sich oft nicht gewollt, nicht ernst genommen. Die Zahl der Informatikerinnen war in den vergangenen Jahrzehnten zum Teil sogar rückläufig, weil es für Frauen schwierig ist, sich zwischen Nerds und Hipstern zu etablieren. Risikokapitalgeber bevorzugen männliche Firmengründer. Der Kreislauf setzt sich fort.

Die digitale Welt suggeriert nur allzu oft, dass es für alles einen bequemen Weg gibt. Ein paar Klicks, und schon ist man dabei. Ein paar Herzchen, Sternchen, Smileys, und alle sind wunschlos glücklich. Tatsächlich aber stellen sich knallharte Machtfragen. Und Macht wird bekanntlich selten frei Haus geliefert. Man muss sie sich erstreiten und dann auch nutzen, um damit zu gestalten.

Dieser Text ist erschienen in brand eins, Ausgabe 03/2019

Mutter, Vater, Roboter – Elternsein in der digitalen Welt: Wie geht das?

Manchmal mag man auch das nicht mehr hören: Wie aufregend, frei und locker das war in den 70ern, als man als Kind noch unangeschnallt auf der Rückbank in den Urlaub chauffiert wurde und mit Freunden draußen am Fluss rumtobte bis zum Dunkelwerden. Jeder kennt solche Geschichten oder hat sich – je nach Alter –schon dabei ertappt, sie zu erzählen. Heute dagegen, oje, oje: Helmpflicht im Fahrradanhänger, elterliche Hilfestellung am Klettergerüst, WhatsApp-Pflicht bei Schulschluss. Kindheit, so die Nostalgiker, sei nicht mehr das, was sie mal war. Den Rest, der da auch war, all die Unfälle, Ängste und Stunden des gelangweilten Ausharrens in Rauchschwaden bei Erwachsenengeburtstagen – längst verdrängt.

Aber an genau das sollte man sich erinnern, wenn es um die Zukunft des Elternseins in der digitalen Welt geht. Denn einerseits ist es leicht, angesichts der wachsenden Möglichkeiten, Kinder von Geburt an elektronisch zu überwachen, zu beeinflussen und auf Schritt und Tritt zu verfolgen, in verklärende Freiheits-Fantasien zu verfallen. Andererseits bringt die digitale Technologie tatsächlich neue Risiken mit sich.

Nach Erkenntnissen aus der Forschung geht es dabei weniger um den Einfluss, den Bildschirmzeit, soziale Netzwerke und Computerspiele auf Kindergehirne haben. Die Angstmacherei vor zu viel Smartphone-Nutzung beschäftige zwar viele Experten, belegt seien Schäden aber nicht, sagen Andrew Przybylski und Amy Orben in einem Gastbeitragfür den britischen Guardian. Beide sind Wissenschaftler am Oxford Internet Institute, das gerade ein großes Forschungsprojektzur mentalen Entwicklung von Kinder und Jugendlichen in der digitalen Welt startet.

Ein viel akuteres Problem sind kommerzielle Interessen, die mit der Angst von Eltern Geschäfte machen wollen. In Mittel- und Oberschichtsfamilien überall auf der Welt heißt Elternsein heute, alles zu geben, um sein Kind zu schützen und zu fördern. Hier setzen viele Firmen an. Sie suggerieren, dass digitale Geräte und Apps dies viel effizienter und manchmal sogar effektiver können als Babysitter, Großeltern oder Mutter und Vater selbst. Noch beeindruckt die Roboter-Nanny vor allem auf Elektronikmessen. In asiatischen Ländern, die weniger Vorbehalte gegen Humanoide haben als der Westen, dürfte sie aber bald in etlichen Kinderzimmern auftauchen.

Der Markt für internetfähige Geräte und „intelligente“ Spielzeuge, die Kinder vom Babybettchen bis zum Teenager-Alter begleiten und überwachen, wächst schon jetzt rasant. Firmen werben mit Sensor-gespickten Pflastern oder Socken für Neugeborene, damit Mama und Papa ohne Angst vor dem plötzlichen Kindstod schlafen können. Slogans wie: „Love more, worry less“ setzen den Ton. Elektronische GPS-Tracker, die eigentlich für Kinder mit Behinderungen entwickelt wurden, werden allgemein vermarktet. Es gibt Apps, mit denen sich Kinder auf Schritt und Tritt verfolgen lassen (saudische Männer laden sie ihren Ehefrauen aufs Handy). Amazon bietet eine Echo-Version speziell fürs Kinderzimmer an. Und „intelligente“ Puppen wie „My friend Cayla“ versprechen interaktive Spiele, arbeiten im Zweitberuf aber als Spione, wenn sie Puppenmuttis und -papas haufenweise private Informationen entlocken. „Vernichten Sie diese Puppe“, riet dazu die Bundesnetzagentur.

Victoria Nash, ebenfalls Professorin am Oxford Internet Institute der University of Oxford, forscht darüber, wie sich das Kindsein und die Elternschaft durch Technologie verändern könnten. Und sie bleibt angenehm unaufgeregt, wenn sie über „Connected Cots, Talking Teddies and the Rise of the Algorithmic Child“ referiert. Von moralischer Panik halte sie nichts, sagt sie, das Internet habe Eltern und Kindern schließlich unglaubliche Vorteile gebracht. Aber zwei Themen blieben bislang ziemlich unterbelichtet.

Zum einen sei da der Mangel an Datensicherheit, sagt Nash. Immer wieder gerieten massenhaft sensible Informationen in falsche Hände. Oft seien die Anbieter dieser neuen Produkte eher klein, so dass sie es sich nicht leisten wollen, Geräte mit Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz der Privatsphäre zu versehen. Hacker haben es dann leicht, in Kinder- und Schlafzimmer einzudringen, über Baby-Kameras in Häuser zu schauen oder Verhaltensdaten abzufischen, die womöglich ein Leben lang an Menschen kleben bleiben. Die Standards müssten dringend aktualisiert werden, fordert Nash, denn im Moment sei es eher so: „Anstatt dass die Kinder das Internet nutzen, nutzt das Internet die Kinder.“ Und sie fügt hinzu: „Ich mache mir Sorgen um das von Algorithmen erzogene Kind, wenn wir Entscheidungen darüber, ob es sicher ist, es ihm gut geht oder ob es sich gut entwickelt nur auf der Basis von Daten treffen, die uns private Unternehmen so gerne über unsere eigenen Kinder verkaufen.“

Aber ein zweites Thema hält die Professorin für wesentlich wichtiger: Was bedeute es, in der digitalen Welt Eltern und Kind zu sein? Das Konzept Kindheit sei schließlich erfunden und habe schon immer je nach Kultur und historischer Epoche variiert. Elternschaft müsse neu gedacht werden.

Was Kindheit heute bedeuten sollte, kann man in der UN-Kinderrechtskonventionvon 1989 nachlesen: unter anderem der Schutz vor Gewalt, Rechte auf Freizeit und Bildung sind darin verbrieft. Schon 1924 hatte der Völkerbund, die UN-Vorläufer-Organisation, Kinderrechte definiert. Aber natürlich werden diese Rechte unterschiedlich umgesetzt und interpretiert. An einem Ende der Welt ist Kinderarbeit Alltag, am anderen dürfen noch nicht einmal 15-Jährige alleine zur Schule radeln. In manchen Ländern beansprucht der Staat die Rolle des Erziehers in der Überzeugung, die jungen Bürger besser nach seinem Bild formen zu können als die Eltern. In anderen liegt die gesamte Verantwortung bei den „Erziehungsberechtigten“.   

Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern verändert sich aber, wenn sich Technologie dazwischenschiebt. Zum einen lagern Eltern Kommunikation aus, wenn die Kleinen künftig nur noch Podcasts hören oder mit Roboter-Puppen reden, statt sich vorlesen zu lassen. Die MIT-Professorin Sherry Turkle („The End of Conversation“, 2015) warnt vor den Folgen: „Empathie wird durch Gespräche entwickelt“, sagt Turkle. Gäbe man Kindern zudem ständig etwas, das sie ablenke, lernten sie nie, Langeweile und Alleinsein auszuhalten. Aber daraus entwickelten sich Kreativität, Identität und Beziehungsfähigkeit. Turkle: „Wenn wir den Kindern nicht beibringen, wie man alleine ist, werden sie das nur als Einsamkeit erleben.“

Zum anderen verschafft die neue Daten-Transparenz Dritten Einblicke in das Verhalten von beiden. Waren Kindheit und Erziehung früher Räume zum Experimentieren, die alle Seiten manchmal eher schlecht als recht genutzt haben, werden Nachlässigkeit, Faulheit, Aggression und manch anderes, was einem im Rückblick als Mutter oder Tochter eher unangenehm ist, ans Licht gezerrt. Intelligente Sprachassistenten bekommen jeden Familienstreit mit. Spielzeuge können den Lernfortschritt dokumentieren, und womöglich werden Eltern bald dann haftbar gemacht, wenn sie ihre Kinder ohne Überwachungs-Technologie haben draußen spielen lassen.

Die Digitalisierung könnte also das Modell der Helikopter-Eltern zur Norm machen. Schließlich hat sie das Helikoptern durch Technologie ohnehin zum allgemeinen Lebensstil erhoben. Wir überlassen immer weniger dem Zufall, ersetzen Vertrauen durch Daten. Wenn internetfähige Geräte unsere Wohnungen, unsere Fitness, unsere Leistungen als Beschäftigter, Autofahrer, womöglich Staatsbürger überwachen – das englische Verb monitoring hört sich etwas freundlicher an –, dann ist es nicht mehr weit bis zu dem Moment, an dem Eltern vor lauter Panik, etwas falsch zu machen, ihre Kinder ganz den elektronischen Hilfsmitteln anvertrauen.

Ironischerweise geschieht dies in einer Zeit, in der man immer wieder freudig und lautstark aufgefordert wird, doch etwas mehr Risiko zu wagen. Sicherheit im alten Sinne – mein Job, mein Haus, mein Partner – gebe es nicht mehr in einer Welt des schnellen Wandels, heißt es gerne, darauf habe man sich einzustellen. Nur wann und wie soll man Risikofreude lernen, wenn nicht in der Kindheit? Kleine Freiheiten zu testen, auch mal schräge Dinge auszuprobieren und dabei darauf zu vertrauen, dass man geliebt, angenommen und umsorgt wird, ist ein Privileg, das nicht jedes Kind hat. Es führt aber erwiesenermaßen zu mehr Selbstvertrauen und hilft später dabei, mit Risiken umzugehen.

Es gibt Forderungen danach, Jugendlichen mit dem 18. Geburtstag das Recht einzuräumen, auf eine Art Lösch-Taste zu drücken, um das Erwachsenenleben ohne Datenmüll zu beginnen. Natürlich müsste es Ausnahmen geben, denn auch Verantwortung zu übernehmen lernt man nicht über Nacht. Aber grundsätzlich ist die Idee gut.

Das Konzept Freiheit muss in der digitalen Welt neu definiert werden. Wir sollten das als Bürger tun und nicht kommerziellen Interessen überlassen. Auf die Rückbank ohne Anschnallgurt wollen im Ernst die Wenigsten zurück. 

Dieser Text erschien in gekürzter und leicht veränderter Form in „ada – Heute das Morgen verstehen“, Ausgabe 03/2019             

Vom guten Ton – Wie Sprachassistenten die Gesellschaft verändern könnten

Wie sich das mit der Höflichkeit entwickeln wird, ist noch nicht ganz ausgemacht. Die einen vermuten, dass wir uns die Welt künftig nur noch im Befehlston erobern. „Alexa, bestell mir Pizza Funghi!“, „Google, weck mich morgen um sieben!“ – noch verstehen die Sprachroboter, die uns zunehmend umgeben, klare Ansagen am besten. Und wenn man nicht aufpasst, kann das leicht zu „Martin, bring den Müll runter!“ werden, was Martin nicht ganz so entspannt kommentieren dürfte wie die nette Stimme aus dem Off.

Andere hingegen meinen zu beobachten, dass Nutzer der Spracherkennung ihre Wünsche von sich aus gerne mit einem „Bitte“ beenden. Und schließlich sei es kinderleicht, dem Roboter einzuprogrammieren, dass er einem ein solches Höflichkeits-Signal abverlangt, bevor er im Sinne des Auftraggebers tätig wird. Das werde eine neue Generation von höflichen Kindern heranziehen, die der Oma dann sprachlich mit genauso viel Respekt begegnen würden wie Alexa und Co., vermuten manche. Beide Thesen werden sich in wissenschaftlichen Arbeiten überprüfen lassen, denn Daten dürften bald reichlich zur Verfügung stehen.

Wie die Voice Technologie den Umgang mit dem Internet und damit womöglich die Gesellschaft verändern kann, wird sich schwieriger überprüfen lassen. Einerseits könnte sie zum großen Demokratisierer werden, den digitalen Graben überbrücken und alle ans Netz anschließen, denen das Digitale bislang zu fremd, zu kompliziert oder aus anderen Gründen verschlossen war. Andererseits könnte es uns zu noch beflisseneren Vasallen der mächtigen Plattform-Konzerne machen: durchschaubar, denkfaul und orientierungslos.

Die optimistische Variante geht so: Künftig muss man sich weder über ein Smartphone beugen noch auf einen Bildschirm starren, um sich in der vernetzten Welt kompetent zu bewegen, ja man muss noch nicht einmal lesen und schreiben können. Wer sich sprechenderweise bemerkbar machen und Wünsche äußern kann, hat Zugang zu allen Dienstleistungen, die über das Internet zur Verfügung stehen – vorausgesetzt, der Roboter erkennt nicht nur die Sprache sondern auch den jeweiligen Dialekt. Damit könnten auch Analphabeten online tätig werden. Geschätzt haben 700 Millionen Menschen mehr oder weniger große Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben, also etwa jeder zehnte.

Aber auch diejenigen, denen „all der Digitalkram“ bislang zu kompliziert war, könnten Gefallen daran finden. Das betrifft übrigens nicht nur Großeltern. Deren digitale Beweglichkeit ist, getrieben von der Sehnsucht nach den Enkeln, mitunter erstaunlich ausgeprägt. Nutzer jeden Alters, denen das geschriebene Wort noch nie viel bedeutet hat, denen Fingerfertigkeit, Sehkraft oder schlicht die Muße fehlen, mit kleinen Bildschirmen zu hantieren, lassen sich womöglich lieber auf eine Art Dialog mit Maschinen ein.

Hinzu kommt, dass der Blick aufs Gerät bei manchen Tätigkeiten schlicht gefährlich sein kann. Das betrifft vor allem das Navigieren im Straßenverkehr. Fast jeder hat schon diese vermeintlich lustigen Videos gesehen, bei denen Fußgänger, den Blick gen Smartphone gesenkt, gegen Laternenpfähle donnern oder in Tümpel stolpern. Allerdings zeigt auch die Kurve tödlicher Autounfälle nach Jahrzehnten des Absinkens wieder nach oben. Ablenkung durchs Handy gilt als ein gewichtiger Grund dafür.

„Spracherkennung lässt die Technik in den Hintergrund treten, ja unsichtbar werden“, sagt Nic Newman, Tech-Forscher und Autor der Studie „The Future of Voice and the Implications for News“des Reuters Institutes for the Study of Journalism. Das werde den Umgang mit dem Internet spielerischer machen und viele neue Angebote hervorbringen.

Die schlauen Geräte lenken nicht so ab wie ständig blinkende Screens, sie bleiben stumm und unaufdringlich, solange man nichts von ihnen will. Sie machen deshalb vermutlich auch weniger süchtig als Smartphones, wenn man denn in diesem Zusammenhang von Suchtverhalten sprechen kann. Mal schnell nachschauen, ob es nicht doch irgendetwas Neues gibt, diesen Reflex sollten sie jedenfalls weniger auslösen als ein Gerät, das mit visuellen Reizen arbeitet. „Wir verbringen alle viel zu viel Zeit mit Bildschirmen. Unsere Augen und Gehirne sind müde, wir sind von kleinen rechteckigen Geräten abhängig geworden“, sagt Newman, „Spracherkennung wird uns davon befreien und dem Menschen die Kontrolle zurückgeben.“       

Aber Experten wie Newman halten die Technik nicht nur deshalb für transformativ. Insbesondere Menschen, die motorisch eingeschränkt sind, könnten massiv von ihr profitieren. Der britische Landkreis Hampshire testet gerade in einem Pilotprojekt, in welchem Ausmaß smarte Hör-Geraete und ihre Chatbots Behinderten und Betreuungsbedürftigen als Ansprechpartner zur Verfügung stehen können, um sie zum Beispiel an Medikamente zu erinnern, Hausgeräte zu steuern oder im Notfall Botschaften weiterzuleiten – nicht, um Pflegepersonal zu ersetzen, sondern Hausbesuche zu ergänzen, wie das zuständige Amt versichert.

Generell senkt die Technik die Hemmschwelle für Bürger, sich an ihre Gemeinde oder andere öffentliche Stellen zu wenden. Es kostet die meisten Menschen weniger Überwindung, mal eben in ein Gerät zu sprechen, um etwas zu fragen oder zu melden, anstatt sich zu dem zuständigen, womöglich schlecht gelaunten Sachbearbeiter durchzufragen oder ein Formular auszufüllen. Wenn es denn funktioniert.

Die Chancen dafür stehen recht gut. Der technische Fortschritt auf dem Feld ist gewaltig, die Software der Geräte wird dank der ständigen Fütterung mit Daten immer besser. Vor allem im Handel ist ein Wettlauf im Gange, um den Kunden mit Sprach-Dienstleistungen abzuholen, wie es so schön heißt, und das hoffentlich schneller als die Konkurrenz. Der Marktforscher Gartner prognostiziert, dass die Firmen, die früh in Voice Technologie investieren, ihren Einzelhandels-Umsatz um 30 Prozent steigern können. 2021 dürfte jede zweite Firma mehr in Bots und Chatbots investieren als in Apps.

Allerdings, und jetzt kommen die Warnhinweise, gibt es auch ein paar Risiken. Das bekannteste betrifft den Datenschutz. „Smart talking: are our devices threatening our privacy“, überschreibt der britische Guardianeinen Text von James Vlahos, und man möchte rufen: „Ja was denn sonst?“ Dass die Smart Speaker das Smartphone in seinen Spionage-Fähigkeiten noch um einiges übertreffen, ist mehr als offensichtlich. Denn weil sie passiv im Hintergrund „lauern“, vergisst man gerne, dass es sie gibt. Ausschalten geht zwar, aber es beraubt sie ihrer Funktion. 

Vlahos‘ Stück ist ein Vorabdruck aus seinem Buch, dessen Titel „Talk to Me: Apple, Google, Amazon and the Race for Voice-Controlled AI“ (Random House Penguin, 2019) auf einen Blick klar macht, wer diese neuen Zufahrtsstraßen zum Internet kontrolliert. Zwar beteuern die genannten Konzerne auf allerlei Weise, wie sie die Privatsphäre ihrer Kunden zu schützen gedenken, aber dennoch ergeben sich einige ethische und juristische Probleme aus der rasant wachsenden Anwendung der Geräte. So zitiert Vlahos einen Jura-Professor der Fordham Law School in New York, Joel Reidenberg, der sagt: „Wenn Sie ein Gerät installiert haben, das zuhört und Daten an Dritte überträgt, haben Sie Ihr Recht auf Privatsphäre verwirkt.“ So schnell kann es dahingehen mit den Bürgerrechten.

Und wer ist dafür verantwortlich, eventuell Hilfe zu alarmieren, wenn zum Beispiel ein Kind seiner mit einem Sprachempfänger ausgestatteten Barbie-Puppe anvertraut, jemand habe es seltsam angefasst? Man kann gewiss sein, dass sich bereits jetzt reihenweise Anwälte mit dem Thema beschäftigen. Wie man weiß, übernehmen die großen Datenkonzerne ungerne Verantwortung für das, was sie auslösen, wenn die Folgen denn negativ sind. Ganz abgesehen davon, dass die Gefahr des Hackens mit der Zahl der Gegenstände wächst, die kontinuierlich Daten zum Nutzerverhalten übermitteln, ob das nun die Mikrowelle, die Heizung oder das Auto ist.

Allerdings gibt es noch ein paar weniger offensichtliche Fragezeichen zur Voice Technologie als die Sorge um die Privatsphäre. Denn einerseits ist es natürlich wunderbar, wenn Dinge einfacher werden. Andererseits könnte es auch dazu führen, dass wir bestimmte Hirnregionen nicht mehr trainieren, wenn wir uns nur noch in den Wunsch- und Erwartungsmodus begeben. Schon heute werden ohne Google Maps selbst diejenigen unter uns schnell orientierungslos, die jahrzehntelang problemlos mit Hilfe von Stadtplänen und Landkarten ihren Weg gefunden haben. Bestimmte kognitive Kompetenzen bilden sich offenbar schnell zurück. Und das könnte auch für das Lesen und Verstehen von Texten gelten. Nicholas Carr hatte sich über diesen Effekt in seinem Buch „The Shallows – What the internet is doing to our brains“ (W. W. Norton, 2011) schon lange vor dem Siegeszug der Spracherkennung ein paar Gedanken gemacht.  

Die Vermutung liegt nahe: Wer sich regelmäßig von Alexa oder Google Home den Nachrichten-Überblick vorlesen lässt – der natürlich je nach Auswahl von der BBC, der Tagesschau oder anderen Redaktionen stammt – mag sich womöglich nicht mehr mit ausführlicherer Lektüre zum Tagesgeschehen beschäftigen. Zwar haben Radio und Fernsehen diesen Effekt auch schon geliefert, aber der smarte Lautsprecher lässt sich wie das Smartphone für so viele Funktionen nutzen, dass die Information nur eine davon ist. Laut Newmans Studie interessieren sich zwar eine ganze Menge Voice-Nutzer für die Nachrichten, aber nur ein Prozent von ihnen findet dieses Angebot auch wichtig. Der weit überwiegende Teil der Konsumenten nutzt die Geräte bislang vor allem fürs Musikhören auf Kommando.

Ein Trend dürfte sich verstärken: Vieles im Netz befeuert unsere Bequemlichkeit und unsere Ungeduld gleichermaßen, alles muss schnell und ohne viel Mühe in unsere Nähe gelangen. Das offensichtlichste Zeugnis davon sind vermutlich die Fahrradboten von Lebensmittel-Bring-Diensten, die sich in vielen Städten so schnell vermehren, wie man es von den dazu passenden Radwegen gerne hätte. Der Weg vom Hunger zum Essen führt immer seltener über den Supermarkt und die Küche zum Teller, mundgerechte Lieferung wird zum Standard und das durchaus auch im übertragenen Sinne.

Absehbar ist zudem, dass sich die Macht im Internet weiter auf wenige große Plattform-Konzerne konzentriert. Eine Google-Suche am Bildschirm fördert zuweilen Tausende, sogar Millionen Treffer zutage, selbst wenn sich die Wenigsten die Mühe machen, auf die vierte Seite der Suchergebnisse zu gehen. Das Voice-Gerät hingegen lässt exakt eine Antwort zu, wenn man keine weitere anfordert. Scott Galloway, Professor der New York University, hat deshalb schon prognostiziert, dass Spracherkennung der Tod des Markenartikels sein könnte. Der Kunde werde vermutlich eher Produktkategorien ordern („Ich brauche Zahnpasta“) als Markenartikel, der dahinterliegende Händler könne dann seine Lieferanten entsprechend preislich unter Druck setzen. Das Ergebnis ist ein Verdrängungswettbewerb, der sich zugunsten der ohnehin schon Starken entscheiden dürfte, doch die werden in Maßen profitieren. Denn der Kunde wird Markennamen im akustischen Raum kaum noch wahrnehmen.

Eine große Herausforderung dürfte die Sprache selbst sein. Im englischsprachigen Raum mag die Spracherkennungs-Technik als rundum positiv gesehen werden, dort setzt sie sich rasant durch. In den USA und Großbritannien nutzt schon mindestens jeder Zehnte einen Smart Speaker, immerhin sind die Geräte derzeit schon für 21 Sprachen in 36 Ländern erhältlich. Aber es wird noch eine Weile dauern, bis auch der letzte Dialekt verstanden wird. Außerdem haben die Lautsprecher noch Schwierigkeiten damit, Stimmen zuzuordnen oder Wünsche im Zusammenhang zu begreifen. (Wer daheim Alex oder gar Alexa gerufen wird, stiftet vermutlich besonders viel elektronische Verwirrung.)  

Ob die Boxen ihre Nutzer wirklich verstehen, hängt stark davon ab, wieviel sich diese mit ihnen abgeben. Denn die Technik lernt umso besser, je mehr Daten sie verarbeiten kann. Ob sie den Menschen allerdings jemals in der ganzen Komplexität seiner Kommunikation „begreifen“ wird, lässt sich getrost bezweifeln. Zu der gehört schließlich viel mehr als nur die Sprache. Manchmal verstehen wir uns schließlich nicht einmal selbst.      

Dieser Text erschien in leicht veränderter Form in „ada – Heute das Morgen verstehen“, Ausgabe 02/2019

Warum wir das Effizienz-Diktat brechen müssen

Es gehe vor allem darum, »sinnstiftende Verbindungen unter Freunden zu fördern«, hatte Mark Zuckerberg gesagt. Mit diesen Worten begründete der Facebook-Chef offiziell, dass der Algorithmus des Plattformunternehmens Beiträge von Privatleuten bald höher bewerten würde als jene von Medien. Das Ergebnis zeigte sich prompt. Während die Nutzer/innen nach wie vor viel Zeit in den digitalen sozialen Netzwerken verbringen, stoßen sie dort nun auf deutlich weniger Journalismus, wie der Digital News Report des Reuters Instituts for the Study of Journalism der Universität Oxford ergab.
Dies ist nur ein Beispiel das zeigt: Die Macht der Techkonzerne über unser Leben ist gewaltig und sie wächst. Wenn Facebook am Algorithmus schraubt, sehen wir andere Beiträge von Freunden und Fremden. Wenn Google das Gleiche tut, erscheinen Suchergebnisse in veränderten Reihenfolgen. Und Amazon prägt nicht nur unsere Einkaufs- oder Musikpräferenzen, es wird sich – wie die Wettbewerber – mithilfe von omnipräsenten Sprachassistenten massiv in unser Leben einschleichen. Software, meist aus den Schmieden mächtiger Konzerne, beeinflusst aber nicht nur unsere Vorlieben und unser Verhalten. In Form von künstlicher Intelligenz wird sie mit uns darum konkurrieren, wer welche Aufgaben im Alltag erledigen wird: Maschine oder Mensch.
Müssen wir uns davor fürchten? Immerhin nehmen uns Roboter stupide Arbeiten ab, Suchmaschinen liefern uns mehr Antworten, als uns Fragen einfallen, und Autopiloten haben das Fliegen sicherer gemacht als eine Autofahrt ins Büro. Ginge es der Menschheit also nicht besser, wenn sie ihre Probleme den großen Softwarefabriken anvertraute, um sie von Algorithmen lösen zu lassen? Schließlich können diese auf (fast) unendlich viel mehr Daten zurückgreifen und sind dabei weniger störanfällig als das menschliche Gehirn.
Allerdings glauben nicht einmal die Protagonisten des Silicon Valley, dass künstliche Intelligenz nur harmlos ist. Tesla-Gründer Elon Musk formulierte seine Bedenken einmal so: »Wir bewegen uns entweder in Richtung Superintelligenz oder auf das Ende der Zivilisation zu.« Nun ist Alarmismus selten hilfreich. Szenarien, in denen Roboter die Macht an sich reißen und die Menschheit auslöschen, passen deutlich besser in Science-Fiction-Lektüre als in die reale Welt. Aber das ist noch lange kein Grund, sich in das kleine Glück der Bequemlichkeit zu flüchten und die Entwicklung der Digitalisierung hinzunehmen wie das Wetter. Denn Software wird von Menschen gemacht und eingesetzt. Wir Menschen müssen deshalb dafür Verantwortung übernehmen.

Optimierung für die breite Masse
Die Algorithmen selbst sind dabei erst einmal nicht mehr als Rechenoperationen, wenn man so will, die Gehirnströme des Computers. Sie rechnen aus, wie wir am besten von A nach B kommen, geben uns Buchempfehlungen und können aus vier Zutaten ein Rezept komponieren. Sie steuern Rasenmäher wie Drohnen, helfen bei der Partnerwahl und könnten Hochleister bei der Diagnose von Krankheiten werden. Allerdings sortieren sie auch Bewerber/innen für Jobs oder Bankkredite aus. Sie fällen also wichtige Urteile darüber, wie viel Vertrauen ein Mensch verdient. 2017 hat das amerikanische Forschungsinstitut PEW Research 1.500 Fachleute zu ihrer Meinung über künstliche Intelligenz befragt. 38 % meinten, dass in einer von Algorithmen getriebenen Welt die Vorteile überwiegen werden, 37 % waren vom Gegenteil überzeugt. Der Rest sagte, beides würde sich die Waage halten. Aber eines besorgte alle: dass Menschen Verantwortung nur zu gerne an Software abtreten. Und das muss schiefgehen.
Dabei spielt es keine Rolle, in welchem der beiden Systeme man sich bewegt, die sich derzeit in der digitalen Welt herauskristallisieren. Das eine ist das amerikanische, von kommerziellen Interessen getriebene, das den nimmersatten Konsumenten erschaffen möchte. Das andere das chinesische, hinter dem ein autoritärer Staat steckt, dessen Vision der ideal ans System angepasste Staatsbürger ist. In beiden Welten verschwindet zunehmend die Freiheit, wie wir sie kennen.
Dort, wo wir rund um die Uhr über allerlei Geräte mit Supercomputern vernetzt sind, wo nicht nur Smartphones sondern auch »intelligente« Uhren, Kleidung, Häuser, Autos und bald vieles mehr im Minutentakt Daten über unser Verhalten sammeln und senden, lässt sich schon qua Logik das nicht mehr sicherstellen, was wir bislang unter Freiheit verstehen: einigermaßen unbeobachtet von staatlicher oder kommerzieller Kontrolle experimentieren, diskutieren, Ideen haben, uns bewegen, konsumieren, Beziehungen pflegen, ja lieben. Dort, wo mindestens zwei große Garanten der Freiheit – Bargeld und Landkarten – von Bezahl-Apps und Ortungssystemen abgelöst werden, wo intime Gespräche zunehmend von elektronisch dokumentierten Chats ersetzt werden, wird Freiheit eine andere Gestalt bekommen. Und dort, wo Algorithmen uns mindestens sanft beeinflussen, uns aber auch konkret steuern können, wandelt sich das Bild von Freiheit immens.
In einer von Algorithmen getriebenen Welt gelten wichtige Gesetzmäßigkeiten. Erstens, Effizienz geht vor Fairness. Algorithmen empfehlen, was für die Masse gilt, nicht für den Einzelnen. Zwar können sie Vorschläge je nach Datensatz individualisieren, aber generell rechnen sie in Wahrscheinlichkeiten. Der Schutz Einzelner zählt wenig, besondere Lebensumstände werden nicht berücksichtigt. Nun ist das Leben ohne Algorithmen auch nicht fair, der »Nasenfaktor«, also letztlich das Gefühl bestimmt viele Entscheidungen. Aber in der Demokratie ist der Schutz des Individuums ein hohes Gut, jeder hat ein Recht auf ein faires Verfahren, selbst Verbrecher.

Vergangenheit siegt über Zukunft
Weil sich Algorithmen auf vorhandene Daten stützen, sind sie kondensierte Stereotype – es sei denn, sie werden anders programmiert. Ist zum Beispiel eine Stelle für Ingenieure ausgeschrieben, sind bislang erfolgreiche Ingenieure die Blaupause. Männliche Kandidaten haben deshalb bessere Chancen. Von Algorithmen gesteuerte Prozesse produzieren keine Innovationen. Sie funktionieren nach dem Grundsatz »weiter wie bisher, nur effizienter«. Anders ausgedrückt: Wer sich damit beschäftigt, das Fax besser zu machen, wird nie die E-Mail erfinden. Außerdem machen sie faul. Statt Neues auszuprobieren und selbst zu denken, verlässt man sich auf mundgerecht servierte Lösungen. »Künstliche Intelligenz kann niemals etwas erschaffen, das sich Menschen vorher nicht ausgedacht haben«, sagt die Soziologin Gina Neff vom Oxford Internet Institute.
Die US-amerikanische Mathematikerin Cathy O’Neil illustriert in ihrem Buch Angriff der Algorithmen, wie diese auf Kosten der Armen arbeiten: Firmen platzieren mithilfe von Software Werbung für zweifelhafte, überteuerte Produkte gezielt bei Menschen, die sie als anfällig identifizieren. Die elektronischen Werkzeuge sortieren Bewerber um Jobs oder Kredite nach Wohnbezirken; wohl dem, der eine ordentliche Postleitzahl hat. Ganz zu schweigen von den Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf den Arbeitsmarkt. Wissenschaftler haben ausgerechnet, dass es noch 125 Jahre dauern wird, bis menschliche Arbeitskraft vollkommen durch Maschinen ersetzt wird, aber viele Jobs wie Lkw-Fahrer, Verkäufer oder Call-Center-Agent könnten schon bald verschwinden.
Anders ausgedrückt: Laut gewinnt immer. Das Phänomen kennt man von Google, elektronischen Kaufhäusern oder Hotelportalen. Sucht man nach einem Produkt, werden einem die beliebtesten vorgeschlagen. Viele greifen dann zu. Damit macht man starke Produkte stärker, die schwächeren verschwinden. Algorithmen können deshalb die Gesellschaft spalten. Der Echokammer-Effekt ist dem Blockbuster-Effekt sehr ähnlich. Algorithmen kalkulieren, welche Nachrichten jemanden besonders interessieren könnten und versorgt ihn bevorzugt damit. Tatsächlich nutzen Menschen zwar mehr Informationsquellen als früher, sie sortieren Meldungen aber eher nach ihren Präferenzen. Zum Beispiel können sich rechte Gruppierungen verstärkt international vernetzen und Meinungen, die manch einem früher peinlich waren, sind heute salonfähig.
Einige dieser Mechanismen stehen der Demokratie entgegen. Zunächst einmal regiert in der Demokratie nicht der Lauteste, der Blockbuster. Die Gewaltenteilung, ein austariertes System von »checks and balances«, also aus Überprüfung und Ausgleich, sorgt dafür, dass auch Minderheiten und Schwache geschützt werden und ihre Bürgerrechte ausüben können. Hinzu kommt das Prinzip der Repräsentation: Auch wer sich nicht ständig beteiligt, bewertet, abstimmt, hat Rechte, die ihm nicht genommen werden können. Privatsphäre und der Schutz der Menschenwürde sind die Lebensgrundlagen der Demokratie, Datenschutz ist deshalb zentral.
Ganz wichtig: In der Demokratie gibt es nicht die eine »beste« Lösung, die von einem Algorithmus ausgerechnet werden kann. Es geht immer um die tragfähigste Lösung, die ausgehandelt werden muss. Das ist die Logik der Politik. Zum Beispiel fühlt sich der eine frei, wenn er eine Zigarette rauchen kann, der andere, wenn er den Rauch nicht ertragen muss. Die Freiheit des einen endet immer dort, wo die des anderen beginnt. Das Tempo der digitalen Welt steht der Demokratie entgegen. Letztere ist mit voller Absicht langsam, von Versuch und Irrtum geprägt. Ihr Verständnis von Effizienz hat nichts mit Geschwindigkeit zu tun. In der Demokratie gibt es Brüche, Rückschritte, aber auch Durchbrüche in neue Zeiten. Kein Algorithmus hätte je den Mauerfall herbeigeführt. Demokratie ist von Menschen für Menschen gemacht, nicht für Maschinen.
Wichtigste Aufgabe muss es deshalb sein, die Macht der Monopole einzuschränken, ob das nun mächtige Konzerne oder starre Autokratien sind. Und es gilt, das Effizienzdiktat zu brechen. Wenn wir Menschen mit dem Computer um Effizienz konkurrieren wollen, haben wir schon verloren, in dieser Disziplin wird uns der Rechner immer schlagen. Wir müssen in der digitalen Welt menschliche Stärken ausspielen: Fantasie, Intuition, Empathie, Kooperation über Grenzen und Gegensätze hinweg, die Fähigkeit, auch mal größer und anders zu denken. Nur so lässt sich aus Krieg Frieden schaffen, aus Zerstörung Schöpfung, aus Einfalt jene Vielfalt, die uns stark macht.

Dieser Beitrag erschien in Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte, Ausgabe 1/2 2019

Was kostet die Freiheit?

Algorithmen können Gleichberechtigung fördern, Social Media kann zum Wählen motivieren: Technologie ermöglicht den Menschen, ihre Rechte zu verteidigen. Aber sie liefert autoritaeren Staaten auch die Mittel, durch Überwachung und Zensur genau diese Freiheit zu beschneiden. Über ein Dilemma und das, was zu tun ist.

In der Redaktion der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter ist man ziemlich stolz auf dieses Ding: den Gender Bot. Das Programm wertet für jeden einzelnen Text aus, wie hoch der Anteil männlicher und weiblicher Gesprächspartner oder Protagonisten darin ist, die Autoren bekommen ihre Bilanz dann einmal im Monat per Mail zugestellt, ganz unverbindlich, wie der Nachrichtenchef betont. Und trotzdem dürfte so manch ein Textfabrikant zusammenzucken. Schon wieder zu 90 Prozent Männer zitiert? Spätestens bis zum nächsten Jahresgespräch muss das wohl anders werden.

Man selbst findet das zunächst ziemlich genial. Endlich einmal wird Software dazu genutzt, auf simple Art gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben. Allerdings fallen einem sofort jene Kollegen ein, die hier an Bevormundung denken würden. Das Fachwort dafür ist aber ­„Nudging“. Das ist jene sanfte Form der Beeinflussung, bei der man denkt, aus freien Stücken zu handeln, dabei hat einem irgendjemand schon die gefälligen Alternativen vorsortiert, meistens ein Algorithmus. Der Schrittzähler animiert ­einen zu mehr Bewegung, die Likes der Freunde unter den Facebook-Posts spornen einen dazu an, noch mehr von sich preiszugeben, und das bequeme One-Click-Shopping lässt einen zusätzlich dies und das in den Einkaufswagen schaufeln, obwohl man eigentlich nur schnell was nachschauen wollte. In der von Software gesteuerten Welt wird „genudged“, dass es nur so säuselt.

Und das Prinzip dahinter ist ja schlau. Statt überall mit Regeln, Verboten, Gesetzen, Vorschriften zu kommen, vertraut es darauf, dass der Mensch schon einsehen wird, wie er sich per digitalem Stupser zu einem besseren Selbst entwickeln kann. Ist das Bewusst­sein erst einmal geschaffen, kommt das Handeln ganz von selbst. Jetzt gilt es nur noch zu definieren, was dieses bessere Selbst ist – also zum Beispiel jemand, der seine Stereotype bekämpft und auf Gleichstellung achtet, seinen Körper fit hält und brav zur Wahl geht, wenn er daran erinnert wird. Facebook hatte vor Jahren ein entsprechendes Experiment initiiert, als noch gar nicht die Rede von Russlands Rolle im amerikanischen Wahlkampf war. Ergebnis: Bürger, die auf Facebook gesehen hatten, dass ihre Freunde schon im Wahllokal waren, machten sich häufiger auf den Weg dorthin als die Vergleichsgruppe. Ein Nörgler ist, wer Böses dabei denkt.

Man kann aber auch ins Grübeln kommen. China zum Beispiel treibt die Digitalisierung massiv voran mit dem Ziel, den angepassten, produktiven, anständigen Bürger zu kreieren. Einen Bürger, der die Regeln nicht nur aus freien Stücken beachtet, sondern in Konkurrenz mit seinen Nachbarn übererfüllt voller Hoffnung auf Vergünstigungen. Nun spricht nichts gegen angenehme Nachbarn. Der Nebeneffekt ist aber: Wer sich widersetzt, lässt sich schnell identifizieren und sanktionieren.

Denn das ist der Haken an dieser digitalen Welt und der Freiheit, die darin wohnt: Man kann arbeiten, wann und von wo aus man will, man kann rund um die Uhr einkaufen, online einen Partner suchen, und wenn man sich traut, seinen Staatspräsidenten elektronisch beschimpfen. Aber man muss damit rechnen, dabei beobachtet zu werden. Von Vorgesetzten, die Arbeitsleistungen kontrollieren und auswerten, von Konzernen, die analysieren, welche Produkte sie einem noch unterjubeln könnten, von Versicherungen, die unser Lebenswandel interessiert, oder von irgendeiner Staatsmacht, die einem unangenehm auf die Pelle rücken kann, wenn der politische Wind plötzlich aus einer anderen Richtung bläst. Hat einem bislang allein das schlechte Gewissen zu schaffen gemacht, wenn man mal während der Arbeitszeit shoppen gegangen ist oder halb öffentlich über die Chefin gelästert hat, bekommt man es künftig womöglich mit ganz anderen Instanzen zu tun.

Wer sich online widersetzt, lässt sich schnell identifizieren Deshalb kommt jetzt der Warnhinweis: Wir müssen um den Schutz unserer Daten ringen. Das gelingt nur bedingt, wenn wir uns der digitalen Auswertung zuweilen aktiv und individuell entziehen, die Geräte mal abschalten, Vorlieben für uns behalten, nicht rund um die Uhr auf jedes rote Lämpchen reagieren, das uns das Smartphone hinwirft. Bürgerrechte wie der Schutz der Privatsphäre, der Wohnung, der freien Meinungsäußerung, ja der menschlichen Würde und körperlichen Unversehrtheit lassen sich nur politisch absichern. Dafür müssen wir streiten. Die Politik muss den Tech-Konzernen Regeln setzen, wie all jene Geräte gestaltet werden, denen wir unbedarft unsere Wünsche, Fragen, Vorlieben, Leistungsdaten und Gedanken anvertrauen, und es muss ebensolche Regeln dazu geben, was mit unseren Daten passiert – zum Beispiel wer darauf zugreifen darf und wann sie gelöscht werden. Das wird das digitale­ Leben womöglich etwas unbequemer machen. Aber auf lange­ Sicht werden wir freier sein. Frei genug, um die Welt nach unseren demokratisch vereinbarten Werten zu gestalten, beispielsweise per Gender Bot.

Dieser Text erschien zuerst in Sueddeutsche Zeitung Plan W – Frauen veraendern Wirtschaft, am 22. September 2018

 

 

Rettet die Freiheit in die digitale Welt!

Dabei hat Freiheit noch nie bedeutet, dass jeder jederzeit machen kann, was ihm gerade passt. Denn die des einen hört immer dort auf, wo die des anderen beginnt. Deshalb gibt es wahre Freiheit nur, wenn sich alle auf ein paar Regeln verständigt haben. Als kleinster gemeinsamer Nenner gelten die Grundrechte. Und selbst diese müssen im digitalen Zeitalter verteidigt werden. Die Freiheit der Gedanken, die Unverletzlichkeit des Körpers und der Wohnung, das Recht auf ein faires Verfahren – alles wird durch die neuen Möglichkeiten berührt.

Bislang hat die Digitalisierung vor allem polarisiert. Während die einen technologiebesoffen ihre eigenen Powerpoint-Vorträge bewundern, prognostizieren die anderen angesichts des Roboter-Zeitalters den Untergang der Zivilisation. Letzteres ist übrigens kein Privileg analoger Smartphone-Verweigerer. Kein geringerer als Silicon-Valley-Visionär Elon Musk hat die Möglichkeit des Weltuntergangs skizziert, gäbe man bei der Entwicklung von künstlicher Intelligenz das Steuer aus der Hand.

Die zentrale Botschaft: Der Mensch muss die Technik gestalten, nicht die Technik den Menschen. Nur so lässt sich Freiheit bewahren. Und nur in Freiheit gedeihen Menschlichkeit und jene Innovationen, die die Welt zu einem besseren Ort nicht nur für jene machen, die die modernen Produktionsmittel besitzen: Daten.

Bürger sein statt Konsument oder Untertan

Derzeit gibt es die digitale Welt grob gesagt in zwei Varianten. Variante eins ist die Konsumgesellschaft kapitalistischer Prägung, die von monopolistischen Konzernen getrieben wird. Variante zwei ist der autoritäre Staat, in dem das Monopol bei der Regierung liegt.

Der Antrieb der kapitalistischen Version ist die Bequemlichkeit, schon manch einer hat sie mit Freiheit verwechselt. Bürger werden als Konsumenten gebraucht, deren Aufgabe es ist, unablässig Daten zu produzieren. Diese werden in Algorithmen eingespeist, die zu weiterem Konsum verleiten und gleichzeitig Anwendungen der künstlichen Intelligenz füttern sollen. Der Consumer wird zum Prosumer.

In dieser Welt herrschen neben Apple, Facebook, Google und Amazon. Vor allem die Geschäftsmodelle letzterer basieren darauf, Aufmerksamkeit zu erlangen und neue Bedürfnisse zu wecken. Die Plattformen suggerieren dem Konsumenten Freiheit, aber in der Regel strukturieren sie seine Wahlmöglichkeiten so, dass er möglichst oft zugreift. Geht es nur um den Kauf einer Kaffeemaschine, sind die Folgen algorithmischer Beeinflussung zu verschmerzen. Werden aber Informationen und Meinungen, die jemand zu sehen bekommt, zu stark strukturiert, leidet der Wettbewerb der Ideen.

In der autoritären Version der digitalen Welt setzt der Staat mit Hilfe von Vernetzung plus Datenanalyse seine Agenda durch. Dazu benutzt er eine Mischung aus Abschreckung („big brother is watching you“), Ablenkung (wer konsumiert, politisiert nicht) und Anreizen. China exerziert derzeit vor, wie das funktioniert. Es gibt ein Punktesystem für die Bürger, nach dem Privilegien verteilt werden. Mit Freiheit hat das nichts zu tun.

Soll die digitale Welt eine freie sein, muss sie den selbstbestimmten Bürger fördern. Datenschutz und eine sichere Beteiligung an politischen Prozessen gehören genauso dazu wie die Transparenz öffentlicher Institutionen. Ebenso wie es staatliche Aufgabe ist, einen sicheren öffentlichen Raum zu schaffen, muss es einen sicheren digitalen Raum geben, in dem sich jeder frei äußern kann aber auch zu benehmen weiß. Die Analogie zur Straße passt, denn Verkehrsregeln sind auch dann allgemeingültig, wenn die eine oder andere Strecke privatisiert ist.

Auf das Design kommt es an

Smartphones machen süchtig, heißt es. Wissenschaftler sagen, sie funktionieren wie kleine Dopamin-Pumpen, die uns mit Glückshormonen fluten, wenn wir viele „Likes“ kassieren und uns hormonell beuteln, wenn in unserer „Inbox“ Leere herrscht. Algorithmen können den Massengeschmack fördern, weil sie kondensierte Vergangenheit sind und immer das nach oben spülen, was die Vielen mögen. Und Apps machen Nutzer zu gläsernen Menschen. Aber all das geschieht nur, wenn man es geschehen lässt.

Viel zu lange wurde die digitale Welt als quasi gottgegeben hingenommen, manch eine Prozessionen ins Silicon Valley mutete wie eine religiöse Handlung an. Doch mit dem Wissen schwindet manch spiritueller Zauber. Alle Geräte, die uns mit dem weltweiten Datennetz verbinden, alle Algorithmen, die uns steuern, alle Apps kann man so oder so bauen oder programmieren. Das digitale Zeitalter muss das Zeitalter guten Designs werden. Es gilt, Geschäftsmodelle, Technik, und die Politik zu gestalten, die sie reguliert.

Brecht das Effizienz-Diktat!

Ein weiterer Anfängerfehler könnte uns Zukunft kosten: wenn Digitalisierung allein dazu genutzt wird, Effizienz zu steigern. Innovationen entstehen, wenn Menschen Luft haben zum Denken, Ausprobieren, Kooperieren, durch Zufälle. Wenn wir uns auf Effizienz konzentrieren, konkurrieren wir mit Maschinen, und dann haben wir schon verloren. Wir müssen das trainieren, was uns von Robotern unterscheidet: Empathie, Gesprächskultur, Kreativität, Beziehungspflege. Denn das wird den Menschen 4.0 ausmachen.

Zuerst erschienen in Capital, 12. April 2018