Man kann „Fake News“ bekämpfen, indem man sie identifiziert, mit einem Warnhinweis versieht und richtigstellt. Man kann aber auch mit so viel vertrauenswürdigem, faktentreuem und anschaulichem Journalismus dagegen antreten, dass er den Lügen die Luft zum Atmen nimmt. Für Redaktionen ist das natürlich keine Entweder/Oder-Entscheidung, sie versuchen beides. Die European Broadcasting Union hat nun kürzlich ein Projekt aus der Abteilung „Oder“ vorgestellt: Sie will Klasse in Massen liefern und wird dazu Inhalte mit Hilfe von automatischen Übersetzungen über Länder- und Sprachgrenzen hinweg skalieren.
Das Projekt verspricht viel: Zehn öffentlich-rechtliche Sender aus Europa werden ab Juli besonders gute Stücke zu global wichtigen Themen wie Covid-19, Klimawandel und Migration einspeisen, die dann per Künstliche Intelligenz übersetzt und europaweit zur Verfügung gestellt werden sollen. In einer achtmonatigen Pilotphase hatten 14 Anstalten mehr als 120 000 Artikel auf diese Weise geteilt. Das hatte so gut geklappt, dass die EU nun mit einer Finanzspritze hilft. Die Bürger*innen könnten also künftig nicht nur von mehr verlässlichen Informationen profitieren, sondern auch von mehr Vielfalt, wenn die Sache gut läuft.
Tatsächlich könnten automatisierte Übersetzungen den Journalismus revolutionieren. Wer sich schon lange nicht mehr mit Texten abgemüht hat, die von Software in andere Sprachen übertragenen wurden, weil er die Ergebnisse eher unbefriedigend fand, möge das ruhig einmal wieder probieren. Künstliche Intelligenz, die nach dem Prinzip deep learning funktioniert, übersetzt mittlerweile Texte wie diesen hier binnen Sekunden ins Englische. Mit ein wenig Redigieren lesen sie sich dann – das muss hier leider gesagt werden – sehr viel besser als das, was man früher zuweilen von Übersetzer*innen zurückbekommen hat, die zwar einer Fremdsprache aber nicht unbedingt der journalistischen Form mächtig waren. Die KI-Produkte sind im wahrsten Sinne des Wortes erschreckend gut.
Noch bewegen sich die Roboter nur in wenigen Sprachräumen sicher, aber sie lernen. Und das Ergebnis wird den Journalismus prägen – allerdings in verschiedene Richtungen. Einerseits eröffnen die Tools den Verlagen neue Möglichkeiten. Waren bislang nur Redaktionen aus dem englischsprachigen Raum in der Lage, ihren Journalismus weltweit anzubieten, können dies künftig theoretisch alle tun, für die das kommerziell oder qua Mission sinnvoll ist. Nicht jedes Medienhaus wird sich so zu einer New York Times oder einem Guardian mausern können, aber die Optionen gerade für europaweite News-Portale wachsen rasant. Bei der Neugründung Forum.eu zum Beispiel übernimmt KI nach Schätzung von Mit-Gründer Paul Ostwald mittlerweile 60 Prozent der gesamten Übersetzungsleistung. Redaktionen könnten im eigenen Land Menschen mit anderen Muttersprachen leichter erreichen. Und die internationale Recherche dürfte deutlich leichter werden, wenn Reporter*innen auf diese Weise besseren Zugang zu Original-Dokumenten bekämen. Das Ganze funktioniert ja nicht nur für das geschriebene, sondern auch für das gesprochene Wort (was im Fernsehen derzeit noch zuweilen für lustige Untertitel sorgt).
Redaktionen haben allerdings schon begriffen, dass hier nicht nur ein gewaltiges Expansions-, sondern auch ein Sparpotenzial schlummert. Die Nachrichtenagentur Reuters schichtet schon länger Ressourcen um, zum Beispiel aus dem deutschsprachigen Dienst in Teile der Welt, die das wache Auge des internationalen Journalismus nötiger haben. Und natürlich ist das sinnvoll: Statt in Berlin einen deutsch- und einen englischsprachigen Kollegen auf dieselbe Pressekonferenz zu schicken, kann eine zusätzliche Kollegin beispielsweise auf den Philippinen echten Mehrwert schaffen. Schließlich lässt sich das Werk vom deutschen Termin auch schnell mal in die eine oder andere Richtung übersetzen.
Allerdings wird es genau an dieser Stelle kritisch. Sprache ist schließlich immer nur eine Verpackung für Inhalte, die im Kontext einer Kultur entstehen. Der exakt gleiche Sachverhalt kann sich komplett anders lesen je nachdem, wer ihn beschreibt. Als zum Beispiel Star-Dirigent Simon Rattle kürzlich bekannt gab, er werde 2023 als Chefdirigent zum Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wechseln, begeisterte das die deutschen Feuilletonist*innen. Las man am selben Tag den britischen Guardian, erfuhr man, dass Rattle seinen Vertrag beim London Symphonie Orchestra bis 2022 verlängert habe, ach so, und irgendwann werde er nach München gehen. Ein Ereignis, zwei Reporter*innen, zwei Welten, eine Übersetzung hätte in diesem Fall nicht geholfen.
Eine*n Auslandskorrespondent*in wird ein Übersetzungstool nicht ersetzen können – ihr oder ihm die Arbeit erleichtern allerdings schon. Das ist schlecht für all jene Stringer, Fixer und Lokaljournalist*innen, die rund um den Globus dafür sorgen, dass Journalist*innen die richtigen Informationen, Kontakte und Zugänge bekommen, ohne die sie auf fremdem Terrain oft aufgeschmissen wären. Es könnte ja jemand auf die Idee kommen, dass man sie erst als Übersetzer*innen und schließlich überhaupt nicht mehr braucht. Schon jetzt leisten sich nur noch wenige Redaktionen ein Netz an Reporter*innen fern der Heimat. Ein leichterer Zugang zu allen Sprachen der Welt dürfte diese Entwicklung beschleunigen – verursacht hat er sie nicht.
Wie bei vielem, was neue Technologien bieten, gilt es, im Besonderen einer Versuchung zu widerstehen: Dass man machen muss, was man machen kann. Inhalte per KI zu übersetzen, nur weil es funktioniert, ist noch keine Strategie. Welches Publikum will man mit welchen Inhalten erreichen, und was soll das bewirken? Hat man eine Mission, ein Geschäftsmodell oder einfach nur Spaß daran? Schon sind sie wieder da, diese Fragen, die keine KI beantworten kann.
Diese Kolumne erschien im Newsletter des Digital Journalism Fellowship an der Hamburg Media School am 5. Februar 2021.