Loslassen lernen – Nicht Innovation sondern ‚Stop doing‘ ist in den meisten Redaktionen die härteste Disziplin

So kann es gehen, wenn man einfach nur seine Gegner besänftigen will: Als sich das öffentlich-rechtliche Schweizer Medienhaus SRG SSR im März 2018 einer Volksabstimmung über seine Existenz stellen musste, sicherte sich das Management 70 Prozent der Stimmen mit Reformversprechungen. Doch sollte die Intendanz mit Waffenstillstand oder gar Frieden kalkuliert haben, muss sie nun bitter enttäuscht sein: Denn Gegenwind bläst plötzlich von beiden Seiten. Während die Kritiker weiter ätzen und ein neues Referendum ins Spiel bringen, klagen die vormaligen Unterstützer lautstark über das Sparprogramm. 

Dinge sein zu lassen, ist für Sender mit einem gesetzlichen Versorgungsauftrag besonders schwer. Davon kann auch die ARD erzählen, die mit der Ankündigung, Sendungen wie den Weltspiegel im Programm nach hinten und ins Digitale zu verschieben, auf Twitter sogar von Nutzern eins übergebraten bekommt („Qualität geht verloren!“), die sich eher selten mit den Eltern vor den Fernseher setzen. Dabei gehört es zu den wichtigsten Disziplinen des digitalen Wandels, Gewohntes in Frage zu stellen und in die Jahre Gekommenes auszumisten. Nur ist kaum eine Redaktion so richtig gut darin – ja, viele beherrschen sie ausgesprochen schlecht. 

Wer hat den größten Trennungsschmerz?

Anders als bei den genannten Beispielen liegt das meist nicht einmal an Protesten des Publikums. Ausgiebige Beobachtungen zeigen: Es sind die Kolleginnen und Kollegen selbst, die von Gewohnheiten, liebgewonnenen Projekten, Ideen oder Rubriken nicht lassen können. Da ist die Kolumne, die aus der Zeit gefallen ist, während die Kolumnisten hoffen, dass niemand im Haus das merkt. Da gibt es den Newsletter für Opern- und Theaterfreunde, den die Kultur-Redaktion eindeutig mehr schätzt als die Leserschaft. Und dann erscheinen da alle diese Texte, die gar nicht enden wollen – online ist schließlich Platz.

Wer wie Chris Moran, Nutzerdaten-Fuchs beim britischen Guardian, die Redaktion regelmäßig mit ihrer Überproduktion konfrontiert, braucht neben guten people skills auch schlüssige Statistiken, um nicht hochkant rauszufliegen. Leserinnen und Leser mögen noch so oft schreiben, sie könnten die Fülle der Angebote nicht mehr bewältigen (ein gar nicht so seltener Grund für Abo-Kündigungen): Die Produzenten lassen sich davon nicht beirren.

Dabei hat niemand Zeit zu verschenken in Medienhäusern, in denen die Umstellung auf digitale Arbeitsweisen ein Projekt nach dem anderen erfordert und gefühlt alle paar Wochen eine neue Plattform bedient werden muss. „Nicht noch mehr Aufgaben!“, pflegen dann die Kolleginnen und Kollegen zu stöhnen. Burnout in Redaktionen ist nicht nur eine Gefahr sondern sehr real, wie die Medienforscherin Lucy Küng in ihrem Buch „Hearts and Minds“ dokumentiert. Und trotzdem gehört das Ausmisten von weniger effektiven Prozessen, Praktiken und Inhalten zu den besonders unbeliebten Tätigkeiten im Change Management. 

Weglassen hat nichts mit Misstrauen zu tun 

Für Branchenfremde ist das schwer verständlich, selbst für manch eine Medien-Führungskraft. So wollte die Leiterin einer Online-Redaktion ihrem Team etwas Gutes tun, nachdem sie in jedem einzelnen Mitarbeiter-Gespräch vernahm, das Arbeitsvolumen sei kaum zu bewältigen. Ihr ging es um Vorsorge und nachhaltige Arbeitsprozesse, als sie den Output auf „weniger und besser“ trimmen wollte. Doch die Anerkennung der Kolleginnen und Kollegen blieb aus. Offenbar hatten diese den Eindruck, die Chefin traue ihnen das stramme Programm nicht länger zu. Mit der Schlagzahl sank auch die Stimmung. 

Psychologisch lässt sich das einigermaßen erklären. Gerade Journalistinnen und Journalisten ziehen ihr Selbstvertrauen häufig aus schöpferischer Arbeit, aus den Dingen, die ihnen Freude machen – oder Status verleihen. Die sind nicht unbedingt das, was die Nutzerinnen und Nutzer goutieren. Also versuchen viele den Spagat: Das Hobby-Thema bleibt, das notwendige kommt obendrauf. Zudem halten die Belohnungsstrukturen in Redaktionen selten mit neuen Anforderungen schritt. Die wichtigste Zielgruppe für die meisten Journalisten ist nach wie vor die Chefredaktion und kein inhaltlich definiertes „Audience“. Die Innovationsabteilung wiederum berauscht sich so oft an neuen Projekten, dass sie vor Eifer die Erfolgskontrolle vergisst. So manche einst mühsam gezogene Pflanze wird dann weiter bewässert, auch wenn sie längst keine frischen Triebe mehr zeigt. 

In Redaktionen mangelt es sehr häufig nicht an guten Ideen, sondern an Fokus. Ihn zu schärfen, ist Führungsaufgabe.

Dazu werden zunächst einmal Daten benötigt, beispielsweise:

► Wie ist das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag?

► Welche Aktivitäten honorieren die Kundinnen und Kunden mit Aufmerksamkeit und Loyalität?

► Welche nehmen sie höchstens geschenkt mit, welche ignorieren sie?

Zum Glück gibt es im digitalen Journalismus wenig, was man nicht messen kann. Das bedeutet nicht, dass nur Volumen entscheidet. Ein Newsletter zum Beispiel, der eine kleine aber hoch loyale Zielgruppe begeistert, darf durchaus weiterlaufen – aber vielleicht besser als Bezahlprodukt. Wer von seinem Lieblingsthema partout nicht lassen will, kann daraus vielleicht eine Einnahmequelle kreieren. 

Eine andere Strategie ist das Minimum-Budget. Jeder überlegt, was er oder sie unbedingt bräuchte, würde man ein Angebot von Grund auf und ohne Altlasten neu aufbauen können. Was nicht auf der Positivliste steht, wird in Frage gestellt. Jedes neue Projekt braucht klare Ziele. Verfehlt es sie, war die Zeit meist trotzdem nicht vertan. Höchstwahrscheinlich hat man Dinge gelernt, aus denen sich neue Strategien ableiten lassen. 

Amerikanische Redaktionen haben das „stop doing“ bereits häufiger systematisiert – aus Not. Drastischer Stellenabbau hatte vielen Medienmarken so wenige Kapazitäten gelassen, dass sie zum Umdenken gezwungen waren. „How Newsrooms can do less work but have more impact“ ist nicht nur ein lesenswertes Strategie-Papier, sondern mündete sogar in einem Programm. Mitte August haben vier teilnehmende Redaktionen Bilanz gezogen. Ergebnis: Fast alle begeisterten mit weniger, aber zum Teil anders gestrickten, Inhalten mehr Nutzer. Wichtig in allen Fällen ist, nicht nur gemeinsam auszusieben, sondern neue Erfolgskriterien zu entwickeln. Die ideale Lösung ist gefunden, wenn jeder sein Gesicht wahren kann. 

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 17. August 2021. Aktuelle Kolumnen und spannende News aus der Medienbranche gibt es für Abonnenten.