„Kein Job für Weicheier“ – Medienmacher sorgen sich viel um andere und wenig um die eigenen Leute

Nicht überall leiden Journalist*innen so wie in Indien. Um die 500 Reporter*innen waren dort Stand Juni 2021 während der Pandemie an einer Covid-19 Erkrankung gestorben, die sie sich bei der Recherche zugezogen hatten. Ihre Familien bekämen weder Unterstützung von den Redaktionen noch von der Regierung, schreibt die indische Journalistin Rachel Chitra in einem Artikel für das Reuters Institute in Oxford. Die Pandemie ist eine vielschichtige Herausforderung für Journalist*innen, nicht nur wegen der Ansteckungsgefahr für sie und ihre Angehörigen, sondern auch wegen erschwerter Arbeitsbedingungen, dauerhaft hoher Belastung bei gleichzeitiger Furcht, in der angespannten wirtschaftlichen Lage den Job zu verlieren. Aber sie ist beileibe nicht die einzige Bürde, die diejenigen tragen, die dort nah herangehen müssen, wo es unangenehm wird. Weltweit riskieren Reporter*innen ihre physische und psychische Gesundheit, manche sogar ihr Leben, weil sie ihren Job machen.

Dabei geht es nicht nur um aufsehenerregende Angriffe auf einzelne Reporter*innen, die einflussreichen Wirtschaftsgrößen oder autoritären Regierenden zu nahe auf die Pelle rücken, wie bei der spektakulären Entführung des belarussischen Bloggers Roman Protasewitsch aus einem Flugzeug auf innereuropäischer Route. Solche Fälle lösen zurecht international Empörung aus. Aber auch die alltäglichen, subtilen oder weniger subtilen Angriffe auf Redakteur*innen, Kommentator*innen und Reporter*innen zehren an den Kräften. Da geht es um Trolle und Hass in den sozialen Netzwerken, den einzelne oder politisch motivierte Gruppen durchaus systematisch und überproportional gegen Frauen einsetzen. Es geht um eine toxische Redaktionskultur, die das Medium-Magazin kürzlich in einer großen Recherche dokumentierte. Es geht aber auch um das Tagesgeschäft: dem Berichten vom Unfallort mit grauenhaft zugerichteten Opfern oder aus dem Gerichtssaal, wenn verstörende Tatbestände detailgenau vorgetragen werden und sich als Bilder im Kopf festsetzen.

Und all das nehmen viele Redaktionen einfach so hin. Rufen sie in Kommentaren nach Unterstützung für Betroffene jeglichen Unglücks und Unrechts, sieht es mit der Fürsorge für die eigenen Leute in der Regel eher mau aus. Die Auslandskorrespondentin schickt man vor dem Einsatz im Krisengebiet noch in ein spezielles Training. Der Lokalreporter allerdings kann sich nicht darauf vorbereiten, wie es ihm bei der Recherche über das Zugunglück mit Toten oder dem Eifersuchts-Mord in der Nachbarschaft gehen wird. Und für ein Debriefing nach anspruchsvollen Recherchen, gefährlichen Einsätzen oder Attacken in den sozialen Netzwerken fehlt meist die Zeit, man ist schon beim nächsten Thema. Auch um ihr Recht müssen viele ohne Hilfe kämpfen, selbst wenn sie online massiv bedroht werden. Das Berufsethos sorgt dann dafür, dass die meisten Kolleg*innen das Leid alleine zu verarbeiten versuchen.

Viele Führungskräfte finden das immer noch in Ordnung so. Ein gewisses Maß an Kaltschnäuzigkeit und innerer Distanz gehöre eben zur Berufsbeschreibung, heißt es dann lapidar. Journalist, das sei eben „kein Job für Weicheier“ – so sagte es einmal ein BBC-Kollege in einem Leadership-Seminar. Wer die Hitze nicht möge, solle eben die Küche meiden. Die Tatsache, dass Redaktionen eher von Journalist*innen geführt werden, von denen die meisten nicht in Management-Techniken geschult sind, macht es nicht leichter.

Noch gibt es wenig Forschung zu Belastung und Trauma in Redaktionen, vor allem mit Blick auf das vermeintlich so routinierte Tagesgeschäft. Aber eine zunehmende Zahl von Redaktionsleiter*innen nimmt sich des Themas an, ebenso Wissenschaftler*innen und Verbände. Organisationen wie die Unesco beschäftigen sichmit der Sicherheit von Medienschaffenden. Die Bild-Zeitung hat ihre Mitarbeiter jüngst in einer großen Umfrage nach ihrem Befinden gefragt. Gerade die Pandemie hat viele Führungskräfte erkennen lassen, wie fragil das Gerüst ist, auf dem das tägliche Geschäft ruht. Persönliche Gespräche mit Kolleg*innen, denen man nicht mehr wie sonst im Flur begegnet, hätten ihn während des Lockdowns viel beschäftigt, erzählt der CEO eines regionalen Medienhauses.

Neben menschlichen Motiven treiben auch wirtschaftliche die Leitenden an. Es wird immer schwerer, junge Menschen für den Journalistenberuf zu begeistern. Die Aussicht, dass sie bei vergleichsweise mäßigem Einkommen, hohem zeitlichen und emotionalen Einsatz und unsicheren Perspektiven in Kauf nehmen müssen, angegriffen oder mit Belastungen alleingelassen zu werden, macht ihnen die Entscheidung für den Job nicht leichter. Psychologische und juristische Hilfe ist das Mindeste, was Redaktionen ihren Mitarbeiter*innen bieten müssen.

Manchmal allerdings sind gerade die das Problem, die an der Spitze stehen, Stichwort toxische Redaktionskultur. Da allerdings kann man rangehen. So erzählte die Kollegin einer großen Zeitung an der amerikanischen Westküste im Frühjahr in einem Webinar vom Rücktritt eines Star-Reporters, den sie so erklärte: Man habe jetzt eine „no asshole policy“, da passe nicht mehr jeder rein. Verlage, die gegen solche Klima-Vergifter konsequent vorgehen, sparen dabei manchmal weit mehr als nur ein Gehalt.  

Diese Kolumne erschien am 3. Juni 2021 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School. 

 

Eine Checkliste für starken Journalismus

Die Frage, wie Qualitätsjournalismus definiert wird, ist keine einfache – schon gar nicht in Zeiten des digitalen Wandels. Genauso schwierig gestaltet sich dann die Kontrolle. Das sollte Redaktionen aber nicht davon abhalten, über Kriterien und Kontrollstandards zu diskutieren. Zehn Impulse, mit denen das gelingen kann.

Sicher, auch über die Substanz von Autos, Mänteln oder Möbelstücken kann man streiten: Ist das nun Qualität, oder doch eher nur gute Verpackung? Wer sich allerdings daran versucht, Qualitätsjournalismus zu definieren, sollte Zeit und Lust auf eine erhitzte Debatte mitbringen. Denn was die einen als große publizistische Leistung empfinden, ist für die anderen nichts als abgehobene Schwurbelei. Werden Inhalte mit einem Qualitätssiegel versehen, sagt so ein Prädikat oft mehr über die Bewertenden aus als über das Produkt. Manche betrachten es gar als Einfallstor für Zensur: Gelobt wird das, was politisch erwünscht ist.

Alternativ kann man den Prozess unter die Lupe zu nehmen, mit dem Journalismus erstellt wird. Werden Fakten überprüft, mehrere Quellen konsultiert, wie wird redigiert, wie wird Unabhängigkeit gewahrt? All das lässt sich leichter beurteilen als Faktoren wie Sprache, Themenwahl oder Ausgestaltung. Aber bei der Herangehensweise haben starke Medienmarken zwangsläufig die Nase vorn. Kurz: Es ist kompliziert.

Die Debatte um Qualität ist dennoch zentral, schon gar in einer Medienwelt, in der Algorithmen Inhalte auf- und abwerten und damit vorselektieren, wie viel Aufmerksamkeit ein Stück bekommt. Redaktionen tun deshalb gut daran, immer wieder Inventur zu machen: Wie stark ist unser Journalismus? Eine Checkliste mit zehn Punkten dürfte helfen:

1. Haben wir genug erklärt?

Wer sich informiert, will nicht nur Bescheid wissen. Er möchte wissen, warum er Bescheid wissen sollte. Journalismus muss immer einordnen, und er muss das immer wieder tun. Laut Digital News Report 2019 findet nur jeder zweite Nutzer, dass die Medien einen guten Job dabei machen, das aktuelle Geschehen zu erklären. Da ist Luft nach oben.

2. Setzen wir die Agenda?

Im täglichen Feuerwerk der Informationen und Zitate ist es allzu leicht, sich von anderen treiben zu lassen. Stimmt das, was dieser Politiker, jene CEO behauptet, oder ist das eine Falschinformation? Verifizieren ist wichtig, aber wer nur noch überprüft, was andere sagen, kann es leicht versäumen, eigene Themen zu setzen. Da gilt das in der Branche gerne genutzte Wort: Journalismus ist, über etwas zu berichten, das andere gerne verbergen würden.

3. Begeistern wir Nutzer mit Produkten, die ihnen helfen?

Die Erfolge von Apple, Amazon, Netflix und Co. sind nicht die Ergebnisse von klugem Marketing. Die Produkte und Plattformen überzeugen, weil sie einen Mehrwert bieten. Sie helfen dabei, alltägliche Probleme zu lösen. Welche Produkte können Medienhäuser entwickeln, die ihren Kundinnen und Kunden im Alltag helfen? Die Denke vom Nutzer her ist zentral, wenn man sich unverzichtbar machen will. 

4. Begeistern wir unsere Nutzer mit Themen, die sie berühren?

In der Welt der Überinformation dringen diejenigen durch, die Emotionen wecken, Menschen in ihrem Alltag abholen, bei ihren Sorgen, Freuden, Hoffnungen. Es ist ein schwerer Fehler, das Feld der Emotionen den Populisten zu überlassen, die bevorzugt in Schwarz oder Weiß malen. Menschen sind komplex und sie begreifen Komplexität – wenn man sie denn lässt.

5. Lassen wir andere zu Wort kommen?

Der Trend geht zum Kommentar, denn er ist billig. Recherche hingegen kostet Geld. Aber Kommentare gibt es überall. Beobachtung, Beschreibung, Einordnung, Gespräch, echte Analyse führen weiter. Zuhören ist der Schlüssel, oder genau hinschauen. Wenig überzeugt so schnell wie eine gute Datenreihe – und wenig macht so viel Mühe.  

6. Suchen wir Vielfalt und lassen sie zu?

Es ist ein Reflex, der nicht nur beim Besetzen von Talk-Shows funktioniert: Journalisten greifen bei der Recherche wieder und wieder auf dieselben Experten zurück. Ein Grund dafür ist, dass es funktioniert. Ein Christian Drosten schafft Vertrauen, die Medienmarke profitiert. Aber die Welt ist weit, die Perspektiven vielfältig. Das 50:50 Projekt der BBC hat gezeigt, wie ein bewussterer Umgang mit Quellen nicht nur Geschlechtergerechtigkeit vorantreiben, sondern auch das Publikum begeistern kann.

7. Bieten wir Perspektiven an?

Etwa ein Drittel aller Bürgeren vermeidet den Kontakt mit Nachrichten mittlerweile bewusst, die Tendenz ist steigend. Der Hauptgrund: Journalismus sei zu negativ, mache schlechte Laune, wecke Ohnmachtsgefühle. Die Alternative ist keine Weichzeichner-PR. Aber Menschen brauchen Perspektiven und Lösungen, das Stückchen Inspiration. Wie sind andere aus einem Dilemma gekommen, was funktioniert? Die Ansätze des Konstruktiven Journalismus können helfen. Wer seine Nutzeren in dunkle Szenarien hineinführt, muss sie auch wieder hinausbegleiten. 

8. Gehen wir transparent mit Wissen, Quellen und Meinung um?

Manchmal weiß man, dass man (noch) nicht viel weiß – die Pandemie erinnert einen täglich daran. Aber weiß unser Publikum auch, wo unsere Erkenntnisse enden und das informierte Raten beginnt? Je mehr wir die Menschen mitnehmen auf die Forschungsreise, umso weniger peinlich wird es, wenn wir uns korrigieren müssen. Ähnliches gilt für den Umgang mit Quellen und deren Interessen. Journalismus wäre unmöglich in kompletter Transparenz, es gelten Fürsorgepflicht und Quellenschutz. Aber unsere Nutzeren haben Klarheit darüber verdient, wie wir arbeiten und warum. 

9. Erheben wir Daten und lernen daraus?

Oft ist es die bequemere Lösung, den Journalismus in die Nähe von Kunst zu rücken, die vor allem im Auge des Betrachters wirkt. Oder man argumentiert mit der Mission, dem öffentlichen Interesse, der Wächterfunktion, wenn man ein Stück verteidigen möchte, das beim Publikum „nicht funktioniert“. Man kann aber auch nach Gründen forschen. Dabei helfen Daten. Daten können niemals alles belegen und schon gar nicht erklären. Aber es wäre fahrlässig, sie nicht zu nutzen, um die Bedürfnisse des Publikums zu ergründen. Der A/B-Test sollte eine geläufige Vokabel in jeder Redaktion sein.

10. Begegnen wir den Menschen auf Augenhöhe?

Noch nicht einmal ein Fünftel aller Nutzer findet, dass die Medien den richtigen Ton treffen. 39 Prozent gaben im Digital News Report 2019 sogar explizit zu Protokoll, dass sie dieser Aussage überhaupt nicht zustimmen. Zu negativ, zu belehrend, zu stark politisch eingefärbt – Beschwerden gibt es viele. Das Verhältnis zwischen Journalisten und ihrem Publikum ist komplex, auch weil das Bild auf beiden Seiten häufig von denjenigen dominiert wird, die sich selbst besonders wichtig nehmen. Mehr Gespräch und mehr Begegnungen bilden Vertrauen und stärken den Journalismus. Zugegeben, in Pandemie-Zeiten ist das noch leichter gesagt als getan. Aber auch ohne physischen Kontakt kann man Fragen stellen – und das in Frage stellen, was man schon immer unter Qualität verstanden hat. Es mögen sich daraus sogar ein paar neue Antworten ergeben.     

Diese Kolumne erschien bei Medieninsider am 22. März 2021. Aktuelle Kolumnen und Neues aus der Branche sind mit einem Abo zu lesen. 


Zu gut gemeint – Moderner Journalismus braucht mehr Recherche und weniger Kommentar

Die Intendantin des schwedischen Senders Sveriges Radio, Cilla Benkö, ist in der internationalen Medienszene für ihre Meinungsfreude bekannt. Und genau zu dem Thema bezieht sie so klar Position, wie sonst kaum jemand in ihrer Liga: Kommentare hätten in öffentlich-rechtlichen Programmen nichts zu suchen, sagt Benkö, diese Häuser seien für die Fakten da. Treffer versenkt.

In Deutschlands Groß-Sendern sieht man das bekanntlich anders, wenngleich es durchaus Diskussionen gibt. Immerhin hat ARD Aktuell den Tagesthemen-„Kommentar“ im vergangenen Jahr in „Meinung“ umbenannt. Damit wollte man unterstreichen, dass es sich bei der abendlichen Gardinenpredigt um Meinungen einzelner Kolleg*innen handelt, nicht etwa um die des Hauses. Dem größten Teil des Publikums mag diese Nuance nicht aufgefallen sein, aber man ahnt, was der kleine Schritt intern bedeutet haben muss. Er hätte als Auftakt einer Debatte getaugt, die in der Branche dringend ausführlicher geführt werden müsste: Wie viel Meinung verträgt der Journalismus?

Klar ist, in den digitalen Kanälen ist Meinung ein Ding. Die sozialen Netzwerke leben davon und deshalb auch die Redaktionen, die auf ein paar schnelle Klicks angewiesen sind. Ein pointierter Kommentar bekommt Aufmerksamkeit, und das ist die Währung des Internets. Redaktionen schmücken sich gerne mit Autor*innen, die sich als meinungsstarke Personen-Marken etabliert haben. Sie binden Kund*innen und halten damit die Abonnent*innen bei Laune. Meinung ist billig, denn dazu braucht man nur einen Kopf und einen Computer. Recherche hingegen kostet: Zeit, Geld, Abstimmung, juristisches Risiko. Ohne Meinung also weniger Geschäft.

Und natürlich hat der Kommentar im Journalismus Tradition. In den großen Zeitungsredaktionen gehörte das Verfassen von Meinungsstücken früher zu den vornehmsten Aufgaben von Journalist*innen, zumindest in Deutschland. Wer den Leitartikel schrieb, durfte nicht gestört werden und musste für den Rest des Tages nichts mehr tun. In angelsächsischen Medien gab (und gibt) es spezielle Kommentator*innen-Teams. Sie diskutieren die Position des Hauses, bevor sie jemand im Namen der Redaktion aufschreiben darf. Vor Wahlen legen sie sogar fest, welche Kandidat*innen sie ihren Leser*innen als die geeigneteren ans Herz legen.

Heute allerdings ist Meinung überall – auch in dieser Kolumne. Jeder mit Internetzugang kann nicht nur eine haben, sondern sie auch posten, gerne länglich und regelmäßig, das heißt dann Blog. Privatleute führen solche genauso wie Firmen oder Politiker*innen. Wer nicht meint, findet nicht statt. War im Journalismus früher das Streben nach Neutralität die Default-Einstellung, ist es heute die Meinung.

Unter Journalist*innen haben sich insbesondere die jüngeren die recht bequeme These zurecht gelegt, dass es so etwas wie Objektivität überhaupt nicht gäbe. Das Beharren darauf zementiere lediglich vorhandene Machtstrukturen, weshalb das Meinen die ehrlichere Lösung sei. Im vermeintlich modernen Journalismus ist deshalb das Ich überall, die eigene Erfahrung gilt als Maß der Dinge. Sollen die anderen doch widersprechen.

Nur das Publikum ist sich da nicht so sicher. Laut Digital News Report 2020 wünscht sich der weit überwiegende Teil der Leser*innen, dass sich Medien um Neutralität wenigstens bemühen, in Deutschland lag der Wert bei 80 Prozent und damit an der Spitze der untersuchten Länder. Zumindest laut der Umfrage mögen die Nutzer*innen beides nicht: Meinungen, die ihrer eigenen Position entsprechen und solche, die ihr widersprechen. Sie möchten sich lieber die Fakten anschauen und sich dann selbst eine bilden. Dieses Bedürfnis ist übrigens in jenen Ländern besonders ausgeprägt, die starke öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten haben, denen Unparteilichkeit zumindest immer einen Versuch wert ist. Der diesjährige Digital News Report, der am 23. Juni veröffentlicht wird, wird sich dieses Themas in einem Schwerpunkt widmen.

Redaktionen stellt dies vor Herausforderungen. Der Wunsch der Leser*innen ist schließlich nachvollziehbar. Wenn Meinung überall ist, sind Fakten kostbare Ware. Nur mit gut recherchierten Geschichten kann man sich abheben vom allgemeinen Befindlichkeits-Gebrumm. Kommentare mögen zwar gut sein für Klicks, aber Abos generieren dann doch eher jene Geschichten mit hohem Informationsgehalt – von denen der starken Personenmarken (siehe oben) mal abgesehen. Anders als in der Zeitung ist im Newsfeed der sozialen Netzwerke zudem kaum ersichtlich, hinter welcher Überschrift sich eine Nachricht und hinter welcher sich eine Meinung verbirgt. Zumal ein Kommentar ohne Fakten recht nackt dasteht, weshalb im Netz ohnehin nur eine Mischform funktioniert. Also lieber ganz weg mit der Meinung?

Evan Smith, Gründer und CEO der vielfach preisgekrönten, auf Politikberichterstattung spezialisierten amerikanischen Regionalzeitung The Texas Tribune, kommentiert dies mit einem eindeutigen Ja. In seiner Redaktion dürfen Politikredakteur*innen keiner Partei angehören, keine Wahlplakate in ihre Vorgärten stellen, ja nicht einmal zur Wahl gehen. „Wir sind unparteiisch wie ein Herzinfarkt“, sagte er einmal auf einer Konferenz in Oxford, dies sei die Tribune ihrem Publikum schuldig.

Ganz so weit werden wohl die wenigsten Redaktionen gehen. Aber wirklich moderner Journalismus täte gut daran, die Recherche rauf- und die Meinung runterzufahren, wenn er sich unverzichtbar machen will. Dies wäre ein Dienst an einem Publikum, das der haltenden Hand der Meinungsjournalist*innen längst entwachsen ist. Nur haben einige von ihnen dies noch nicht gemerkt.

Sie könnten sich bei Hillary Clinton erkundigen. Kaum eine amerikanische Redaktion hatte die Kandidatin der Demokraten 2016 nicht empfohlen, gewählt wurde bekanntlich ein anderer. Das hatte Clinton viel Kummer, der Welt viel Stress und den Medien viel Arbeit gebracht. Geblieben ist hoffentlich eine Erkenntnis, die jede Redaktion an jedem Tag leiten sollte: nie das Publikum unterschätzen.

Diese Kolumne erschien am 6. Mai 2021 im Newsletter des Digital Journalism Fellowships der Hamburg Media School. 

Themen-Teams statt Ressorts – Wie Journalismus die Bedürfnisse seiner Nutzer*innen ins Zentrum stellt

Bislang kennt man das Werkzeug eher als Hilfsmittel für den redaktionellen Kahlschlag: Allen wird gekündigt, und jede*r muss sich in seinem*ihrem alten Unternehmen neu bewerben, nur dass dies dann unter anderem Namen firmiert. Verlagsmanager*innen greifen gerne zu diesem Kniff, um das Kündigungsschutzrecht zu umgehen. Sie hoffen, die Belegschaft damit so zu verunsichern, dass etliche Betroffene von selbst abspringen – idealerweise jene, die schon ahnen, dass man die Zukunft nur widerwillig mit ihnen plant. Es gibt allerdings auch Redaktionen, die mit einem solchen Werkzeug den digitalen Aufbruch stemmen. Wenn sich alle Mitarbeiter*innen neu auf ihre Stärken und Wünsche besinnen müssen, entsteht jene produktive Unruhe, ohne die ein echter Wandel nicht möglich ist, so das Kalkül dahinter.

Ein Beispiel ist der schottische Medienkonzern DC Thomson Media: Dort hatte man schon vor einer Weile geahnt, dass die alten Ressort-Strukturen nicht mehr viel taugen für eine moderne Redaktion, die sich an den Bedürfnissen und Interessen der Nutzer*innen orientiert. Und die folgen eben nicht stur dem klassischen Schema, nach dem Redaktionen seit mehr als 100 Jahren sortiert sind: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Sport und so weiter. Deshalb initiierten die Schotten „Mini Publisher Teams“ rund um verschiedene Themen wie investigative Recherchen für Politik-Junkies, Essen und Trinken, Nostalgie/Historie oder Mobilität. Das Konzept kam so gut an, dass sich nach einer großen Bewerbungsrunde nun fast die gesamte Redaktion auf solche Teams verteilt. Auch für die tägliche Zeitungsproduktion ist eine Gruppe zuständig, die sich mit den Bedürfnissen eben jener Menschen beschäftigt, die jeden Morgen ein gut gemixtes Produkt an Nachrichten und Geschichten aus dem Briefkasten fischen wollen. Das „Print Audience“ ist allerdings nur eines von vielen, anders als im traditionellen Geschäft, wo die Zeitungsleser*innen mit der allgemeinen Öffentlichkeit gleichgesetzt werden. Und von wegen Kahlschlag: Zusätzlich wurden 20 Stellen geschaffen.

So manch ein*e Ressortleiter*in mag jetzt nervös werden. Aber mal ehrlich: Haben diese endlosen Absprachen darüber nicht schon immer genervt, ob das neue Mietengesetz jetzt im Politik-Ressort, in der Wirtschaft oder im Vermischten behandelt wird, womöglich sogar in der Beilage Bauen und Wohnen? Mit einem „Mini-Publisher“ – andere nennen es Squad oder Audience-Team – rund um das Thema Wohnen und Leben wäre das kein Problem gewesen.

Katie Lloyd, Entwicklungschefin von BBC News, hat das in einem Gespräch einmal so erklärt: „Ressorts in den Medien strukturieren sich traditionell entlang der Ministerien in Regierungen, sie orientieren sich nicht an den Bedürfnissen des Publikums. Das ist überholt.“ Es gibt eben nur wenige Leser*innen, die sich für Innenpolitik oder Außenpolitik als Ganzes interessieren. Die meisten schauen eher danach, was sie wissen möchten oder müssen, sie interessieren sich für einen klimaverträglichen Lebensstil, ihre Situation als Migrant*in oder als Eltern von Schulkindern. Ebenso unhandlich sind Gemeindegrenzen, wenn es darum geht, Berichterstattung zu organisieren. Wer sich um die tägliche Mobilität sorgt, möchte die Situation entlang der gesamten Bundesstraße kennen, nicht nur die an der Ausfahrt X. Und wem Gesundheit und Fitness ein Anliegen ist, der interessiert sich nicht nur für eine bestimmte Laufroute, sondern für alle damit verbundenen Angebote in der Region.

Das Wort Mini-Publisher impliziert dabei, dass Verantwortung von oben nach unten und in die Breite delegiert wird. Ein Team oder Squad ist zuständig dafür, mit welchen Produkten und Angeboten man ein bestimmtes Publikum am meisten begeistert, welche Formate und welcher „Ton“ sich dafür eignen, wie man das Thema unter die Leute bekommt und welche Werbekunden sich möglicherweise dafür interessieren könnten. Und natürlich steht so ein Team auch für die Ergebnisse gerade. Manchmal muss es sogar sich selbst abschaffen, wenn die Zielgruppe doch nicht so will wie gedacht. Man ahnt es: Die strikte Trennung zwischen Redaktion und Verlag ist aufgehoben, Reporter*innen müssen mit Software-Entwickler*innen und Marketing-Strateg*innen zusammenarbeiten. Guter Journalismus steht trotzdem im Kern.

Ganz geheuer ist das Konzept vielen Journalist*innen nicht, Inhalte von den Bedürfnissen und Interessen verschiedener Nutzer*innen her zu denken. Habe man nicht den Auftrag, die Öffentlichkeit als Ganzes zu bedienen mit den Themen, die wichtig für die Bürger*innen sind? Journalismus an den Wünschen des Publikums auszurichten, das kommt vielen wie Anbiederung und jenes Clickbaiting vor, das man doch gerade überwinden will. Der amerikanische Kommunikationswissenschaftler Jakob Nelson hat diese Debatte in seinem Buch „Imagined Audiences“ von verschiedenen Perspektiven beleuchtet.

Nur sollte man sich nichts vormachen, Journalismus hat noch nie mit einem Angebot alle potenziellen Adressat*innen erreicht. Die Nutzer*innen entscheiden ohnehin, welche Stücke sie lesen, welche Grafiken sie studieren, welche Sendungen sie hören oder schauen und wo sie gelangweilt weiterblättern oder -klicken. Nur haben die Medien, die das Prädikat Qualitätsjournalismus so stolz vor sich hertragen, bislang oft herzlich wenig dazu beigetragen, diese Qualität auch an alle zu liefern. Vielmehr hat man versucht, dem gesamten Publikum einen einheitlichen Qualitätsbegriff aufzudrücken, ohne sich darum zu kümmern, wer sich vielleicht wie und mit welchem Produkt besser angesprochen fühlen würde. Frauen, Migrant*innen, junge Leser*innen konnten mit vielen Angeboten nichts anfangen. Der mangelnde Erfolg westdeutscher Zeitungen in Ostdeutschland ist nur ein Beispiel dafür, dass das Konzept „alles für alle“ nicht funktioniert.

Was daraus folgt, ist ein gewaltiges Problem: Viel zu viel Journalismus wird an den Bedürfnissen der Konsument*innen vorbei produziert. Jede*r, der*die sich in Redaktionen mit Daten beschäftigt, hat auf Anhieb ein paar gute Beispiele an Stoffen parat, die zwar aufwändig erarbeitet aber von wenigen oder nur sehr unvollständig gelesen werden. In Zeiten schrumpfender Ressourcen und steigender Anforderungen kann sich das keine Redaktion mehr leisten. Klar, ganz genau wird sich die Nachfrage nie prognostizieren lassen. Aber wer sich vor der Produktion mit den Abnehmer*innen der Produkte beschäftigt, macht schon mal einiges richtig.

Nicht jede Redaktion muss dabei so weit gehen wie DC Thomson. Der frische Blick auf die Themen tut vielen Kolleg*innen dort gut, so manch eine*r hat sich neu orientiert. Nur ein Team hatte Mühe, ausreichend interne Bewerber*innen zu begeistern: Breaking News. Offenbar ist das, was Redaktionen heute noch am meisten umtreibt, vielen ihrer Mitglieder selbst schon zu viel.

Diese Kolumne erschien am 29. April 2021 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship der Hamburg Media School. 

Selten (so) gelacht – Journalismus muss Humor ernst nehmen, wenn er die junge Generation erreichen möchte

Journalismus ist eine ernste Sache. Gerade erst wurde ein griechischer Investigativ-Reporter vor seinem Haus in einem Vorort von Athen erschossen. In Deutschland werden Journalist*innen immer häufiger physisch angegriffen, die Organisation Reporter ohne Grenzen stufte deshalb in ihrem neuen Lagebericht den Zustand der Pressefreiheit von „gut“ auf „zufriedenstellend“ zurück. Speziell in Mittel- und Osteuropa treiben Politik und Oligarchen unabhängige Medien in die Enge, ohne dass die EU ernsthaft einschreiten würde. „Europe’s fourth estate needs more active support“, forderte das Editorial Board der Financial Times in dieser Woche. Und dann kommt Jan Böhmermann, und landet mit einem Satire-Magazin „Freizeit Magazin Royale“ einen Kiosk-, TV- und Social-Media-Hit. Was regt junge Leute von diesen Dingen am meisten auf? Vermutung: dass Böhmermanns Magazin nach kurzer Zeit vergriffen war.

Wer dem jugendlichen Publikum deshalb den Sinn fürs Ernsthafte abspricht, macht es sich aber zu leicht. Humor ist eine ernste Sache, um das zu verstehen, müssen nicht erst Karikaturist*innen angegriffen werden. Und der Trend, dass junge Menschen sich den Nachrichten verstärkt über Comedy nähern, ist nicht neu. Eine Studie in der Fachzeitschrift „Journalism“ beleuchtete dies für die USA schon 2007, ein Jahrzehnt nach dem Launch von „The Daily Show“ auf Comedy Central. Seitdem wurden vielerorts entsprechende Formate entwickelt, ohne dass dies den Journalismus als solches vergnüglicher gemacht hätte. Aber moderne Redaktionen ahnen: Wer die nächste Generation für das Nachrichtengeschehen begeistern will, muss die leichte Form ernst nehmen. Doch das ist gar nicht so einfach.

Satire gehört zu den journalistischen Gattungen, die am häufigsten misslingen. Was ist Satire, was nur schlechter Geschmack und was sogar menschenverachtend? Darüber stritt man sich in Deutschland trefflich vor knapp einem Jahr, als eine gar nicht mal so lustige Kolumne von Hengameh Yaghoobifarah in der taz die Polizei mit Müll gleichsetzte und deshalb viele Menschen beschäftigte – bis hin zum Bundesinnenminister und dem Deutschen Presserat. Mehr noch als andere journalistische Formen, die sich mit Handwerk, Hartnäckigkeit und viel Übung akzeptabel meistern lassen, gehört zur Satire oder Glosse ein gewisses Talent – also, Humor. Und der ist auch noch kulturell kodiert.

Nicht jede*r kann und sollte über alles lachen. Humor übt Macht aus, und funktioniert deshalb eher von unten nach oben. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man damit gegen etablierte Machtstrukturen rebelliert oder sie – witzelt man von oben herab – zementiert. Eine Sendung, in der sich privilegierte Moderator*innen über politische Korrektheit amüsieren, kann aus diesem Grund schon mal danebengehen. Gleiches galt für die missglückte Kampagne #allesdichtmachen, in der namhafte Schauspieler vermeintlich ironisch für Meinungsfreiheit in der Corona-Krise streiten wollten, Teile der Öffentlichkeit dies aber im besseren Fall als weinerliche Klage aus der Designer-Küche wahrnahmen.  

Die amerikanische Kommunikationswissenschaftlerin Danna Young beschreibt in ihrem 2019 erschienenen Buch „Irony and Outrage“ zudem, dass zur Satire eine gewisse liberale Grundhaltung gehört, die gedankliche Freiheit schätzt und sich den ernsten Dingen des Lebens spielerisch nähert. Das Pendant dazu im rechten politischen Spektrum sei der Aufstieg der Wut-Talkshows.

Zwischen diesen Polen bewegen sich die traditionellen Medien. Deren Journalist*innen arbeiten zumeist im Fakten-Geschäft und selten im Fach Humor. Fakten sind per Definition eindeutig und klar. Humor ist mehrdeutig und lebt durch Interpretation. Beim Mischen wird’s gefährlich. Gerade in den sozialen Netzwerken lässt sich Humor oft schwer identifizieren. Vielen Reporter*innen und Kommentator*innen ist außerdem selten zum Lachen zumute (siehe oben), Zynismus mal ausgenommen.

Aber es hilft nichts, die Richtung ist klar: Humor funktioniert beim jungen Publikum. Regel Nummer eins dabei: Er darf seine Adressat*innen nicht unterschätzen. Das (print) Magazin Katapult ist deshalb so ein Knaller bei der Generation Abi plus, weil es Faktentiefe und Leichtigkeit lässig mischt. Untertitel: „Magazin für Eis, Kartografik und Sozialwissenschaft“, muss man mehr erklären? Junge Nutzer*innen bevorzugen Journalismus, der erklärt, ihnen im täglichen Leben nutzt und Spaß macht, hatte eine vom Reuters Institut in Oxford veröffentlichte Studie ergeben.

Beim Konsum der meisten etablierten Medien ist der Spaßfaktor noch immer begrenzt. Früher galt es als Nachweis von Bildungsbürgerlichkeit, wenn man sich bei der Zeitungslektüre ordentlich quälen musste. Heute löst Status-Gehabe nur noch Langeweile aus. Die leichter verdauliche Alternative wartet schließlich schon – auf Youtube oder Tik Tok. Nun geht es nicht darum, Nachrichten und Analyse durch Satire zu ersetzen – wer es beim Humor nicht auf Premium-Qualität bringt, sollte ihn sich verkneifen. Woran aber jeder arbeiten kann, ist der Ton. Viele Podcasts funktionieren deshalb so gut, weil sie leicht und plaudernd daher kommen – die Fakten darin sind häufig ernst genug.

Zeitungslektüre kann da noch aufholen. So manch einer Formulierung im deutschen Feuilleton merkt man an, wie sich die Redakteur*innen oder Essayist*innen selbst daran begeistert haben. Aufs Publikum wirken sie nur peinlich. Gerade junge Leute haben gute Antennen dafür, wenn auf Kosten Schwächerer gelacht wird. Sie empfinden das nicht als witzig, sondern als übergriffig und diskriminierend. Belehren ist out, ernst nehmen ist in. Im Zweifel darf man ruhig mal über sich selber spotten. Um das hinzukriegen, muss man nicht mal Comedian sein.

Diese Kolumne erschien am 23. April 2021 im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School. 

Print hat gewonnen – Warum die Zeitung stirbt und trotzdem überlebt

Einige erinnern sich noch viel zu gut daran, andere spielen weiterhin täglich in der einen oder der anderen Mannschaft: Das ideologische Kräftemessen zwischen Print und Online hat mindestens eine Generation von Journalist*innen und Verlagsmanager*innen verschlissen, während sich das Publikum längst spannenderen Wettbewerben zugewandt hat. Man könnte jetzt darüber sinnieren, was man in der Zeit hätte gemeinsam anstellen können mit all der Energie. Aber nun, da in vielen Häusern die Zeichen auf Annäherung stehen, sollte man besser an der gemeinsamen Perspektive arbeiten, allerdings nicht, ohne noch einmal die Schiedsrichter zu befragen. Und deren Bilanz dürfte Stand jetzt einigermaßen eindeutig ausfallen: Print hat gewonnen. Bitte was?

Bevor sich langgediente Zeitungsmenschen jetzt gegenseitig auf die Schulter klopfen, wohingegen Onliner der Kolumnistin einen Vogel zeigen und das Lesen hier abbrechen, empfiehlt sich ein Blick in das, was man vor Gericht die Urteilsbegründung nennen würde. Denn natürlich geht es nicht um einen Sieg des Papiers über das Digitale. Im Gegenteil: Manager, die immer noch mit dem Verweis „hier wird das Geld verdient“ auf die Vollabonnements ihrer Zeitung verweisen und jegliche Digitalstrategie nach möglicher „Kannibalisierung“ durchleuchten, bringen ihre Verlage in Lebensgefahr. Auch wenn Anhänger des Papiers das haptische Erlebnis beschwören, sinkt deren Zahl berechenbar. Die tägliche gedruckte Zeitung dürfte im nächsten Jahrzehnt zum Nischenprodukt werden.

Gewonnen hat vielmehr das Prinzip Print. Dessen Kern war es, vertrauensvolle, loyale und direkte Beziehungen zu den Nutzern aufzubauen. Die Zeitung versprach Qualität, ein (tägliches) Erlebnis, und schlich sich als liebgewonnene Gewohnheit in den Alltag ihrer Leser*innen ein. Auch die Anzeigenkunden schätzten das. Die Kontrolle über die Plattform lag zu 100 Prozent beim Verlag – schwierige Wetterlagen mal ausgenommen. Der Konflikt Facebook gegen Australien, der die Medienbranche zu Jahresbeginn beschäftigte, hatte drastisch wie selten beleuchtet, was es bedeutet, Dritten diese Kontrolle zu überlassen.

Der naheliegende Rat an die Verlage wäre: Verkauft digitale Abos, bringt die Nutzer*innen auf eure Homepage oder in die App, dann habt ihr solche Probleme nicht. Hat ja früher mit Print auch geklappt. Tatsächlich sind diejenigen Medienhäuser in der neuen Informationswelt am erfolgreichsten, die früh auf digitale Abonnements nach dem Modell der Print-Loyalität gesetzt haben. Sie investieren mit investigativen Recherchen und starken Autor*innen in Qualitätsjournalismus (Clickbait bringt keine Nutzer-Bindung) und kümmern sich um die Bedürfnisse ihrer Leser, allerdings mit Blick auf die neue Konkurrenz-Situation. Das Spotify- oder Netflix-Abo gilt preislich als die Benchmark, bei der Nutzerfreundlichkeit ebenso.

Dennoch ist auch das wahr: Mehr als zwei Drittel derjenigen, die digitalen Journalismus konsumieren, gehen eben nicht direkt oder über eine Website zum Angebot, sondern nutzen die Plattformen Dritter, beim jungen Publikum wählten im vergangenen Jahr sogar 84 Prozent diesen Weg, wie der Digital News Report 2020 protokolliert. Und nach wie vor ist zumindest in Deutschland nur etwa jede*r zehnte Nutzer*in dazu bereit, für Online- Journalismus zu zahlen – dieser Anteil liegt deutlich unter dem, den skandinavische Medienhäuser erzielen, aber nicht sehr weit unter dem weltweiten Durchschnittswert. Man muss also sagen: „Print“ hat zwar gewonnen, kann sich dafür aber noch nicht viel kaufen – selbst wenn sich die Branche in der im Februar veröffentlichten Umfrage des Bundesverbands der Newspublisher und Zeitungsverleger sehr breitbeinig gegeben hat.

Das fremdbestimmte Leben wird also zu großen Teilen weitergehen, und das ist nicht mal schlimm. Denn über die sozialen Netzwerke können die Verlage in Bevölkerungsschichten hereinreichen, die das Papier-Produkt ohnehin niemals für sich in Erwägung gezogen hätten. Sie erfüllen also damit ihren Informationsauftrag in der Demokratie. Gleichzeitig können sie mit etwas Mühe und Nachdenken jene Kund*innen über eigene Plattformen an sich binden, die sich für journalistische Qualität und Nutzerfreundlichkeit begeistern. Nur müssen sie denen einen Mehrwert bieten. Mit dem Gießkannen-Journalismus früherer Zeiten („alles für alle“) werden sie dabei nicht weiterkommen, zumal der in der Produktion deutlich zu teuer ist. Während man in Redaktionen viel darüber nachdenkt, was man für seine Leser*innen tun könnte, wird viel zu selten analysiert, was man weglassen sollte, weil es keinen der genannten Zwecke erfüllt.

Ganz schleunig aber müssen die alten Gräben überwunden werden, die sich weiterhin durch viele Redaktionen und Verlage ziehen. Die Online-Mannschaft muss sich das „Prinzip Print“ zu eigen machen und in stabilen Kundenbeziehungen statt in Content denken. Menschen zahlen für Erlebnisse und Erfahrungen aber selten für einzelne Inhalte, es sei denn, sie kaufen ein Buch (was übrigens immer ein Versprechen auf ein Erlebnis ist). Die Print-Mannschaft muss lernen, in Plattformen zu denken, von denen die Zeitung nur eine ist. Wer die Plattform kontrolliert, gewinnt. Das war bei Print so, und das wird auch künftig so sein.

Diese Kolumne erschien zuerst bei Medieninsider am 24. Februar 2021 und wurde für den DJF-Newsletter aktualisiert.

 

Corona als Vertrauens-Booster – Was Redaktionen jetzt tun können

Man hört das immer wieder, die Frage kommt von Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und anderen, die sich um den Fortbestand der Medienlandschaft in der Demokratie sorgen: Was sich denn tun ließe, um das so dramatisch gesunkene Vertrauen in die Medien wieder aufzupäppeln? Das Anliegen ist ehrenwert, es hat nur einen Haken: Es baut auf einer falschen Diagnose. In den meisten Ländern ist das Medienvertrauen in den letzten Jahren gar nicht so stark eingebrochen, wie viele dies frei nach Bauchgefühl behaupten. Für Deutschland hat die Universität Mainz jetzt sogar das Gegenteil belegt: Laut der in dieser Woche veröffentlichten vierten Ausgabe der Langzeitstudie Medienvertrauen haben seit Beginn der Erhebung im Jahr 2015 noch nie so viele Bürger*innen dem Journalismus so viel Glaubwürdigkeit zugebilligt wie im vergangenen Jahr. Die Erklärung liegt nahe. Während der Pandemie suchen viele Menschen verlässliche Informationen, und sie trauen den traditionellen Redaktionen dabei offensichtlich am meisten zu.

Der Mainzer Studie zufolge gaben 56 Prozent der Befragten an, den Medien in wichtigen Themen zu vertrauen, in den Vorjahren waren dies jeweils zwischen 41 und 44 Prozent. Der Anteil derjenigen, die dem Lügenpresse-Vorwurf folgen, ist dagegen auf einen Tiefstand gesunken. Zwei Drittel weisen ihn ausdrücklich zurück. Die Forscher*innen räumen zwar ein, dass sich diese Werte in den zurückliegenden Monaten geändert haben könnten – die Daten wurden im November und Dezember 2020 erhoben, als die Kritik am staatlichen Pandemie-Management noch deutlich verhaltener klang. Dennoch bestätigen die Ergebnisse eine in diversen Studien gewonnene Erkenntnis, die selbst zu vielen Medienschaffenden nicht durchdringt: Ein allgemeiner Vertrauensschwund in den Journalismus ist nicht oder meist nur in der Varianz weniger Prozentpunkte festzustellen. Aber was ist das Problem dann, und was bedeutet die immer wieder beschworene Dramatik? Mehrere Dinge spielen eine Rolle:

Erstens, das Vertrauen in Medien mag zwar allgemein einigermaßen stabil sein, aber die Lautstärke der kritischen Minderheit nimmt zu. Und es bleibt nicht immer bei verbalen Pöbeleien online und offline: Journalist*innen auch in Deutschland werden zunehmend tätlich angegriffen und bei der Arbeit behindert. In den Niederlanden rückte das öffentlich-rechtliche Fernsehen nach Angriffen schon in neutralen Fahrzeugen aus, um sich nicht zu offensichtlich zur Zielscheibe zu machen. Hinzu kommen Influencer wie Rezo, die öffentlichkeitswirksam mit etablierten Medien abrechnen. Wird das dann geteilt, gilt das schon als Zustimmung, auch wenn sich dahinter vor allem Voyeurismus verbirgt.

Zweitens, in vielen Ländern schlägt sich eine starke politische Polarisierung auch im Medienvertrauen nieder. Sehr deutlich zeigt sich dies in den USA, wo diejenigen, die sich politisch eher „links“ verorten, auch dem Journalismus gute Noten ausstellen, diejenigen aus dem republikanischen Lager dies aber eher nicht tun oder maximal für Rupert Murdochs Fox News ihre Hand ins Feuer legen würden. Ein Durchschnittswert über beide Lager genommen, sagt dann relativ wenig über die tatsächliche Lage aus. Der Digital News Report des Reuters Institutes hat dies in mehreren Jahren gut abgebildet.

Drittens, das Medienvertrauen geht Hand in Hand mit dem Vertrauen in die Politik und ihre Institutionen – und auf diesem Wege bei Gelegenheit auch mal steil bergab. Diverse Umfragen belegen, dass in politisch besonders konfliktreichen Jahren auch das Vertrauen in die Medien schwindet und manchmal eine Weile braucht, um sich wieder zu erholen. Die Gelbwesten-Proteste in Frankreich sind ein Beispiel für einen besonders drastischen Vertrauenssturz. Hart umkämpfte Wahlen verschärfen die Polarisierung und resultieren oft in einer Vertrauensdelle, auch Einzelereignisse – siehe die Kölner Silvesternacht und ihre mediale Aufarbeitung – können dazu führen.

Viertens heißt dies aber auch, dass Redaktionen das Vertrauen der Menschen in ihre Erzeugnisse nicht so nachhaltig beeinflussen können, wie sie sich dies erhoffen. Manch politische und gesellschaftliche Entwicklung wiegt schwerer als die Qualität des Journalismus. Man könnte sogar von einem Paradox sprechen: Je stärker sich Journalismus mit politischen Zerwürfnissen und Verwerfungen beschäftigt, umso fragiler kann das Vertrauen werden. Wird die Leistungsfähigkeit von Institutionen insgesamt angezweifelt, schadet das der Institution Journalismus gleich mit. Reporter*innen, die sich nur auf Streit fixieren, sägen also an dem Ast, auf dem sie sitzen.

Fünftens, die Medien müssen natürlich trotzdem gegensteuern: Bessere Erklärungen, mehr Transparenz die eigene Arbeit betreffend, interaktive Formate, die Bürger*innen einbeziehen und nahbare Journalist*innen tragen dazu bei, dass sich die Bürger*innen von ihren Medien ernst genommen fühlen. Am besten gelingt dies in Deutschland laut der Mainzer Studie nach wie vor den öffentlich-rechtlichen Sendern, die für 70 Prozent der Nutzer*innen vertrauenswürdig sind, gleich danach folgen Lokal- und Regionalzeitungen. Überregionale Marken bekommen von etwa jedem zweiten einen Vertrauensbonus. Pandemie hin oder her, an der Gewichtung hat sich über die Jahre kaum etwas geändert.

Sechstens, das eigentliche Problem für den Journalismus ist nicht der Vertrauensverlust. Es ist der Verlust an Relevanz für das tägliche Leben – und den hat er sich auch selbst zuzuschreiben. Im globalen Durchschnitt gibt schon etwa jede*r Dritte an, auf Nachrichtenangebote häufig gut verzichten zu können. Als Grund wird selten mangelndes Vertrauen genannt. Die Berichterstattung sei zu negativ und biete zu viel des immer Gleichen, das sind die häufigsten Klagen der Medien-Vermeider*innen, besonders die junge Generation sieht das so. Auch in der Mainzer Studie gaben 40 Prozent der Befragten an, dass die Medien es mit der Corona-Berichterstattung übertreiben. Statt die Nutzer*innen also mit Masse zuzuschütten, käme es stärker darauf an, sie ab und an mal zu überraschen: mit besonderem Tiefgang, mit starken Daten, mit Vielfalt und Perspektive. Und es käme darauf an, auf die Plattformen zu gehen, auf denen sich die Nutzer*innen aufhalten. Bei den Formaten mehr in die Breite und bei den Inhalten mehr in die Tiefe gehen, das wäre ein gutes Rezept.

Siebtens gibt es natürlich Gründe dafür, dass sich die Erzählung vom Vertrauenskollaps so nachhaltig hält. Zunächst einmal hat das mit dem allgemeinen Unwillen zu tun, sich mit Daten zu beschäftigen, die den eigenen Annahmen widersprechen. Davon sind auch Medienschaffende und Politiker*innen nicht frei. Vor allem aber kommt das Bild so manch einem sehr gelegen. Denn wenn etwas kaputt ist, muss man es reparieren. Die Dringlichkeit, in starken Journalismus zu investieren, lässt sich mit Vertrauens-Schwund besser begründen als mit Überdruss. Aber letzterer ist die größere Gefahr.

Diese Kolumne erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 9. April 2021. 

Von wegen „Digital Natives“ – Gerade beim jungen Publikum klafft die Medienkompetenz weit auseinander

Es ist eine bequeme Annahme, dass sich manche Probleme mit dem Generationenwechsel von selbst lösen werden. Leider fällt sie immer wieder durch den Wirklichkeitstest. Dies trifft auch auf die Fähigkeit zu, mit dem Digitalen im Allgemeinen und digitalen Medien im Besonderen kompetent umzugehen. Belegt wird das von einer großen Studie für Deutschland, die in dieser Woche von der Stiftung Neue Verantwortung veröffentlicht wurde und Pflichtlektüre für alle sein sollte, die etwas mit Journalismus zu tun haben. Denn unter den vielen interessanten Einzelergebnissen fällt eins besonders ins Auge: Gebildete junge Menschen erreichen in dem Test im Durchschnitt die besten Werte aller Altersgruppen, während ihre Altersgenossen mit niedriger Schulbildung schlechter abschneiden als ältere Jahrgänge mit ähnlichem Ausbildungsniveau. Kurz gesagt: Der Begriff „Digital Natives“ beschreibt kaum mehr als eine Wunschvorstellung. Vielmehr wird der digitale Graben tiefer.

Es lohnt sich, die Studie genauer zu lesen, denn etliche Aussagen sollten Redaktionen schwer zu denken geben. Nicht nur ist das Niveau der Medienbildung insgesamt mau: Im Durchschnitt erreichten die Befragten nicht einmal die Hälfte der möglichen Punktzahl, nur jede*r Fünfte qualifizierte sich in den Kategorien hohe oder sehr hohe Medienkompetenz. Aber einige Erkenntnisse rufen direkt nach Taten.

Da ist zum einen der Vorwurf einer „von oben“ gesteuerten Presse. Etwa ein Viertel der Befragten nimmt nach eigenem Bekunden an, Politik und Journalist*innen arbeiten Hand in Hand und täuschen die Bevölkerung, „Lügenpresse“ lässt grüßen. Woran die Menschen das festmachen, ergibt sich nicht. Aber eine Unterrichtseinheit in der Schule reicht vermutlich nicht, um das Gegenteil zu beweisen. Hier rächt sich eine Politik-Berichterstattung, die sich nach wie vor zu sehr auf Statements von Funktionsträger*innen und zu wenig auf die Recherche von Themen fokussiert. Wer Politiker*innen und Journalist*innen ständig gemeinsam in Bild und Gespräch wahrnimmt, wird womöglich auch bei kritischen Interviewfragen den Eindruck nicht los, hier werde über die Köpfe der Bürger*innen hinweg verhandelt. Dazu passt, dass der Lokaljournalismus in den meisten Studien auch international die höchsten Vertrauenswerte genießt. Er ist eben näher dran.

Besonders schwer taten sich die Teilnehmer*innen der Untersuchung damit, Journalismus von Werbung zu unterscheiden oder Kommentare von Nachrichten. Wer seine Informationen überwiegend aus den sozialen Netzwerken bezieht, verirrt sich der Studie zufolge besonders häufig im Überangebot und Nebeneinander von unabhängiger, überprüfter auf der einen und interessengeleiteter Information auf der anderen Seite. Nutzer*innen, die sich direkt in Nachrichten-Apps schlau machen, schneiden dagegen deutlich besser ab. Das ist bedenklich, da der weit überwiegende Teil der Medienkonsument*innen über die Plattformen Dritter auf Journalismus zugreift, Tendenz steigend. Bei den jungen Leuten nutzen laut aktuellem Digital News Report 84 Prozent den Seiteneinstieg, nur ein geringer Teil geht also direkt auf Website oder App.

In der Branche wird immer wieder die Notwendigkeit diskutiert, Beiträge nach Kategorien zu kennzeichnen. Aber ein schlichtes „Kommentar“ in der Dachzeile reicht möglicherweise nicht aus. In der Studie konnte zum Beispiel kaum jemand ein Advertorial identifizieren, selbst wenn es als Anzeige gekennzeichnet war. Auch das Label „Kolumne“ wurde als wenig hilfreich empfunden. Die Wirkung von Kennzeichnungen ist offenbar auch bei Falschinformationen begrenzt. Selbst wenn soziale Netzwerke Lügen eindeutig als solche ausweisen, ist das offenbar nicht für alle ein Grund dafür, sie als solche zu behandeln.

Wenn es nur noch gut ausgebildete Menschen schaffen, sich einigermaßen sicher in der digitalen Medienwelt zu bewegen, sind das schlechte Nachrichten für die Demokratie. Die Gefahr steigt, falsch oder gar nicht informiert zu sein und deshalb schlechte Entscheidungen zu treffen. Die Ergebnisse der Studie unterstreichen, was die Forschung schon länger nahelegt: dass das Internet den Zugang zu Information und Wissen nicht etwa egalitärer, sondern ungleicher gemacht hat. Antonis Kalogeropoulos hatte dies 2018 in einer Studie für Großbritannien belegt. Demnach kamen in der alten Welt von Print und linearem Fernsehen Menschen mit niedrigem Bildungsgrad häufiger mit Journalismus in Kontakt als heute, wo jeder zwar ständig an seinem Smartphone herumfingert, darauf aber eher chattet und spielt, statt nach Information zu fahnden. In der Zeit vor Netflix und Spotify griffen auch weniger Bildungsbeflissene schon mal aus Langeweile zur herumliegenden Zeitung oder ließen die Nachrichten an sich vorbeirauschen, schnappten dabei das eine oder andere auf. Exzellent ausgebildete Nutzer*innen sind dagegen heute in der Lage, sich deutlich besser und vielfältiger zu informieren als je zuvor.

Was also tun, damit Journalismus nicht zum Klassen-Privileg wird? Medienbildung erreicht Menschen kaum noch, sobald sie die Schule verlassen haben. Gerade die ältere Generation ist besonders anfällig für „Fake News“, ebenso die Jüngeren, die sich Informationen bewusst oder unbewusst entziehen. Schon jede*r Dritte gilt laut Digital News Report als Nachrichten-Verweiger*in.

Redaktionen stehen in besonderer Verantwortung. Medientrainings in Schulen sollten Standard werden, aber nicht als „wir erklären euch mal was“ von oben herab. Junge Leute können fantastische Reporter*innen sein, man muss sie nur ermutigen. Journalismus und die Aufklärung gehören zudem auf die Plattformen, auf denen sich die Nutzer*innen bewegen. Die Tagesschau mit ihren vielfältigen digitalen Angeboten macht vor, wie so etwas gehen kann – in der Studie der Stiftung Neue Verantwortung schneidet sie vergleichsweise gut ab. Idealerweise begeistern Medien das Publikum so, dass es den direkten Weg auf die Nachrichten-App findet und keine Verwechselungsgefahr besteht. Aber dazu muss auch der Journalismus besser werden: weniger fixiert auf Institutionen, dafür mehr auf Menschen und Themen, stärker im Austausch mit den Nutzer*innen, transparenter, was die eigene Arbeitsweise angeht.

Die Medien können die Aufgabe allerdings nicht alleine stemmen. Öffentliche Institutionen und Privatwirtschaft müssen nicht nur besser aufklären. Aus jedem Plattform-Design muss klar hervorgehen, was die Konsument*innen von Inhalten erwarten können: Ist das nur Werbung oder Bla Bla, oder ist da echter Journalismus drin? Was Zeitungen einigermaßen gelungen ist, muss auch im Digitalen möglich sein.

Diese Kolumne erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 26. März 2021.

Medienoasen in der Nachrichtenwüste – Worauf Entrepreneure im Journalismus achten sollten

Von Deutschland aus auf die USA schauen, das ist häufig, als benutze man ein Vergrößerungsglas. Nicht nur Getränkebecher, Jeans und Überland-Trucks gibt es dort im XXL-Format. Auch gesellschaftliche Entwicklungen kommen meist krasser daher als hierzulande, Achterbahn-artige Bewegungen eingeschlossen. Bei Häme ist deshalb Vorsicht geboten, siehe Pandemie: Lästerte man gerade noch über amerikanisches Staatsversagen, sind drüben plötzlich alle durchgeimpft, während hier weiter über Reihenfolgen und Vakzine gestritten wird. Ähnlich drastisch geht es in der Medienbranche zu. So zählte man drüben schon Nachrichtenwüsten (news deserts) ohne lokaljournalistische Grundversorgung, als Regionalverlage hier noch ihre Print-Auflage feierten. Umgekehrt blicken amerikanische Medienschaffende nun auf ein ganzes Ökosystem digitaler Neugründungen, während Redaktionen diesseits des Atlantiks noch lernen, „digital first“ zu buchstabieren. Man kann das misslich finden, oder schleunigst das – in diesem Fall – Fernglas zur Hand nehmen. Ein Blick nach drüben lohnt sich, wenn man nicht nur aus eigenen Fehlern lernen, sondern ein paar lieber von vornherein vermeiden möchte.

Die amerikanische Lesart ist unmissverständlich: Wo es Nachrichtenwüsten gibt, müssen dringend Oasen her. Oasis heißt deshalb ein Gemeinschafts-Projekt, das sich an Gründer*innen von Medienmarken in den USA und Kanada richtet und ihnen mit Statistiken, Fallstudien, Rat und Benchmarks zur Seite stehen möchte. In dieser Woche nun hat Oasis den ersten Reportveröffentlicht, angeblich die größte Studie über „digital native“ Medienhäuser und -häuschen in dieser Dekade. 255 von mehr als 700 rein digitalen Medien-Unternehmen haben sich dafür an einer Umfrage beteiligt. Sie hat ein paar spannende Fakten zutage gefördert.

Die erfreulichen zuerst: Das Wachstum ist rasant, in den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Medien-Gründungen mehr als versechsfacht. Immerhin gibt bereits jede fünfte Firma an, finanziell über den Berg zu sein, eine ganze Reihe weiterer sieht sich auf dem Weg dorthin. Zwei Drittel haben die wilde Startup-Phase hinter sich gelassen und bewegen sich in ruhigerem Fahrwasser, 22 Prozent (über)leben schon länger als zehn Jahre.

Eine ganze Menge Fakten stimmen allerdings nachdenklich, vor allem diese: Viele Organisationen leben von der Selbstausbeutung ihrer Gründer*innen (Frauen sind, was die Jobs angeht, in der Überzahl). Sie verlassen sich stark auf ehrenamtliches Engagement und können wenige Vollzeit-Arbeitsplätze sichern. Nur zehn Prozent fahren Jahresumsätze von über einer Million Dollar ein. Die Abhängigkeit vom lokalen Anzeigenmarkt ist groß und für die meisten die wichtigste Einnahmequelle, andere hängen gänzlich am Tropf von wohltätigen Geldgeber*innen. Abo- oder Mitgliedermodelle trauen sich die wenigsten zu.

Eine der Hauptursachen für diese zum Teil prekären Zustände ist, dass Medien-Startups überwiegend von Journalist*innen gegründet werden. Hier rächt sich die einst so wichtige strikte Trennung von Redaktion und Verlag. Sie hat Redakteur*innen und Reporter*innen jahrzehntelang davor „bewahrt“, sich damit auseinandersetzen zu müssen, wie ihr Medienhaus eigentlich Geld verdient. Bei der Entwicklung ihrer jungen Unternehmen beginnen die Gründer*innen deshalb in der Regel mit einer Mission, nicht mit einem Geschäftsmodell. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden, wenn sie denn ihre Teams um entsprechendes Knowhow bereichern würden. Dies aber ist zu selten der Fall.

Gründer*innen in anderen Branchen arbeiten sehr häufig andersherum. Viele berichten, dass nicht die berühmte Idee oder das coole Produkt an erster Stelle standen, sondern man zunächst mit einem engagierten Team und eher vagen Vorstellungen vom Inhalt an den Start gegangen sei. Sobald man Geldgeber*innen und erste Kund*innen gefunden hatte, entwickelte sich die Idee von dort aus weiter. Auch bei Journalismus-Start-ups ist Offenheit und Anpassungsfähigkeit wichtig, wollen sie nicht nur irgendwie überleben, sondern mittelfristig gut davon leben und eine stabile Größe für ihr Publikum werden. Was ist das Geschäftsmodell, welche Zielgruppen (Audiences) kann man wie gut bedienen und wie bindet man sie, wie diversifiziert man Einnahmequellen, welche Partner*innen könnte man begeistern – und, ganz wichtig, was sollte man auf jeden Fall sein lassen? All diese Fragen müssen sich Gründer*innen immer wieder stellen und entsprechend nachjustieren.

All das würde deutlich besser funktionieren, gäbe es eine gute Infrastruktur, bei der sich Medien-Start-ups Rat und Unterstützung holen können. Das finden auch die Oasis-Autor*innen. Ob es um Training, Ausbildung und Personalführung geht, Beratung zu Geschäftsmodellen oder technische Infrastruktur gefragt ist: Junge Unternehmen sind mit vielem überfordert. Dazu ist es weder sinnvoll noch effizient, wenn jede Neugründung auf diesen skalierbaren Gebieten bei null anfängt. Für die USA können sich ambitionierte Medien-Unternehmer*innen künftig an das Oasis-Projekt wenden. In Deutschland warten potenzielle Geldgeber*innen hoffentlich nicht darauf, dass es erst einmal Nachrichtenwüsten gibt.

Diese Kolumne erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 19. März 2021. 

Das Publikum, ein unbekanntes Wesen – Warum Leser-Daten niemals alles erklären können

Es gibt immer noch Journalist*innen, die es lieber nicht so genau wissen wollen: Wie viele Menschen lesen die von ihnen mühsam recherchierten und verfassten Texte wirklich, und wie viele davonbleiben bis zum Ende dabei? In der Zeit der stabilen Druckauflagen konnten sich Reporter*innen und Kommentator*innen noch in der Vorstellung sonnen, Zehntausenden, ja sogar Hunderttausenden Er- und Aufklärung zu bieten. Seitdem es Daten über die digitale Nutzung verschiedener Themen und Textgattungen gibt, weiß man, dass diese Annahmen nicht viel mehr als Wunschdenken waren. Dennoch hat die Vorstellung, für ein großes Publikum zu arbeiten, viele Autor*innen beflügelt und den Journalismus damit besser gemacht. Man könnte allerdings auch sagen: Es wurde zu häufig viel Aufwand für wenig Wirkung getrieben.

Moderne Redaktionen ticken anders, sie wollen es ganz genau wissen: Welche Stoffe ziehen die Leute auf die Seite, welche animieren sie zum Durchklicken, und mit welchen Inhalten bewegt man die Kund*innen direkt zum digitalen Abonnement? Analysetools, die ständig mit neuen Daten gefüttert werden, suggerieren: Das große Geheimnis um die Vorlieben und Abneigungen des Publikums lässt sich lüften. Bediene man die Nutzer*innen dann entsprechend, stünden dem Journalismus endlich wieder goldene Zeiten bevor.

Ganz so einfach ist diese Gleichung allerdings nicht. Und man muss vermuten, dass sie sich nicht einmal mit höherer Mathematik wird lösen lassen. Denn wann Menschen welchen Journalismus konsumieren und – noch wichtiger – welche Konsequenzen sie daraus ziehen, lässt sich womöglich eher mit einem Psychologiestudium begreifen als beim Blick auf Analysetools. In seinem neuen Buch „Imagined Audiences – How Journalists Perceive and Pursue the Public” hat sich der Kommunikationswissenschaftler Jacob L. Nelson mit dem Verhältnis zwischen Journalisten und ihrem Publikum beschäftigt und dabei bestätigt: Es ist kompliziert. „Nutzerdaten zeigen Journalisten, wie sich Leute verhalten, aber nicht warum“, schreibt Nelson. Nach intensiver Recherche kommt er zu dem Ergebnis, dass Redaktionen trotz aller Möglichkeiten der Nachverfolgung deutlich weniger Kontrolle über die Wirkung ihrer Arbeit haben, als sie dies wahrhaben möchten. Die Rettung der Branche alleine den Kund*innen zu überlassen, sei deshalb strategisch gefährlich.

Genau dort allerdings ruhen derzeit die gebündelten Hoffnungen der Branche. Das Bedürfnis der Medienhäuser ist groß, aus Lesern, Hörerinnen oder Zuschauern begeisterte Kundinnen zu machen, die so zuverlässig nach dem Digital-Abo greifen wie nach der Brötchentüte am Sonntag. Schließlich hängt in Zeiten sinkender Anzeigenerlöse ihr Überleben daran. Entschlüssele man nun, was die Nutzer*innen wirklich zu Käufer*innen mache, dann werde das schon klappen, so die Denke.

Das ist weder ganz wahr noch ganz falsch. Die Beschäftigung mit den wirklichen Problemen und Bedürfnissen seines speziellen Publikums und dessen Untergruppen – Fachbegriff Audiences – ist entscheidend, wenn man sich unverzichtbar machen will. Aber wie findet man sie heraus? Nutzerdaten auswerten ist eine Möglichkeit. Allerdings können Metriken nur einen Teil der Wahrheit abbilden. Diejenigen, die gar nicht erst zu einem Medium finden, weil sie dort nichts für sich Relevantes erwarten oder dessen überdrüssig sind, bilden sie nicht ab. Wer zum Beispiel überwiegend von Männern gelesen wird, kann daraus zwei Konsequenzen ziehen: Die eine wäre, noch mehr Inhalte anzubieten, die vermeintlich die Interessen von Männern treffen und damit die Kundenbindung stärken – dann würden Daten zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung beitragen. Die andere wäre, bewusst in die Lücke zu stoßen und sich um ein weibliches Publikum zu bemühen. Immerhin kann man anhand von Daten testen, ob das funktioniert.

Umfragen sind eine andere Möglichkeit, dem Publikum näher zu kommen. Datensammlungen wie der Digital News Report, die weltweit größte fortlaufende Studie zum digitalen Medienkonsum, offenbaren, was die Nutzer am Journalismus am meisten nervt: zu negativ, zu viel, zu wenig für sie relevante Themen, zu viel Voreingenommenheit. Das Dumme ist nur, dass die Befragten oft anders handeln als sie reden. Derek Thompson, Autor beim Magazin The Atlantik, beschrieb das einmal treffend: „Frage Audiences, was sie wollen, und sie werden dir sagen: Gemüse. Beobachte sie im Stillen, und sie werden vor allem Süßigkeiten essen.“ Vermutlich würden etliche Studienteilnehmer nur ungern zu Protokoll geben, wie viel Zeit sie in dieser Woche wirklich mit der Nachbearbeitung des Oprah Winfrey Interviews mit dem abtrünnigen Königsfamilien-Paar Meghan und Harry verbracht haben. Ähnliches gilt für Fokusgruppen, wo erwünschtes Verhalten und Gruppendynamik eine Rolle spielen. Allerdings ist ein solchen kleinen Gesprächsrunden mehr Zeit und Raum für Fragen und Antworten jenseits der Schablone.

Viel Hoffnung setzen einige Medienmarken und -Fachleute auf „Audience Engagement“, ein weiterer Begriff, den jeder anders versteht. Würde man das Publikum bei der Themenwahl und Recherche miteinbeziehen, käme man dessen Bedürfnissen näher. Schließlich wachse das Vertrauen mit der Intensität der Beziehung, loyale Nutzer*innen wären die Folge. Dumm nur, dass nicht jede*r mitmachen will. Die meisten Menschen sind so sehr mit anderen Dingen beschäftigt, dass sie sich gar nicht am Erstellen von Journalismus beteiligen wollen. Ihnen reicht das passive Konsumieren. Das heißt aber noch lange nicht, dass ihnen das Ergebnis unwichtig ist. Besteht dies jedoch nur aus Themen, für die sich Nutzer*innen engagiert haben, kann auch das danebengehen.

„Journalisten können ihr Publikum niemals vollständig verstehen oder gar steuern“, schreibt Jacob Nelson, dessen Buch trotz des ernüchternden Fazits hochinteressant für Medienmacher ist. Falls das jemanden tröstet: Den meisten anderen Unternehmen gelingt das mit dem Verstehen auch nicht. Es geht jedoch garantiert schlecht aus, wenn sie es nicht wenigstens versuchen.