Management mangelhaft: Wo Führungskräfte in den Medien nacharbeiten müssen

Journalisten klagen über Qualitätsverlust im Journalismus – ach, bitte nicht. Noch nie waren die Formate und Ausspielwege so vielfältig, die Erkenntnisse über Kundenbedürfnisse so detailliert, die Technik so simpel zu nutzen. Und Reportern, Redakteuren und deren Chefs fällt nichts weiter ein, als zu jammern. Auch so könnte man eine neue Studie der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung interpretieren. Tenor: „Die Digitalisierung macht alles schlimmer“. Für den knapp 100 Seiten umfassenden Report „Arbeitsdruck – Anpassung – Ausstieg: Wie Journalist:innen die Transformation der Medien erleben“ haben die Autoren Burkhard Schmidt, Rainer Nübel, Simon Mack und Daniel Rölle 20 Journalisten verschiedener Medien ausführlich zu Themen wie Arbeitsbelastung, Qualität und Wertschätzung interviewt und zusätzlich eine nicht repräsentative Online-Befragung mit 161 Teilnehmern ausgewertet. 

Überfliegt man den Report nur, kann einem um den deutschen Journalismus angst und bange werden: Die Arbeitsbelastung wachse, die Zeit für Recherchen schrumpfe und die öffentlichen Anfeindungen nähmen zu. Wer sich nicht demnächst in die Rente retten könne, erwäge regelmäßig den Ausstieg aus dem Beruf, heißt es dort. Die detaillierte Lektüre lohnt sich trotzdem. Denn viele der Befragten zeichnen ein sehr reflektiertes und realistisches Bild der Situation in deutschen Medienhäusern und des Verhältnisses zwischen Journalisten und ihrem Publikum. Eigentlich berge der digitale Journalismus Chancen, man komme nur nicht dazu, sie zu nutzen, klingt dabei durch. Der Jammerlappen-Vorwurf greift also zu kurz. 

Deshalb ist die Studie vor allem das: ein desaströses Zeugnis für das Management in deutschen Medienhäusern. Strapaziert man das Bild, könnte man sagen, das Aufrücken in das Zeitalter des digitalen Journalismus ist gefährdet.

Die Note mangelhaft gibt es gleich in mehreren Fächern.

Fachgebiet Storytelling

Führungskräfte versäumen es vielerorts, eine Erfolgsstory zu entwickeln und zu vermitteln. Der moderne Journalismus bietet unendlich viele Möglichkeiten, die Erzähl- und Informationsqualität zu steigern und damit in der Theorie weitaus mehr Menschen zu erreichen als früher. Visualisierung, direkte Ansprache auf verschiedenen Plattformen, einfache Möglichkeiten zur Kooperation und Interaktion – die Liste der Chancen ist lang. Dennoch schaffen es viele Führungskräfte offensichtlich nicht, ihre Mitarbeitenden dafür ausreichend zu begeistern. Stattdessen wird reflexhaft gespart.

Fachgebiet Ressourcen schaffen

Führungskräfte helfen ihren Mitarbeitenden zu wenig dabei, sich freizuschwimmen. Jeder, der sich ernsthaft mit Nutzungsdaten beschäftigt, kennt das massive Missverhältnis zwischen redaktionellem Angebot und Nachfrage. Redakteure und Reporter produzieren ein Übermaß an schlichter Nachrichtenkost, während die Kunden auf ganz andere, verschiedene Formen Appetit haben: Erklärstücke, Inspiration, Beratung, Unterhaltung und Trends – um nur einige zu nennen. Dies führt dazu, dass etliche Texte und Inhalte so gut wie gar keine Aufmerksamkeit bekommen, während es an den Stoffen mangelt, die Leser zu regelmäßigen, im Idealfall begeisterten Nutzern machen. Der unabhängige Berater und frühere BBC Journalist Dmitry Shishkin hat für den BBC World Service das „User Needs Modell“ mitentwickelt, mit dem sich jeder auseinandersetzen sollte, der sein Publikum ernst nimmt. 

Der Job der Chefetage ist es, den Arbeitseinsatz der Redaktion entsprechend zu kanalisieren. Die Leitenden müssen Daten zur Verfügung stellen, die jeder verstehen kann, und jeder muss wissen, was daraus folgt. Dazu gehört auch radikales Weglassen. Dies gefällt nicht jedem. So manch einer zieht seine Befriedigung aus Arbeiten, die bei ehrlicher Betrachtung niemandem nutzen. Führungskräfte neigen dazu, das stillschweigend zu dulden und die neuen Aufgaben oben drauf zu packen. Sie müssen aber sicherstellen, dass Arbeitsenergie effektiv eingesetzt und nicht verplempert wird. Nur so lassen sich Belastungen begrenzen.

Fachgebiet Fürsorge

Führungskräfte stehen ihren Mitarbeitenden zu wenig bei, wenn sie angegriffen werden. In der Otto-Brenner-Studie gaben etliche der Interviewten an, unter dem wachsenden Misstrauen eines Teils des Publikums zu leiden. In diesem Fall dürfte die Realität noch trauriger sein als in der Stichprobe erfasst. Anfeindungen online und zunehmend auch physische Angriffe gehören in wachsendem Maße zum Alltag von Reportern und Kommentatoren, vor allem den weiblichen und jenen, die ethnischen Minderheiten angehören. Zu viele Chefredaktionen haben ihre Redaktionen bislang mit dieser Belastung allein gelassen, den Kollegen weder psychische noch juristische Unterstützung angeboten. Das trägt in hohem Maße zur Burnout-Gefahr bei. 

Fachgebiet Konfliktmanagement

Die meisten Führungskräfte in den Medien versäumen es, den Generationenkonflikt zu managen. Während die Älteren in den Redaktionen häufig klagen, die Jungen hätten von Qualitätsjournalismus im Allgemeinen und von Recherche im Besonderen keine Ahnung, bemängeln viele der Jungen das fehlende Verständnis der Vorgängergenerationen für digitale Formate und eine gewisse Bequemlichkeit nach dem Motto, „bis ich in Rente gehe, komme ich auch so durch“. Dabei existiert auf beiden Seiten Knowhow, von dem die jeweils anderen stark profitieren könnten – würden die Führenden denn eine Kultur der Offenheit und des Lernens etablieren. Abfindungsprogramme, die teure Platzhirsche zum Gehen animieren sollen, damit junge (billigere), „digitale“ Fachkräfte nachrücken können, sind eher kontraproduktiv – als erstes gehen zudem häufig diejenigen, die man eigentlich gerne gehalten hätte. 

Fachgebiet Werkzeugkunde

Viele Führungskräfte verstehen zu wenig von Change Management. Deshalb vermitteln sie auch keine entsprechenden Strategien. Vor allem auf Redaktions- aber auch auf Verlagsseite sind viele Chefs in ihre Rolle hineingestolpert, ohne das Führen jemals gelernt zu haben. Wie man Veränderungsprozesse systematisch aufsetzt und vorantreibt haben sie bestenfalls gelesen, meistens agieren sie nach Bauchgefühl. Das verunsichert die Mitarbeitenden. Man schwört sie zwar auf Konzepte wie „digital first“ oder „audiences first“ ein, man enthält ihnen aber das Knowhow vor, wie sie beides in stark von Routinen und Hierarchien beherrschten Redaktionen umsetzen können. Das ist, als würde man jemandem einen Ikea-Karton ohne Aufbauanleitung hinstellen. Dabei ist Veränderungsmanagement Handwerk, und je öfter alle die Werkzeuge benutzen, umso sicherer werden sie in deren Gebrauch. Allgemein gilt: mit den Willigen beginnen, die Aufgeschlossenen mitnehmen und die Gegner so lange wie möglich ignorieren. Viele von denen folgen nämlich dann ganz gerne, wenn sich erste Erfolge abzeichnen. Den anderen hilft tatsächlich nur noch das Abfindungsprogramm.    

Führungskräfte, die in all diesen Disziplinen nicht an sich arbeiten, schaden der gesamten Branche. Denn in einem Beruf, in dem es an Perspektive, Wertschätzung und Entlohnung mangelt, möchte irgendwann niemand mehr arbeiten – schon gar nicht die Top-Talente, auf die alle so scharf sind. Es liegt an den Leitenden, eine Story des Wandels zu erzählen und möglich zu machen. Viele in Redaktionen und Verlagen sehnen sich danach. Denn, wie die Brenner-Studie einen der Befragten zitiert: Journalismus sei immer noch „der geilste Job, den es gibt“.  

Diese Kolumne erschien am 16. August 2022 bei Medieninsider. Alexandra schreibt dort jeden Monat zu aktuellen Themen, Medieninsider ist ein Paid Content Angebot. 

 

Achtung, Chefredaktionen, jetzt geht es um Wirtschaft

Die Frage ist offen, ob der Wirtschaftsjournalismus die Welt je vor Schlimmem bewahrt hat. Schließlich konnte er weder die Dotcom-Blase zur Jahrtausendwende verhindern noch die Immobilienblase vom Platzen abhalten, die 2008 zur größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren geführt hatte. Auch der deutschen Wirtschaftsjournalismus hat stets vor allem in der Rückschau brilliert. Man bekam im Nachhinein ausführlich erklärt, warum Subprime-Immobilienkredite Teufelszeug sind, warum das mit dem Investment in die T-Aktie nichts werden konnte und wie der Betrügerkonzern Wirecard systematisch alle hinters Licht geführt und unzählige Menschen um Jobs und Ersparnisse gebracht hat. In diesem Fall war das besonders peinlich, weil sich die hiesige Zunft vor dessen Pleite mit breiter Brust vor den im Dax gelisteten Konzern und gegen einen einsamen Rechercheur der britischen Financial Times gestellt hatte. Sollte es so etwas wie Sternstunden des Journalismus geben, war dies eine besonders wolkenverhangene Nacht. 

Aber all das ist Zeug von gestern und sollte Ansporn sein, es besser zu machen. Denn – Achtung Chefredaktionen – was während der Pandemie der Wissenschaftsjournalismus war, wird demnächst der Wirtschaftsjournalismus sein. Der bedrohte Weltfrieden mit seinen Energie- und Verteilungskonflikten, die Inflation, der Klimawandel – all dies verlangt wirtschaftspolitischen und betriebswirtschaftlichen Sachverstand in Redaktionen. Anders gesagt: Eine neue Talente- und Investitionslücke tut sich auf. Jedes Medienhaus sollte hier nachlegen, für Gründer ergeben sich neue Chancen.

Aber was wird jetzt wichtig? In Deutschland hat der Wirtschaftsjournalismus mehrere Phasen durchlaufen.

Servierten Wirtschaftsteile jahrzehntelang vor allem gepflegte Langeweile für Eingeweihte, läuteten Zeitschriften wie das Manager Magazin in den 90ern die Zeit der Heldenverehrung ein (von Heldinnen erfuhr man lange nichts). Konzernchefs waren deren Rockstars, ihre Aufstiege und Niederlagen wurden gefeiert beziehungsweise genüsslich zelebriert. Was sie sagten, bedeutete Wahrheit.

Mit der New Economy traten um die Jahrtausendwende die jungen, ebenso männlichen Wilden auf die Bühnen, denen man ihre Stories nur zu gerne abkaufte. Auch Deutschland kann gründen, war die Botschaft – und viele Journalisten wurden gebraucht, um sie zu vermitteln. Wer damals als Reporter keinen Job fand, war selbst schuld. Allerdings stellte man fest, dass der frische Wind zwar viele Redaktionsbüros, noch nicht aber die Leser erreicht hatte.

In der Folge machte sich der Nutzwert-Journalismus in den Wirtschaftsteilen und -sendungen breit. Mit dem Einzug der Millennials in Unternehmen, Organisationen und Redaktionen begann eine neue Phase, die sich mit „meine Karriere und ich“ umschreiben ließe. Der Wirtschaftsjournalismus verbreiterte sich noch einmal, es ging um „New Work“, mobbende Chefs und allgemeine Lebensberatung, zunehmend kamen auch Frauen vor. 

In den sozialen Netzwerken, in denen sich die Ressorts bekanntlich auflösen, lassen sich heute die Reste von all dem besichtigen (mit Ausnahme der Langeweile, da reagieren Algorithmen allergisch). Nutzwert schreibt Abos, gutes Storytelling erhöht die Lesezeit, die Alpha-Männer kommen immer noch zu Wort, aber jetzt dürfen auch Expertinnen reden. Ergänzt wird das Ganze durch investigativen Wirtschaftsjournalismus, der oft in der Parallelwelt der Investigativ-Ressorts entsteht, und den Erklär- und Einordnungsjournalismus a la Brand Eins, der interdisziplinär und konzeptionell denkt. In der digitalen Häppchen-Welt ist das eine Herausforderung. Aber wie kann der Wirtschaftsjournalismus sich zum unverzichtbaren Begleiter in Krisenzeiten mausern? Hier sind sieben Strategien:

Der Funktionärsjournalismus gehört aufs Altenteil 

Schlagzeilen à la „So eine Katastrophe hat Deutschland noch nie gesehen“, die einen Verbands- oder Konzernchef wiedergeben, sollten kritisch überprüft werden. In Zeiten knapper Ressourcen ist schließlich jeder, der Verantwortung trägt, ein Chef-Lobbyist, der das Beste für den eigenen Laden herausholen muss. Das weckt – womöglich berechtigte – Ängste beim Publikum, lässt es aber damit allein. Auch im Wirtschaftsjournalismus ist viel mehr konstruktiver Journalismus gefragt, der erklärt und in Szenarien denkt. 

Erklärung und historische Einordnung ist Pflicht 

Hier fehlt es Wirtschaftsredaktionen jedoch zunehmend an Fachkräften. In den Redaktionen sind die Volks- und Betriebswirtschaftler oder Wirtschaftshistoriker den Allroundern gewichen, die schnell ein ordentliches Nutzwert-Stück zusammenschreiben können, denen aber oft Hintergrundwissen und Erfahrung fehlen. In Krisenzeiten wird es kniffelig, da werden Spezialisten gebraucht, die Fachliches übersetzen können. Das können entsprechend ausgebildete junge Talente sein aber auch Kollegen, die sich längst in den Ruhestand verabschiedet haben. Es empfiehlt sich, für den Ernstfall ein paar Telefonnummern bereitzuhalten.

Service-Journalismus bleibt, Investigativ-Journalismus muss (wieder-)kommen

Journalisten beider Ausprägungen betrachten sich häufig mit einer gewissen Distanz. Während sich die auf Service spezialisierten Kollegen zuweilen verkannt fühlen, weil ihre Beiträge zwar erfolgreich sind, aber redaktionsintern wenig geliebt werden, fühlen sich die Investigativ-Kollegen missachtet, weil ihre Stücke zwar Journalistenpreise, aber kaum Abos abräumen. Richtig ist, dass beide Dienstleister für Bürgerinnen und Bürger sind. Beide klären auf, in beide muss investiert werden. So manch eine Service-Geschichte ändert sich nach einer investigativen Recherche (siehe Geldanlage), so manch eine investigative Recherche wird aus einer Service-Geschichte geboren (wer profitiert von der Masken-Pflicht?). Kommunikation und gegenseitige Wertschätzung hilft. 

Helden-Erzählungen aller Art sind mit Vorsicht zu transportieren

Eine empathisch erzählte Story über einen coolen Typen mag inspirieren, aber der Held von heute kann die beleidigte Leberwurst von morgen sein – Fynn Kliemann lässt grüßen. Und selbstverständlich ist es Pflicht, jedes noch so gehypte Start-up kritisch abzuklopfen: Braucht man das, oder kann das wegbleiben? Ist das Mehrwert oder nur Marketing, ethisch oder nur egomanisch? Distanz bleibt Journalisten-Gebot, so sehr die Szene der Gründer auch jammern mag.  

Vielfalt der Formate wird zentral, vor allem Visualisierungen 

Zwar hat der jüngste Digital News Report ergeben, dass Text immer noch die beliebteste Vermittlungsform für Journalismus ist. Es gibt aber etliche Zielgruppen, die sich durch Videos, Grafiken, Datenjournalismus oder andere Visualisierungen stärker angesprochen fühlen und komplexe Zusammenhänge so leichter verstehen. Eine Generation, die mit YouTube-Tutorials lernt, quält sich nicht gerne durch Wortwüsten. Andere brauchen einen entspannten Podcast mit einer Expertin, der sie vertrauen oder womöglich ein Comedy-Format. Die Pandemie hat gezeigt, was im Wissenschaftsjournalismus möglich ist, das kann auch der Wirtschaftsjournalismus schaffen. Preisfrage: Wer wird der Christian Drosten der Inflation?

Wirtschaftsjournalismus braucht noch sehr viel mehr Vielfalt 

Früher haben die meisten Wirtschaftspublikationen nicht viel dabei gefunden, dass 90 Prozent ihrer Leser Männer waren. Das war, als die Einnahmeseite noch stimmte. Aus dem Blickwinkel von Demokratie und Aufklärung war diese Strategie schon immer zweifelhaft. Heute kann es sich kein Haus mehr leisten, auf potenzielle Nutzergruppen zu verzichten, schon gar nicht auf Nutzerinnen. Und angesichts der Bedrohung von Wohlstand, Ernährung und Frieden sollte es im Interesse aller Medien liegen, auch Menschen zu erreichen, die sich durch die gegenwärtige Informationslandschaft nicht repräsentiert fühlen oder Ehrfurcht vor komplexen Themen haben. Das wird sich nicht für alle Häuser lohnen, aber wer den Titel der vierten Gewalt für sich in Anspruch nimmt, darf sich schon mal etwas reinhängen. 

Jeder Journalismus muss Klimajournalismus werden – der Wirtschaftsjournalismus ganz besonders

Welche Prozesse und Produkte können wir uns in Zukunft noch leisten, wer macht mit Blick auf den Klimawandel seine Hausaufgaben, wer duckt sich weg, und was kostet das alles? Diese Fragen sollten alle Journalisten stellen, ganz gleich, um welches Ressort es geht. Jetzt, wo die wissenschaftlichen Grundlagen einigermaßen etabliert sind, kommt dem Wirtschaftsjournalismus eine besondere Rolle zu. Es geht um wirksame Strategien gegen den Klimawandel, um effektive und gerechte Politik, darum, wie sich Unternehmen und Verbraucher verhalten können. Es wächst eine Generation von Nutzern heran, die ahnt, dass sie morgen ausbaden muss, was heute versäumt wird. Diese Generation braucht Unterstützung. Guter Wirtschaftsjournalismus kann Klimapolitik auf ihre wirtschaftlichen Folgen und Wirtschaftspolitik auf ihre Folgen fürs Klima abklopfen. In der Pandemie galt und gilt: Ein krankes Volk schafft keine gesunde Wirtschaft. Beim Klimaschutz ist das ähnlich. Ohne funktionierende Lebensgrundlagen ist alles Wachstum nichts. Guter Wirtschaftsjournalismus muss deshalb nachhaltiger Wirtschaftsjournalismus werden. 

Diese Kolumne erschien am 18. Juli 2022 bei Medieninsider. Zum Lesen neuer Kolumnen ist ein Abo nötig.   


Klimajournalismus, der wirkt – Was Redaktionen tun können

In vielen Redaktionen gilt der Ausbau des Klimajournalismus als Pflicht, nicht aber als Chance. Dies dürfte ein Grund dafür sein, dass so wenige Medienhäuser eine Klimastrategie haben. Auf dem Constructive Journalism Day 2022 von NDR Info und Hamburg Media School habe ich darüber gesprochen, warum der Klimajournalismus große Potenziale birgt, den Journalismus insgesamt in die Zukunft zu bringen.  

Viele Menschen haben gerade wieder eine große Dosis Klimajournalismus zu sich genommen. Für manch einen fühlte es sich womöglich wie eine Überdosis an. Der Klimagipfel in Sharm-El-Sheik beherrschte tagelang die Schlagzeilen. Und wir lernten aus den Medien: Es war eine Katastrophe. Es sei „weniger als nichts“ erreicht worden, so der Titel eines Kommentars in der Süddeutschen Zeitung. Hinzu kommen die Proteste junger Menschen, die sich in ihrer Wut an Straßen festkleben oder Kunstwerke zerstören. Auch darüber wurde in allen Facetten berichtet. Ist das gut?

Es ist wichtig, ja. Aber die Debatten über die Proteste oder auch der große Aufschlag bei Events wie COP27 verschleiern, dass es viele Gründe gibt, beim Thema Klima auch zuversichtlich zu sein.

  • Forscher sagen, die Energiewende ist kein technisches Problem mehr und auch kein Preis-Problem. Es ist ein politisches Problem – immerhin.

  • Es werden praktisch täglich neue Lösungen erfunden, eine lebendige Start-up-Szene ist rund um grüne Technologien, Produkte und Dienstleistungen entstanden.

  • Die meisten Branchen beschäftigen sich intensiv mit Klima-Innovationen, Fonds schichten ihre Portfolios um, Verschmutzer steigen auf klimaschonende Techniken um, selbst Flugzeugturbinen-Hersteller haben eine Klimastrategie.

Nur der Journalismus nicht. Für den EBU News Report der European Broadcasting Union – der weltweit größten Vereinigung öffentlich-rechtlicher Medienhäuser – recherchieren wir seit Monaten in Redaktionen, interviewen Chefredakteure, Forscher, anderen Experten. Unsere Erkenntnis ist: Gerade mal eine Handvoll Redaktionen hat sich strategisch mit dem Thema beschäftigt.

Wenn man so argumentiert, hört man hier und dort: Was andere Branchen machen, das sei doch oft nur Greenwashing. Das mag in einigen Fällenstimmen. Aber wer böse sein will, könnte sagen: Journalismus bekommt oft nicht einmal Greenwashing hin.

Der Journalismus hinkt beim Thema Klima anderen Branchen hinterher. Warum ist das so?

  • Im Journalismus hat man Angst, als parteiisch, aktivistisch wahrgenommen zu werden. Eine kleine, lautstarke Minderheit der Skeptiker gibt den Ton an. Man unterschätzt sein Publikum. Die Mehrheit ist nämlich längst weiter, wie Umfragen belegen. Die meisten Menschen kennen das Problem – zumindest intuitiv – und wollen, dass etwas passiert.

  • Der Druck ist gering. Viele Verlage sind mittelständisch, Sender sind öffentlich-rechtlich strukturiert. Redaktionen sind nicht an der Börse notiert, Pensionsfonds können keine Gelder abziehen, wenn beim Thema Nachhaltigkeit geschlafen wird. Anderes hat Priorität, der Kostendruck tut ein übriges.

  • Klimajournalismus wird als ein Thema unter vielen missverstanden. Dabei muss der Schutz der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten eine Haltung sein, der sich Journalismus verpflichtet – so wie auch der Demokratie oder den Menschenrechten. Das Klima darf nicht nur Objekt sein, dass man beobachtet und beschreibt. Es muss die Kulisse sein, vor der das Leben spielt. Es sollte jedes Storytelling definieren.

Das Thema Klima ist eine Chance für den Journalismus, denn es deckt seine großen Defizite auf:

 

  • Klima ist ein Zukunftsthema. Der Journalismus klebt am Jetzt. Der Fokus liegt auf der schnellen Nachricht, dem Tagesgeschäft. Umfragen zeigen: Es wird zu viel gemeldet, zu wenig erklärt.

  • Klimaschutz braucht Hoffnung. Der Journalismus von heute legt den Fokus auf Drama, Versäumnisse, Misserfolge. Das drückt sich auch in der Sprache aus. Journalismus warnt, droht, macht Angst.

  • Im Klimaschutz zählt, was getan wird. Der Journalismus von heute fokussiert auf das, was gesagt wird. Die Überproduktion beim „Er hat gesagt, sie hat gesagt“ Journalismus lässt die Menschen oft verwirrt, leer, gelangweilt zurück.

  • Journalismus, der wirkt, nähert sich den Menschen auf Augenhöhe an in einer Sprache, die sie verstehen. Der Journalismus von heute erhebt sich oft besserwisserisch über sie – vor allem, wenn er sich Qualitätsjournalismus nennt.

  • Journalismus, der wirken möchte, respektiert sein Gegenüber und setzt auf Vielfalt, auch in der Ansprache des Publikums. Der Journalismus von heute kommt oft aus dem Zeitalter der Massenmedien, wo ein Format alles erschlagen musste.

  • Journalismus, der wirken möchte, reflektiert eigene Praktiken und macht sich Forschung zunutze. Heute sind viele Redaktionen fast noch stolz darauf, akademisches Wissen zu ignorieren. Dabei gibt es viel Wissen darüber, wie Kommunikation auf Menschen wirkt.

Aber kann Journalismus, der nicht wirkt, starker Journalismus sein?

Um eine Wirkung zu erzielen, muss man sich mit seinem Publikum beschäftigen. Spannend ist: Die Formate, die Journalistenpreise gewinnen, kommen nicht unbedingt beim Publikum an – und umgekehrt. Die wirkungsvollen Formate gewinnen keine Preise.

Was nun ist wirkungsvoller Klimajournalismus, was wissen wir aus der Forschung?

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus konzentriert sich aufs Jetzt und Hier konzentriert statt auf die ferne Zukunft, wenn er das Problem beschreibt. Er verankert das Thema da, wo die Menschen leben.

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus malt auch die Möglichkeiten einer guten Zukunft aus, zeigt: Was wird gewonnen, statt immer nur zu betonen, was verloren wird, was zu opfern ist. Es geht um die Entwicklung eines nachhaltigen Wirtschaftssystems. Der Klimajournalismus-Experte Wolfgang Blau nennt es den größten Umbau seit dem Zweiten Weltkrieg.

  • Klimajournalismus wirkt, wenn er konstruktiv und lösungsorientiert ist, statt immer nur die Apokalypse an die Wand zu malen. Wenn man Menschen ins Gespräch bringen und nicht in die Flucht schlagen will, funktioniert sogar Humor besser als ständiger Alarm. Wissenschaftler beschäftigen sich bereits mit der Wirkung von Comedy in der Klimakommunikation.

  • Klimajournalismus kann wirken, wenn er Menschen Wirkmacht verleiht, statt sie zu Opfern oder zumindest Betroffenen zu machen, wie das fast durchweg in den Nachrichten geschieht. „Agency“ ist das englische Wort dafür.

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus bedient verschiedene Zielgruppen so, dass sie zuhören. Er nimmt zur Kenntnis, dass der Botschafter oft wichtiger ist als die Botschaft selbst. Der Botschafter ist im besten Fall eine Person mit hohen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitswerten. Er berücksichtigt auch, dass Faktenfülle die Empathie nicht ersetzt.

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus ist starker Journalismus. Redaktionen sollten sich dabei nicht zu sehr mit nebensächlichen Details beschäftigen. Ein Sprachkorsett wird nicht gebraucht. Was wichtig ist: Tiefe, Recherche, Faktentreue, starke Bilder – vor allem auch starke Bilder von Lösungen. Was nie wirkt: Bilder von „Männern in Anzügen“, wie eine norwegische Chefredakteurin sagte.

  • Wirkungsvoller Klimajournalismus braucht eine glaubwürdige Basis. Medienhäuser sollten ihre Hausaufgaben machen, an ihrer CO2 Neutralität arbeiten. Und das ist womöglich die größte Herausforderung. Aber wer flammende Kommentare verfasst aber Klimaschutz nicht erkennbar lebt, wird schnell als Heuchler enttarnt.

Mark Hertsgaard, Mit-Gründer der Plattform „Covering Climate Now“ an der New Yorker Columbia University, sagte: „Wenn wir die Medienbranche nicht transformieren, wird keine andere Branche transformiert werden.“ Man mag da eine gewisse Hybris heraushören. Aber wahr ist, dass nur stetiger öffentlicher Druck alle Beteiligten anspornt, das Thema endlich anzupacken.

Klimajournalismus hat das Zeug dazu, den Journalismus in die Zukunft zu bringen. Es ist allerhöchste Zeit dafür, diese Chance zu nutzen – für das Klima und den Journalismus.

Der mediale Graben: Das Internet vergrößert die Kluft zwischen Informierten und weniger Gebildeten

Journalismus wird zunehmend eine Sache für Oldies, auch der digitale. Das wird in der Analyse des Digital News Report 2022 (DNR) deutlich. Das liegt nicht daran, dass jungen Leuten das Nachrichtengeschehen egal ist. Nur konsumieren die allermeisten von ihnen eher solche Formate, die sich perspektivisch nicht zu Geld machen lassen. Gleichzeitig sind die Verlage auch angesichts der Inflation darauf angewiesen, vor allem ein weniger preissensibles Publikum zu bedienen, das durchaus bereit ist, das eine oder andere zusätzliche Digital-Abo abzuschließen, wenn die Qualität stimmt. Medienmanager und Redaktionsleiter mögen sich wortreich zum Journalismus als vierte Gewalt bekennen; dennoch wird die Konzentration auf zahlungskräftige Zielgruppen zumindest bei den kommerziellen Anbietern Investitionen und Inhalte prägen. 

Die neuen Daten zeigen: Der digitale Graben wächst, und er ist auch ein medialer Graben. Dieser verläuft nicht mehr wie früher nur zwischen mehr und weniger Gebildeten, sondern auch zwischen alt und jung. Nur mit einer gesellschaftlichen Kraftanstrengung wird es gelingen, alle Generationen weiterhin für die Demokratie fit zu machen.

Fünf Beobachtungen, die auf mediale Gräben hinweisen

Der Trend zur journalistischen Klassengesellschaft ist nicht neu, aber er lässt sich anhand des im Juni 2022 erschienenen Zahlenwerks belegen. (Der Report ist die weltweit größte fortlaufende Untersuchung des Medienkonsums, die in diesem Jahr auf einer Online-Befragung von 93 000 Menschen in 46 Ländern beziehungsweise Märkten basiert.) Folgende Erkenntnisse sprechen für die oben dargestellte Interpretation:

Erstens: Die Reichweite von digitalem Journalismus stagniert bestenfalls, der Konsum über Fernsehen, Radio und Zeitung sinkt

Allein in Deutschland ist der Anteil derjenigen, die angaben, in der zurückliegenden Woche eine Zeitung genutzt zu haben, in den vergangenen zehn Jahren von 63 auf 26 Prozent gefallen. Im Fernsehen schauten nur noch 65 Prozent die Nachrichten, 2013 waren es noch 82 Prozent (der deutsche Teil des Reports stammt vom Hans-Bredow-Institut). Gleichzeitig steigt fast überall der Anteil derjenigen, die zu Protokoll gaben, überhaupt keine Nachrichten gelesen oder gehört zu haben. Das bedeutet, dass durch das Internet nicht mehr, sondern eher weniger Menschen mit Journalismus in Berührung kommen. 

Zweitens: Junge Leute konsumieren Journalismus überwiegend in den sozialen Netzwerken

Das wirkt sich auf drei Weisen negativ aus: Erstens gehen Nachrichten und andere journalistische Leistungen im Überangebot an Information und Unterhaltung oft unter. „Der Überfluss an Wahlmöglichkeiten online mag dazu führen, dass sich einige sehr viel seltener mit Nachrichten beschäftigen als in der Vergangenheit“, schreibt Lead-Autor Nic Newman.

Zweitens verstehen die Nutzer die Nachrichten oft nicht, weil sie in der Online-Umgebung aus dem Zusammenhang gerissen sind. Dies ist besonders für diejenigen ein Problem, denen es an Medienbildung mangelt. Aber zusätzlich belegen die Daten eine deutliche Verständnislücke zwischen jüngeren und älteren Nutzern, die sich 2021 auch schon in der deutschen #usethenews Studie abgezeichnet hatte. Der Journalismus verliert also viele, die ihn besonders nötig brauchen.

Drittens, die Medienhäuser sind auf den Plattformen von Meta, Google oder TikTok auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, wieviel Journalismus diese ihren Nutzern in dem algorithmisch getriebenen Angebot überhaupt zumuten wollen. So begründete Joshua Benton vom Nieman Lab der Harvard University kürzlich, warum Facebook das Nachrichtenangebot im Newsfeed womöglich einstellen werde: Die Nutzer schätzen es nicht, und es schafft Probleme. 

Drittens, immer mehr Menschen vermeiden Journalismus bewusst, besonders junge Leute

Redaktionen reden zwar mittlerweile viel über Nutzerorientierung, sie ziehen daraus aber offenbar keine Konsequenzen. Fast jeder zweite Befragte gab als Grund für die Zurückhaltung an, dass die Medien zu viel über Politik und zu viel über die Pandemie berichteten. 36 Prozent bestätigten, Journalismus mache ihnen schlechte Laune, 29 Prozent beklagten das Überangebot oder fanden die Nachrichten voreingenommen. Die Generationen, die nicht mit regelmäßigem Medienkonsum aufgewachsen sind und viele Möglichkeiten zur Ablenkung haben, wenden sich besonders schnell ab.

Viertens: Zahlungsbereitschaft steigt – vor allem geben aber Ältere das Geld aus

Das Durchschnittsalter derjenigen, die ein digitales Abo oder eine Mitgliedschaft bei einer Medienmarke abgeschlossen haben, liegt bei 47 Jahren. Für Verlagshäuser oder öffentlich-rechtliche Fernsehsender mag dies eine gute Nachricht sein: Haben sie es doch im Durchschnitt mit Print-Abonnenten oder TV-Zuschauern zu tun, die das Renteneintrittsalter schon deutlich überschritten haben. Allerdings zerschlagen sich so auch Hoffnungen aus früheren Reports, dass die Spotify- und Netflix-Generation die Branche retten könnte. Eine gute Nachricht gerade für die hiesigen Regionen ist, dass viele Befragte vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz die Bereitschaft dokumentiert haben, zusätzliche Abos auch unabhängig der Inflationssorgen abzuschließen. Dies ging auch aus Gesprächen in Fokus-Gruppen hervor, die die Oxford-Forscher in ihre Analysen einfließen lassen. Gerade in diesen Zeiten von besonderen Krisen und Belastungen sei es notwendig, gut informiert zu sein, so einige Stimmen. 

Fünftens: Jene Formate, die Loyalität schaffen, wie zum Beispiel E-Mail-Newsletter, werden vor allem von älteren, finanzkräftigen und gebildeten Lesern genutzt, die ohnehin schon ein hohes Interesse an Journalismus haben

Während zum Beispiel in den USA 15  Prozent der über 55-Jährigen angeben, Newsletter seien ihre wichtigste Nachrichtenquelle – allein die New York Times produziert 50 verschiedene, die wöchentlich von 15 Millionen Menschen gelesen werden –, sind es nur drei Prozent der 18- bis 24-Jährigen. Newsletter sind so etwas wie das neue Print statt das erhoffte Wundermittel.   

Die Schlussfolgerung

Ob man das mag oder nicht: Aus all diesen Daten folgt, dass sich die Verlage auf ältere und finanziell besser gestellte Gruppen konzentrieren müssen, wenn sie ihr eigenes Überleben sichern wollen. Von diesen sind die höchste Zahlungsbereitschaft und Loyalität zu erwarten. Fragt man in Medienhäusern nach, wen sie genau meinen, wenn sie von jüngeren Nutzern sprechen, bestätigt sich dieses Bild. Verlage verstehen unter „jung“ eher die Altersgruppe ab 35 Jahren aufwärts. Von noch Jüngeren sei nicht viel zu erwarten, heißt es dann. 

Anders sieht das in den öffentlich-rechtlichen Häusern aus. Ihr Fortbestand ist davon abhängig, dass sie von allen wahlberechtigten Altersgruppen als wichtig und unterstützenswert empfunden werden. Deshalb ist ihre Sorge besonders groß, wenn sie bei den unter 25-Jährigen nicht punkten.

Die Sender haben zwar den Vorteil, dass sie unbeschwerter als die kommerziellen Anbieter digitale Formate für soziale Netzwerke entwickeln können, weil sich nicht jedes ihrer Angebot auf TikTok oder Instagram umgehend in Abos auszahlen muss. Allerdings spüren sie den Reichweiten-Verlust besonders drastisch. Es ist deutlich herausfordernder, auf den von Smartphone-Nutzung dominierten digitalen Plattformen Gewohnheitsonsumenten heranzuziehen, als dies in der alten Welt von Fernsehen und Radio der Fall war. „Die jüngsten Kohorten sind eher gelegentliche und weniger loyale Nachrichtenkonsumenten. Es fällt Medienhäusern sehr schwer, sie zu gewinnen, weil sich die Jungen auf soziale Netzwerke verlassen und nur schwach an Marken gebunden sind“, schreibt die Oxford-Forscherin Kirsten Eddy. 

Was heißt all das für die Demokratie, die aufgeklärte, informierte und engagierte Bürger braucht? Soll der mediale Graben zumindest teilweise überbrückt werden, haben die öffentlich-rechtlichen und alle anderen nicht-kommerziellen Anbieter eine herausragende Verantwortung vor allem jungen Generationen gegenüber. Aber auch diejenigen Redaktionen, die von Abo-Einnahmen abhängig sind, können etwas tun. Sie sollten sich mehr mit den Bedürfnissen potenzieller Nutzer beschäftigen, und zwar auch mit denen jener, die sie früher nur zu gerne ignoriert haben. Das sind zum Beispiel Frauen oder Menschen aus Einwanderer-Familien, die sich in der Standard-Nachrichtenwelt nicht repräsentiert gefühlt haben. Sie sollten die seit vielen Jahren vorliegenden Erkenntnisse zu den Journalismus-Vermeidern endlich ernst nehmen und die traditionelle, Zitate-getriebene Politik-Berichterstattung zugunsten anderer Inhalte produzieren – am besten konstruktiv und investigativ. Und sie sollten ihren gesellschaftlichen Beitrag leisten und leicht verständliche Erklär-Formate entwickeln, die kostenfrei zugänglich und auf den Konsum in sozialen Netzwerken ausgerichtet sind.

Übrigens ahnen die Nutzer, dass dem Journalismus eine weitere Kommerzialisierung bevorsteht. Laut DNR traut nur etwa jeder Fünfte (19 Prozent) den Redaktionen zu, als allererstes im Interesse der Gesellschaft zu arbeiten. 42 Prozent beziehungsweise 40 Prozent gaben dagegen an, die Verlage stellten ihre finanziellen oder politischen Interessen in den Mittelpunkt ihrer Strategie. Es ist an den Medienhäusern, diese Skeptiker vom Gegenteil zu überzeugen.   

Diese Kolumne erschien am 21. Juni 2022 bei Medieninsider. Dort schreibt Alexandra regelmäßig zu aktuellen Branchen-Themen.  

„Kirche und Staat“: Warum wir dringend über journalistische Werte reden müssen

Es klingt zunächst wie ein Widerspruch, wenn sich ausgerechnet ein PR-Mann so eindeutig positioniert: Dass ein Chefredakteur gleichzeitig Geschäftsführer sei, das ginge gar nicht, hatte Karsten Krogmann im Mai 2022 auf dem Forum Lokaljournalismus in Bremerhaven auf einem Podium gesagt. Nun ist Krogmann noch recht neu dort, wo die Branche gemeinhin „die andere Seite“ verortet. Er leitet die Pressearbeit für die Opferschutzorganisation Weißer Ring, bis 2020 war er preisgekrönter Chefreporter der Nordwest-Zeitung. Verlassen habe er den Verlag, weil der Journalismus zunehmend von wirtschaftlichen Zwängen geprägt werde. Das hatte er vor zwei Jahren bereits in einem Interview mit Kress Pro erläutert. 

Nun spielen beim Jobwechsel meist mehrere, auch sehr persönliche Gründe eine Rolle. Wenn man es für höchste Zeit hält, dass sich Journalisten Gedanken über das Geldverdienen machen, hört sich eine solche Klage zudem recht larmoyant an. Ist die Zahlungsbereitschaft für Journalismus nicht der beste Qualitätsausweis? Schließlich beweist doch der Abschluss eines Abos am ehesten, dass das Produktversprechen stimmt. Wahr ist aber auch: Über journalistische Unabhängigkeit, also genau das, was Journalismus von PR unterscheidet, wird in der Branche selten diskutiert.

Zwar gilt es bei den fortschrittlichen Vertretern des Fachs als ausgemacht, dass die strikte Trennung von Redaktion und Verlag in der digitalen Medienwelt nicht mehr funktionieren kann. Aber wo genau die neuen Grenzen verlaufen, was die roten Linien sind zwischen Marketing und inhaltlicher Überzeugungsarbeit, über Angebot und Verkaufe, darüber gibt es kaum Debatten.

Das „Kirche und Staat“-Prinzip stößt auf neue Herausforderungen

Nun war auch die alte Welt von „Kirche und Staat“ keine, in der nur Heilige die Geschäfte verwalteten. Grenzüberschreitungen gab und gibt es immer wieder. Die Konflikte um Dirk Ippen, der die Springer-Recherche seines Investigativ-Teams nicht veröffentlicht haben wollte und Zeit-Herausgeber Josef Joffe, der den befreundeten Banker Max Warburg vor Recherchen warnte, bestätigen das nur. Das alte Prinzip stößt aber auf neue Begebenheiten, die es herausfordern:

► Neu ist, dass Teams aus Marketing, Redaktion und Tech-Abteilung gemeinsam Produkte für bestimmte Zielgruppen entwickeln. 

► Neu ist, dass Redaktionen, die ihre Leser in Leitartikeln vor der Macht der Daten-Konzerne warnen, selbst eifrig Daten über ihre Kunden erheben um, deren Gewohnheiten und Vorlieben besser zu verstehen. 

► Neu ist, dass sich Medienhäuser nicht nur Innovationsprojekte und Weiterbildung von Google und Meta bezahlen lassen, sondern ihre Strukturen zunehmend so ausrichten, dass sie zu den Produkten der Tech-Konzerne passen. Felix Simon vom Oxford Internet Institute hat dies für einen jüngst veröffentlichten wissenschaftlichen Artikel für das Feld Künstliche Intelligenz untersucht (Transparenz-Hinweis: Alexandra hat mit Felix mehrfach publiziert). 

► Neu ist auch, dass eine Generation von Nutzerinnen und Nutzern heranwächst, für die Journalismus nur noch eine Spielart der Informationsvermittlung ist, weil Blogger, Influencer und auch die meisten Organisationen das Geschäft selbst recht professionell betreiben. Bezeichnend ist, dass zum Beispiel auch Karsten Krogmann für sich in Anspruch nimmt, beim Weißen Ring weiterhin Journalismus abzuliefern.  

Was also darf der Journalismus und was muss er sogar, um sich von allerlei Veröffentlichungskanälen abzugrenzen und seine Existenz zu legitimieren?

„Die journalistische Reinheitsrhetorik hat ausgedient.“

Aufklärung könnte man sich vom Pressekodex erhoffen, aber auch der ist in die Jahre gekommen. Zwar haben seine 16 Ziffern weiterhin Gültigkeit, aber der Alltag in modernen Redaktionen, der von all den genannten Konflikten geprägt ist, findet dort nur in Ansätzen Erwähnung. Außerdem war er schon immer ein selten erreichtes Ideal in einer Welt, in der sich Journalisten ihr Handwerk eher von ihren Vorgesetzten oder Kollegen abgeguckt haben, statt es von einer Regelsammlung abzuleiten.

Wichtig für die neue Welt ist: Die journalistische Reinheitsrhetorik hat ausgedient, in der auch immer der Anspruch auf Unfehlbarkeit mitgeschwungen hat. Man recherchiere, weil das Thema wichtig sei und veröffentliche, weil es die Allgemeinheit interessieren müsse – nicht etwa, weil man ein Interview angeboten bekommen oder eine Pressemitteilung gesichtet hatte, von einer Idee begeistert war, Lust auf eine spezielle Recherche oder Pressereise hatte oder einfach nur dem Chefredakteur gefallen wollte. Dass man die Unabhängigkeit der Redaktion von Verlagsinteressen früher mit Stolz vor sich hertragen konnte, hat auch dabei geholfen, so manch einen Beweggrund zu verschleiern. Wer behauptet, dass Clickbait eine Erfindung des Online-Journalismus ist, war nie beim Titeln dabei.   

Anstelle der Unabhängigkeit sollte Transparenz rücken

An die Stelle des mit breiter Brust verkündeten Ideals sollte deshalb größtmögliche Transparenz treten. Was weiß man, was weiß man nicht, welche Interessenkonflikte könnte es geben, wer zahlt für bestimmte Reisen oder Produkte, aber auch welche Nutzerdaten werden erhoben und wofür werden sie verwendet? Wohl kaum ein Leser wird all diese Informationen im Detail studieren, aber sie könnten geeignet sein, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Hier gibt jemand zu, dass er befangen ist und gewissen Zwängen unterliegt, aha. Die meisten Nutzer können Abhängigkeiten durchaus verstehen, wenn man sie ihnen erklärt, so wie sie dann auch verstehen werden, dass man bestimmte Quellen nicht offenlegen kann. 

Eine solche Offenheit würde Medienmarken vor allem von denjenigen abheben, die sie nicht bieten. Das sind zum Beispiel Influencer, die selten darüber Auskunft geben, wo die Produkte herstammen, die sie empfehlen und wie ihre Geschäftsmodelle funktionieren. Sie arbeiten nicht mit erarbeitetem Vertrauen, sondern mit Gefolgschaft. Die Investigativ-Recherche des Teams um  Jan Böhmermann zum Geschäftsgebaren des Influencers Fynn Kliemann dürfte einiges dafür getan haben, jungen Leuten das Prinzip Qualitätsjournalismus näherzubringen. 

Initiativen wie die Journalism Trust Initiative zertifizieren Redaktionen danach, wie sie Qualitätsstandards einhalten. Wer nachweist, das Vier-Augen-Prinzip anzuwenden, Fakten zu checken oder Videos zu verifizieren, macht sich glaubwürdig. Solche unabhängigen Audits sind auch für Medienhäuser empfehlenswert, die öffentlich-rechtlich strukturiert sind. Statt zu viel kommerzieller Nähe wird ihnen oft Staatsnähe vorgeworfen. Vertrauenswürdig ist, wer mit Beweisen dagegenhalten kann.

Aber darf ein Geschäftsführer oder Eigentümer gleichzeitig Geschäftsführer sein? Auch hier ist die Antwort: Es kommt darauf an. So wie es manch einem Chefredakteur an journalistischem Rückgrat mangelt, wirkt manch ein CEO als leidenschaftlicher Verleger. Wichtig ist, dass ethische Standards und die Kontrolle stimmen. Die Debatte über beides ist ausbaufähig. 

Diese Kolumne erschien zuerst bei Medieninsider am 25. Mai 2022. Alexandra schreibt dort monatlich zu aktuellen Themen der Branche.

 

Sieben Wege für konstruktiven Journalismus im Krieg

Am 24. Februar 2022 befahl Russlands Präsident Wladimir Putin seinen Truppen, die Ukraine anzugreifen. Zumindest für diejenigen, die freien Zugang zu Informationen haben, ist dieser Sachverhalt so klar wie ungeheuerlich. Quasi über Nacht hatte sich damit die sonst so verwobene Welt wieder aufgeteilt: in Aggressoren und Verteidiger, Täter und Opfer, Demokraten und ihre Feinde. Und allzu leicht – man ertappt sich selbst dabei – erliegt der Journalismus in so einem Krisenfall der Versuchung, dem zu folgen. Er feiert Helden, verdammt Verbrecher, hält den Scheinwerfer immer genau dorthin, wo es am lautesten knallt. Ähnlich wie die Kriegsführung fallen viele Redaktionen zuverlässig in trainierte Muster des 20. Jahrhunderts zurück. Noch entschiedener geht es in den sozialen Netzwerken zu. Strategen erklären mit breiter Brust die Welt des Krieges und jeder, der den Schnipsel eines Bildes von den Schlachtfeldern erhaschen kann, spielt einem das Grauen zuverlässig über das Smartphone in die Hände. 

Zwischen Ohnmacht und Traumata

Für den konstruktiven Journalismus, der für Nuancen und Perspektiven plädiert und stetig mahnt, die Welt nicht in Schwarz und Weiß abzubilden, scheinen harte Zeiten anzubrechen. Oder gibt es im Angesicht des Krieges noch Platz für eine Berichterstattung, die Menschen in der Fülle ihrer Bedürfnisse begreift, Raum für Zweifel lässt, womöglich sogar Hoffnung macht?

Viele Redaktionen stellen zunehmend fest: Es muss ihn geben. Denn wer nicht gerade einen großen überregionalen Titel herausgibt oder ein nationales Fernsehprogramm steuert, erlebt in diesen Tagen etwas anderes als in den Frühzeiten der Pandemie. Menschen wenden sich ab. Aus allen Ecken hört man: Neue digitale Abos tröpfelten nur noch herein, viele der Ukraine-Stoffe auf der Homepage blieben liegen. Waren die Wege, dem Virus zu begegnen, noch zutiefst lokale Themen, trauen viele Leser offenbar nur noch wenigen Medien zu, in Sachen Ukraine den Kopf über Wasser zu haben. Die anderen schalten komplett ab. Zu groß sind offenbar die Gefühle von Ohnmacht und vergangen geglaubte Traumata. Quer durch die Generationen gilt: Bilder des Krieges machen Angst.

Wie gehen Redaktionen konstruktiv damit um? 

Am besten, indem sie die Bedürfnisse ihres Publikums ergründen. 

► Zunächst einmal gibt es viele Menschen, die einfach helfen wollen, aus Empathie und um nicht in Ohnmacht zu verharren. Ihnen zu zeigen, was man wie tun kann, wie das anderen schon gelingt und was man besser lassen sollte – das machen viele Medienhäuser gut. Noch besser ist es, wenn sie selbst vorangehen, Geld für Opfer spenden oder für den unabhängigen Journalismus, der im Krieg leicht unter die Räder kommt. Wer oft schnell und lautstark fordert, sollte seine eigenen Standards auch mindestens erfüllen. Manch ein Außenstehender wird das als Marketing-Maßnahme kritisieren. Geschenkt.  

► Zweitens können Journalisten Menschen zum Sprechen bringen. Geteilte Ängste schweißen Gemeinschaften in Krisenzeiten zusammen. Man zeigt sich verwundbar und kommt sich dadurch nahe. So erzählen Menschen, die man lange zu kennen glaubte, plötzlich Familiengeschichten von Flucht und Vertreibung. Sonst so souverän wirkende Entscheider geben zu, dass ihnen die Antworten fehlen. Formate zu finden, die Menschen miteinander ins Gespräch bringen, ist eine Kernaufgabe von Journalismus. Was könnte konstruktiver sein? „Journalism is the conversation“, pflegt der Grandseigneur der Medienbeobachtung Jeff Jarvis zu sagen.

► Drittens ist es wichtig, auf Sprache zu achten. Wer „die Russen“ sagt und schreibt, nimmt all die tapferen Staatsbürger in Sippenhaft, die für die Wahrheit und Meinungsfreiheit ihre persönliche Freiheit, womöglich ihr Leben riskieren. Dabei sind insbesondere sie es, die Russland von Putin und seinen Gefolgsleuten befreien müssen. Ukrainern stehen in der EU Grenzen und Herzen offen, wenngleich auch das wohl kaum reichen wird. Geflüchtete Russen erfahren Ablehnung, sie scheitern bereits am Geldautomaten. Im Land selbst leiden Unschuldige unter den Sanktionen. Deshalb ist es wichtig, immer wieder präzise zu betonen: Der Aggressor ist Putin mit seinem Apparat.

► Viertens, und das gilt immer für den Journalismus: Vorsicht bei der Heldenverehrung. Natürlich lieben Nutzer Geschichten von Mut und Widerstand. Solche Storys wecken Emotionen, das schafft Reichweite. Sie machen Hoffnung. Und wer bewundert sie nicht in diesen Tagen, den überlebensgroßen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, die Klitschko-Brüder, die Redaktion des Kyiv Independent und anderer ukrainischer Medien, die mitten aus den Kampfzonen zur Welt sprechen. Natürlich sind Journalisten in diesem Fall Partei, sie stehen auf der Seite der Demokratie. Aber dennoch dürfen sie nicht zu Fans werden. Sie brauchen Distanz, um genau hinzuschauen, zu dokumentieren, was passiert, zu analysieren, was gesagt wir. Auch von denen, die nicht so laute Stimmen haben. Krieg findet nicht nur dort statt, wo es knallt und brennt, auch wenn das die besten Bilder gibt. Er gräbt sich ein in die Menschen, die Gesellschaft, die Wirtschaft. Seine Spuren auch auf lange Sicht zu verfolgen, ist Journalistenpflicht.   

► Fünftens, Menschen leiden am Leid anderer, an ihrer Angst, an Bildern und Nachrichten im Überfluss. Nicht jeder, der informiert bleiben möchte, kann die volle Dröhnung ertragen. Redaktionen können entsprechende Produkte entwickeln. Das können Newsletter sein, die das Wichtigste zusammenfassen oder Angebote ganz ohne Bild und Ton. Ein Faktencheck, der populäre Bilder aus den sozialen Netzwerken einsortiert, ist ein Service, für den viele dankbar sind. Auch diejenigen, die am Live-Ticker hängen, brauchen immer wieder Auswege in andere Geschichten. Und manch einer hätte zum Abschalten womöglich gerne ein gänzlich kriegsfreies Produkt. Wer Journalismus vom Nutzer her denkt, muss über passende Formate reflektieren.

► Sechstens, Menschen brauchen Erklärung. Gerade die Generationen, die nach Ende des Kalten Krieges erwachsen geworden sind, haben sich wenig befasst mit Sicherheitsarchitektur, Atomwaffensperrvertrag und Zweitschlag-Szenarien – andere haben es allzu gerne vergessen. Manch einem mag es peinlich sein zu fragen, was eigentlich die Nato ist. Andere wollen wissen, wie sie für denkbare Notfälle vorsorgen, sich und ihre Familien schützen können. Nicht jede Redaktion kann zu all dem einen Grundkurs liefern, aber fast überall sitzt irgendein Experte, der Auskunft geben kann. Leser einladen, alles zu fragen, auch das ist konstruktiv. Zu all dem gehört, offen zu sagen oder zu schreiben, was man nicht weiß und transparent mit seinen Recherche-Methoden umzugehen, wie das in der Wissenschaft Standard ist. Das Publikum wird hoffentlich mit Vertrauen danken.  

► Siebtens, Krieg traumatisiert und das hat Folgen bis in die Redaktionen hinein. Diejenigen, die aus der Ukraine berichten, riskieren ihr Leben für ihre Mission. Das prägt, selbst wenn sie es körperlich unversehrt überleben. Aber auch andere können leiden, wenn sie tagein tagaus Live-Ticker befüllen, Bilder und Filme sichten, Schreckens-Szenarien lesen und bewerten müssen. Journalisten sind gut darin, unter Druck zu funktionieren. Aber auch sie brauchen Hilfe. Zum Glück haben einige Organisation das Thema psychische Belastung von Recherchen aus der Tabu-Ecke geholt, geben Tipps, wie man sich und seine Mitarbeitenden schützen kann. Wenn der Krieg beendet ist, fängt auf diesem Feld so manche Arbeit erst an.

Dem konstruktiven Journalismus wird oft vorgeworfen, die Welt in Pastellfarben tauchen zu wollen. Darum geht es nicht, und im Krieg ist das ohnehin keine Option. Konstruktiver Journalismus bemüht sich, die Welt so abzubilden, wie sie ist – mit all den Schattierungen und Dimensionen, die in Krisen häufig vergessen werden.

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 14. März 2022. Aktuelle Kolumnen gibt es dort bei Abschluss eines Abos. #

Was Medien aus der Corona-Berichterstattung für den Klimajournalismus lernen können

Viele Redaktionen hatten es schon geahnt, denn der große Zuspruch ihres Publikums muss etwas bedeutet haben: Die Medien-Nutzer haben der Corona-Berichterstattung im ersten Jahr der Pandemie ein überwiegend gutes Zeugnis ausgestellt. Dies geht aus einer umfangreichen, gemeinsamen Studie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Ludwig-Maximilians-Universität München hervor, die von der Rudolf-Augstein-Stiftung beauftragt und Ende 2021 vorgestellt wurde.

Verständlich, vollständig, glaubwürdig, sachlich – zwischen 60 und 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger schätzten die Corona-Berichterstattung jeweils so ein, nur maximal 20 Prozent outeten sich in der einen oder anderen Kategorie als unzufrieden. Waren bislang vor allem Kritiker durchgedrungen, die den Medien zu viel Regierungsnähe und Einseitigkeit vorgeworfen hatten, kam die Berichterstattung sogar in Sachen Vielfalt der Perspektiven recht gut weg.

Nach allerlei schlagzeilenträchtigem Getöse („Medien haben in der Pandemie versagt!“) kann man für eine so sachliche Annäherung dankbar sein, die nicht nur auf Befragungen, sondern auch auf einer Inhaltsanalyse der tatsächlichen Berichterstattung basiert und auf 60 Seiten ausgewertet wird. Die Ergebnisse entsprechen auch den deutlich gestiegenen Vertrauenswerten, über die sich Medien weltweit im Vergleich zum Vorjahr freuen konnten. Sowohl der Digital News Report aus Oxford als auch andere Untersuchungen wie das Edelman Trust Barometer hatten dies den Nachrichtenmachern attestiert – allen voran den öffentlich-rechtlichen Sendern und den Regionalmedien. Medienmacher sollten es sich dennoch nicht zu gemütlich machen, denn die Untersuchung legt auch einige Schwächen des Journalismus offen. Gerade mit Blick auf die Berichterstattung zum Klimawandel und dem Ringen um Lösungen wäre es fahrlässig, daran nicht zu arbeiten.

Hier sind fünf Studienerkenntnisse, aus denen Journalisten lernen können

Erstens: Journalismus fokussiert sich zu eng auf bestimmte Funktionsträger

Dass Journalisten im Übermaß Politikern an den Lippen hängen, ist eine altbekannte Schwäche der Branche, die sich aus dem Einfluss der Politik-Redaktionen in der internen Hackordnung der meisten Häuser erklärt. In der Pandemie war das nicht anders. Allerdings hatten sich die Scheinwerfer nun zusätzlich auf Wissenschaftler gerichtet. Wie die Studie ermittelt hat, kamen allerdings vor allem Mediziner zu Wort, seltener – aber dafür im Einzelfall prominent – Virologen. Forscherinnen und Forscher anderer Disziplinen wurden hingegen kaum zu Rate gezogen. Dabei haben sich die Maßnahmen im Kampf gegen die Seuche – vom Ladenschließungen und Fernunterricht bis Ausgangssperren – auf weite Teile des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens ausgewirkt. Hierzu hätte nach der Datenlage durchaus mehr Forschung und weniger Mutmaßung geliefert werden können. Beim Thema Klimawandel läuft die Branche in eine ähnliche Situation hinein. Werden allein Klimaexperten um Einschätzungen gebeten, werden der Bevölkerung viele Fakten vorenthalten, die sich aus der Klimaschutzpolitik ergeben und ergeben werden. Wenn sich Menschen eine Meinung bilden sollen, brauchen sie viele fundierte Perspektiven. Und auch der Klimaschutz wird in praktisch jeden Lebensbereich eingreifen.  

Zweitens: Wenn es zu kompliziert wird, steigen viele Journalisten aus – vor allem bei naturwissenschaftlichen Zusammenhängen

Die Berichterstattung hat sich nach den Erkenntnissen der Forscher relativ wenig darum bemüht zu erklären, wie das Virus wirkt, sich verbreitet und was es im Körper anrichtet, zum Beispiel auch im Vergleich mit dem Grippevirus. Der Auswertung zufolge ging es viel häufiger um Fallzahlen, Handlungsempfehlungen und politische Maßnahmen. Das wundert kaum, denn die wenigsten Journalisten verfügen über ausreichendes naturwissenschaftliches Grundwissen. Sie können Entwicklungen häufig nicht einordnen oder vermeiden es – zumal sich das Wissen über das Virus im Fall Covid auch erst entwickelt hat. Beim Klimaschutz gibt es ein ähnliches Problem. Der Journalist Wolfgang Blau, der jüngst das Oxford Climate Journalism Network mitgegründet hat, betont wieder und wieder, wie wichtig eine Grundbildung zum Thema Klima für Journalisten aller Disziplinen ist. Manch einem Reporter mag das zu kompliziert oder anstrengend sein, aber wer mehr machen möchte als den klassischen „der hat gesagt …, die hat gesagt …“-Journalismus, kommt darum nicht herum.

Drittens, Statistiken werden oft phantasielos aufbereitet

In vielen Redaktionen sind die Kenntnisse in diesem Fach unterentwickelt, und das wirkt sich auf die Aussagekraft und Vielfalt der Berichterstattung aus. Zwar kam kaum ein Medium in der Pandemie ohne die Kurve der Fallzahlen oder Inzidenzen aus, aber vergleichende Analysen gab es der Studie zufolge eher selten. Auch die Folgen zum Beispiel für das Wirtschaftsleben hätte man gut mit Grafiken oder Statistiken aufbereiten können, zum Beispiel in Relation zu anderen Wirtschafts-Schocks wie der Lehman-Brothers-Pleite 2008. Auch beim Thema Klimawandel und den Auswirkungen entsprechender Politik müssen Redaktionen Einordnung bieten, die über das Erwartbare hinaus gehen. Menschen möchten zum Beispiel wissen, welche persönliche Einschränkung wie viel zum Klimaschutz beiträgt, ob der Verzicht auf Fleisch, Autofahrten oder Flüge mehr bringt. Viele Bürgerinnen und Bürger sind durchaus bereit, ihren Teil zu leisten. Nur dazu müssen sie es verstehen. Journalisten sollten dazu nicht nur selbst Statistiken lesen, sondern es anderen auch vermitteln können. Hier ist vor allem die Journalisten Aus- und Weiterbildung gefragt.

Viertens, das Volumen der Berichterstattung hat oft wenig mit der Bedrohungslage zu tun

Es ist eine Stärke und Schwäche des Journalismus, dass er sich stets auf das Neue fokussiert. Dies hat den Daten zufolge in der Corona-Pandemie dazu geführt, dass in der ersten Welle mehr berichtet wurde als in der zweiten, obwohl die Zahlen der Erkrankten und Toten später weit höher lagen. Offenbar hatten Vorwürfe, die Berichterstattung sei hysterisch (in der ersten Welle erhoben von 30 Prozent der Befragten) ihre Spuren hinterlassen. In der zweiten Welle kam nur noch ein Fünftel mit diesem Vorwurf. Die hohe Schlagzahl im April 2020 war allerdings auch davon geprägt, dass in der ersten Welle das gesellschaftliche Leben praktisch zum Erliegen gekommen war. Fast jeder Journalist wurde damals zum Corona-Reporter, wollte er nicht untätig daheim sitzen. Für das Thema Klimaschutz sind Abnutzungseffekte ein noch größeres Problem. Denn weder das Phänomen selbst noch viele der Lösungen haben großen Neuigkeitswert, wenn nicht gerade Brände, Überschwemmungen oder spektakulär schmelzende Gletscher Aufmerksamkeit schaffen. Es wird eine Kunst sein, das Thema dem Ernst der Lage angemessen mit immer neuen, interessanten und lehrreichen Facetten abzudecken. Außerdem gilt, was Kommunikationsstrategen schon immer empfohlen haben: „Sag es, sag es wieder, und sag es dann noch einmal.“ Wiederholungen mögen Journalisten langweilen, das Publikum braucht sie, um Dringlichkeit zu verstehen.

Fünftens, sachlich ist gut, emotional auch

Nahe an den Menschen zu sein, das heißt übrigens vor allem, sie ernst zu Die Studie hat dem Journalismus in der Pandemie eine große Sachlichkeit attestiert. Mit dem Fortschreiten der Seuche habe die Berichterstattung immer stärker auf Statistiken zurückgegriffen als auf Einzelfälle, schreiben die Autoren: „Zu keinem Zeitpunkt überwogen emotionale Beiträge auch nur annähernd die sachlichen.“ Grundsätzlich sind die Medien damit ihrem Auftrag gerecht geworden, vor allem Fakten zu präsentieren. Allerdings brauchen Menschen Emotionen, um Empathie zu bilden. Eine einzige Geschichte über einen besonders geplagten Covid-Patienten bewegt womöglich mehr Menschen dazu, sich impfen zu lassen, als die bestgemachte Grafik zu Risiken und Nebenwirkungen. Redaktionen sollten dies beherzigen, auch für die Berichterstattung über den Zustand von Natur und Umwelt. Die klug aufbereitete Statistik appelliert an den Verstand, die packende Geschichte ans Gefühl. Um tätig zu werden, brauchen Menschen beides.

Diese Kolumne erschien zuerst am 10. November 2021 in Medieninsider. Dort publiziere ich regelmäßig, aktuelle Stücke lassen sich mit Abo lesen.     


Politik-Journalismus: Runter vom Schlachtfeld, rein ins Labor

Der politische Journalismus in Deutschland hat seine Sache im Bundestagswahlkampf gut gemacht. Das heißt auch: Er hätte einiges noch besser machen können. Es ist an der Zeit, rhetorisch ab- und inhaltlich umzurüsten. Denn es geht auch konstruktiv.

Die jüngste Bundestagswahl ist schon eine Weile her, die Medien sind lange weitergezogen. Was die Qualität der Berichterstattung darüber angeht, daran kann sich vermutlich kaum noch jemand erinnern, nur das Wort „Triell“ mag sich nachhaltig im deutschen Sprachgebrauch behaupten. Festhalten sollte man nur, dass der Journalismus insgesamt gut funktioniert hat. Denn trotz einer nach allgemeinem Bekunden wenig überzeugenden Auswahl an Kanzlerkandidaten war die Wahlbeteiligung leicht auf knapp 77 Prozent gestiegen. Man darf vermuten, dass dies ohne eine vielfältige und umfangreiche Medienberichterstattung nicht geschehen wäre.

Wettkampf ist das Salz des politischen Journalismus

Trotzdem kann sich auch der politische Journalismus weiterentwickeln, auch wenn das die Routiniers in den Parlamentsbüros ungerne hören. Denn wieder und wieder werden die alten Rezepte aus dem journalistischen Standard-Kochbuch nachgekocht. Dessen populärstes besagt: Wettkampf ist das Salz des politischen Journalismus. 

Wer liegt in den Umfragen vorn? Vor lauter Begeisterung für diese Frage, die nicht besser wird, je öfter man sie stellt, vergessen Journalistinnen und Journalisten gerne, dass die Antwort morgen schon wieder überholt sein dürfte. Sie unterschätzen auch, dass sie genau damit Ergebnisse beeinflussen. Es ist ein psychologischer Effekt, dass sich viele Menschen gerne auf die Seite der Sieger stellen oder als Unentschlossene eher der gefühlten Mehrheit folgen. Sprich: Ein bisschen weniger Triell hätte es auch getan. 

Der Personen-Themen-Kreisel

Das heißt nicht, jetzt einem anderen Ritual zu folgen: dem Personen-Themen-Kreisel, der sich vor allem in den sozialen Netzwerken oft schwindelerregend dreht. Geht es auf Twitter hart gegen eine Person zur Sache, muss man nur kurz warten, bis die erste fordert: Im Wahlkampf sollte es mal wieder um Themen gehen. Geht es um Themen, werden die natürlich mit Personen verknüpft, was andere wieder nach Themen rufen lässt. Fakt ist, dass Politik in den meisten Demokratien von Koalitionen verabschiedet wird, weshalb viele politische Programme nach der Regierungsbildung nur noch in Umrissen erkennbar sind. Das Wahlvolk hat also recht, wenn es sich im Vorhinein vor allem mit der Glaubwürdigkeit, Integrität und Kompetenz der Personen beschäftigt, denen es die Verantwortung für die Themen in die Hände legt.

Der beste Ausweis für Glaubwürdigkeit sind Taten, weshalb es Kandidatinnen und Kandidaten ohne Regierungserfahrung schwerer haben. Aber selbst dort, wo jemand schon länger gestalten kann oder könnte, schauen Reporterinnen und Reporter viel zu selten hin. Natürlich ist Journalismus der Sorte „der hat gesagt, die hat gesagt“ bequemer und deutlich billiger als Recherche. Großmäuler haben einen Vorteil, und womöglich färbt es sogar auf den Glanz des Korrespondenten ab, wenn er eine Regierungschefin oder einen prominenten Herausforderer vors Mikrofon bekommt.

Großmäuler gibt es schon bei YouTube und Instagram

Hingegen kann es sehr mühselig sein, in Team- und Kleinarbeit Fakten zusammenzutragen, und es fällt schlimmstenfalls noch nicht einmal auf: Trotz starker Recherche-Leistung der beteiligten Kollegen war es vielen Wählenden offenbar zu kompliziert, Olaf Scholz’ Rolle im Cum-Ex-Skandal zu durchdringen. Die durch die Pegasus-Recherche zutage geförderten verdeckten Immobilien-Geschäfte von Tschechiens Premier Andrej Babis waren da wohl leichter zu verstehen. Ihn hat die Arbeit von Journalisten seine Wiederwahl gekostet. Dabei sollte man das politische Personal an seinen Taten messen, was oft leichter ist, als es die Medien in schönster Herdenbewegung glauben machen. Gerade junge Menschen wünschen sich vom Journalismus mehr Perspektiven, Lösungen und Substanz. Großmäuler finden sie bei YouTube und Instagram schon zuhauf. 

Das Constructive Institute in Aarhus* hat kürzlich demonstriert, wie Wahldebatten auch konstruktiv ablaufen könnten. In dem Projekt „guter Kampf“ wurden zunächst 120 Journalisten aus ganz Dänemark darin geschult, wie man Wahlen konstruktiv begleiten könnte. Kandidaten lernten in Bootcamps konstruktive Debatten-Techniken. Der Test kam mit einer Wahlveranstaltung, zu der mit folgendem Text eingeladen wurde: 

„Mögen Sie Politik, aber haben sie das auch so satt, wenn sich Politiker anschreien und die Medien versuchen, immer die Konflikte zu betonen? Sie sind nicht allein. Vielleicht können wir gemeinsam testen, ob das anders gehen kann.“ 

Ulrik Haagerup, Gründer des Instituts und früher Chefredakteur im dänischen Fernsehen, war spürbar überrascht von der Reaktion. Nach nur wenigen Stunden sei die Veranstaltung ausverkauft gewesen. 530 Dänen seien zu einem Abend erschienen, der angefüllt mit Argumenten, Ideen und Heiterkeit gewesen sei. „92 Prozent der Besucher fanden es großartig. Die Kandiaten waren überrascht, dass sie über potenzielle Lösungen reden und Gedanken ihrer Gegner anerkennen konnten, ohne als Verlierer gebrandmarkt zu werden“, sagt Haagerup. Nicht verwunderlich, dass er in solchen Formaten die Zukunft des Journalismus sieht.

Menschen sind mehr als kühle Rechner

Nahe an den Menschen zu sein, das heißt übrigens vor allem, sie ernst zu nehmen und nicht zu unterschätzen. Journalisten versuchen dies oft recht unbeholfen. Die im Wahlkampf ewig wiederholte Frage „Was kostet das den Bürger?“ reduziert die Wählenden auf Gewinn-Maximierer, das wird ihnen nicht gerecht. Menschen sind mehr als kühle Rechner, im Guten wie im Schlechten. Spätestens das Brexit-Referendum hat gezeigt, dass Emotionen auf dem Soll und Haben ebenso viel wiegen können wie Geld auf dem Bankkonto.

Medien könnten nicht nur im sprachlichen Umgang mit Politikern, ähm, abrüsten und dann und wann kontrollieren, wie oft sie in Wahlkämpfen (sic!) Vokabular von Schlachtfeld und Sportplatz borgen statt zum Beispiel welches aus Werkstatt oder Labor. Auch die Kritik an der Konkurrenz fällt oft eine Spur schriller aus als angebracht. Die jeweils anderen hätten Annalena Baerbock ins Amt schreiben wollen, lautete ein häufiger Vorwurf im Bundestagswahlkampf, mit dem sich manch einer als gegen den Strom schwimmend gerieren wollte. 

Nun, spätestens die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten 2016 dürfte gezeigt haben, dass man Politiker nur sehr begrenzt hoch- oder runterschreiben kann. Wenn Menschen beginnen, Journalistinnen und Journalisten als Teil einer Elite zu betrachten, die den Kontakt zum Wahlvolk verloren hat, geht Parteinahme ziemlich sicher nach hinten los. Für jeglichen Journalismus gilt deshalb: Vorher zuhören ist besser als nachher wundern.

*Transparenz-Notiz: Alexandra Borchardt ist Board Mitglied der Constructive Foundation

Diese Kolumne erschien am 12. Oktober bei Medieninsider und wurde hier leicht angepasst. Mit einem Abo lassen sich dort auch aktuelle Kolumnen lesen. 

Was der Journalismus vom Joghurt lernen kann

Die Glaubwürdigkeit des Journalismus ist ein Dauerthema innerhalb der Branche. Ein Rezept für mehr Vertrauen: Transparenz. Doch wie viel davon ist uns wirklich recht? Vor allem im Umgang mit Quellen? Die Angabe von Inhaltsstoffen ist auf jedem Joghurt genauer als in den Medien.

Es wirkte fast so, als wollte sich Rezo noch im Nachhinein für den Nannen-Preis bedanken. Über 140 Quellen steckten in seinem jüngsten Aufschlag, twitterte er nach der Veröffentlichung im August. Das klang wie: Seht her, Leute, ich bin nicht der selbstverliebte Laberkopf, für den ihr mich haltet, meine Stücke sind gut recherchiert. Man erinnert sich: 2020 hatte es in der Branche längliche Diskussionen darüber gegeben, ob der Influencer die begehrte Journalisten-Auszeichnung tatsächlich verdient habe, wo er doch höchstwahrscheinlich noch nicht einmal die 16 Ziffern des Pressekodexes aufzählen könne. Und nun: 140 Quellen. 

Die Anerkennung der Kollegen hätte allerdings großzügiger ausfallen können. Jeder Journalist verwende immer ganz viele Quellen, twitterte einer zurück. Nur stelle man das halt nicht so heraus. Wirklich?

Reporter und Reporterinnen haben im Allgemeinen ein ähnliches Verhältnis zu ihren Quellen wie Annalena Baerbock es zur Verteidigung ihres Bestsellers „Jetzt“ beschrieben hat: Ist ja nur so ein Sachbuch und keine wissenschaftliche Arbeit.

Der Joghurt-Moment

Oft setzt sich auch die Bequemlichkeit gegenüber der mühseligen Recherche durch: Da fragt man für ein schwieriges Thema fix ein paar Leute aus dem Bekanntenkreis, musste halt schnell gehen. Und für die Fach-Auskunft wird der ewig gleiche Kumpel aus Studientagen angerufen. Der nimmt den Call zuverlässig an und ist zudem eloquent, warum also nicht? 

Darum nicht, fanden die Kolleginnen und Kollegen von France Televisions, als sie im Mai dieses Jahres das Projekt nosSources launchten. Chefredakteur Pascal Doucet-Bon hatte es vorangetrieben nach einem Erlebnis, das man einen Joghurt-Moment nennen könnte:

In Frankreich sei vor zwei Jahren diese große öffentliche Debatte über Vertrauen und die Medien geführt worden – die Zustimmungswerte waren im Zuge der Gelbwesten-Proteste drastisch eingebrochen. Eines Tages habe sich dieser Mann gemeldet und angemerkt, man solle sich nicht wundern, wenn Menschen dem Journalismus weniger vertrauten. Beim Einkauf im Supermarkt fände er auf jedem Produkt penibel genau Inhaltsstoffe und Nährwerte aufgelistet. Bei Nachrichten hingegen müsse er sich allein auf die Marke verlassen. „Er sagte mir: Leute, so läuft das nicht mehr“, erinnert sich Doucet-Bon. Wie sollten Leser den Journalisten trauen ohne die Möglichkeit, die Quellen zu überprüfen? „Es war mir etwas peinlich zuzugeben, dass er recht hatte. Jeder Joghurt kommt transparenter daher. Aber damals wusste ich nicht so recht, was wir tun könnten.“ 

Die Idee ließ ihn nicht mehr los. „Wir arbeiten mit dem Geld der Steuerzahler, sie haben ein Recht darauf, unsere Quellen zu kennen und zu beurteilen“, so Doucet-Bon. Aber wie lässt sich ein Joghurt-Label auf das Nachrichtengeschehen übertragen? Es brauchte einen Chefwechsel, viele Diskussionen und einiges an Vorbereitung, bis nosSources starten konnte.

Das Konzept ist simpel: In jedem von France Televisions digital publizierten Stück werden die Leserinnen und Leser nun eingeladen, die Quellen am Ende des Textes zu studieren. Sie finden Hinweise auf Infografiken, Studien und Informationen zu den Experten, die zitiert werden. „Das hat sich vor allem in der Impf-Debatte als wichtig erwiesen“, so Doucet-Bon. Denn gerade Impfgegner würden die Quellen systematisch durchforsten mit dem Hintergedanken, die Kompetenz und Unabhängigkeit von Wissenschaftlern und Ärzten in Frage zu stellen.

Eine klare Einordnung helfe beispielsweise dabei, nachzuvollziehen, wer welche Verbindungen zur Pharmaindustrie habe. „Natürlich geben wir keine vertraulichen Quellen preis. Und bei manchen Reportagen gibt es schlicht keine Quellen, wenn zum Beispiel jemand eine Nacht bei Obdachlosen verbringt“, sagt der Chefredakteur. Aber meistens geht es eben doch. 

Ob die Quellen-Transparenz das Vertrauen der Leserschaft in den französischen Marktführer bei digitalen Nachrichten erhöht, lässt sich noch nicht beurteilen. Tatsache ist: Die wenigsten Nutzerinnen und Nutzer klicken darauf. Für Doucet-Bon geht es aber nicht nur darum, Offenheit nach außen demonstrieren, sagt er: „Wir wollten auch, dass unsere Kollegen und Kolleginnen ihre Quellen bewusster wählen.“ Wie oft hätten Reporter zuvor einfach Umfragen anderer kopiert oder immer dieselben Experten befragt. Der Sender hoffe, seinen Journalismus mit dem Projekt zu verbessern. Selbst die Gewerkschaften schweigen ob des Mehraufwands – in Frankreich ein Zeichen stiller Zustimmung.

Allerdings haben sich noch nicht alle Redakteure, Reporterinnen und Kommentatoren mit den neuen Standards angefreundet. Einer von vier Journalisten mache nicht mit bei nosSources, so Doucet-Bon, „manche hoffen sicher, dass das wieder verschwinden wird“. Es dürften aber eher die sich verweigernden Kolleginnen und Kollegen sein, deren journalistische Sterne irgendwann verblassen werden. Denn in einer datengetriebenen Welt steigt der Anspruch der Konsumentinnen und Konsumenten, eben diesen Daten bei Bedarf auf den Grund gehen zu können. Der Aufschwung des Wissenschaftsjournalismus in der Pandemie hat gezeigt, dass die Nachfrage nach Belegen wächst. Ein beträchtlicher Teil des Publikums nimmt es nicht mehr kommentarlos hin, wenn faktenloses Geschwurbel damit begründet wird, dies sei nun einmal Feuilleton oder ein politischer Kommentar. 

Journalismus darf allerdings auch nicht ins Gegenteil abdriften, wie dies heute manch eine wissenschaftliche Arbeit tut. Aus Angst, eines Plagiats bezichtigt zu werden, belegen Studierende häufig jede noch so simple Aussage. Das Ergebnis wirkt häufig zaghaft und unentschieden.

Starker Journalismus bewahrt den Mut zum eigenen Gedanken. Statt des Joghurts funktioniert als Analogie womöglich eher das Curry: Das kann feurig und gehaltvoll schmecken und dennoch auf einem Rezept basieren, das sich nachkochen ließe – würde man es denn wollen. Vertrauen steigt nicht automatisch mit mehr Transparenz. Dies geschieht nur, wenn die Zutaten stimmen.      

Diese Kolumne erschien zuerst bei Medieninsider am 17. September 2021. Mit einem Abo kann man dort auch aktuelle Kolumnen lesen.   


Loslassen lernen – Nicht Innovation sondern ‚Stop doing‘ ist in den meisten Redaktionen die härteste Disziplin

So kann es gehen, wenn man einfach nur seine Gegner besänftigen will: Als sich das öffentlich-rechtliche Schweizer Medienhaus SRG SSR im März 2018 einer Volksabstimmung über seine Existenz stellen musste, sicherte sich das Management 70 Prozent der Stimmen mit Reformversprechungen. Doch sollte die Intendanz mit Waffenstillstand oder gar Frieden kalkuliert haben, muss sie nun bitter enttäuscht sein: Denn Gegenwind bläst plötzlich von beiden Seiten. Während die Kritiker weiter ätzen und ein neues Referendum ins Spiel bringen, klagen die vormaligen Unterstützer lautstark über das Sparprogramm. 

Dinge sein zu lassen, ist für Sender mit einem gesetzlichen Versorgungsauftrag besonders schwer. Davon kann auch die ARD erzählen, die mit der Ankündigung, Sendungen wie den Weltspiegel im Programm nach hinten und ins Digitale zu verschieben, auf Twitter sogar von Nutzern eins übergebraten bekommt („Qualität geht verloren!“), die sich eher selten mit den Eltern vor den Fernseher setzen. Dabei gehört es zu den wichtigsten Disziplinen des digitalen Wandels, Gewohntes in Frage zu stellen und in die Jahre Gekommenes auszumisten. Nur ist kaum eine Redaktion so richtig gut darin – ja, viele beherrschen sie ausgesprochen schlecht. 

Wer hat den größten Trennungsschmerz?

Anders als bei den genannten Beispielen liegt das meist nicht einmal an Protesten des Publikums. Ausgiebige Beobachtungen zeigen: Es sind die Kolleginnen und Kollegen selbst, die von Gewohnheiten, liebgewonnenen Projekten, Ideen oder Rubriken nicht lassen können. Da ist die Kolumne, die aus der Zeit gefallen ist, während die Kolumnisten hoffen, dass niemand im Haus das merkt. Da gibt es den Newsletter für Opern- und Theaterfreunde, den die Kultur-Redaktion eindeutig mehr schätzt als die Leserschaft. Und dann erscheinen da alle diese Texte, die gar nicht enden wollen – online ist schließlich Platz.

Wer wie Chris Moran, Nutzerdaten-Fuchs beim britischen Guardian, die Redaktion regelmäßig mit ihrer Überproduktion konfrontiert, braucht neben guten people skills auch schlüssige Statistiken, um nicht hochkant rauszufliegen. Leserinnen und Leser mögen noch so oft schreiben, sie könnten die Fülle der Angebote nicht mehr bewältigen (ein gar nicht so seltener Grund für Abo-Kündigungen): Die Produzenten lassen sich davon nicht beirren.

Dabei hat niemand Zeit zu verschenken in Medienhäusern, in denen die Umstellung auf digitale Arbeitsweisen ein Projekt nach dem anderen erfordert und gefühlt alle paar Wochen eine neue Plattform bedient werden muss. „Nicht noch mehr Aufgaben!“, pflegen dann die Kolleginnen und Kollegen zu stöhnen. Burnout in Redaktionen ist nicht nur eine Gefahr sondern sehr real, wie die Medienforscherin Lucy Küng in ihrem Buch „Hearts and Minds“ dokumentiert. Und trotzdem gehört das Ausmisten von weniger effektiven Prozessen, Praktiken und Inhalten zu den besonders unbeliebten Tätigkeiten im Change Management. 

Weglassen hat nichts mit Misstrauen zu tun 

Für Branchenfremde ist das schwer verständlich, selbst für manch eine Medien-Führungskraft. So wollte die Leiterin einer Online-Redaktion ihrem Team etwas Gutes tun, nachdem sie in jedem einzelnen Mitarbeiter-Gespräch vernahm, das Arbeitsvolumen sei kaum zu bewältigen. Ihr ging es um Vorsorge und nachhaltige Arbeitsprozesse, als sie den Output auf „weniger und besser“ trimmen wollte. Doch die Anerkennung der Kolleginnen und Kollegen blieb aus. Offenbar hatten diese den Eindruck, die Chefin traue ihnen das stramme Programm nicht länger zu. Mit der Schlagzahl sank auch die Stimmung. 

Psychologisch lässt sich das einigermaßen erklären. Gerade Journalistinnen und Journalisten ziehen ihr Selbstvertrauen häufig aus schöpferischer Arbeit, aus den Dingen, die ihnen Freude machen – oder Status verleihen. Die sind nicht unbedingt das, was die Nutzerinnen und Nutzer goutieren. Also versuchen viele den Spagat: Das Hobby-Thema bleibt, das notwendige kommt obendrauf. Zudem halten die Belohnungsstrukturen in Redaktionen selten mit neuen Anforderungen schritt. Die wichtigste Zielgruppe für die meisten Journalisten ist nach wie vor die Chefredaktion und kein inhaltlich definiertes „Audience“. Die Innovationsabteilung wiederum berauscht sich so oft an neuen Projekten, dass sie vor Eifer die Erfolgskontrolle vergisst. So manche einst mühsam gezogene Pflanze wird dann weiter bewässert, auch wenn sie längst keine frischen Triebe mehr zeigt. 

In Redaktionen mangelt es sehr häufig nicht an guten Ideen, sondern an Fokus. Ihn zu schärfen, ist Führungsaufgabe.

Dazu werden zunächst einmal Daten benötigt, beispielsweise:

► Wie ist das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag?

► Welche Aktivitäten honorieren die Kundinnen und Kunden mit Aufmerksamkeit und Loyalität?

► Welche nehmen sie höchstens geschenkt mit, welche ignorieren sie?

Zum Glück gibt es im digitalen Journalismus wenig, was man nicht messen kann. Das bedeutet nicht, dass nur Volumen entscheidet. Ein Newsletter zum Beispiel, der eine kleine aber hoch loyale Zielgruppe begeistert, darf durchaus weiterlaufen – aber vielleicht besser als Bezahlprodukt. Wer von seinem Lieblingsthema partout nicht lassen will, kann daraus vielleicht eine Einnahmequelle kreieren. 

Eine andere Strategie ist das Minimum-Budget. Jeder überlegt, was er oder sie unbedingt bräuchte, würde man ein Angebot von Grund auf und ohne Altlasten neu aufbauen können. Was nicht auf der Positivliste steht, wird in Frage gestellt. Jedes neue Projekt braucht klare Ziele. Verfehlt es sie, war die Zeit meist trotzdem nicht vertan. Höchstwahrscheinlich hat man Dinge gelernt, aus denen sich neue Strategien ableiten lassen. 

Amerikanische Redaktionen haben das „stop doing“ bereits häufiger systematisiert – aus Not. Drastischer Stellenabbau hatte vielen Medienmarken so wenige Kapazitäten gelassen, dass sie zum Umdenken gezwungen waren. „How Newsrooms can do less work but have more impact“ ist nicht nur ein lesenswertes Strategie-Papier, sondern mündete sogar in einem Programm. Mitte August haben vier teilnehmende Redaktionen Bilanz gezogen. Ergebnis: Fast alle begeisterten mit weniger, aber zum Teil anders gestrickten, Inhalten mehr Nutzer. Wichtig in allen Fällen ist, nicht nur gemeinsam auszusieben, sondern neue Erfolgskriterien zu entwickeln. Die ideale Lösung ist gefunden, wenn jeder sein Gesicht wahren kann. 

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 17. August 2021. Aktuelle Kolumnen und spannende News aus der Medienbranche gibt es für Abonnenten.